Professor Stefan Sell: Betreuung für alle . Die Zukunft der Kinderbetreuung in Deutschland (Alternativtitel: Bildung für die ganz Kleinen)
SWR2 AULA –
Autor und Sprecher: Professor Stefan Sell *
(Abschrift eines frei gehaltenen Vortrags)
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 22. August 2010, 8.30 Uhr, SWR 2
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ÜBERBLICK
Die magische Zahl heißt: 35 Prozent. Bis zum Jahr 2013 soll für 35 Prozent der unter dreijährigen Kinder ein Betreuungsplatz zur Verfügung stehen. Doch wie sollen Städte und Kommunen das stemmen und vor allem: Stimmt diese magische Zahl überhaupt noch, oder müssen nicht weitaus mehr Kinder eines Jahrgangs betreut werden, weil immer mehr Mütter versuchen, Beruf und Familie zu vereinbaren? Angesichts der globalen Finanzkrise und angesichts der Verschuldung des deutschen Staates und seiner Kommunen ist fraglich, ob diese 35 Prozent überhaupt erreicht werden können, schon jetzt plädieren einige Politiker dafür, in diesem Bereich drastisch zu sparen. Stefan Sell, Professor für Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik an der FH Koblenz-Landau, nimmt falsche Zahlen, falsche Finanzierungsstrategien unter die Lupe und macht Alternativvorschläge.
Zum Autor:
Sozialwissenschaftler Stefan Sell
Stefan Sell ist Direktor des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik der FH Koblenz. Er absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Krankenpfleger, danach studierte er Sozialwissenschaft in Bochum. 1996 - 1999 war Sell Professor für Wirtschaftswissenschaft und Arbeitsmarktpolitik an der FH des Bundes für Öffentliche Verwaltung in Mannheim.
Studie zum Thema:
Gibt es einen Fachkräftemangel im System der Kindertagesbetreuung in Rheinland-Pfalz? (zus. mit Anne Kersting) Ibus-Verlag. 2010.
INHALT________________________________________________________________
Ansage:
Heute mit dem Thema: „Bildung für die ganz Kleinen – Die Zukunft der Kinderbetreuung in Deutschland.“
Die magische Zahl heißt 35 Prozent. Bis zum Jahr 2013 soll für 35 Prozent der unter dreijährigen Kinder ein Betreuungsplatz zur Verfügung stehen. Doch wie sollen Städte und Kommunen das stemmen? Und vor allem: Stimmt diese magische Zahl überhaupt noch? Oder müssen wir nicht mit weitaus mehr Kindern eines Jahrgangs
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SWR2 Aula vom 22.08.2010
Betreuung für alle – Die Zukunft der Kinderbetreuung in Deutschland
Von Professor Stefan Sell
rechnen, die betreut werden müssen, weil immer mehr Mütter versuchen, Beruf und Familie zu vereinbaren?
Angesichts der globalen Finanzkrise, angesichts der Verschuldung des deutschen Staates und seiner Kommunen ist fraglich, ob diese 35 Prozent überhaupt jemals erreicht werden können. Schon jetzt plädieren einige Politiker dafür, in diesem Bereich drastisch zu sparen.
Stefan Sell ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik an der FH Koblenz-Remagen, er nimmt in der SWR2 AULA falsche Zahlen, falsche Finanzierungsstrategien unter die Lupe und macht Alternativvorschläge.
Stefan Sell:
Die Kindertagesbetreuung als Wachstumsfeld – so lautet ein Thema meines Vortrags. Abweichend zu anderen sozialen Handlungsfeldern wird im Bereich der Kindertagesbetreuung nicht abgebaut, sondern im Gegenteil kräftig ausgebaut, insbesondere bei der Betreuung für die unter 3-jährigen Kinder in Deutschland.
Auslöser war der sogenannte „Krippenkompromiss“ zwischen der Bundesregierung und den Bundesländern im Jahr 2007, als man sich darauf verständigt hat, dass die in Westdeutschland kaum vorhandene Kindertagesbetreuung für die unter 3-Jährigen deutlich ausgebaut werden soll. Vereinbart wurde, bis zum Jahr 2013 für 35 Prozent der unter 3-jährigen Kinder in Westdeutschland Betreuungsplätze zur Verfügung zu stellen. In Ostdeutschland – das muss man an dieser Stelle gleich hinzufügen – stellt sich diese Aufgabe nicht, denn in den neuen Bundesländern befinden sich bereits 46 Prozent der Kinder in Betreuungsverhältnissen, sei es in der Kindertageseinrichtung oder in der Kindertagespflege.
Wir sehen an dieser Zahl bereits, dass wir in einem gespaltenen Land leben: In Ostdeutschland haben wir eine ganz andere Betreuungsrealität als in Westdeutschland. In den vergangenen Jahren haben wir eine Expansion der Betreuungsangebote auch in Westdeutschland erleben dürfen. An dieser Stelle muss man auf die immer wieder genannten 35 Prozent, die angeblich ausreichen sollen, um bedarfsdeckend Angebote zur Verfügung zu stellen, eingehen. Es handelt sich hier um ein sehr lehrreiches Beispiel, wie sich Dinge verselbständigen können.
Die 35 Prozent Versorgungsangebote für unter 3-jährige Kinder sind beim Krippenkompromiss aufgetaucht. Primär geht es hier um eine finanztechnische Größe. Man stand damals schlichtweg vor dem Problem zu fragen, was kostet uns der Ausbau der Angebote für die unter 3-Jährigen, was müssen wir dafür bezahlen? Und der entscheidende Punkt beim Krippenkompromiss war, dass der Bund sich bereit erklärt hatte, sich an der Finanzierung zu beteiligen. Das war ein Paradigmenwechsel, denn bis zu diesem Zeitpunkt wurde eine finanzielle Beteiligung des Bundes kategorisch abgelehnt mit dem Hinweis, dass es sich hierbei um eine rein kommunale Aufgabe handele.
Nach diesem fundamentalen Positionswechsel stand der Bund natürlich vor der Problematik, dass er herausfinden musste, was ihn das kosten würde. Um
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beantworten zu können, wie viele Eltern überhaupt eine Betreuung in Anspruch nehmen würden, hat man auf die Kinderbetreuungsstudie des Deutschen Jugendinstituts zurückgegriffen. Hierbei muss man jedoch wissen, dass diese aus dem Jahr 2005 stammende Studie darauf basiert, dass man Eltern befragt hat hinsichtlich ihrer Betreuungswünsche. Die dabei ermittelten Werte hat man bereinigt, indem etwa 10 Prozent abgezogen wurden mit der Begründung, dass am Ende sowieso einige Eltern auf die Realisierung ihres Betreuungswunsches verzichten werden. Im Ergebnis kam man dann auf die genannten 35 Prozent, und man hat gesagt, damit wäre der Bedarf abgedeckt.
Um die für diesen Bedarf erforderlichen Plätze insgesamt zu realisieren, wurde anschließend ein Gesamtbudget in Höhe von 12 Milliarden Euro ausgerechnet und zu je einem Drittel auf den Bund, die Bundesländer und die Kommunen verteilt. So weit, so gut.
Das Problem ist nun allerdings, dass diese planerische Zielvorgabe von 35 Prozent, die ja auch die Grundlage für die finanzielle Kalkulation darstellt, aus heutiger Sicht unrealistisch ist. Man muss diese Zahl einfach mal umdrehen, dann sie bedeutet ja, dass 65 Prozent der Eltern von unter 3-jährigen Kindern auf die Inanspruchnahme eines Betreuungsplatzes verzichten müssen und dies auch freiwillig tun.
Noch ein Aspekt: Es ist gelungen, in das Kinderförderungsgesetz, was den Krippenkompromiss dann umsetzte, einen individuellen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem vollendeten 1. Lebensjahr zu implementieren. Von Rechtsansprüchen geht eine große Durchschlagskraft aus. Der entscheidende Punkt ist hier die Ausformung eines individuellen und damit einklagbaren Rechtsanspruchs, und im Kinderförderungsgesetz findet man nirgendwo 35 Prozent. Und keiner kann die Frage beantworten, was denn passiert, wenn die 65 Prozent der Eltern einfach nicht der Statistik gehorchen und ihren Rechtsanspruch plötzlich einlösen wollen.
Vor diesem Hintergrund müssen ja schon heute viele Kommunen mit diesen Werten kalkulieren und stehen erheblich unter Finanzierungsdruck. Die Finanzierung war ohnehin bereits in sich sehr wackelig, denn man geht davon aus, dass 30 Prozent der neu zu schaffenden Plätze in der billigen Kindertagespflege eingerichtet werden, was allerdings in den meisten Bundesländern völlig unrealistisch ist.
Wir sind derzeit weit von den 35 Prozent entfernt und liegen bei 17 Prozent im früheren Bundesgebiet. Das zeigt, wie viel man noch ausbauen müsste, um bis zum Jahr 2013 35 Prozent zu erreichen. Es gibt aber einen zweiten Aspekt, der häufig vergessen wird, nämlich die zeitliche Expansion der Betreuungsnachfrage im Sinne einer Verlängerung der in Anspruch genommenen bzw. nachgefragten Betreuungszeiten, aber auch eine Flexibilisierung der Betreuungszeiten vor allem an den bisher überhaupt nicht abgedeckten Randzeiten, also abends und am Wochenende.
So beklagt zum Beispiel der Deutsche Industrie- und Handelskammertag in seinem „Kita-Check“ aus dem Jahr 2008, dass 99 Prozent der Kitas weder abends bis 20.00 Uhr oder länger noch samstags geöffnet sind. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag plädiert für einen deutlichen Ausbau der Betreuungsangebote zu
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diesen Zeiten, da gleichzeitig die Arbeitszeiten vieler und im Regelfall weiblicher Beschäftigter kontinuierlich ausgeweitet werden.
An dieser Stelle möchte man den Wirtschaftsfunktionären zurufen, habt Ihr eigentlich auch nur annähernd eine Ahnung, was der Ausbau des Regelangebots von sagen wir 7.00 Uhr bis 16.00 Uhr oder 16.30 Uhr kosten würde? Und habt Ihr entfernt eine Ahnung, was es kostet, eine Kita bis 20.00 Uhr oder an Samstagen geöffnet zu halten? Übrigens nicht für voll ausgelastete Gruppen, denn in den Randzeiten haben wir das Problem, dass die Gruppen häufig nur zur Hälfte oder noch weniger gefüllt sind. Aufgrund gesetzlicher Vorgaben müssen aber auch für die kleinen Gruppen zwei pädagogische Fachkräfte anwesend sein, auch wenn – im Extremfall – nur noch ein Kind da sein sollte. Jeder Betriebswirt weiß, dass das ganz erhebliche Auswirkungen auf die „Stückkosten“ haben muss. Selbstverständlich soll diese umfassende Erweiterung vom Steuerzahler bezahlt werden, und es erübrigt sich an dieser Stelle, darauf einzugehen, dass parallel der Deutsche Industrie- und Handelskammertag selbstverständlich eine deutliche Steuerentlastung der Unternehmen gefordert hat. Das hat im Ergebnis schon Züge einer politischen Schizophrenie.
Es gibt noch einen weiteren Punkt. Wir reden immer über die unter 3-Jährigen, aber auch in der Altersgruppe ab 3 Jahre bis zum Schuleintritt sowie bei den Kindern im Hortalter steigen die Nachfrage und Bedarfe. Das wird gerne vergessen. Eher benutzt man diese Gruppen angesichts rückläufiger Geburtenzahlen als Verfügungsmasse für den Aus- und Umbau der Angebote für jüngere Kinder, im Sinne einer Umschichtung vorhandener Ressourcen.
Aber auch im Kindergarten und Hort steigen die Bedarfe und die tatsächliche Inanspruchnahme. Der bisher stattgefundene Ausbau in den alten Bundesländern hinkt dem Bedarf weit hinterher. Jedes Jahr haben die Bundesländer im Westen seit dem Krippenkompromiss 2007 32.600 Plätze geschaffen. In den vor uns liegenden Restjahren bis 2013 müssten nun jährlich 72.700 neue Plätze geschaffen werden, um die 35 Prozent erreichen zu können, die jedoch – wie bereits ausgeführt – durchaus fragwürdig sind.
Angenommen, diese Anstrengungen würden mit einem gewaltigen Kraftakt geschafft werden, dann kann man damit rechnen, dass 2013 mehr Eltern ihren Rechtsanspruch einlösen wollen als Plätze vorhanden sind. Auch die in Anspruch genommene Betreuungszeit dehnt sich aus. Die Daten zeigen eindeutig, dass das bisherige Regelmodell einer vier- bis maximal fünfstündigen Betreuung ohne Mittagessen zunehmend an Bedeutung verliert. Was aber stark steigt, ist der Bedarf an Plätzen für mehr als sieben Stunden. Das bedeutet, wir müssen auch darüber reden, dass die zeitliche Inanspruchnahme deutlich ansteigt. Hinzu kommt, dass hinsichtlich der Flexibilisierung der Angebotsstrukturen auch die Öffnungszeiten – bisher zumeist eng gekoppelt an die Betreuungszeiten der Kinder – zunehmend in die Länge gezogen werden müssen, mit spezifischen Problemen für die Einrichtungen, die aufgrund des Auseinanderfallens von Öffnungs- und Anwesenheitszeiten mit dem Problem steigender Leer- bzw. Vorhaltekosten konfrontiert sind.
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In diesem Zusammenhang ein Blick auf die durchschnittliche Größe der Kindertageseinrichtungen: Die normale Kita ist betriebswirtschaftlich gesprochen eine „Klitsche“. In den meisten Einrichtungen gibt es weniger als zehn Beschäftigte, sehr viele Kitas haben sogar nur bis zu fünf Mitarbeiter. Es handelt sich als um stark kleinbetrieblich strukturierte Einheiten. Das ist ganz wichtig, wenn man auf diese Einrichtungen Visionen wie die Weiterentwicklung zu Familienzentren projiziert, die zahlreiche neue und erweiterte Aufgabenprofile übernehmen sollen. In der Praxis scheitert das schlichtweg häufig daran, dass Kitas kleine Betriebe sind, die die Räumlichkeiten und die Größe für andere Aktivitäten gar nicht haben.
Wenn man sich die Trägerschaftsverteilung der bundesweit 50.000 existierenden Kitas anschaut, dann wird man folgendes feststellen: Es handelt sich offensichtlich um ein Duopol, wie Ökonomen das nennen: Auf der einen Seite öffentliche Träger – das sind über 17.000 kommunale Einrichtungen, die Mehrheit befindet sich in freier Trägerschaft, die sich jedoch auf einen starken kirchlichen Block konzentriert. Evangelische und katholische Träger betreiben zusammen mehr 17.000 Einrichtungen. Das sind die großen Säulen im Bereich der freien Träger. Derzeit noch in Form von Spurenelementen vertreten sind private Anbieter. Es gibt zurzeit 725 privatgewerbliche Träger von Kindertageseinrichtungen. Wenn man in diesen Markt hinein will, ist man konfrontiert mit einem überaus problematischen Duopol öffentlicher und bestimmter freier Träger. Das ist deswegen problematisch, weil die öffentlichen Träger gleichzeitig die sind, die über Bedarfsplanung, Finanzierung, Rahmenbedingungen usw. bestimmen. Aus ökonomischer Sicht muss an dieser Stelle kritisch angemerkt werden, dass das eigentlich nicht gutgehen kann, weil das eine Situation ist, die meistens zu Lasten der anderen Träger geht bzw. gehen muss.
Das ganze System ist mit mehreren komplizierten Fragen gespickt: Die Finanzierungsfrage, die Frage der Steuerung der Kindertageseinrichtungen, ganz wichtig auch die Bildungsfrage sowie alle Probleme, die mit Personal zu tun haben.
Stichwort Finanzierung: Es gibt zwei Befunde, die besonders deutlich hervorzuheben sind. Erstens: Das System der Kindertagesbetreuung in Deutschland ist extrem unterfinanziert. Wir können derzeit von netto 13 Milliarden Euro öffentlicher Mittel ausgehen. Dazu kommen die Elternbeiträge. 13 Milliarden Euro entspricht ungefähr 0,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Interessant ist, dass sich die Sollvorgabe der Wirtschaftsorganisation OECD auf 1 Prozent des BIP beläuft. Es müssten also jedes Jahr doppelt so viele Mittel in das System der Kindertagesbetreuung fließen, um die Vorgaben der OECD zu erfüllen. Das zeigt die Unterfinanzierung des Systems. Übrigens, dieser Sollanteil von 1 Prozent, für den die OECD plädiert, ist keineswegs ein theoretisches Konstrukt, wie irgendwelche nicht erreichbaren Klimaziele, sondern diese Größe wird erreicht von den skandinavischen Ländern. Und auch Frankreich investiert mit derzeit 0,8 Prozent seines BIP deutlich mehr Geld für die Kinderbetreuung als Deutschland. Das sind umgerechnet mehrere Milliarden Euro, die unserem System fehlen.
Aber das System ist nicht nur unterfinanziert, sondern es ist auch fehlfinanziert. Die Kosten und Nutzen sind innerhalb des Systems völlig ungleichmäßig verteilt. Die beiden Hauptkostenträger sind – über die Bundesländer gemittelt und mit einer großen Streuung zwischen den Ländern – die Kommunen und die Eltern. Wenn man jetzt fragt, wo denn der Nutzen anfällt, wenn wir mehr Kinderbetreuungsplätze
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schaffen, dann stellt man fest, dass zumindest der monetarisierte Nutzen auf der Bundesebene sowie auf der Ebene der Sozialversicherung anfällt in Form von zusätzlichen Einnahmen aus Steuern und Sozialversicherungen. Diese beiden Ebenen sind aber überhaupt nicht bzw. der Bund erst seit kurzem und nur marginal an der Finanzierung beteiligt.
Wenn wir dieses System stabilisieren wollen, dann müssen wir eine nach dem Nutzen ausgerichtete Finanzierung anstreben. Das bedeutet, der Bund und die Sozialversicherungen müssten mindestens 40 bis 50 Prozent der laufenden Betriebskosten einer Kita finanzieren und nicht die Kommunen und Bundesländer. Wenn dieses seit langem erkannte Problem nicht gelöst wird, dann werden die das System blockierenden Effekte weiter stabilisiert.
Hinzu kommen weitere strukturelle Probleme, Stichwort Elternbeiträge. Aktuell kann man beobachten, dass in vielen Bundesländern vor allem kirchliche Träger aufgrund ihrer eigenen Finanzprobleme massiv Druck ausüben auf öffentliche Jugendhilfeträger, dass ihnen die Trägeranteile reduziert oder sogar vollständig abgenommen werden. Teilweise ziehen sich gerade die kirchlichen Träger vollständig zurück und zwingen die Kommunen, ihre Einrichtungen zu übernehmen. Denn der Sicherstellungsauftrag bleibt ja beim öffentlichen Jugendhilfeträger. Bei den Elternbeiträgen wird es noch problematischer, denn es ist eine bundesweit auseinanderlaufende Entwicklung zu beobachten. Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern: Im Bundesland Rheinland-Pfalz gibt es eine vollständige Elternbeitragsfreiheit ab dem vollendeten 2. Lebensjahr der Kinder. Im Nachbarland Nordrhein-Westfalen hingegen erleben wir generell eine gegenläufige Entwicklung, also eine Anhebung der Kostenbeteiligung der Eltern. Diese paart sich mit einer sozialpolitisch nur zynisch zu nennenden negativen Kommunalisierung dergestalt, dass reiche Kommunen wie Düsseldorf auf Elternbeiträge verzichten können, während arme Kommunen, die unter Haushaltssicherung stehen, z. B. Gelsenkirchen, die Elternbeiträge für die Eltern, die überhaupt noch zahlen können und müssen, deutlich anheben müssen. Das heißt, in den ärmsten Kommunen müssen die Eltern, die das können, am meisten zahlen, und in Hamburg z. B. wurde gerade dieser Tage beschlossen, die Elternbeiträge erneut deutlich zu erhöhen. Und das ist mittlerweile auch für viele Mittelschichtfamilien ein echtes Problem, vor allem, wenn sie zwei oder drei Kinder haben. Dem normalen Bürger ist es sicherlich nicht zu erklären, dass in Remagen in Rheinland-Pfalz für eine hochwertige Krippenbetreuung von den Eltern gar nichts gezahlt werden muss, während im benachbarten Bonn, nur weil es in Nordrhein-Westfalen liegt, zum Teil mehrere hundert Euro aufgebracht werden müssen – bei deutlich schlechteren Rahmenbedingungen. Dazu nur eine Zahl: Die Krippengruppen für die unter 3-jährigen Kinder in Rheinland-Pfalz haben einen Personalschlüssel von 1 zu 4,6 Kindern, in Nordrhein-Westfalen liegt dieser Schlüssel bei 1 zu 7,4. Das heißt, eine der wichtigsten Stellschrauben für die Qualität der Kindertagesbetreuung ist in Rheinland-Pfalz um 40 Prozent besser als im benachbarten Nordrhein-Westfalen, und die Eltern müssen noch nicht einmal Beiträge für diese bessere Strukturqualität bezahlen. Das ist den betroffenen Eltern überhaupt nicht zu vermitteln.
Es wird aber nicht nur betreut, sondern es wird nach den Vorgaben des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ja auch gebildet und erzogen. Damit komme ich zu einem weiteren wichtigen Punkt. Wenn wir über diese Trias von Betreuung, Bildung und
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Erziehung sprechen, dann müssen wir einen vertiefenden Blick auf das Personal werfen. Immer wieder wird über die Frage diskutiert, was denn pädagogische Qualität beeinflusst. In Studien wurden zahlreiche Einflussfaktoren nachgewiesen. Ich will an dieser Stelle nur zwei herausgreifen: die Gruppengröße und der Personalschlüssel. Es gibt ein sogenanntes „eisernes Dreieck“ der Strukturqualität. Das besteht aus dem Erzieher-Kind-Schlüssel, der Gruppengröße und der Qualifikation des Personals. Diese drei Faktoren bestimmen in sehr großem Umfang die Strukturqualität.
In Fachkreisen wurden bestimmte Standards für die Gruppengröße und für die Fachkraft-Kind-Relation diskutiert und veröffentlicht. Vereinfacht gesagt: In Deutschland liegen die derzeitigen Standards in den Kindertageseinrichtungen um etwa ein Drittel über dem, was die fachwissenschaftliche Diskussion fordert, sie sind also ein Drittel zu schlecht. Ein besonderes Problem in Deutschland ist die zumeist fehlerhafte, wenn überhaupt vorhandene Einbeziehung der Ausfallzeiten des Personals. Denn bei der Bestimmung des zu finanzierenden Personals muss man berücksichtigen, dass die Ausfallzeit des Personals nur durch Krankheit – durchschnittliche Erkrankungszeit bei Erzieherinnen derzeit 13 Tage – und Urlaub – 29 bis 30 Tage – jährlich etwa 20 Prozent des Arbeitsvolumens ausmacht. Hinzu kommen müsste eine Berücksichtigung der notwendigen und immer wichtiger werdenden Zeiten für Vor- und Nachbereitung. In der Fachdiskussion fordert man hierfür die Kalkulation von weiteren 20 Prozent für die sogenannte „mittelbare pädagogische Arbeitszeit“. Unterm Strich würde das bedeuten, dass nur 60 Prozent des Arbeitsvolumens für eine direkt kindbezogene Arbeit in Rechnung gestellt werden könnte. Es sei denn, man berücksichtigt die beschriebenen Zeiten nicht oder nur unzureichend, was leider genau der Situation in den meisten Bundesländern entspricht und bei vielen Fachkräften zu einem begründeten Gefühl der ständigen Überlastung führt.
Susanne Viernickel und Stefanie Schwarz haben in einer im vergangenen Jahr erschienenen Studie sogenannte kritische Schwellenwerte berechnet, also Personalschlüssel, ab dem negative Auswirkungen auf pädagogische Qualität und das Wohlbefinden der Kinder zu erwarten sind. Bei Gruppen mit unter 3-jährigen Kindern, um die es ja derzeit besonders geht, wird diese Relation bei 1 zu 3 bis 1 zu 4 angesetzt. Das bedeutet, eine Fachkraft ist vorhanden für bis zu drei bis maximal vier Kinder. Alle Fachkraftschlüssel, die darüber liegen, führen nach dieser Studie sogar zur Kindeswohlgefährdung. Wobei an dieser Stelle zu beachten wäre, dass eine Relation von einer Fachkraft zu drei oder vier kleinen Kindern bedeutet, dass der tatsächliche Personalschlüssel, wie ich eben gerade ausgeführt habe, besser sein muss. Denn es gibt ja Ausfallzeiten beim Personal, ebenso sollten Vor- und Nachbereitungszeiten berücksichtigt werden.
Den großen Unterschied zwischen den Bundesländern hatte ich beschrieben am Beispiel Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz mit einer Differenz von 40 Prozent bei der Personalausstattung im Krippenbereich. Solche Unterschiede kann und darf man nicht akzeptieren.
Ein großes Thema in diesem Zusammenhang und in den vor uns liegenden Jahren wird der zunehmende Fachkräftemangel werden. Hierzu ist die Befundlage allerdings immer noch äußerst unbefriedigend. Nach einer neuen und erstmals umfangreichen
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Betreuung für alle – Die Zukunft der Kinderbetreuung in Deutschland
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empirischen Analyse der Beschäftigungsbiografien pädagogischer Fachkräfte und unterschiedlicher Bedarfsszenarien für das Land Rheinland-Pfalz ergibt sich für dieses Bundesland, ausgehend von derzeit etwa 23.000 pädagogischen Fachkräften, dass je nach Szenario im Minimum in den Jahren 2013 bis 2020 zwischen 2.000 bis 5.000 Fachkräfte fehlen werden. Und wenn man sich dann nur ein wenig annähert an die Standards aus der Fachdiskussion, also wenn man Vorbereitungs- und Nachbereitungszeiten berücksichtigt, die Gruppengröße wenigstens an die Standards der Diskussionen der Fachwelt annähert, dann würde dieser Fehlbetrag ansteigen auf bis zu 16.000 Fachkräfte – nochmal: ausgehend von 23.000 heute vorhandenen pädagogischen Fachkräften.
Die Lage ist prekär. Es geht hier um die jüngsten der Kinder, um die unter 3-Jährigen. Etwas zugespitzt formuliert: Schlechte Rahmenbedingungen für die pädagogischen Fachkräfte bei älteren Kindern, bei 5- und 6-jährigen, kann man gerade noch tolerieren. Aber bei den unter 3-Jährigen ist das anders. Die brauchen nicht nur einen deutlich besseren Personalschlüssel, sondern sie brauchen z. B. auch eine intensive Bindung zu ihren Betreuungspersonen. Sie sind wesentlich verletzlicher als die älteren Kinder. Und insofern ist gerade bei den jüngsten der Kinder ein besonders wichtiger Blick zu werfen auf die Rahmenbedingungen der Betreuung. Denn es steht zu befürchten, dass in der Finanznot, die gerade die Kommunen getroffen hat und die auch in den vor uns liegenden Jahren, soweit erkennbar, nicht wirklich abnehmen wird, sondern sich eher noch verschärfen wird, die Kommunen in ihrer Haushaltsnot sich gezwungen sehen, die Rahmenbedingungen, die bereits heute nicht akzeptabel sind, weiter zu verschlechtern.
Wie kann man dieses Problem lösen: Wir brauchen ein nationales System der Finanzierung der Kindertagesbetreuung. Die Kommunen müssen entlastet werden, die Eltern müssen entlastet werden, der Bund und die Sozialversicherungen müssen in die laufende Finanzierung der Kindertagesbetreuung eingebunden werden. Man kann das zum Beispiel wie die Franzosen mit einer nationalen Familienkasse machen, in die die Sozialversicherungsträger einzahlen. Und dann haben wir die Möglichkeit, nicht nur dieses Feld auszubauen, sondern auch die Qualitätsanforderungen realisieren zu können.
Ist diese Gesellschaft dazu nicht bereit, nicht in der Lage oder nicht willens, dann müssen wir ganz besonders kritisch auf die Qualität der Betreuung in den Kindertageseinrichtungen schauen, denn nochmal: Es handelt sich gerade bei den unter 3-jährigen Kindern um die verletzlichsten Glieder in der Kette. Insofern sind die Bedingungen in der Betreuung dort vergleichbar mit den Diskussionen, die wir am anderen Ende des Lebens – in der Altenpflege – führen: Auch dort haben wir erhebliche Qualitätsprobleme.