SWR2 Wissen - Aula - Professor Harald Welzer : Wohlstand ohne Wachstum - wie ist das möglich?
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Diskurs SWR2-Kooperation
Wachstum ohne Wohlstand
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SWR2 Wissen - Aula - Professor Harald Welzer : Wohlstand ohne Wachstum - wie ist das möglich?
Autor: Professor Harald Welzer *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Erst-Sendung: Sonntag, 18. März 2012, 8.30 Uhr, http://swr2.de http://swr2.de
Wiederholung: Sonntag, 12. Januar 2014, 8.30 Uhr, SWR2
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Zum Autor
Professor Harald Welzer, geb. 1958, ist Soziologe und Sozialpsychologe. Von 2007 bis 2011 war er Mitglied des Vorstands des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen und dort Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research. Vor kurzem hat er die gemeinnützige Stiftung „Futur zwei“ gegründet, die es sich zum Ziel gesetzt hat, zukunftsfähige Lebensformen und Projekte publik zu machen. Seit 2012 ist er Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg und Direktor der Stiftung Futur Zwei in Berlin.
Bücher (Auswahl):
- Der Futur II-Zukunftsalmanach 2013 – Geschichten vom guten Umgang mit der Welt. Fischer tb. 2013.
- Das Ende der Welt, wie wir sie kannten: Klima, Zukunft und die Chancen der - Demokratie. Zus. mit Claus Leggewie. Fischer tb. 2011.
ÜBERBLICK
Das Universalrezept der Politik gegen alle Krisen und Probleme der Gegenwart heißt: Wachstum. Obwohl eigentlich klar sein dürfte, dass Wachstum erstens kein Arbeitsmarktproblem löst und dass es zweitens zur rücksichtslosen Ausbeutung der Ressourcen der Erde führt. Und es ist drittens überhaupt nicht sicher, ob die gesellschaftlichen Fortschritte der letzten 50 Jahre auf Wachstum oder nicht eher auf Bildung, Gesundheit und Kommunikation zurückgehen. Harald Welzer, Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg und Direktor der Stiftung Futur Zwei in Berlin, nimmt Abschied von einem falschen Konzept. (Produktion 2012)
INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: „Wohlstand ohne Wachstum– das Ende eines falschen Konzepts“.
Die ursprüngliche für heute geplante Sendung über Kriegskrüppel muss leider ausfallen, wir wiederholen stattdessen eine Sendung aus dem Jahr 2012:
Das Universalrezept der Politik gegen alle Krisen, Probleme und Umbrüche der Gegenwart heißt: Wachstum und nochmals Wachstum. Geht es um Arbeitslose, heißt es, wir brauchen wirtschaftliches Wachstum, das schaffe Arbeitsplätze, geht es um den Ausstieg aus der Atomenergie, heißt es, wir brauchen die Energiewende und damit Wachstum auf dem Gebiet der alternativen Energien, geht es um uns selbst, dann heißt es, nur wer ständig an sich und den Herausforderungen wächst, der hat gewonnen.
Und genau dieses Konzept gerät ins Wanken, vor allem auch deshalb, weil Wachstum zur Ausbeutung unseres Planeten führt und weil überhaupt nicht klar ist, ob Wachstum der Garant gesellschaftlichen Fortschritts ist.
Professor Harald Welzer gehört zu den Kritikern des Wachstumsbegriffs. Er ist Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg und beschäftigt sich mit Übergangstrukturen, also etwa mit dem Übergang der Wachstums- in die Postwachstumsgesellschaft. In der SWR2 Aula zeigt er, warum weniger mehr wäre.
Harald Welzer:
Unendliches Wachstum ist in einer endlichen Welt nicht möglich. Diese schlichte Einsicht, die siebenjährige Kinder verstehen, Ökonomen aber nicht, wird gegenwärtig durch eine ganze Reihe von Endlichkeiten deutlich: Endlichkeiten der Energievorräte, der Umweltbelastbarkeit, der biologischen Ressourcen, der Traglast des Planeten. Endlichkeitskrisen sind von einem System, dessen Funktionieren vom Wachstum abhängt, nicht zu bewältigen – im Gegenteil sind sie Symptome, die das Scheitern der Voraussetzungen anzeigen, auf die das System gebaut ist. Tatsächlich sind alle Gegenwarts- und Zukunftskrisen, mit denen moderne Gesellschaften konfrontiert sind, Symptome dafür, dass unser wachstumswirtschaftliches System an eine Funktionsgrenze gekommen ist.
Dieses 250 Jahre lang extrem erfolgreiche System basiert ökonomisch darauf, dass es den Treibstoff zur unablässigen Produktion von Mehrwert und Wachstum von außen bezieht, wie das Öl, das für die Herstellung und den Betrieb der Autos, oder wie das Gas, das für die gemütlich warmen Badezimmer nötig ist. Deshalb hatte kein Wirtschafts- oder Gesellschaftstheoretiker des 19. Jahrhunderts auch nur im Entferntesten daran gedacht, dass sich ein solches System über den ganzen Globus ausbreiten könnte – denn dieser musste ja als scheinbar unerschöpfliche Ressource zur Verfügung stehen, um die großartige westliche Zivilisationsmaschine mit Treibstoff zu versorgen und die westeuropäischen Länder und Nordamerika in Wohlstandsinseln zuvor unerreichten Ausmaßes zu machen. Und der Umstand, dass nur ein sehr kleiner Teil der Welt die Naturressourcen in Anspruch nahm, die der Planet vorhält, verankerte bis heute den Eindruck, dass dies bisschen menschliche
Aktivität die Funktionsweise der als unendlich empfundenen Natur gar nicht relevant beeinflussen könnte.
Aber in dem Augenblick, wo sich dieses immer nur partikular gedachte Wirtschaftsprinzip zu universalisieren begann und auch noch die ehemals kommunistischen Länder wie China kapitalistisch zu wirtschaften anfingen, trat man tatsächlich ins Anthropozän über – in das Erdzeitalter, das wesentlich durch menschliche Aktivität bestimmt ist. Und im selben Augenblick wurde auch die Funktionsgrenze der Wachstumswirtschaft offensichtlich: Sie braucht immer mehr Material, das sie in Konsumgüter verwandeln kann, und deshalb braucht sie immer mehr Ressourcen, aber sie kann nicht mehr im Raum expandieren. Überall ist schon jemand, der seinen eigenen Ressourcenbedarf stillen möchte. Eine globalisierte Welt hat kein Außen, das die Ressourcen für eine unendliche Wachstumswirtschaft liefern könnte.
Die Folge ist, dass sich, wie Albrecht Korschorke bemerkt hat, die Ausbeutung vom Raum in die Zeit verlagert: Der Kollaps des Systems wird hinausgeschoben, dass es Raubbau an der Zukunft der kommenden Generationen treibt. Deshalb werden nicht nur im Rahmen der Finanzkrise die Probleme durch Schuldenmachen bewältigt: Auch bei der Umwelt, bei den Meeren, beim Klima nimmt die heutige Generation Kredite auf, die ihre Kinder und Enkel zu begleichen haben werden.
Da es sich bei dieser Art von Kreditaufnahme aber um die Erzeugung irreversibler Probleme handelt, bedeutet das Servieren der Rechnung für die Kinder- und Enkelgenerationen, dass ihnen nicht mehr dieselben Chancen zur Gestaltung ihrer eigenen Zukunft zur Verfügung stehen, wie der Generation der heute 50- oder 60-Jährigen. Der Generationenvertrag ist radikal gebrochen; das Motto des 21. Jahrhunderts lautet: „Unsere Kinder sollen es mal schlechter haben als wir!“
Trotz allem besteht das Rezept der sogenannten Realpolitik für alle Probleme der Gegenwart hauptsächlich im wiederholten Sprechen eines magischen Worts: Wachstum. Obwohl erstens klar ist, dass Wachstum keine Arbeitsmarktprobleme moderner Gesellschaften löst und obwohl zweitens keineswegs sicher ist, ob die gesellschaftlichen Fortschritte der letzten 50 Jahre auf Wachstum oder nicht eher auf Bildung, Gesundheit und Kommunikation zurückgehen, hat der Wachstumsbegriff inzwischen nachgerade religiöse Qualität angenommen. Selbst im Fall einer Rezession spricht man von „negativem Wachstum“, als sei „Rückgang“ von Wirtschaftsleistungen das, was für das Christentum der Leibhaftige ist, den man nicht beim Namen nennen darf.
Dabei ist weder die Menschheitsgeschichte noch die der Produktivkräfte eine Geschichte unablässigen Wachstums – bis zur Industrialisierung lag es bei geschätzten 0,05 Prozent jährlich. Aber auch unter solchen Bedingungen haben Wissenschaft und Künste, wie jedes kunsthistorische Museum vorführt, spektakuläre Fortschritte erzielt. Zudem gilt auch in kapitalistischen Ökonomien das Wachstumsparadigma nur segmentär – einige Teilbereiche, etwa die Wirtschaft, können wachsen, während andere, zum Beispiel die Bevölkerung, rückläufig sind. Seit drei Jahrzehnten verzeichnen wir überall in Europa das Phänomen des „jobless growth“, Wirtschaftswachstum bei konstanter oder steigender Arbeitslosigkeit. Und die Theorie behauptet dennoch unverdrossen, dass Wachstum (und nur Wachstum)
Arbeitsplätze schaffe.
Vor dem Beginn des Finanzcrash war das internationale Geldgeschäft durch das Instrument der Derivate – also von Krediten auf Kredite – auf die unvorstellbare Summe von 400 Billionen US-Dollar angewachsen, was dem siebenfachen Weltbruttoinlandsprodukt entspricht. Diesem Wachstum entsprach in der Wirklichkeit von Produktion und Reproduktion nichts. Mit anderen Worten: Zumindest dieses Wachstum, von dem vorgeblich Gedeih und Verderb moderner Gesellschaften abhängt, gab es gar nicht.
Grundsätzlich macht das Paradigma des Wachstums historisch überhaupt nur so lange Sinn, als nicht genügend Produktivkraft entwickelt ist, um existenzielle Not zu beseitigen. In der Nachkriegszeit wurde es in den westeuropäischen Gesellschaften und in den USA zu einem probaten Mittel, soziale Ungleichheiten abzufedern und sozialen Frieden zu sichern. Die zugrunde liegende Vorstellung bestand darin, dass zwar die Einkommens- und Besitzunterschiede aufrechterhalten blieben, dass ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum aber dafür sorgen würde, dass nicht nur die Reichen reicher, sondern auch die ärmeren Bevölkerungsschichten wohlhabender und damit zufriedener würden. Man hat das den Fahrstuhleffekt genannt – die Verschiedenheit der Personen in der Kabine bleibt bestehen, aber alle erreichen zugleich ein höheres Niveau.
Das lieferte zugleich den Leistungsnachweis, dass die westlichen Gesellschaften ihren Bewohnerinnen und Bewohnern mehr zu bieten hatten als die des Ostblocks. Überhaupt stellten die Wachstumsraten den einleuchtendsten Indikator dafür da, wer gerade in der Systemkonkurrenz vorne lag – der Aufstieg des Wachstumsbegriffs zur zentralen Kategorie wirtschaftlichen Erfolgs ist also nicht zuletzt ein Kind des kalten Krieges.
Die Wirtschaftswissenschaften haben dazu die Legitimation der Wachstumswirtschaft geliefert: Wachstum diene dazu, vitale Bedürfnisse zu befriedigen. Nach dieser Theorie wäre das Wachstum in den 1960er-Jahren in der Bundesrepublik am Ende gewesen: Es herrschte Vollbeschäftigung, die Leute hatten ein Dach über dem Kopf, das Bildungssystem war so gut ausgebaut wie das Gesundheitssystem und das Rechtswesen, viele hatten ein Auto, die meisten machten eine Urlaubsreise pro Jahr. Damit waren zwar die vitalen Bedürfnisse ganz offensichtlich befriedigt, aber nun ging es erst richtig los. Seither verzeichnen wir beständig steigende Raten im Ressourcenverbrauch und in den dabei anfallenden Emissions- und Müllmengen. Gefühlter Wohlstand dokumentiert sich seither im Größenwachstum der Autos, der Wohnungen und der Häuser, in der Zahl und den Entfernungen der Urlaubsreisen pro Jahr und in der Menge der in jedem Haushalt verfügbaren Bildschirme.
War zum Beispiel ein Austin Mini vor vierzig Jahren tatsächlich klein und transportierte mit 34 PS und 617 Kilogramm Gewicht immerhin vier Personen, gibt es ihn heute als Limousine, Cabrio, Roadster, Kombi, Coupé und SUV, mit bis zu 211 PS und 1.380 Kilogramm Gewicht. Ein Porsche 911 des Jahrgangs 2012, einstmals der Inbegriff des Sportwagens, übertrifft in seinen Außenmaßen und im Gewicht die frühere Staatslimousine Mercedes 300 S, auch bekannt als „Adenauer-Mercedes.“ Viele Autos sind inzwischen so groß, dass sie nicht mehr in Parkhäuser kommen und die Überholspuren von Autobahnbaustellen nicht mehr nutzen können.
Die Kaskade der permanenten Erhöhung von Aufwand wird auch durch noch so gut gemeinte Technologie nicht unterbrochen, sondern fortgeschrieben. Symbole dafür sind Hybrid-Geländewagen, die zwei Liter Benzin weniger verbrauchen als ihre konventionellen Schwestermodelle, wie diese zweieinhalb Tonnen wiegen und als Transportmittel keinen Deut weniger irrational sind. Die EU hat derlei Unfug inzwischen kodifiziert: die Produktkennzeichnung Pkw-EnVKV, die die Energieeffizienz von Autos markiert, basiert auf der Berechnung von Schadstoffausstoß relativ zum Fahrzeuggewicht, so dass ein monströser Audi Q7 ein besseres Energielabel bekommt als irgendein Kleinwagen, der weniger als die Hälfte verbraucht. Darüber zeigt der Blick in die Geschichte, dass ressourceneffizientere Produkte die älteren, verbrauchsintensiven nicht ablösen, sondern neben sie treten. Das gilt übrigens auch im Bereich der Energie: Sowenig die Kohle das Verbrennen von Holz beendet hat, sowenig werden die erneuerbaren die fossilen ersetzen. Sie werden sie, so wie es jetzt schon der Fall ist, ergänzen. Da das Wirtschaftswachstum keine Sättigung kennt, wird der Energiebedarf sich immer am Angebot orientieren.
Was Wachstum materiell bedeutet, lässt sich deutlich anhand unserer Konsumkultur illustrieren: Die Menge an gekaufter Kleidung hat sich in den USA in nur einem Jahrzehnt (von 1998 bis 2007) verdoppelt, die an Möbeln um 150 Prozent gesteigert. Die Ikearisierung der Welt, also die Verwandlung langlebiger Konsumgüter in kurzlebige, schreitet mit irrsinniger Geschwindigkeit voran. Die Nutzungsdauer bei elektronischen Geräten wird bewusst von den Herstellern durch geplante Obsoleszenz verkürzt, und mittlerweile werden in den USA und in Europa 30 bis 50 Prozent aller Nahrungsmittel direkt entsorgt, weil sie nur noch gekauft, aber gar nicht mehr konsumiert werden.
Aber genau so muss es in einer Wachstumswirtschaft auch sein. Die funktioniert nämlich nur dann, wenn sie eben über die Befriedigung der vitalen Bedürfnisse hinaus pausenlos neue Bedürfnisse erfindet und die Verbraucher in dumpfe Befriediger von Wünschen verwandelt, von denen sie kurz zuvor noch gar nicht wussten, dass sie sie hegten. Und unermüdlich produziert die Nachhaltigkeitsindustrie Berechnungen und Labels zu CO2-Fußabdrücken, ökologischen Rucksäcken, virtuellem Wasser und übersieht dabei völlig, dass alles dieses längst in Produkte eingeht, die erstens niemand braucht und die zweitens gar nicht mehr konsumiert, sondern nur noch gekauft und weggeschmissen werden. Oder so funktionieren wie die Abfallerfindungsmaschinen vom Typ Nespresso. Erst setzt sich die absurde Strategie am Markt durch, pro Tasse Kaffee eine aufwändige Kunststoffkapsel mit zu verkaufen und das Produkt so mit einem exorbitanten Preis und einem noch grandioseren Müllfaktor zu versehen. Folgerichtig fällt dann irgendjemandem auf, dass hier ein ökologisches Problem vorliegt, und er beginnt, Ökokaffeekapseln für die Kapselkaffeemaschinen herzustellen. Schwupps ist ein Produkt als umweltfreundlich klassifiziert, das es vor kurzem noch gar nicht gab und das nur aufgrund seiner Inexistenz tatsächlich umweltfreundlich war.
Man sieht: Im Rahmen einer Fortschreibung der bisherigen wirtschaftlichen Strategien gibt es kein Entrinnen aus der Wachstumsspirale. Die Strategie der Effizienzsteigerung ist der kapitalistischen Wirtschaftsform inhärent; sie gehört zu ihm wie die Erzeugung von Mehrwert. Es kommt also darauf an, Ausstiegsszenarien aus der Wachstumswirtschaft zu suchen und zu finden, die wirksam werden, bevor das
System durch Ressourcenknappheit und Umweltstress kollabiert. Denn das ist ja die Alternative, vor der besonders die frühindustrialisierten Gesellschaften stehen: entweder das business as usual so lange fortzuschreiben, bis sich die noch vorhandenen Spielräume zum umsteuern unter dem wachsenden Stress verflüchtigen, oder die gegebenen Handlungsspielräume dafür zu nutzen, proaktiv eine wachstumsbefriedete, also zukunftsfähige Gesellschaft zu gestalten. Anders gesagt: Wenn es darum geht, das erreichte zivilisatorische Niveau – in Fragen der Bildung, Gesundheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie. – dauerhaft zu erhalten, kann das nicht durch Wachstum, sondern nur durch Kultivierung erreicht werden.
Um allerdings von einer Ökonomie des Wachsens zu einer Ökonomie des Kultivierens zu kommen, genügt es nicht, nur die wirtschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen zu verändern, obwohl schon das schier aussichtslos erscheint. Der Anschein von Aussichtslosigkeit rührt vor allem daher, dass es nicht nur die materiellen und institutionellen Infrastrukturen sind, die umgebaut werden müssen, sondern auch die mentalen. Denn Vorstellungen von unablässigem Wachstum, von Entwicklung, Fortschritt, Wettbewerb stecken ja nicht nur in den äußeren Bedingungen unserer Lebenswelt, sondern haben sich über eine nunmehr jahrhundertealte kulturelle Praxis auch in unseren Innenwelten installiert. Kein Lebenslauf, kein Karriereentwurf und kein Bausparplan, der nicht von einer Zukunftsvorstellung getragen wäre, in der von allem mehr da ist: mehr Wohlstand, mehr Raum, mehr Macht, mehr vom Gleichen. Die auf Wachstum und die Übernutzung von Ressourcen setzende Wirtschafts-, Konsum- und Mobilitätskultur hat sich bis in die kleinsten Nischen unserer Lebenswelt eingenistet und stellt einen festen Bestandteil unseres mentalen und emotionalen Haushalts dar.
Wenn heute von der dritten industriellen Revolution hin zu einer „grünen Ökonomie“ die Rede ist, dann wird immer übersehen, dass die Verwandlung der Außenwelt durch die erste industrielle Revolution mit der Verwandlung der Innenwelt der Menschen einher ging. Auch diese innere Verwandlung ist eng mit der Vorstellung vom beständigen Wachsen verbunden. Die Werte Selbstverantwortung, Disziplin, Wille werden schon für das Kind und Jugendlichen bedeutsam. Denn sie können nicht nur etwas aus sich machen, sondern sie müssen. Wilhelm von Humboldt nannte es: „in sich selbst soviel Welt als möglich zu ergreifen“. Und dieser nach innen verlegte Maximalismus erzeugte einen wachsenden Druck, auch mit sich selbst und seinem Leben ökonomisch umzugehen. Das Leben konnte jetzt mehr oder weniger erfolgreich geführt werden, so wie man ein Unternehmen führt. Und solche Lebensführung erforderte Kontrolle, Maß und Beobachtung.
Mit der Steigerung der ökonomischen und technologischen Innovationsgeschwindigkeit und der Flexibilisierung und Globalisierung der Kapitalströme und Produktionsstandorte haben sich die Biografien und Lebensläufe immer weiter flexibilisiert. Galt die kapitalistische Normalbiografie, gegliedert in eine schulische, vorberufliche oder akademische Ausbildungsphase, eine Berufsphase und eine relativ kurze Ruhestandsphase für einige Nachkriegsjahrzehnte als erwartbarer Lebenslauf, so hat sie sich seit den 1980er Jahren weitgehend aufgelöst und ist zu einem permanenten Projekt der Selbstoptimierung in Anpassung an sich beständig verändernde Bedingungen und Anforderungen der Arbeitswelt geworden. Nicht nur, was man ist, unterliegt einer chronischen Überprüfungs-, Innovations- und Veränderungsanforderung, sondern auch, wo man das ist. Das Selbst ist lediglich
eine Relais-Station der diversen Funktionserfordernisse, die sich mit seiner Lebenszeit kreuzen. Als Träger einer solchen Biografie ist man unablässig sein eigener permanenter Vorentwurf.
Man kann hier mit dem Soziologen Hartmut Rosa von einem sich beschleunigenden Prozess der Gegenwartsschrumpfung sprechen. Wenn alles im Fluss ist, kann man keine stabile Erwartung auf die Zukunft richten. Diese Schrumpfung ist keineswegs darauf beschränkt, welche Zeithorizonte jemand für seine Biografie berechnen kann, sondern gilt auch für die Beziehungsformen, die schon seit den 1970er-Jahren zunehmend Patchwork-Strukturen annehmen – und das sind immer solche mit größerer Varianz und geringerer Festigkeit. Hartmut Rosa schreibt: „Wenn Familie, Berufe, Wohnorte, politische und religiöse Überzeugungen und Praktiken im Prinzip jederzeit gewechselt werden bzw. sich verändern können, dann ist man nicht Bäcker, Ehemann von Y, Münchner, Katholik und Konservativer per se, sondern nur für Perioden von nicht genau vorhersagbarer Dauer. Man ist alle diese Dinge im Moment, das heißt in einer Gegenwart, die zu schrumpfen tendiert. Man war etwas anderes und wird jemand anderer sein. Der soziale Wandel verwandelt sich damit gleichsam in die Subjekte hinein. Interessant ist dabei die Frage, ob jene Beziehungen dann überhaupt noch Identität definieren können. Man ist nicht Bäcker, sondern man arbeitet seit zwei Jahren als Bäcker. Man ist nicht Ehemann von Y, sondern lebt mit Y zusammen, man ist nicht Münchner und Konservativer, sondern wohnt für die nächsten Jahre in München und wählt konservativ.“ Wichtig ist dabei, dass diese Verflüssigungstendenzen den Gegenwartsmoment zugleich immer bedeutsamer und immer fluider machen. Jede Station in der Gegenwart ist immer schon die Durchgangsstation für etwas, was danach kommt. In der Gegenwart ist man daher nicht da, sondern nur auf der Durchreise.
So wird das Selbst zu einer permanenten Entwicklungsaufgabe mit festgelegten Stufen und Zielen. Zeit wird zur entscheidenden Kategorie. Mache ich genug aus mir? Was kann, was muss ich herausholen aus meiner Lebenszeit? Lag die durchschnittliche Lebenserwartung der Weltbevölkerung um 1800 bei 30 Jahren, betrug sie im Jahr 2000 bereits 67 Jahre mit deutlichen Ausschlägen nach oben in den Industriegesellschaften. Der immer weiter hinausgeschobene Horizont der Lebenszeit befördert die Vorstellung, auch diese bestehe in einem Prozess beständigen Anwachsens. Wer seiner eigenen Lebenszeit das Maximale abgewinnen muss, sieht sich nicht mehr in einen Generationszusammenhang eingebunden, in dem die eigene Lebenszeit nur eine Episode in aufeinanderfolgenden und aneinander gebundenen Leben ist, sondern hat nur noch sein eigenes einzelnes Leben. Auch darum gilt es, möglichst viel aus der verfügbaren Lebenszeit zu machen, möglichst viel Zeit zu sparen, zu nutzen, zu akkumulieren.
In dieselbe Richtung hat sich seit der industriellen Revolution der Charakter der Arbeit verändert. Dem vorindustriellen Handwerker wie dem Künstler ging es ebenso wie dem jeweiligen Auftraggeber um die Erstellung eines bestimmten Gegenstands oder Werkes. Mit seiner Fertigstellung war die Arbeit beendet und für das fertige Stück gab es Geld. In der industriellen Produktion geht es dagegen schon lange nicht mehr um die Herstellung von Produkten und um Arbeit als Mittel zur Erreichung dieses Zwecks, sondern um ein System, in dem unablässig gearbeitet werden muss, um eine unendliche Menge von Produkten herzustellen. Das schöpft Mehrwert und damit investives Kapital, das sofort wieder in die Verbesserung der Produktion oder
in die Erweiterung der Produktpalette gesteckt wird, um den Unendlichkeitshorizont noch weiter hinauszuschieben. Nichts ist jemals fertig, die Arbeit hört niemals auf, das nächste Update wartet schon.
Hier kommen sie zusammen: der grenzenlose Wachstumsglaube und der niemals fertige, immer wachsende Mensch. Wachstum hat sich als Wert verselbständigt. Nun dient es nicht mehr nur, wie in der Nachkriegszeit, dem sozialen Frieden, sondern dem Wachstum selbst muss gedient werden – um jeden Preis. Das Ergebnis ist die erstaunliche Verwandlung von Substanziellem in bloße Durchlaufzustände. Jeder Herstellungsvorgang ist nur der Vorläufer des nächsten, jedes Produkt der Vorgänger des folgenden, jeder Arbeitsgang nur der vorläufige Akt in einer unendlichen Kette von Wiederholungen. Und exakt so geht Arbeit in die ökonomische Theorie ein: als eine in sich unbegrenzte, endlose Tätigkeit, die kein Ziel an sich hat, sondern der unablässigen Schöpfung von Wert dient. Genau das ist die Verwirklichung von Unendlichkeit auf Erden.
So wie die Arbeit unaufhörlich wird, so wird jeder Augenblick im Leben, jede Stufe im Lebenslauf, jeder Euro auf dem Konto lediglich zur Vorstufe jedes nächsten Abschnitts, jedes weiteren Euro. Und jede Stufe einer Biografie ist immer nur Vorstufe eines Selbst, das irgendetwas Nächstes zu erreichen hat. So wird das Leben zur permanenten Bringschuld.
Eine Wirtschaft ohne Wachstum ist das exakte Gegenteil davon. Daher erscheint sie gänzlich undenkbar, sie wird sofort mit Stillstand gleichgesetzt. Und wer sich persönlich nicht ständig weiter entwickelt, der gilt eben als stehengeblieben. Das findet sich in der Norm des lebenslangen Lernens und des produktiven Alterns ebenso wieder wie in den esoterischen Selbstfindungssuchen nach dem wahren Ich, dem positiven Leben, die systematisch genauso wenig jemals an ein Ende kommen können wie die Selbstausbeutungsfetischismen der Laptop-Männer, die alle Züge, Flugzeuge und Wartelounges dieser Welt bevölkern. Alle werden niemals fertig.
Wir existieren in einer Kultur des permanenten Vorspiels für ein fiktives nächstes Stadium. Den Sinn dazu liefert Konsum. Es gilt als Freizeitbeschäftigung, shoppen zu gehen, und am 12. September 2001, am Tag nach dem Anschlag auf das World Trade Center, forderte Rudolph Giuliani, der Bürgermeister von New York, seine Mitbürger auf: „Show you’re not afraid, go shopping!“ – „Zeigt ihnen, dass ihr keine Angst habt, geht einkaufen!“ Kaufen ist also die Waffe, die Gesellschaften unseres Typs der Bedrohung von außen noch entgegen zu setzen haben. Und in der Tat scheint der Kaufakt selbst zur letzten sinnstiftenden, gemeinschaftstiftenden Handlung geworden zu sein.
Das mag am Ende auch ein Grund dafür sein, dass im Augenblick alle Energie, zu der Politiker fähig sind, in das Vorhaben gepumpt wird, den Euro zu retten. Wohlgemerkt: nicht die Freiheit, die Demokratie, die Menschenrechte, die Gleichheit, die Aufklärung oder was es sonst für rettenswerte Errungenschaften der Zivilisation gäbe, sondern eine Währung. Mehr noch: Dieser Rettung werden demokratische Verfahren nachgeordnet. In ihrem Namen werden Regierungen ausgetauscht, ganze Länder in finanzpolitische Protektorate verwandelt. Man sieht also, wie weit es geht. Gesellschaften unseres Typs befriedigen Sinnbedürfnisse fast ausschließlich über Konsummöglichkeiten, und deren Aufrechterhaltung wird zum zentralen Inhalt der
Politik. Um einen anderen Referenzpunkt zu finden, von dem aus auf das Gegebene zu blicken wäre, müsste man also andere Sinnstiftungen neben dem Konsum finden oder einfach nur wiederfinden. Menschen, die Kinder und Enkel haben, wissen, dass sich Sinn auch über Entscheidungen oder Handlungen gewinnen lässt, die über die eigene Lebenszeit hinausweisen und das eigene Dasein überleben werden. Auch der Referenzpunkt für den Kauf einer Immobilie oder für den Abschluss einer Ausbildungsversicherung liegt in der Zukunft, nicht in der Gegenwart. Und exakt das könnte ja ein Anhaltspunkt dafür sein, wie sich neue Ansatzpunkte und Motive für Veränderung gewinnen ließen.
Um zu einer Vorstellung darüber zu gelangen, was heute getan werden muss, ist eben ein rastloses Verweilen in der Gegenwart nicht ausreichend. Da endet man nur beim Nachplappern der Wachstumsrhetorik und beim Fortschreiben von Strategien, die nicht zukunftsfähig sind. Um Veränderung als positiv definieren zu können, muss wieder die schon lange nicht mehr gestellte Frage aufgeworfen werden, wie wir eigentlich leben wollen, wie unsere Gesellschaft, sagen wir, im Jahr 2025 aussehen soll. In der Grammatik gibt es die interessante Zeitform des Futur II, das einen künftigen Zustand beschreibt, auf den man zurückblickt: Es wird gewesen sein. Erst aus einer solchen Perspektive, nämlich wer man einmal gewesen sein möchte, lässt sich bestimmen, welche Maßnahmen heute sinnvoll und angemessen sind. Das ist nämlich ins Konkrete übersetzt die Frage danach, ob man Teil jener Generation gewesen sein möchte, die den Planeten ruiniert hat, weil sie dumm und ungeprüft Glaubenssätzen von Wachstum, Fortschritt und Wettbewerb gefolgt ist, ohne zu prüfen, wie weit sie tragen – oder ob man Teil jener Generation gewesen sein möchte, die die Zeichen der Zeit erkannt und noch rechtzeitig umgesteuert hat. Der Verzicht auf Wachstum ist eine Frage von Intelligenz. Es kann künftig nur noch um weniger gehen, nicht mehr um mehr.
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