Ralf Caspary mit Hartmut Rosa im Gespräch : Beschleunigt in den Untergang .Wie unsere Turbogesellschaft tickt
Resonanz ( R. Caspary, H. Rosa)
-ds-swr2aula15-12beschleunigung-resonanz
Ralf Caspary mit Hartmut Rosa im Gespräch : Beschleunigt in den Untergang .Wie unsere Turbogesellschaft tickt
http://www.swr.de/swr2
'Von der Beschleunigung zur unverfügbaren Resonanz'
Quintessenz:
'Die Resonanz hat
immer einen Moment von
Unverfügbarkeit'.
(Ein Haiku nach Hartmut Rosa)
"Es sind feine Resonanzbeziehungen, die eigentlich Subjekt und Welt erst einmal hervorbringen. Ich glaube, man kann mein Konzept unesoterisch und sehr nüchtern definieren. Dieses Nicht-verfügbar-machen-Können und vor allen Dingen auch die Nicht-Akkumulierbarkeit und –Steigerbarkeit von Resonanzbeziehung schützen sie gegen eine umstandslose Kommodifizierung, Vermarktung und Verdinglichung", Hartmut Rosa.
Buchfassung:
jann@suhrkamp.de
Hartmut Rosa : Resonanz - Eine Soziologie der Weltbeziehung
Gebunden, 784 Seiten; ISBN: 978-3-518-58626-6; D: ca. 32,95 € A: ca. 33,90 € CH: ca. 44,90 sFr
Beschleunigt in den Untergang . Wie unsere Turbogesellschaft tickt
Sendung: Sonntag, 6. Dezember 2015
Inhalt
Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung. Dies ist, auf die kürzestmögliche Formel gebracht, die Kernthese des neuen Buches von Hartmut Rosa, das als Gründungsdokument einer Soziologie des guten Lebens gelesen werden kann. An seinem Anfang steht die Behauptung, dass sich die Qualität eines menschlichen Lebens nicht in der Währung von Ressourcen, Optionen und Glücksmomenten angeben lässt. Stattdessen müssen wir unseren Blick auf die Beziehung zur Welt richten, die dieses Leben prägt und die dann, wenn sie intakt ist, Ausdruck stabiler Resonanzverhältnisse ist.
Um dies zu begründen, präsentiert Rosa zunächst das ganze Spektrum der Formen, in denen wir eine Beziehung zur Welt herstellen, vom Atmen bis hin zu kulturell ausdifferenzierten Weltbildern. Dann wendet er sich den konkreten Erfahrungs- und Handlungssphären zu – etwa Familie und Politik, Arbeit und Sport, Religion und Kunst –, in denen wir spätmodernen Subjekte Resonanz zwar suchen, aber immer seltener finden. Das hat maßgeblich mit der Steigerungslogik der Moderne zu tun, die sowohl Ursache als auch Folge einer gestörten Weltbeziehung ist, und zwar auf individueller wie kollektiver Ebene. Denn auch die großen Krisentendenzen der Gegenwartsgesellschaft – Ökokrise, Demokratiekrise, Psychokrise – lassen sich resonanztheoretisch analysieren, wie Rosa in seiner Soziologie der Weltbeziehung zeigt. Als eine umfassende Rekonstruktion der Moderne in Begriffen ihrer historisch realisierten Resonanzverhältnisse wagt sie den Versuch, den Rahmen für eine erneuerte Kritische Theorie abzustecken.
Gebunden, 784 Seiten; ISBN: 978-3-518-58626-6; D: ca. 32,95 € A: ca. 33,90 € CH: ca. 44,90 sFr
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Sendung: Sonntag, 6. Dezember 2015
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2015
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
AUTOR
Prof. Hartmut Rosa, geb. 1965, studierte Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik. 1997 promoviert er zum Dr. rer. soc. mit Summa Cum Laude. 2004 habilitierte er sich an der Schiller-Universität in Jena mit dem Thema "Soziale Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne". Rosa ist heute Professor für Soziologie an der Universität Jena.
Arbeitsschwerpunkte:
Zeitdiagnose und Moderneanalyse, Normative und empirische Grundlagen der Gesellschaftskritik, Subjekt- und Identitätstheorien, Zeitsoziologie und Beschleunigungstheorie, Soziologie der Weltbeziehung.
Bücher (Auswahl):
– Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp. März 2016.
- Beschleunigung und Entfremdung – Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit (zus. m. R. Celikates). Suhrkamp. 2013.
ÜBERBLICK
Wir wollen es in der modernen Gesellschaft immer schneller, besser, effizienter. Wir wollen in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Wissen aufnehmen, möglichst viel kommunizieren, möglichst viel im Job erledigen, möglichst viel entspannen. Doch subjektiv haben wir dazu einfach keine Zeit mehr, was im Endeffekt zum Burnout führt, der Krankheit des 21. Jahrhunderts. Hartmut Rosa, Professor für Soziologie an der Universität Jena, beschreibt Ursachen und Wirkungen der permanenten Beschleunigung.
INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: "Beschleunigt in den Untergang – Wie unsere Turbogesellschaft tickt."
Letzte Woche ging es in der AULA um die Unruhe in der Welt, der Philosoph Ralf Konersmann erklärte das Phänomen ideen- und motivgeschichtlich. Heute geht es um soziologisch-psychologische Aspekte, um die Frage, was macht die Beschleunigung mit uns, wie zeigt sie sich genau in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen.
Ich begrüße den Soziologen Professor Hartmut Rosa zum Aula-Gespräch, Beschleunigung ist sein Forschungsgebiet.
Interview:
Caspary:
Guten Morgen Herr Rosa. In welchen gesellschaftlichen und ökonomischen Bereichen zeigt sich für Sie Beschleunigung. Lassen Sie uns eine kleine Sammlung anlegen.
Rosa:
Sie zeigt sich in mehr oder minder allen Lebensbereichen, wenngleich in unterschiedlicher Form. Was wir unmittelbar wahrnehmen, sind die technischen Beschleunigungen, z. B. im Transport- und im Kommunikationswesen oder auch in der Produktion von Gütern und Dienstleistungen.
Caspary:
Ist der Kapitalismus der wichtigste Motor für Beschleunigung?
Rosa:
In Bezug auf die rasante technische Entwicklung ist der Kapitalismus in der Tat ein zentraler Antriebsfaktor, weil wir schneller produzieren und damit Arbeitszeit einsparen, Produkte werden billiger und Absatzchancen erhöhen sich. Fast immer versprechen uns technische Neuerungen einen Zugewinn an Zeit: die Mikrowelle, der Haartrockner, Computer und Smartphone sowieso. Dennoch nehmen wir die Beschleunigung oft als Zeitdruck wahr, was eigentlich rätselhaft ist. Wir denken zwar, das läge an der Technik. Aber das stimmt so nicht. Technische Geräte können uns tatsächlich dabei helfen, Zeit zu sparen, so dass wir entschleunigt und langsamer leben können. Erstaunlicherweise ist das aber nicht der Fall. Unserer spätmodernen Gesellschaft geht regelrecht die Zeit aus – vielleicht sogar schneller als das Rohöl. Und das liegt nicht an der schnelleren Technik, sondern daran, dass sie uns mehr Welt erreichbar macht. Wenn ich z. B. das Auto nutze, kommt viel mehr Welt in meinen Horizont, als wenn ich wie früher zu Fuß gehe. Dann ziehe ich vielleicht in Erwägung, zum Arbeiten, zum Einkaufen oder in der Freizeit in die Nachbarstadt zu fahren. Die Welthorizonte explodieren, und das führt dazu, dass uns die Zeit immer knapper wird – trotz technischer Beschleunigung.
Technik setzt objektiv Zeit-Ressourcen frei. Wenn ich in zehn Minuten mit dem Auto irgendwohin fahre, wofür ich zu Fuß eine Stunde gebraucht hätte, habe ich 50Minuten Zeit eingespart. Das müsste eigentlich dazu führen, dass mein Lebenstempo sinkt. Dass wir dennoch unter Zeitnot leiden, liegt daran, dass unsere To-do-Liste länger geworden ist. Die Zahl von Dingen, von denen wir glauben, dass wir sie unbedingt tun müssten oder tun wollen, steigt viel schneller als wir Zeit einsparen. Das führt dazu, dass wir bei fast allen Tätigkeiten das Gefühl haben, wir müssen uns beeilen, wir haben nicht genügend Zeit, wir sollten knapper planen oder mehrere Dinge gleichzeitig tun.
Caspary:
Leben wir denn mit einem selbst verordneten Imperativ: Erledige soviel wie möglich in einem gewissen Zeitabschnitt?
Rosa:
Ich glaube, das wirkt sich so in unserer Lebensführung aus. Wir leben im Bewusstsein, dass Zeit ein knappes Gut ist, das wir nicht verschwenden sollten. Man kann das unseren Zeit-Habitus nennen: Die Grundorientierung gegenüber der Zeit und damit gegenüber der Welt und dem Leben ist, dass Zeit immer zu knapp ist und dass wir versuchen, immer mehr zu tun. Nichts desto trotz werden wir am Ende des Tages feststellen, dass wir wieder nicht alles erledigt haben, was man von uns legitimer weise erwarten konnte. Mit legitim meine ich, dass es Kontexte gibt, in denen wir gefragt werden: "Wieso hast du das nicht getan?" Diese Frage begegnet uns in allen möglichen Lebensbereichen: "Wieso hast du deine Software oder den Virenschutz wieder nicht aktualisiert? Wieso hast du dich noch nicht um deine Altersvorsorge gekümmert? Wieso hast du dich nicht um die beste Schule für deine Kinder gekümmert? Wieso hast du immer noch die alten Kleider?" Die Zahl der legitimen Erwartungen steigt viel schneller als wir sie abarbeiten können. Dazu gehören auch Sätze wie "Wieso hast du dich nicht um deine Gesundheit gekümmert und bist mehr joggen gegangen oder hast mehr Yoga geübt oder Entspannung und Meditation?" Es ist unmöglich, die Zahl der legitimen Erwartungen an uns abzuarbeiten, so dass wir uns am Ende des Tages immer schuldig fühlen.
Caspary:
Das ist eine sehr interessante Analyse, ein Leben im Defizit, würde ich sagen. Auf der anderen Seite sind wir umgeben von Imperativen wie: Lerne dein Leben lang! Sei effizient! Sei kognitiv immer möglichst auf der Höhe! Wir haben also das Leben im Defizit, die Imperative und eine ewige To-do-Liste, die wir nicht abarbeiten können. Woher kommt das, wenn wir in die Geschichte blicken?
Rosa:
Der Kapitalismus spielt eine entscheidende Rolle. Seit dem 18. Jahrhundert können moderne Gesellschaften, besonders in ihrer ökonomischen Verfassung, ihre institutionelle Grundstrukur, ihren Status quo nur durch Steigerung erhalten. Eine moderne kapitalistische Wirtschaft muss wachsen, und sie wächst durch Beschleunigung und permanente Innovation, um so zu bleiben, wie sie ist. Ohne andauernde Steigerung, z. B. auch der Produktivität, und ohne ständige Neuerung können sich z. B. Firmen und Arbeitsplätze, überhaupt die ökonomische Aktivität als solche, nicht erhalten. Das heißt, Steigerung entstand in erster Linie nicht durch unsere Gier, unsere Unersättlichkeit, durch den Zug nach vorne, sondern eher dadurch, dass wir sie brauchen, um den Status quo zu erhalten. Das ist der Modus dynamischer Stabilisierung: Erhaltung durch Steigerung, und das macht sich in all unseren Lebensbereichen durch einen Zwang zu Optimierung und Effizienzsteigerung bemerkbar.
Caspary:
Wie sind wir in dieses Paradoxon hineingeraten?
Rosa:
Nehmen wir das Beispiel Griechenland: Wenn Wachstum über mehrere Jahre ausbleibt oder es sogar zu einer Schrumpfung kommt, dann erodieren die institutionellen Strukturen auf allen Ebenen: Firmen müssen schließen, Arbeitsplätze gehen verloren, das Steuereinkommen sinkt, gleichzeitig steigen die Ausgaben des Staates beispielsweise für sozialstaatliche Unterstützung von Arbeitslosen und für Infrastrukturmaßnahmen. Das führt zu einem massiven Haushaltsdefizit und zu einer Gefährdung oder sogar einem Zusammenbruch des Sozialstaats, des Bildungssystems, des Gesundheitssystems, zu einer Delegitimierung des politischen Systems, auch das sehen wir in Griechenland. Schließlich droht ein Systemab- oder –zusammenbruch. Wie wir da hineingeraten sind? Ich glaube, das war ein schleichender Prozess. Am Anfang sieht es ja gar nicht danach aus. Natürlich ist ein kapitalistisches Wirtschaftssystem auch ein sehr effizientes, das zunächst die Überwindung von Knappheit und die Erschließung ganz neuer Möglichkeiten verspricht. Die Beschleunigung verspricht die Überwindung von Zeitknappheit, die wissenschaftlich-technischen Neuerungen ein besseres Leben.
Als diese Dynamik im 18. Jahrhundert in die Gesellschaft hineinkommt, war nur die Fortschrittsverheißung spürbar. Steigerung wurde nicht als Mechanismus zur Erhaltung des Status quo wahrgenommen, sondern zur Veränderung des Status quo. Die Idee dahinter war: Wir verbessern unsere Welt und überwinden Hunger, Armut, Knappheit – auch Zeitknappheit und Unwissenheit. Wir verbessern das Leben. Und dann kommt es zu einer ganz langsamen allmählichen Verschiebung in der Wahrnehmung, nämlich dass sich die Verheißung in einen Zwang wandelt.
Man kann das auch an der Semantik sehen, wie wir über unser eigenes Leben nachdenken, aber auch wie die Politik Reformen verkauft. Die Agenda 2010 der Regierung Schröder, die heute als wichtiger Schritt zur Restabilisierung Deutschlands gefeiert wird, wurde nicht mit der Idee begründet, dass unser Leben viel besser würde, sondern es ging um eine notwendige Struktur-Anpassung. Also ganz allmählich verdüstert sich der Verheißungshorizont und der Zwangsmechanismus wird sichtbarer. Heute wird uns klar, dass wir die Knappheit, den ökonomischen Existenzkampf, den Konkurrenzdruck nicht durch Steigerung der Effizienz überwinden und auch unsere Zeitnot nicht durch technische Beschleunigung lindern. Wirtschaftliche Aktivität ist notwendig darauf angelegt, dass Profit generiert wird. Marx beschreibt das mit der Formel GWG' (Geld, Ware, mehr Geld). Kein Mensch investiert heute Geld ohne die Hoffnung, dass daraus ein bisschen mehr Geld wird. Das ist die Logik der Wirtschaft.
Ich finde es aber interessant, dass wir das gleiche z. B. im Bereich des Wissens sehen. Wissen ist für die allermeisten Kulturen, die wir kennen, so etwas wie ein Schatz. Man muss wissen, wie man Dinge tut. Das bezieht sich sowohl auf Erfahrungs- als auch auf Handlungswissen: Wie und wann man sät und erntet, wie man einen Hirsch erlegt. Fast immer gehört dazu auch das Wissen über kultische Handlungen, oft ein Geheimwissen, das z. B. von einem Priester zum nächstenweitergegeben wurde. Und meistens gibt es dafür Heiligenquellen oder Offenbarungen. Oder es ist ein Wissen, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Aber immer ist dieses Wissen eine Art Schatz, der bewahrt wird.
Zentral ist dabei die Übergabe. In der Moderne wird es zur Wissenschaft, und in der Idee des "Schaffens" hören Sie schon eine Dynamisierung. Die Wissenschaft legt es nicht darauf an, bestehendes oder gar geheiligtes oder geoffenbartes Wissen zu transportieren. Sondern es geht ihr darum, permanent die Grenzen des bestehenden Wissens zu erweitern, sie lebt davon, dass sie ununterbrochen neue Fragen stellt, neue Ergebnisse und Erkenntnisse erzielt und dabei die Grenzen systematisch ausweitet. Das ist ein neues Konzept von Wissen, in dessen Zuge Forschung wichtiger wird als Lehre. Die Umstellung, dass die institutionelle Grundstruktur, die gesellschaftliche Formation, sich nur durch Steigerung erhalten kann, scheint mir im 18. Jahrhundert wirklich maßgeblich zu sein.
Caspary:
Ich bleibe bei der Wissensstruktur. Es scheint, dass eine wissenschaftliche Studie die andere jagt, ein neuer Wissensbaustein den anderen ablöst, und wir haben das Gefühl, diese Wissenspartikel werden uns "um die Ohren gehauen", während wir etwas orientierungslos in der Informationsflut stehen?
Rosa:
Ich komme nochmal kurz auf die Ökonomie zurück, denn es gibt eine genaue Parallele zur wirtschaftlichen Entwicklung. Das kapitalistische System wurde nicht nur in der marxistischen Tradition immer mit der Hoffnung verbunden, irgendwann den ökonomischen Existenzkampf, diese Grundangst, an Knappheit oder Armut leiden zu müssen, besiegen zu können. Marx wollte ökonomische Knappheit durch den Anstieg der Produktivitätskräfte überwinden. Aber dieses Versprechen haben auch Anhänger des Kapitalismus gegeben. Das ist bei Adam Smith zu beobachten, aber auch bei Ludwig Erhard.
Die Idee war, wir schaffen ein System, wir schaffen Reichtum, der es uns ermöglicht wegzukommen von der Fixierung aller Energien auf den ökonomischen Konkurrenz- und Existenzkampf. Heute haben wir diese Hoffnung verloren, heute sagt jeder, der Wettbewerb wird noch viel härter werden. Asien holt uns bald ein, wir werden ein globales gnadenloses Wettbewerbssystem haben. Das meinen fast alle Ökonomen. Die Hoffnung, Knappheit, Armut, die Fixierung auf den Existenzkampf durch wirtschaftliche Effizienz zu überwinden, ist erloschen. Und in der Wissenschaft ist es erstaunlicherweise genauso. Sie haben recht: Es werden permanent neue Studien veröffentlicht und neue Kenntnisse generiert.
Aber eigentlich verlieren wir das Wissen geradezu, insbesondere das Wissen des Alltagslebens. Für die Menschen der meisten Kulturen und Generationen stellte sich früher vielleicht die Frage, wo sie ihre Nahrung herbekommen, aber nicht, was sie überhaupt essen sollen. Heute gibt es eine Menge Studien über angeblich gesundes Essen, die uns völlig verunsichern können: Soll ich viel Wasser trinken oder weniger oder nur morgens? Im Blick auf unser Weltverhältnis, auf unsere Weltbeziehung stellen wir eine zunehmende Verunsicherung fest. Und deshalb hat sich auch da der Horizont eingetrübt. Keiner glaubt mehr, dass uns die Wissenschaft irgendwann Antworten darauf liefert, wie wir leben sollen. Unsere Verheißungshorizonte haben sich eingetrübt.
Caspary:
Was macht die Beschleunigung mit unserer Selbst- und Welterfahrung?
Rosa:
Ich glaube, dass die Veränderung der Zeitstrukturen, die Dynamisierung von Welt und die damit verbundenen Beschleunigungszwänge unser Verhältnis zur Welt, unsere Beziehung zur Welt verändern. Wir sind auf eine andere Weise in die Welt gestellt, mit einer größeren Distanzierung oder auch mit einer, wie ich es nennen möchte, verdinglichenden Welthaltung. Zum einen beginnt der gefühlte Zeitdruck uns zu beherrschen. Bei allem, was wir tun, stehen wir unter innerem Druck, noch ganz viel anderes erledigen zu müssen, so dass ich nicht nur von außen, sondern auch innerlich gedrängt bin, schnell, effizient, zielstrebig und genau zu sein. Und das verknüpft sich mit der Optimierungslogik, permanent das Beste haben zu müssen und das Beste aus uns selbst zu machen. Das führt zu einer Art Verhärtung. Ich habe das auch versucht, mit dem Begriff der Entfremdung zu beschreiben, nämlich mit der Idee zu verknüpfen, dass es uns schwerfällt, uns der Welt anzuverwandeln. Ich glaube, die Orientierung, die wir dem Leben gegenüber einnehmen, ist eine, die auf Aneignung zielt. Ich nenne das auch: Vergrößerung von Weltreichweite. Wir sind gezwungen, zum Teil wollen wir das auch, so zu leben, dass wir immer mehr Leben in Reichweite bringen. Indem wir Geld verdienen z. B., damit machen wir Dinge erreichbar: Ich kann nach Rio oder Tokio fliegen, wenn ich will. Aber wir wollen auch technisch mehr Welt verfügbar machen – ein Smartphone bringt mir die Welt sozusagen in die Hosentasche.
Ein anderes Beispiel: Gerade junge Menschen wollen in der Stadt leben. Warum? Weil sie da ein Kino, ein Theater, eine Oper, ein Fußballstadion, einen Zoo haben. Wir wollen uns also Dinge aneignen, wir wollen sie optimieren, ansammeln – aber wir bringen sie kaum mehr zum Sprechen. Ich versuche zu unterscheiden zwischen dem Prozess der Aneignung von Dingen und der Anverwandlung. Ich habe mir eine Sache erst anverwandelt, wenn ich sie für mich zum Sprechen gebracht habe, wenn ich eine Beziehung zu dieser Sache einnehme, die mich dabei berührt, wirklich bewegt und verändert. Ich nenne solche Beziehungen Resonanzbeziehungen.
Alle Menschen kennen solche Beziehungen. Das können Beziehungen zu anderen Menschen sein, mit denen wir reden oder mit denen wir umgehen. Das können Kollegen sein, Partner oder Kinder, wenn wir z. B. Lehrer sind. Anverwandlung heißt, wir bedeuten uns gegenseitig etwas, wir erreichen etwas und wir gehen in einen Prozess, der uns verändert. Das ist nicht nur mit einem Menschen so, das kann z. B. mit einem Musikstück oder mit einem Buch sein, das ich lese. Ich kann es im Power- oder Fast-Reading so schnell lesen, dass ich alle relevanten Informationen scanne und mir aneigne. Aber es ist etwas ganz anderes, ein Buch so zu lesen, dass es etwas mit mir macht oder dass ich etwas mit ihm mache. Das nenne ich Anverwandlungsprozesse, die zur Resonanzbeziehung führen. Diese Resonanzbeziehungen werden, glaube ich, erschwert in einem Klima der Konkurrenz, der Optimierung und der Beschleunigung.
Das kann dazu führen, dass unsere Resonanzachsen verstummen. Wir haben das Gefühl, in einer Welt zu operieren, die eigentlich schweigt, die so etwas wie totes Material wird. Wenn es uns ganz schlecht geht, geraten wir darüber in einen Zustand des Burn-out, vor dem nicht nur betroffene Menschen Angst haben, sondern auchviele Gesunde. Ich glaube, Burn-out ist der Zustand, in dem alle Resonanzachsen schweigen. Diese Menschen haben zwar eine Familie, einen Arbeitsplatz, Hobbys, aber sie bedeuten ihnen nichts, sie scheinen zu schweigen, sie scheinen tot und leer zu sein. Und so sieht es auch im Menschen selbst aus. Diesen Zustand würde ich als Entfremdung identifizieren und charakterisieren. Ich glaube, das ist die große Bedrohung am Horizont als Folge einer Beschleunigungs-Gesellschaft.
Caspary:
Verdinglichung ist ein zentraler Begriff z. B. bei Lukácz und Adorno. Wandeln Sie auf den Pfaden von Adornos Kapitalismus-Kritik?
Rosa:
Ich versuche durchaus, an der kritischen Theorie anzuschließen. Aber darüber hinaus gibt es in der Selbstbetrachtung der Moderne, in der philosophischen, in der soziologischen, auch in der literarischen tatsächlich einen durchgängigen Trend der Sorge vor dem Verstummen von Welt. Max Weber, der ja nicht in der kritischen Theorie steht, diagnostizierte eine "Entzauberung von Welt". Und das ist eine ähnliche Idee wie die des Weltverstummens. Übrigens heißt Entzauberung auf Englisch "disenchantment" oder auf Französisch "désenchantement", wörtlich übersetzt heißt das das Aufhören von Singen, das Ende des Singens, also das Verstummen von Welt. Das ist auch der Kern der Marxschen Entfremdungsdiagnose oder, Sie haben es gesagt, der Verdinglichungsdiagnose bei Lukácz und bei Adorno.
Das heißt, es gibt eine große Angst in der modernen Kultur, dass wir zwar Welt erreichbar machen und dass wir sie beherrschen, dass wir aber so etwas wie den Faden zu ihr verlieren, den Draht, der uns berührt und der es uns auch erlaubt, uns selbst als wirksam in dieser Welt zu erleben. Interessant finde ich, dass alle diese Denker auch eine vage Idee des Gegenteils am Horizont zeichnen. Bei Weber ist es die schillernde Idee des Charismas. Er glaubt, dass einige Menschen Charisma entwickeln können, mit dem sie der Entzauberung entgegenwirken und Leben und Dynamik in die Welt hineinbringen. Bei Adorno gibt es die Idee eines mimetischen Weltbildes, das eher ein anschmiegendes, auch nachahmendes Verhältnis ist statt ein verdinglichendes und beherrschendes. Bei Walter Benjamin gibt es die Idee der Aura oder eines auratischen Weltverhältnisses, das auch sehr schillernd ist. Man weiß gar nicht genau, was er damit meint, weil dieser Begriff in seinen Werken auch variiert. Marcuse nennt es direkt ein erotisches Weltverhältnis. Er sagt, wir müssen es schaffen, ein Verhältnis auch zur Arbeit zu entwickeln, das eher von Libido oder Liebe geprägt ist, nicht in sexueller Hinsicht, sondern in bedeutungsgeladener Hinsicht, dass wir uns so in die Arbeit vertiefen können, dass sie uns innerlich zu erreichen vermag. In meinem Buch "Resonanz – eine neue Soziologie der Weltbeziehung", das im März 2016 erscheint, habe ich versucht, alle diese vagen Konzeptionen eines auratischen, charismatischen, mimetischen und erotischen Weltverhältnisses in dem Begriff der Resonanz zu vereinen. Ein resonantes Weltverhältnis ist, glaube ich, das, was als vage Gegenfolie in der Geschichte des modernen Denkens immer wieder aufscheint.
Caspary:
Wo es z.B. auch aufscheint, fällt mir jetzt gerade ein, ist in der Epoche der Romantik bzw. in der Philosophie und der Literatur der Romantik. Denn da wird ja oft davon geredet, dass der Dichter die Dinge aufschließt, dass es ihm nicht um ein Haben geht, sondern um ein Sein, dass die Dinge plötzlich zu ihm reden.
Rosa:
Novalis hat das schön auf den Punkt gebracht, aber auch Eichendorff in der Wünschelrute: Schläft ein Lied in allen Dingen / Die da träumen fort und fort / Und die Welt / Triffst du nur das Zauberwort. Man kann also die Welt sogar zum Singen bringen. Sie haben völlig recht: Da entsteht ein starker Gegentrend, nämlich das Bild der singenden Welt, das wir bei Novalis, bei den Schlegels, bei Tieck finden können. Das ist die interessante Gegengeschichte. Man darf die Moderne nicht verstehen oder interpretieren als eine Entwicklungsgeschichte des Weltverstummens durch Weltbeherrschung und Weltkontrolle, sondern es gibt eine entgegenstehende Sensibilisierung für ein anderes Weltverhältnis, das z.B. in der Romantik bezogen wird auf Kunst. Kunst gewinnt eine große Bedeutung. Wir machen mit der Musik solche Erfahrungen, in der Literatur, der Poesie, die eine andere Art des In-der-Welt-Seins möglich macht. Aber auch Natur, der Wald wird bis heute als Resonanz-Sphäre aufgeladen. Besonders in Deutschland ist das so. Wenn die Deutschen in den Wald gehen, stehen sie nicht einfach Festmetern oder Holzmasten gegenüber, sondern so etwas wie einem atmenden, lebenden Ganzen. Wir erfahren Natur als Resonanzsphäre, übrigens auch die Berge. Es gibt die große Sehnsucht nach den Bergen bis hin zu Titeln wie "Der Berg ruft" oder auch "Das Meer ruft".
Caspary:
Das sind die romantischen Bilder, die da auftauchen.
Rosa:
Genau. Und dadurch wird Natur für uns zu einer Resonanzsphäre. Genauso übrigens wie Kunst und auch Geschichte. Und wir tragen diese Sehnsucht nach resonanten Verhältnissen natürlich auch in Sozialbeziehungen. Gerade durch romantische Ideen haben wir die partnerschaftliche Liebe zwischen Intimpartnern aufgeladen mit der Resonanzhoffnung, da solle genau das Ende aller Verdinglichung, Optimierung stattfinden. Auch im Verhältnis zu den Kindern.
Caspary:
Wenn Sie als Soziologe diese Gesellschaftskritik vornehmen und diese Phänomene und ihre Gegenbilder beschreiben und mit dem Begriff Resonanz arbeiten, müssen Sie sich dann nicht öfter den Vorwurf gefallen lassen, ins Esoterische abzudriften oder in eine Heideggerische Resonanz-Euphorie?
Rosa:
Eine Gefahr ist es definitiv zu denken, Resonanz sei entweder direkt ein esoterischer Begriff oder er sei zumindest anschlussfähig an die Esoterik. Ein anderes Risiko besteht darin, dass daraus Ratgeber-Literatur produziert wird nach dem Motto "Mehr Erfolg im Beruf durch Resonanz" oder "Harmonische Partnerschaften durch Resonanz". Ich habe große Anstrengungen unternommen, mich gegen diese beiden Gefahren zu wappnen. Ich glaube aber, die Tatsache, dass sie bestehen, macht das Konzept noch nicht nutzlos. Denn man kann Resonanz auch anders fassen und sehr nüchtern beschreiben. Momente der Resonanz haben zwei Seiten: Er berührt mich innerlich. Und das hat eben physische Auswirkungen auf mich, z. B. kann ich Tränen in den Augen haben. Aber man kann auch die Veränderung von Hautwiderstand oder die Atemfrequenz messen oder solche Prozesse neuronal sichtbar machen, Spiegelneuronen und bildgebende Verfahren sind Stichworte dazu. Diese Untersuchungen kann man einsetzen, um Resonanzbeziehungen zu messen.
Ich will damit sagen, nicht nur ein emotionaler Zustand des Berührtseins ist wichtig, sondern es muss ein zweites Moment hinzutreten, nämlich das, was Psychologen mit dem Konzept der Selbstwirksamkeit zu beschreiben versuchen. Eine Resonanzbeziehung bedeutet nicht nur, dass mich etwas von draußen erreicht, sondern ich muss auch selbst dieses Ding da draußen erreichen oder berühren können. Das kann ein anderer Mensch sein, oder wenn ich Geige spiele, erfahre ich Selbstwirksamkeit, weil ich es verstehe, diesem Instrument Töne zu entlocken. Ich habe versucht, Resonanz in philosophisch-abstrakten Begriffen erst einmal als eine Beziehung zwischen zwei Entitäten zu beschreiben, ich habe das angeschlossen an phänomenologische Forschung, wie man sie z. B. Maurice Merleau Ponty findet, der es so beschreibt, dass nicht das Subjekt zuerst da ist, und dann ist da draußen die Welt und dann treten die miteinander in Beziehung, sondern es sind feine Resonanzbeziehungen, die eigentlich Subjekt und Welt erst einmal hervorbringen. Ich glaube, man kann mein Konzept unesoterisch und sehr nüchtern definieren. Verdinglichen kann man es erfreulicherweise nicht, jedenfalls nicht umstandslos, weil nämlich Resonanzmomente immer ein Moment der Unverfügbarkeit, wie ich es nenne, beinhalten. Das heißt, ich kann noch so gute Bedingungen schaffen, um Resonanzbeziehungen zu erzeugen. Aber die Erfahrung der Resonanz ist damit nicht garantiert. Ich kann eine teure Safari durch den Urwald buchen und möglicherweise sagt mir die Natur, der ich dort begegne, gar nichts. Ich sehe prächtige bunte Tiere, aber sie berühren mich nicht, der Prozess der Anverwandlung findet nicht statt. Und ich kann die besten Konzert-Karten für Bayreuth, die Mailänder Scala oder auch für AC/DC kaufen und mich dort zu Tode langweilen. Umgekehrt ereignen sich Resonanzmomente da, wo ich sie überhaupt nicht vermute. Dieses Nicht-verfügbar-machen-Können und vor allen Dingen auch die Nicht-Akkumulierbarkeit und –Steigerbarkeit von Resonanzbeziehung schützen sie gegen eine umstandslose Kommodifizierung, Vermarktung und Verdinglichung.
Caspary:
Ich hoffe, Sie und ich hatten während des Gesprächs einen guten Resonanzraum. Vielen Dank.
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