Manfred Schneider: Ruinen, Müll und Reste - Die Archäologie der Jetztzeit
http://www.swr.de/swr2/wissen/-/id=661224/1muyzmy/index.html
Manfred Schneider: Ruinen, Müll und Reste - Die Archäologie der Jetztzeit
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SWR2 RadioART: Essay Autor: Manfred Schneider Redaktion: Stephan Krass; mailto: Stephan.Krass@swr.de Sendung: Montag, 26. Juni 2006, 21.03 Uhr, SWR 2
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INHALT
Spr. 1 Im Jahre 1973 startete der amerikanische Archäologe William L. Rathje ein ungewöhnliches Forschungsprogramm. Er setzte seinen Spaten nicht mehr in die Erde der berühmten antiken Grabungsstätten in Ägypten, Griechenland oder gar im Neandertal. Er versenkte seine Schaufeln und Sonden vielmehr in die Abfälle und in den Müll seiner Zeitgenossen. Geschützt in Spezialanzügen und hinter Atemmasken, begab er sich mit seinen Studenten zu den Mülldeponien der Umgebung und arbeitete sich dort durch feuchte Papiermassen, Windeln, Fastfoodpackungen, Schnapsflaschen, Tetrapacks, zerbrochenes Spielzeug, Zigarettenkippen, Plastiktüten, Getränkedosen, vor allem aber durch Unmengen von Speiseresten aus Nudeln, Kartoffelschalen, Brotresten, Hühnerknochen, zerbröselten Doughnuts und halbverzehrten Bananen. Diese groß angelegte Archäologie des Mülls wurde unter dem später berühmt gewordenen Titel “garbage project” offiziell an der Universität von Arizona in Tucson (sprich: Tuusson) als Forschungsunternehmen etabliert. Mit rund 750 Mitarbeitern präparierte Professor Rathje im Laufe der Jahre mehr als 100.000 Kilo weggeworfener Gegenstände aus rund 14 Tonnen Müll, die er aus Deponien, Müllautos oder direkt aus Abfalleimern gesammelt hatte. Das penibel sortierte, gewogene, codierte und katalogisierte Material bildet eine einzigartige Datenbasis, die wertvolle und überraschende Aufschlüsse über den Alltag, über Konsum- und Wegwerfgewohnheiten der Amerikaner liefert. Es fand Eingang in ein Museum.
Spr. 2 Mit seinen Forschungen beseitigte Rathje nicht nur eine Reihe von Mythen über das Abfallproblem seines Landes - etwa den Mythos von den Unmengen an Verpackungsmüll. Er entwickelte auch eine völlig neue Konzeption der Archäologie. Ziel dieser Archäologie war es nicht mehr, vergangene Welten wieder auferstehen zu lassen und den langen Weg der Menschheit aus der Wildnis in die Zivilisation nachzuzeichnen; es ging vielmehr darum, unsere eigenen zeitgenössischen Verhaltensweisen zu erforschen. Bis in die siebziger Jahre galt für die akademische Archäologie die Regel, dass ein Gegenstand erst nach fünfzig Jahren für die Forschung interessant werden kann. Diese fünfzig Jahre benötigen ein Ding oder ein Bauwerk, um jene Minimalaura von Geschichtlichkeit anzusammeln, die sie in einen historischen Gegenstand verwandelt. Das ist die Macht der Zeit. Indem sie Jahre überleben, gewinnen Erkenntnisse Autorität, verwandeln sich Gewohnheiten in Recht und erwerben Dinge antiquarischen Wert. Aber diese neue Archäologie hat es eilig, sie entwindet sich dem Zeitgesetz und verringert den Abstand zwischen der Entstehung eines Objekts und seiner Verwandlung in einen historischen Gegenstand. Die neue Archäologie kümmert sich gleich um das eben abgerissene Kalenderblatt. Es sieht so aus, als ob die Geschwindigkeit und Flüchtigkeit, die in der Moderne die Fortbewegung, die Moden, die Intimbeziehungen und den Konsum erfasst hat, nun auch die einfachen Dinge verwandelt. Das Zeitintervall, das zwischen neu und alt steht, zwischen Erwerben und Wegschmeißen, Gegenwart und Vergangenheit wird von diesem Tempo vernichtet. Der Sammler, der seine Objekte der eigenen Zeit entnimmt und sie einem privaten Gedächtnis zuführt, unterscheidet sich kaum noch von diesem neuen Archäologen, der nicht mehr auf eine wie auch immer bestimmte Vergangenheit angewiesen ist, um tätig zu werden. Der neue Archäologe gräbt die Gegenwart aus. Es scheint eine Spielart der Postmoderne zu sein, Gegenwart und Vergangenheit so zu verwischen. Indem die postmoderne Gesellschaft in eine dauernder Zeitlosigkeit eintaucht, verkümmert offenbar die Unterscheidung zwischen alt und neu.
Spr. 1 Der mit Rathjes „garbage project“ eingeleitete neue wissenschaftliche Bezug zu uns selbst lässt sich aber auch ganz anders betrachten. Wenn es doch nur noch eine Frage der Perspektive oder vielleicht des Berufes ist, ob wir etwas aufbewahren oder ob wir etwas wegwerfen, wenn also die Geste des Bewahrens und die Geste des Verwerfens tendenziell synonym werden, dann scheint sich etwas Grundlegendes in der Ordnung der Dinge, die wir uns geben, verändert zu haben. Wie der Philosoph Odo Marquard formulierte, ist die so genannte Wegwerfgesellschaft zugleich eine Bewahrungsgesellschaft. Dem raschen Verschleiß, den wir den Dingen zumuten, steht ein ebenso sorgsames Aufbewahren zur Seite, der Brutalität des Konsums folgt eine Sentimentalität des Konservierens. Daher stehen neben den Müllhalden zahlreiche Museen und Archive. Ist dies eine moderne oder postmoderne Paradoxie? Bisweilen hilft ein Blick in die Geschichte, um solche Frage zu beantworten und um den Stand der Dinge genauer zu erfassen und zu verstehen.
Spr. 2 Das „garbage project“ untersucht Objekte, die wir wegwerfen, um unseren Alltag zu reinigen und zu klären. Eine ganze Lebenshelferindustrie versorgt uns mit Ratschlägen, wie wir uns von Überflüssigem, von Gerümpel und Belastungen durch zu viel Aufbewahrtes befreien können. Höchst erfolgreiche Buchtitel dazu sind Karen Kingstons Feng Shui gegen das Gerümpel des Alltags; oder Werner Tiki Küstenmachers Bestseller: simplify your life. Die sieben Wege zu einem Leben ohne Ballast. Versprochen wird ein ballastfreies Leben durch Verabschiedung von Problemen, Dingen, Wohnungen, ungeeigneten Partnern und falschen Freunden. Diese Eudämonie der Restebeseitigung, des materiellen und seelischen Ballastabwurfs, bildet bereits die spirituelle Steigerung einer dauernden Abschöpfung unseres Alltags mit Hilfe von Papierkörben, Mülleimern, Sperrmüllabfuhren und Recycling. Aber das ist eine moderne Erfindung. Die Müllentsorgung, eine regelmäßige von Kommunen getragene Beseitigung der Abfälle wurde in manchen Städten erst vor gut hundert Jahren eingeführt.
Spr. 1 Bis tief ins 19. Jahrhundert hinein kümmerten sich freilaufende Schweine und Hühner um die Küchenabfälle, die aus den Fenstern der Häuser auf die Straße flogen. Und es waren häufig Häftlinge, die mit Jauchekarren durch die Stadt zogen, um die Abtritte der einzelnen Häuser zu leeren. Den Antrieb zu dieser Einrichtung gaben nicht selten Katastrophen wie die Hamburger Choleraepidemie von 1892, bei der mehr als achttausend Menschen starben. Kurz darauf wurde die erste deutsche Müllverbrennungsanlage errichtet. Nur eben weitere hundert Jahre zuvor, um 1800, begannen die westlichen Gesellschaften jene Sensibilität für Gestank, Dreck, Abfall, Fäkalien und Schmutz zu entwickeln, die uns heute den Gerätepark aus Straßenreinigungsmaschinen, Staubsaugern, Putzmitteln, Luftcleanern, Duftkerzen, Deodorants, Parfüms, Intimsprays bescherte. Was wir heute selbstverständlich unseren Augen und Nasen ersparen, wurde der Gesellschaft überhaupt erst vor gut 200 Jahren suspekt. Die Pioniere der ästhetischen und olfaktorischen Hygiene waren Ärzte, Biologen und Schriftsteller. Paris ist dafür ein anschauliches Beispiel. In seinen berühmten Schilderungen alltäglicher Pariser Verhältnisse, in den Tableaux de Paris aus den Jahren 1782-1788, wunderte sich Louis-Sébastien Mercier, warum die Bewohner dieser Stadt noch nicht die Flucht vor dem unerträglichen Gestank, Lärm und Dreck ergriffen haben:
Spr. 3 „Wenn man mich fragt, wie ein Mensch es hier aushält, in diesem dreckigen Schlupfwinkel aller nur denkbaren Laster und Übel, (…) inmitten einer von tausend fauligen Dämpfen vergifteten Luft, zwischen Schlachtereien, Totenäckern, Hospitälern, Abzugsrinnen, Urinbächen, Kothaufen, Färbereien, Lohgerbereien und Lederwerkstätten; umgeben von dem dauernden Rauch unglaublicher Holzmassen und dem Dunst der verbrannten Kohle, von arsenik-, schwefel- und pechhaltigen Teilchen, die laufend aus den kupfer- und metallverarbeitenden Werkstätten ausgestoßen werden (…), so würde ich antworten, dass die Gewohnheit uns Pariser mit den feuchten Nebelschwaden ebenso vertraut macht wie mit den schädlichen Dämpfen und dem fauligen Schlamm.“
Spr. 2 Der Gestank im Paris des ausgehenden 18. Jahrhunderts war nicht neu, aber neu war der von vielen Beobachtern, Schriftstellern und Ärzten festgehaltene Ekel. Schlagartig begann in dieser Zeit, angetrieben von neuen Wissenschaften und Theorien, die Empfindlichkeit gegenüber Gestank, Schmutz und Körpersekreten zu steigen. Es waren Gelehrte, die mit ihren Alarmrufen Geruchssensibilität und Bakterienfurcht erregten. Ärzte und Chemiker entwickelten die Theorie der Miasmen, der giftigen Dünste, der feuchten, Fieber erregenden Gase, die aus der Tiefe der Erde oder aus Senkgruben emporsteigen und die bisweilen sogar Tier- und Menschenkörpern entweichen. Diese miasmatischen Dämpfe werden dann im 19. Jahrhundert noch für die Entstehung der Cholera verantwortlich gemacht. Solch vergiftender Pesthauch ging für die neue Sensibilität von allen Orten und Plätzen aus, wo sich Menschen drängten, etwa von einem Krankenhaus, wie dem Pariser Hôtel-Dieu, wo im unteren Teil des Gebäudes die Leichen aufbewahrt wurden und ein Stockwerk darüber die Wöchnerinnen lagen. Aber grauenvoll war auch der Gestank in den Gefängnissen, ja, manche Beobachter der Zeit ekelten sich auch in den Theaterlogen, wo der Atem von „zweitausend Menschenleibern“ den empfindlichen Besucher heimsuchte. Miasmen auf den Friedhöfen, Miasmen in den Kirchen, wo in den Grüften Leichen verfaulten, Miasmen auf den Fischmärkten, Miasmen sogar in den Karossen, die die höheren Stände benutzten, woraus die neue Mode beim Adel entstand, zu Fuß zu gehen.
Spr. 1 Zur gleichen Zeit begaben sich, ähnlich wie um 1970 der Archäologe William Rathje, manche Wissenschaftler daran, den eigenen Abfall zu erforschen, Schlamm, Dreck und schädliche Materien einzusammeln, um die im Labor zu untersuchen. Der Chemiker Michel-Eugène Chevreul wanderte durch die Straßen von Paris und schöpfte den Schlamm, der sich zwischen den Pflastersteinen sammelte. Er kratzte auch Proben aus dem Mörtel und Gips der Häuser und analysierte das Material auf spezifische Gefahren hin. Die Königliche Akademie in Paris beauftragte kurz vor der Revolution von 1789 die berühmten Gelehrten Lavoisier, Fougeroux und Milly damit, die Kloakenentleerung der Stadt zu überprüfen. Folgenreicher als die politische Revolution wirkte sich diese Revolution der Hygieneaffekte aus. Aber exakt in dieser Epoche, da sich eine ganz neue Sensibilität für die Gefahren des Schmutzes, Mülls und der stinkenden Reste entwickelt, wo sich die Furcht vor den überall drohenden Miasmen und Fiebergasen überschlug, entwickelte sich in der gebildeten Welt ein enormes Interesse für die Abfälle der Antike. Als ob die drohenden Gefahren, die vom Mörtel und Gips der zeitgenössischen Bautechnik ausgingen, den romantischen Sinn für antike architektonische Reste verfeinert hätten.
Spr. 2 Immer schon haben Schriftsteller die Ruinen Roms besungen, die von der vergangenen Größe und Herrlichkeit der Stadt erzählten. Seit dem Mittelalter war Rom nur noch eine mächtige Ruine. Tatenlos hatten die Römer dem Verfall der alten Prachtbauten in ihrer Stadt zugesehen, Erdbeben, Wasserfluten, Stadtkriege, der Turmbau des Adels und Raubzüge der Marmorarbeiter verwandelten die großen Monumente, die Aquädukte und Tempel in Ruinen. In der Renaissance begann man, diese großen Zeugen der Vergangenheit zu erhalten, aber noch über die Barockepoche hinaus betrachteten die Dichter die Denkmäler als warnende Hinweise auf die Hinfälligkeit und Eitelkeit der irdischen Dinge. Erst im 18. Jahrhundert erwachte ein neues Bewusstsein. Andere Augen bewunderten nun vorbehaltlos die Reste der Antike und entdeckten in den Ruinen eine besondere melancholische Schönheit. Eine kleine Armee von Malern, Kupferstechern und Dichtern zog nach Italien, um dem neuen Bedürfnis der gebildeten Gesellschaft Rechnung zu tragen und sie mit Bildern der alten Welt und der römischen Ruinen zu versorgen. Neben der Lektüre der klassischen Literatur, die ja seit der Renaissance zum Schulunterricht gehörte, bewirkte diese malerische und dichterische Vergegenwärtigung Griechenlands und Roms, dass die Gebildeten die Antike immer lebendiger und näher fühlten und sich aus den Trümmern detailreiche Bilder der einstigen Größe formten. 1808 fragte der deutsche Publizist und Philosoph Adam Müller in seinen Vorlesungen über deutsche Wissenschaft und Literatur:
Spr. 3 „Ist denn Rom untergegangen? Ist es denn nicht noch heute in jedem Herzen (…)? Kann nicht jedes Gemüt noch heute seine Ruinen restaurieren, seine Bruchstücke ergänzen?“
Spr. 1 Die Ruinen wurden aber nicht nur in Gedanken ergänzt, sondern auf Bildern und Gemälden zum Dekor und Inbegriff des Schönen überhaupt. Aufsehen erregten bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Gemälde des französischen Malers Hubert Robert, der nicht nur wie seine Zeitgenossen die antiken Reste auf der Leinwand verklärte; Robert malte auch fiktive Ruinen und verwandelte intakte zeitgenössische Bauten in Trümmer wie die Grande Galerie du Louvre, die er mehrfach als halb zusammengebrochenes Gebäude darstellte. Im Salon von 1781 stellte Robert drei Gemälde aus: eines zeigte einen Brand in der Stadt Rom, eines den Brand der Pariser Oper und eines die Oper nach dem Brand. Und in der Folge setzt man in die englischen Gärten der Zeit künstliche Ruinen, um auch in der Nähe diesen Eindruck einer romantischen Natur zu genießen.
Spr. 2 In dieser Zeit fand daher auf der einen Seite eine neue Sinnenästhetik die Reste des eigenen Lebens, den Schmutz und Gestank des Alltags auf den Straßen zunehmend unerträglich, aber zugleich rückten die Reste der Antike den Betrachtern immer näher. Offensichtlich änderte sich da etwas in der Ordnung der Dinge und im Zeitbezug der Menschen: Die eigene Welt rückte in die Ferne, und die ferne Welt rückte immer näher, oder, wie Adam Müller sagte, jedes Gemüt restaurierte die antiken Ruinen und Bruchstücke in seinem Geiste. Diese imaginäre Zeitgenossenschaft, die zumal die Künstler des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts mit den Bruchstücken und Ruinen der klassischen Vergangenheit eingingen, veränderte das Bild der Zukunft. Vielleicht brachte es überhaupt ein neues Bild der Zukunft hervor, nämlich die apokalyptische Vorstellung, dass die modernen Bewohner der antiken Ruinen vielleicht schon die letzten Menschen sind. Denis Diderot kommentierte die Bilder Hubert Roberts in diesem Sinne:
Spr. 3 „Wir antizipieren die Vernichtungen der Zeit und unsere Einbildungskraft zerstreut über die ganze Erde die Gebäude selbst, in denen wir wohnen. In diesem Augenblick breiten sich um uns Stille und Einsamkeit aus. Wir sind die letzten Vertreter einer ganzen verschollenen Zeugung.“
Spr. 1 Diderots Phantasie, dass die jetzige Menschheit eine bereits ruinierte Welt bewohnte und dass diese Welt demnächst auch in die Brüche gehen könnte, beflügelte besonders die Phantasie der Romantik. Voll davon sind die Romane der englischen romantischen Schriftstellerin Mary Shelley, der berühmten Autorin des 1818 erschienenen Romans Frankenstein oder Der neue Prometheus. Darin erzählt sie die phantastische Geschichte des Wissenschaftlers Frankenstein, der aus Leichenfragmenten, die er sich aus Seziersälen und Schlachthäusern besorgt hatte, einen künstlichen Menschen zusammenflickte. Im Jahre 1826 veröffentlichte Mary Shelley den futuristischen Roman The Last Man. Es ist die fiktive Lebensgeschichte des Engländers Lionel Vernay, der gegen Ende des 20. Jahrhunderts den Ausbruch der Pest erlebt und beobachtet, wie die Miasmen dieser Seuche nach und nach die ganze Welt heimsuchen und alles menschliche Leben ausrotten. Er selbst überlebt knapp einen Anfall der Krankheit. Gemeinsam mit seinem Freund, einem englischen Prinzen, seiner Familie und einer Schar weiterer Menschen, die aber kontinuierlich von der Seuche dezimiert wird, flieht er von England nach Europa, wo bereits auch alles Leben erloschen ist. Bald verliert der Held auch seine Frau und den ersten seiner beiden Söhne. Wenig später sterben der zweite Sohn, sein Freund und seine Nichte. Als letzter überlebender Mensch begibt er sich nach Rom. Hier, zwischen den Resten und Ruinen der alten Stadt nun endet seine Geschichte, die er selbst aufgeschrieben hat:
Spr. 3 „So irrte ich durch das verlassene Rom (…). Ich umarmte die gewaltigen Säulen des Tempels des Jupiter Stator auf dem Forum, ich erfreute mich daran, mir vorzustellen, wie Camillus, wie die Gracchen, Cato und die letzten Helden des Tacitus gewirkt hatten, ich entsann mich der Verse des Horaz und des Vergil und gedachte der Dichtung des Cicero. Das Colosseum, die Triumphbögen, das Capitol – wie ein Diorama der Vergangenheit zogen all die Szenen der Geschichte an meinem geistigen Auge vorüber.“
Spr. 2 Der letzte Mensch geht durch das entseelte Rom und belebt die Reste der Stadt mit seiner gebildeten Imagination. Mary Shelleys Roman antizipiert einen Untergang der Menschheit, aber für dieses Ereignis, das am Ende des 20. Jahrhunderts spielt, wählt sie die Kulisse aus Ruinen, in denen sich die romantische Phantasie eine künstliche Zeit ausmalt, in der ferne Vergangenheit und Zukunft zusammenlaufen. Die literarische Ruinenromantik geht dann bald zu Ende, dafür entdeckt die Literatur das Müllthema. So besingt Baudelaire einen Trinker und Lumpensammler, der sich ...
Spr. 3 „lendenlahm unter einem Haufen Müll krümmt, dem konfusen Auswurf des riesigen Paris.“
Spr. 1 Etwa zur gleichen Zeit wie Baudelaires Fleurs du Mal erschien Charles Dickens’ Roman Unser gemeinsamer Freund, die Geschichte von John Harmon, des Erben eines reichen Abfallhändlers. Der ganze Roman ist durchzogen von der Thematik des dusts, eines im viktorianischen Englisch geläufigen Euphemismus für Kot. Neben Harmon bevölkern den Roman noch weitere Händler und Agenten des Abfalls, der Müllunternehmer Noddy Boffin, der Skeletthändlers Mr. Venus und ein Abfallsammler namens Gaffer Hexam. Aber ganz sind diese Müllgeschichten noch nicht von der Romantik abgekoppelt: Das Rom- und Untergangsthema spielt auch in diesen Roman hinein, denn der Analphabet Boffin lässt sich in seiner von Müllbergen umgebenen Villa aus Edward Gibbons Decline and Fall of the Roman Empire vorlesen.
Spr. 2 So hat auch – um auf unsere Gegenwart zurückzukommen – das merkwürdige Zeitverhältnis der Moderne eine Entsprechung in der Epoche um 1800. Während wir heute mit der einen Hand unseren Alltag reinigen, dauernd überflüssige Dinge abschöpfen, um sie dem Abfall zuzuführen, und zugleich unablässig Neues kaufen, fangen wir mit der anderen Hand die verschwindenden Dinge wieder auf. Um diese Ephemeren unseres Konsums nicht in die heillose Vernichtung stürzen zu lassen, suchen wir sie in Bibliotheken, Archiven, Museen, Trödelmärkten und Second Hand Shops der Müllwerdung zu entwinden. Auf der einen Seite zieht es uns mit unwiderstehlicher Gewalt in die Zukunft, wir lassen uns von den Moden, den technischen Erneuerungen nach vorne treiben, während uns andererseits die gleiche romantische Sentimentalität schüttelt und uns dazu anhält, die alten Dinge aufzuheben, oder gar unseren eigenen Alltag als Vergangenheit zu behandeln. Zugleich antizipieren wir diverse zukünftige Szenarios, in die sich wie bei Diderot noch unsere Gegenwart erstreckt. Das gilt zum Beispiel für die Reste, die aus den Atomkraftwerken in eine zehntausendjährige Zukunft gelagert werden.
Spr. 1 20.000 Jahre ist die Halbwertzeit von Plutonium, aber werden unsere Enkel in 10.000 Jahren zum Beispiel noch wissen, wie gefährlich dieser Müll ist? Dazu eine kleine Geschichte. Vor gut 30 Jahren erhielt der amerikanische Semiotiker Thomas A. Sebeok von der amerikanischen Regierung den Auftrag, er solle ein Zeichensystem entwerfen, um sicherzustellen, dass das Wissen von heute über die Lagerungsorte und über die physikalischen Risiken solcher Atommüllreste für diese lange undenkbare Zeit von 20.000 Jahren sichergestellt sei. Blicken wir dieselbe Zeitspanne zurück, dann existierte vor 20.000 Jahren eine Menschenwelt ohne Schrift, ohne Technik, ohne Kultur im heutigen Sinne. Die in jener Zeit gesprochenen Sprachen sind längst unverständlich. Was wird man in 20.000 Jahren noch von uns wissen? Werden unsere Bibliotheken, Archive, Museen dann noch existieren? Auf jeden Fall werden über diese lange Zeit die Gefahren des Atommülls fortbestehen. Aber wird man in 20.0000 Jahren noch unsere Sprache verstehen und unsere Schrift noch lesen können? Kurz und gut: Hier besteht ein Zeitproblem. Und das Problem lautet: Wie kann ein Wissen von den Gefahren des Atommülls über so lange Zeit sichergestellt, stabilisiert und vielleicht auch immer wieder auf den neuesten Stand gebracht werden? Das war die Aufgabe, die dem Semiotiker gestellt wurde.
Spr. 2 Und wie hat Sebeok diese Aufgabe gelöst? Er unterbreitete den Vorschlag, eine Atompriesterschaft zu gründen. Um das Problem sollte sich eine neu gegründete Institution kümmern, eine Kaste von Spezialisten aus Physik, Semiotik, Linguistik, die eigens in dieses Amt des Atompriesters berufen werden sollten. Diese Atompriester würden sich wie Professoren selbst rekrutieren und als beamtete Wissenschaftler für die feste, sichere, redundante Speicherung des Wissens sorgen. Ganz wie Priester also waren sie für die unverlierbare Tradition dieses Wissens verantwortlich. Nur die großen Weltreligionen haben bislang ein Beispiel dafür gegeben, wie über einen sehr langen Zeitraum ein Wissen stabil gehalten worden ist. Und für diesen langen, in der menschlichen Geschichte eigentlich undenkbaren Zeitraum sollten also Priester oder priesterähnliche Beamte die Sicherheit und Stabilität des Wissens über die Risiken und Gefahren der Atommüllreste gewährleisten.
Spr. 1 Es gibt also nicht nur Reste, die wir bewahren wollen, die wir vom Alltag aussondern und ins Archiv oder Museum schicken, um sie vor dem Verfall in Abfall zu bewahren; es gibt auch Reste, die sich aus eigener Kraft, aus tödlicher eigener Kraft, über eine unabsehbare Zeit hinweg erhalten. Es sind solche offenbaren Zeitparadoxien, die auch das Denken unserer Zeit bestimmen. In Folge dieser das moderne Bewusstsein bestimmenden Frage der Reste, der guten und schlechten Reste, haben viele bedeutende Denker des 20. Jahrhundert nicht mehr die großen Themen und Fragen der Metaphysik aufgegriffen - Gott, Wahrheit, Staat, Sein - sondern kleinformatige Begriffe, Fragmente, Reste, Spuren, Trümmer, Ruinen. Gewiss setzte die Aufwertung der Reste bereits früher ein, man findet sie bereits im 17. Jahrhundert, aber als durchgehenden Zug, als eine allgemeine Beunruhigung zeigt sich diese Wendung zum Übriggebliebenen und zu Randphänomenen erst seit etwa 1900. Das Verständnis der Welt gewinnen viele Denker seitdem mehr und mehr aus den Kleinigkeiten, Nebensachen und Abfällen der Welt und des Sprechens. Man denke an die Ausnahme bei Carl Schmitt, an die Spur in den Geschichtswissenschaften, an den Blick bei Sartre, an die différance Derridas, an das punctum bei Roland Barthes und an so viele andere aus der Peripherie der Welt gespeisten Theorien. Drei prominente Denker sollen hierzu ein wenig ausführlicher zu Worte kommen: Sigmund Freud, Martin Heidegger und Walter Benjamin.
Spr. 2 Sigmund Freud hat seine therapeutische Praxis, nämlich aus den Mitteilungen seiner Patienten eine Krankengeschichte zu rekonstruieren, gerne mit den Verfahren der Archäologen verglichen. Um sich Zugang zu dem Unbewussten zu verschaffen, das die Erinnerungen an kindliche Erfahrungen und Traumata verschlossen hält, gräbt der Analytiker und Arzt im Gedächtnis seiner Patienten und versucht aus Alltagsresten, aus Träumen, Fehlleistungen und Versprechern, den Trümmern oder dem Abfall des Sprechens, die Ereignisse zu rekonstruieren, die dem Patienten selbst nicht mehr ohne weiteres zugänglich sind. Ähnlich den Resten des Forum Romanum, die es erlauben, das Zentrum der alten Stadt nachzubauen, nutzt Freud die Trümmer der Erinnerung, um den Bau einer Neurose zu erschließen. Aber das Unbewusste lässt sich nicht nur bei den Patienten auf der Couch beobachten, sondern auch im Alltag.
Spr. 1 Im zweiten Kapitel seiner Schrift Zur Psychopathologie des Alltagslebens aus dem Jahre 1901 gibt Freud ein Beispiel für diese Methode, Fehlleistungen wie Versprechen und Vergessen dem Verstehen zuzuführen. Er analysiert Sprachreste, die selbst eine solche Reststruktur aufweisen. Freud erzählt da die Geschichte eines jungen jüdischen Mannes, dem es nicht gelingt, einen Vergil-Vers vollständig zu zitieren. Die beiden lernen sich auf einer Zugfahrt kennen, und ihre Unterhaltung wendet sich der Lage der Juden zu. Freuds Gesprächspartner ist überaus verbittert darüber, dass so viele Gesetze die Juden bei der Entfaltung ihrer Talente und Möglichkeiten einschränken. Um dies zu pointieren, will der junge Mann ein Wort der Dido aus Vergils Aeneis zitieren, wo diese einem Nachkommen, der „aus ihren Knochen ersteht“, die Rache an Äneas überträgt: "exoriar(e) aliquis ex nostris ossibus ultor". Doch als er den Vers anführen will, kommt ihm das lateinische Pronomen aliquis nicht mehr in den Sinn. Die Rekonstruktion, die Freud nun einleitet, um das Vergessen aufzuklären, läuft über Assoziationen wie „Reliquien“, „Liquidation“, „Flüssigkeit“ und bleibt dann beim „Blutwunder des heiligen Januarius“ stehen. Am Ende ergibt sich der Grund der Störung: Der junge Mann muss befürchten, dass ihm eine italienische Bekanntschaft das Ausbleiben ihrer Regel mitteilt. Das Wörtchen aliquis ist allzu sehr von dieser unbewussten Sorge okkupiert. Es sind buchstäblich organische Reste wie Reliquien und Menstruationsblut, die die Artikulation eines künftigen Rechtsanspruchs auf Gleichberechtigung aller Juden in dem Vergil-Zitat blockieren.
Spr. 2 Unabweislich taucht nun die Frage auf, ob nicht Freud hier die jüdische Seite seiner großen theoretischen Innovation gesehen hat. Sind nicht die sprachlichen Reste dem sozialen und rechtlichen Status der Juden analog? Das ist nicht zu leugnen. Andeutungen finden sich in Freuds Gesellschaftstheorie mit dem Titel Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Am Anfang der Gesellschaft steht nach Freud nicht der Urkontrakt, der Gesellschaftsvertrag, das Versprechen, sondern die Verdrängung oder gar die Urverdrängung, wie Freud auch bisweilen schreibt. Die Theorie der Verdrängung und des Unbewussten, die den Sprachmüll der Patienten und des Alltags, die Alltagsreste und die unbewussten Abfälle durchkämmt und für Theoriebedürfnisse recycelt, führt im Moses-Buch dann zu einer kühnen spekulativen Theorie der Gesellschaft, an deren Anfang der Vatermord steht. Mit ihrem davon übrig bleibenden schlechten Gewissen legt jede Gesellschaft die kulturellen Grundlagen für jene Pathologien, die die psychoanalytische Beobachtung beschreibt. In jeder neurotischen Verdrängung, der die kindlichen Vatermordgedanken zum Opfer fielen, wiederholt sich das ontogenetische Drama der Gesellschaft. Jedes Stammeln, jede Fehlleistung, jede Gedächtnisstörung eines Patienten, bildet eine Signatur dieser allerersten Verdrängung. Das ist das radikal Moderne dieser Theorie, und die Psychoanalyse wirkt so an einer Revision mit, die im 20. Jahrhundert das theoretische Interesse vom vollen Sprechen, vom kultivierten Diskurs abkehrt und einem fragmentierten, verdrängten, uranfänglichen, verlorenen Sprechen zuwendet.
Spr. 1 Eine ganz gleiche Theoriebewegung vollzieht auch Martin Heidegger. Seine Parmenides-Vorlesung des Wintersemesters 1942/43 sowie das darauf folgende Heraklit-Kolleg stellen seinen zentralen Beitrag zur Frage der Reste dar. Am vorsokratischen Denker Parmenides erläutert Heidegger das Wesen der griechischen alätheia, der Wahrheit. Sie heißt, genau übersetzt: "Unverborgenheit". Der Gegenbegriff hierzu im Sinne der Verborgenheit heißt im griechischen pseudos. Dieser pseudos bedeutet nach Heidegger nicht das Falsche oder die Lüge, wie unser Wort Pseudonym nahe legen könnte, sondern das Verdecken oder Verhehlen. Heidegger entfaltet nun die Lesart, dass dieser griechische pseudos als Gegenwort zu alätheia in der römischen Aneignung des Griechischen zum Gegensatz von verum und falsum, von wahr und falsch, entstellt und verkürzt wurde. Es gibt daher bei Heidegger keine Heroisierung Roms, denn dieser von den Römern eingeleitete "Wandel des Wesens der Wahrheit und des Seins“ ist laut Heidegger „das eigentliche Ereignis in der Geschichte".
Spr. 2 Ähnlich dem von Freud postulierten Vatermord und der Urverdrängung kennt auch Heidegger eine Urkatastrophe in der Menschheitsgeschichte. Man weiß vielleicht, dass Heidegger dieses Ereignis zu Beginn seines Hauptwerkes Sein und Zeit als „Vergessen“ oder auch als „Verstummen“ der Frage nach dem Sein analysiert hat. Während in Sein und Zeit, die Frage nach dem Sein wieder ertönt und als zentrale oder fundamentale Herausforderung des Denkens vorgestellt wird, verändert sich das gleiche Unternehmen in den Vorlesungen über Parmenides und Heraklit zu einer Spurensuche, zu einer Befragung von Bruchstücken, Trümmern und Resten. Es geht Heidegger ja auch nur darum, diese Frage nach dem Sein als die eigentliche Gestalt des Denkens wiederzufinden. Man kann diese Struktur mit derjenigen vergleichen, die Freud der Arbeit der Analyse übertragen hat, nämlich einen verschütteten, zerstückelten oder gar ruinierten Diskurs zu rekonstruieren.
Spr. 1 Ausschlaggebend ist nun, dass Heidegger vor allem in der Parmenides-Vorlesung die Analyse des Restes nicht nur thematisch entfaltet, sondern auch methodisch. Die Gegenstände, auf die sich seine Analyse stützt, heißen nicht Diskurse, Systeme, Theorien, sondern Zeichen, Spuren, Winke, Hinweise. Das sind alles kleinformatige Anstöße für das Denken, das freilich selbst nicht kleinformatig operiert, sondern ins Große, Allgemeine, Seinsgeschichtliche strebt und dort wahrhaftig gewaltige Dinge sagt. Die Struktur aber ist offensichtlich. Es geht durch diese Rückbindung auf Reste, auf Trümmer, Fragmente und zerstückelte Zeichen um eine prinzipielle Sache: um Wahrheit, um den Ursprung und um die Entstehung des Staates. Der Staat, und hier spricht Heidegger modellhaft exemplarisch über den Römischen Staat, hat die Wahrheit in Stücke gelegt, und was übrig geblieben ist, sind Halde, Verschüttung, Zertrümmerung. Der Staat, Wahrheit und Sprache sind heute nur noch Müll, Abfall eines Abfalls, wie die abschließende Formel Heideggers besagt:
Spr. 3 "das Wesen der Wahrheit ist längst aus seinem Anfang, und d.h. zugleich aus seinem Wesensgrund, gewichen, aus seinem Anfang heraus gefallen und so ein Abfall."
Spr. 2 Aber neben dem Verbergen der Wahrheit gibt es noch eine andere Weise der Bewahrung, nämlich das Geheimnis. Dieses Geheimnis, das Unerklärliche, zählt für Heidegger zu den Randphänomenen, die das technische Erklären und die Rationalität nicht gelten und daher übrig lassen. Es ist der übrige Rest, der buchstäblich in der Rechnung noch nicht aufgegangen ist. Die Neuzeit pflastert die Welt zu mit Erklärungen und Wissenschaft, es gibt keinen Raum mehr für das Geheimnis, die Neuzeit will keine Ungewissheiten. Die wenigen Reste, die geblieben sind, die dunklen Fragmente der griechischen Philosophie, erzählen vor allem von der Katastrophe der Seinsgeschichte. Die Seinsgeschichte entfaltet sich aus dieser Sicht als ein Restewerden der Wahrheit, welches dem Denken aufgibt, in den Trümmern diese ganze Wahrheit wieder zu finden.
Spr. 1 Wie Heideggers Seinsgeschichte kennt auch Walter Benjamins Geschichtsmetaphysik einen Unfall, der die Geschichte zerteilt: den Sündenfall. In seinen frühen Aufzeichnungen "Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen" liest Benjamin den Sündenfall als eine Katastrophe der Sprache. Als in paradiesischer Zeit Adam den Tieren und Dingen ihren Namen gab, da hielt sich die Sprache fern von aller Konvention. Die Namen, die Adam vergab, waren rein und zufallslos wie platonische Ideen: Diese Lampe heißt Lampe, weil sie Lampe ist. Dann zerriss der Sündenfall die Verbindung von Namen und Dingen, und das Sprechen trat aus der reinen Namensprache in die Funktionssprache über. Der Sündenfall und die babylonische Verwirrung bilden ein einziges Ereignis. Mit dem Ende der Namensprache suchte das Geschwätz die Welt heim. Der linguistische Müll überfiel das Sprechen und vollendete die Katastrophe: die Entstellung der Sprache zum Mittel. Nun ragt ein riesiger babylonischer Turm aus Geschwätzabfall zum Himmel. Das Wachsen dieser Wortmüllhalden bildet den Inhalt der Geschichte. Denn erst der Sprachunfall riss die Welt aus den Angeln ewiger Zeitlosigkeit und trieb sie in die leere Weltzeit hinein, wo sie, mit einer schwachen messianischen Hoffnung versehen, dem Ende der Zeit entgegen geht. Erst wenn diese – wie Benjamin formuliert - "Verwirrung, die vom Turmbau zu Babel herrührt" - geschlichtet ist, kann vielleicht die messianische Nichtmehrzeit einsetzen.
Spr. 2 Wie aber steht es mit den Resten? Während sich Heidegger auf den Abfall der griechischen Denker besinnt, entfaltet Benjamin sein ganzes Werk als Theorie der Reste. Die paradiesische Sprachkatastrophe erfasste nach seiner Lesart sowohl die Wörter als auch die Dinge, denn, so sagt er:
Spr. 3 "Zur Verknechtung der Sprache im Geschwätz tritt die Verknechtung der Dinge."
Spr. 2 Was nicht "ohne Rest" in die Sprache Eingang findet, das fällt auf demTrümmerhaufen, den die Weltgeschichte zum Himmel wachsen lässt. Der paradiesische Zustand einer Sprache ohne Reste fiel für Benjamin in die zeitlose Urzeit. Die Philosophie will aber jetzt diese Zeit, will die Ideen, die Sprache, die Welt dieser Vorzeit wiederherstellen. In seiner Abhandlung Ursprung des deutschen Trauerspiels erklärt Benjamin daher auch, dass die Familien-Genealogie der Philosophen direkt auf den vorzeitigen Namengeber Adam zurückgeht. Jeder philosophische Sohn Adams tritt an, um die Zerstreuung der Worte und Dinge aufzuheben, er begibt sich an die "Einsammlung der Phänomene", um die Welt wieder in ihren Ursprungszustand zu versetzen. Die Reste, die die Geschichte aus Wörtern und Dingen anhäuft, sind ja die Trümmer, denen Benjamins berühmter Engel der Geschichte sein Antlitz zuwendet:
Spr. 3 "Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“
Spr. 1 Die zerstückten Körper, Leichen, Ruinen, Skelette, Torsi, Sprachfetzen, die den Schauplatz des Trauerspiels füllen, gehören einer anderen zerstreuten Dingwelt zu, die im barocken Theater den "Grund einer Neugeburt" legt. Aber dem Engel der Geschichte will das nicht gelingen. Er will zwar "die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen", aber der "Sturm des Fortschritts", der vom Paradiese und vom Sündenfall her weht, hindern ihn daran. In dem großen, seinerseits fragmentarischen Passagenwerk nimmt Benjamin diesen Gedanken erneut auf. Was in der Abhandlung zum Trauerspiel die Ruinen und Leichen als Embleme und Elemente der Geschichte zu leisten hatten, das wird nun in der Betrachtung des 19. Jahrhunderts auf "Lumpen" und "Abfall" übertragen .
Spr. 2 So entfaltet sich Benjamins Theorie der Reste, seine Vision einer "Geschichte als Abfall", in ganz unterschiedlichen Gedankenreihen. Zu den wichtigsten Konzepten zählt die Theorie des Sammlers, die im Passagenwerk skizziert wird.
Der Sammler nimmt den Kampf gegen die Zerstreuung auf. Allerdings bleibt sein Werk auf ewig unvollendet. Der Sammler entziffert die Masse der Dinge als gefallene Waren. Auch sie sind Spuren jener ersten Katastrophe, der alle Wörter und Dinge zum Opfer fielen. Die Ware ist das gefallene Ding, so wie das Wort der gefallene Name ist. Benjamins Plan der Passagenarbeit sah nun vor, die Bilder dieser Warenwelt, die Bewohner der Passagen, die Prototypen der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts, Moden, Reklamen, Waren, Konstruktionen, Stimmungen, Gedanken, den gewaltigen Auswurf und Kehricht dieser Epoche, so zu konfigurieren und so zu montieren, dass auch der Kapitalismus als Folge der großen ersten Zerstreuungskatastrophe lesbar würde.
Spr. 1 Freud, Heidegger und Benjamin sind nicht nur Denker der Reste, sondern auch Zeitgenossen zweier ebenso paradoxer Prozesse im 20. Jahrhundert: Da treten einmal seit Picasso, George Braque, Marcel Duchamp oder Kurt Schwitters alle möglichen Abfälle und Reste, Bindfäden, Eintrittskarten, Puppenarme, Stuhlgeflechte, Fahrradsattel in den Raum der Kunst ein, so dass sich die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts auch als Müllgeschichte schreiben ließe. Und in die gleiche Zeit fällt die Theorie und Praxis des Völkermordes. Die Rassetheorien seit dem 19. Jahrhundert teilten die Menschen in wertvolle und weniger brauchbare Rassen ein, und der Hitlersche Rassismus bildete die grauenhafte Konsequenz dieser als Reste bestimmten Menschen. Es ist bekannt, wie stark die Rassetheorien des Faschismus durchsetzt waren von Begriffen und Klischees der im 19. Jahrhundert so siegreichen Hygienetheorien. Menschen bestimmter Herkunft wurden als Ungeziefer, Schädlinge, Parasiten, Bazillen, Schmutz bezeichnet und beseitigt.
Spr. 2 Gehört diese Denkweise aber wirklich der Vergangenheit an? In weniger schrecklicher und spektakulärer Weise wirken sich indessen die biopolitischen regionalen und globalen Prozesse aus, die - wie es der Soziologe Zygmunt Baumann ausdrückt - Menschenmüll produzieren, nämlich Menschen, die nach bestimmten sozialen Kriterien und ökonomischer Prinzipien als überflüssig, unproduktiv, ja, sogar als störend gelten: Arbeitslose, Unsesshafte Migranten, Flüchtlinge, Drogensüchtige. Diese Leute wurden durch verschiedene evolutionäre Prozesse, die die avancierten Gesellschaften durchmachen, zugleich erzeugt und überflüssig. Der technische Fortschritt, der die Moderne hervorbrachte, hat innerhalb kürzester Zeit in vielen Bereichen die menschliche Arbeitskraft abgeschafft. Oder er fordert eine solche Mobilität und Flexibilität, die viele nicht mehr aufzubringen vermögen. Die avancierten Gesellschaften vermeiden es sorgfältig, diese Müll-Menschen physisch zu vernichten; doch sie werden in einem gewissen Sinne sozial so markiert, dass sie als Ballast angesehen werden. Diese Entwicklung hat, wie man heute gerne sagt, einen globalen Zug und trifft die so genannten Industrieländer in vergleichbarer Form.
Spr. 1 Dieser Zug liest sich auch daran ab, dass ein ganzer Kontinent wie Afrika zu einer globalen Ablagestätte für Abfälle geworden ist. Es ist längst bekannt, dass alljährlich Millionen Tonnen von großenteils schrottreifen elektronischen Geräten aus den Industrieländern nach Afrika exportiert werden, wo sie dann auf Müllkippen landen. Als Caritas maskiert schicken westliche Helfer Unmengen von Altkleidern und abgetragenen Schuhen hinterher. Zwar hatte die Basler Giftmüll-Konvention aus dem Jahre 1992 den Export von giftigen Stoffen in Dritte-Welt-Länder weitgehend unterbunden; doch unter der Hand laufen auch viele dieser Exporte weiter. In den Augen des Westens hat sich Afrika durch Bürgerkriege, Aids, Flüchtlinge und wachsende Wüsten in einen Schrottplatz voll unbrauchbarer Menschen, Wüsten und Waren verwandelt. Der dunkle Kontinent nimmt in der Vorstellung vieler Zeitgenossen die Gestalt eines riesigen Endlagerungs-Erdteils innerhalb der globalisierten Welt ein. Die Unterscheidung, die auf der einen Seite sinnvolle und brauchbare Dinge, Menschen, Regionen und Systeme sieht und auf der anderen Seite das Unbrauchbare, den Müll, das Verworfene, zerschneidet auch Afrika in brauchbare Regionen mit wertvollen Gesellschaften und Naturressourcen und unbrauchbaren geographischen und sozialen Wüsten. Die New Yorker Stadtmanager, die noch vor einigen Jahren planten, Containerschiffe mit ihrem Müll nach Afrika zu schicken, dachten ganz nach diesem Schema.
Spr. 2 Alle diese Prozesse verlaufen in bestimmter Hinsicht anonym. Das ist auch vermutlich der Grund dafür, dass die moderne Kunst eine solche enorme Aufmerksamkeit für diese Prozesse aufbringt. Die riesige Abfallproduktion der modernen Gesellschaft vollzieht sich in einer kollektiven Praxis, die an keinen Einzelwillen anschließt, und läuft wie ein natürliches Geschehen ab. Nicht anders steht es um die Prozesse, die den Menschenmüll hervorbringen, die Arbeitslosen, Migranten, Asylanten. Die Begriffe, in die sich dieser schicksalsähnliche Prozess kleidet, heißen: „Rationalisierung“, „Effizienzsteigerung“, „Globalisierung“. Niemand ist dafür verantwortlich, niemandem kann das zugeschrieben werden. Es gibt keinen Schuldigen, es gibt keinen Urheber. Schwerlich wird man allerdings behaupten können, dass Gott die Globalisierung gebracht hat. Es scheint eine radikal dem Menschwillen entzogene Vernunft zu sein, der sich Wirtschaftsführer, Politiker, Philosophen zu beugen haben. Bisweilen versuchen Populisten den Arbeitslosen auch als faul und träge darzustellen, um das vertraute Prinzip von Ursache und Wirkung anzuwenden, aber jeder Klardenkende weiß, dass diese Sicht dem Problem nicht gerecht wird.
Spr. 1 Dass die Moderne dem Müll, dem Problem der Reste und des Abfalls, eine solche Aufmerksamkeit widmet, hat nicht nur mit der Ende des 18. Jahrhunderts entstehenden Geruchsempfindlichkeit und dem Hygienebewusstsein zu tun. Es ist auch der Erfahrung geschuldet, dass die Unterscheidung zwischen nützlich und überflüssig, brauchbar und unbrauchbar, Bewahren und Verwerfen offenbar die Menschheit selbst erreicht hat und ihr Schicksal mitbestimmt. Vermutlich sind in allen Kulturen und zu allen Zeiten Behinderte, Verrückte, Unproduktive und Alte als Last betrachtet worden; vielleicht wurden auch in früheren Gesellschaften solche Menschen bisweilen umgebracht. Aber erst das 19. und 20. Jahrhundert verwandeln durch rein evolutionäre, industrielle Prozesse Menschen in Müll. Das 19. Jahrhundert spricht bereits vom so genannten Lumpenproletariat, das 20. Jahrhundert erlebt die ungeheuerlichen Völkermorde, und das 21. Jahrhundert schaut ebenso alarmiert wie teilnahmslos der Müllwerdung ganzer Völker und Bevölkerungsgruppen zu. Diese Frage des Menschenabfalls erscheint nun heute als prinzipiell und besorgniserregend. Zwar ereignet sich bereits in Goethes Faust II ein Kollateralschaden, als durch Fausts Landgewinnungspläne die idyllische Lebenssphäre von Philemon und Baucis zerstört wird und die beiden mit hinweg gerafft werden. In der Moderne scheint dies aber an der Tagesordnung.
Spr. 2 Franz Kafkas Die Verwandlung führt den Prozess der Müllwerdung eines Menschen in einer langen Erzählung vor Augen: Gregor Samsa verwandelt sich zunächst in ein Ungeziefer und wird am Ende als „Zeug“ aus dem Hause geschafft. Samuel Becketts Stück Endspiel setzt ein, nachdem dieser Vorgang bereits abgeschlossen ist. Hamms Eltern sitzen in Mülleimern, die ersten Ratten schleichen durch die Küche, er selbst ist blind und gelähmt. Der Diener Clov blickt ab und zu mit einem Fernglas aus dem Fenster, aber die Welt draußen wirft keine Informationen mehr ab. So bittet Ham den abtretenden Clov noch um ein letztes Wort, über das er nachdenken könnte
Spr. 3 „mit dem Rest, am Ende, den Schatten, dem Gemurmel, all dem Übel, zum Schluss.“
Spr. 2 „Letzte Restverwertung“ wäre ein anderer geeigneter Titel für dieses Endspiel. Die Thematik, die Schriftsteller wie Beckett in seinen Stücken und Romanen, Gottfried Benn in seinen Gedichten aus dem Leichenschauhaus, T.S. Eliot in seinem Lyrikwerk Waste Land, Heinrich Mann mit seinem Professor Unrat, Italo Calvino in seinem Essay Mülltonne oder auch Don DeLillo in seinem Roman Unterwelt umspielen, ist in der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts und bis auf den heutigen Tag eine weit verbreitete Praxis. Dort werden in vielfacher, strenger oder auch phantasievoller Weise Abfälle in den ästhetischen Prozess eingeschleust. Solche Konvertierbarkeit von Müll und Kunst artikuliert die apokalyptische Besorgnis, dass die Grenzen zwischen der geordneten Welt und dem Abfall nicht sicher sind, dass die Verwandlung von Werten, Menschen, Kultur in Müll diese Grenze unablässig verschiebt und dass mit der Auflösung dieser Differenzen die Welt schleichend vom Wärmetod heimgesucht wird.
Spr. 1 In der bildenden Kunst unserer Tage ist diese Beunruhigung, die die Literatur ausspricht, unmittelbarer zu spüren. Vielleicht kam sie als erstes bei den objet trouvés der Dada-Bewegung und der Surrealisten zum Ausdruck, obwohl bereits Vincent van Gogh einmal von der Schönheit einer Müllkippe geschwärmt hat. Doch emblematisch für diese Wendung in der Kunst, die nicht mehr die Welt abbilden, sondern Weltvorgänge und Verwandlungsprozesse, die Müll, Staub, Tod, Exkremente hervorbringen, ausstellen wollte, war Marcel Duchamps Urinal, das zum ersten Mal 1917 unter dem Titel „Fontaine“ die Kunstwelt schockierte. Für Duchamps Ready-Mades und für die Objektkunst gilt gewiss auch, dass sie nicht völlig ernst genommen sein will. Doch der Einzug der Alltagsdinge in die Kunst, die Bild- und Objektwerdung von Schutt, Asche, von rauen Materialien, von Fett, Staub, Rost, Filz währt schon so lange und scheint so definitiv, dass sich auch darin der veränderte Weltbezug der Moderne oder Postmoderne ausdrückt. Dabei scheint es unvermeidlich, dass immer wieder Putzfrauen solche Kunstwerke nicht erkennen und sie mit dem übrigen Schmutz, den sie als Heimsuchungen der Galerien oder Ausstellungen zu bekämpfen haben, beseitigen.
Spr. 2 Auch Werke von Joseph Beuys wurden Opfer dieser Unschärfe. Berühmte Objekte, die mit dem Unscharfwerden der Grenzen zwischen Müll und Kunst spielen, ist einmal Piero Manzonis auf Dosen gezogene Merda d’artista, die Künstlerscheiße von 1961. Ebenso berühmt sind die Poubelles, Mülleimer, des französischen Künstlers Arman. Er produziert mit Hausmüll gefüllte Plexiglaskästen als Objekte. Aus diesen Arbeiten heraus entwickelte Arman dann später seine Accumulations, Ansammlungen, die aus zusammengeklebten oder geschweißten Alltagsobjekten, Uhren, Musikinstrumenten und sogar Autos bestanden, die zum Teil riesige Formate annahmen. Eine andere Variante zur ästhetischen Konservierung und Mutation von Resten entwickelte der Künstler Daniel Spoerri, der abgegessene Tafeln konservierte und Tischdecke, Teller, Bestecke mit Speiseresten zu Objekten verwandelte. Eine ganze Kunstbewegung sucht ihr Material auf Schrottplätzen. Zu ihnen zählen der französische Künstler César und der Schweizer Jean Tinguely, die der Künstlergruppe der „Nouveaux Réalistes“ angehören. Sie suchen ihr plastisches Material auf Müllkippen und nutzen Wracks von Fahrzeugen aller Art als Werkstoff. Während Tingeley Teile dieser Objekte in origineller Form neu zusammenbaut, wurde César durch seine komprimierten Objekte verschiedenster industrieller Provenienz bekannt, die er von den mächtigen Schrottpressen der Autohalden produzieren ließ.
Spr. 1 Aber auch subtilere Rest-Materialien wurden dem Verwandlungsprozess der Kunst unterzogen. Im Jahre 1988 fand in Dijon eine Ausstellung mit dem Titel Poussière (Dust memories) statt, die dem Staub gewidmet war. Das Konzept verlangte von den Künstlern, dass sie das Nichtsichtbare und Immaterielle oder auch Nichtrepräsentierbare des Staubes darstellten. An dieser Ausstellung war auch der französische Fluxus-Künstler Robert Filliou beteiligt, der im Jahre 1977 im Louvre und im Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris Meisterwerke auswählte, um ihren Staub zu konservieren. Mit frischen Tüchern zog er den Staub ab, der sich auf diesen Gemälden und Skulpturen abgelagert hatte und ließ sich dabei fotografieren. Nachdem er die mit dem kostbaren Staub benetzten Tücher in Schachteln versorgt hatte, klebte er auf die Deckel Polaroids, die ihn während der Aktion zeigen.
Spr. 2 Alle diese Künstleraktionen, die Objektkünste und Projekte, die Müll, Abfall, trash, waste, dust in einen ästhetischen Prozess holen, sind durchaus verwandt mit der Geste des anfangs erwähnten Archäologen William L. Rathje, der den Müll seiner Zeit der Wissenschaft zuführt. Die moderne und postmoderne Gesellschaft beobachtet ihren Abfall, ihre industriellen, ökonomischen und kulturellen Stoffwechselprozesse mit höchster Aufmerksamkeit. Sie zeigt sich von ihnen zugleich abgestoßen und magisch angezogen. Die Anziehungskraft, die das Abstoßende im Auge der Wissenschaft, der Kunst, bei Sammlern und am Ende bei uns allen ausübt, ist eine bislang noch nicht verstandene Kraft, eine neue Dynamik unserer Kultur. Man könnte vermuten, dass der Gegensatz zwischen Wegwerfen und Bewahren ein ähnliches Schicksal, erleidet wie andere Gegensätze unserer Zeit, wie der Gegensatz zwischen Männern und Frauen, wie der Gegensatz von Freund und Feind, wie der Gegensatz von wahr und falsch. Die Unterschiede werden abgeschliffen und unscharf.
Spr. 1 Andererseits hat der kurze Rückblick gezeigt, dass die Empfindlichkeit für schlechte Gerüche, für Scheiße, Schmutz und Staub eben eine moderne Errungenschaft ist. Diese Empfindlichkeit steigt ja eher, als dass sie abnimmt. Die Empfindlichkeit legt Wert auf Trennschärfen. Vielleicht ergibt sich auch eine Erklärung daraus, dass die moderne Gesellschaft immer rigidere Verfahren der Aussonderung betreibt, dies aber mit einem schlechten Gewissen. Das schlechte Gewissen – auch das lehrt die Geschichte – greift gerne zu apokalyptischen Bildern, um sich Kraft zu verleihen. Aber sie ändert nichts. Die moderne Gesellschaft beobachtet sich selbst wie frühere Gesellschaften die Natur: Sie erkennt sich schaudernd als eine unabänderliche schicksalhafte Dynamik. Die Geschwindigkeit dieser Veränderungen wird immer größer, die Eingriffsmöglichkeiten werden immer kleiner. Dafür nimmt die Intensität der Beobachtung zu. Die moderne Welt kann nur Bestand haben, wenn sie vollkommen versteht, was sie abstößt. Noch ist der Müll, so sehr er erforscht und ästhetisch recycelt wurde, ein Geheimnis.