SWR2 Wissen - Aulagespräch - Detlef Pollack mit Ralf Caspary: Glauben ade? Die Zukunft der Kirchen in Deutschland

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Zukunft - Glauben (D.Pollack,R.Caspary)
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SWR2 Wissen - Aulagespräch - Detlef Pollack mit Ralf Caspary: Glauben ade? Die Zukunft der Kirchen in Deutschland
Sendung: Freitag, 25. Dezember 2015
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Produktion: SWR 2015
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

AUTOR
Detlef Pollack ist Professor für Religionssoziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u. a. die Evangelische Kirche in Deutschland, Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne, kulturelle und soziale Integration im Selbstbild türkischstämmiger Muslime in Deutschland.
Bücher (Auswahl):
- Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich (zus. mit Gergely Rosta). Campus-Verlag. 2015.

ÜBERBLICK
Den Kirchen gehen immer mehr Mitglieder verloren. Im vergangenen Jahr dokumentierte die katholische Kirche über 230.000 Gläubige weniger, die evangelische spricht von 410.000. Wobei es gleichzeitig große Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland gibt. Was sind die Ursachen? Können sich die christlichen Kirchen noch behaupten im globalen Wettbewerb der Religionen? Antworten gibt Professor Detlef Pollack, Religionssoziologe an der Universität Münster.

INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: "Glaube ade? Die Zukunft der Kirchen und der Religiosität in Deutschland".
Den beiden Kirchen gehen immer mehr Mitglieder verloren, im vergangenen Jahr dokumentierte die katholische Kirche über 230.000 Gläubige weniger, die evangelische spricht von 410.000, wobei es großen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland gibt, und auch unterschiedliche Beweggründe.
Wir wollen über die Ursachen sprechen, über die Frage, ob religiöse Gefühle, Religiosität immer mehr marginalisiert werden, und: welche Zukunft Religionen im globalen Wettbewerb haben können.
Ich begrüße zum Aula-Gespräch Professor Detlef Pollack, Religionssoziologe an der Universität Münster.
INTERVIEW
Caspary:
Guten Morgen, Herr Pollack, gestern war Weihnachten, die Menschen sind wieder in die Kirche gegangen, nahmen an Christmessen teil, überall gibt es christliche Symbolik. Wie bewerten Sie dieses Phänomen?
Pollack:
Viele Menschen schätzen die Unterbrechung des Alltags, und Weihnachten ist eine gute Gelegenheit dazu. Aber ich glaube, es ist noch ein bisschen mehr. Weihnachten ist vor allem ein Familienfest, man geht mit der Familie zum Gottesdienst, man feiert in der Familie Weihnachten, man fühlt sich zugehörig, auf einmal sollen alle Streitigkeiten ruhen. Das Singen der Choräle in den Kirchen ist eine gute Gelegenheit, die Übereinstimmung mit dem Leben zu feiern.
Caspary:
Hat das etwas mit "echter" Religiosität zu tun?
Pollack:
Was ist echte Religiosität? Ja, warum nicht? Auf jeden Fall ist es eine gewisse Überschreitung des Alltags, man versucht, sich einen anderen Sinnhorizont zu erschließen, man nimmt teil an einer gemeinschaftlichen rituellen Praxis, auch das gehört zur Religion. Ich würde das nicht diskreditieren, sondern ganz im Gegenteil: Typisch für Religion ist, dass sie sich mit verschiedenen gesellschaftlichen Lebensbereich verbinden kann, vor allen Dingen mit dem Bereich der Familie. Ich würde sagen, das ist eine vollwertige Form der Religiosität, auch wenn viele vielleicht mit den Inhalten des Glaubens nicht soviel anfangen können.
Caspary:
Das heißt, Weihnachten zeigt für Sie, dass Religion nach wie vor ein wichtiger Kitt ist. Es geht um gemeinsame Rituale, es geht um das Herausnehmen aus dem Alltag, es geht um die Symbolik, die jeder auch zu lesen weiß, und es geht um gemeinsame Werte?
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Pollack:
Ich würde nicht ganz so weit gehen zu sagen, dass gewissermaßen die Integration des Einzelnen in die Gesellschaft erfolgt. Aber an diesen Stellen sieht man, dass Religion für viele Menschen eine Art Hintergrundvariable ist. Man sagt, es ist gut, dass es das gibt, gelegentlich greife ich darauf zurück und Weihnachten ist eine Gelegenheit. Aber nicht in dem Sinne, dass gleichzeitig übergreifende Werte akzeptiert werden, sondern mehr indem man sagt, es ist gut, dass es das gibt, ich möchte daran teilhaben. Oft brauche ich das im Alltag nicht, aber zu Weinachten sehr wohl.
Caspary:
Der Begriff Hintergrundvariable klingt sehr pragmatisch. Wollen Sie damit unseren pragmatischen Umgang mit Religion deutlich machen?
Pollack:
Man sollte das weder über- noch unterschätzen. Irgendwo im Hintergrund weiß man, dass es die Möglichkeit gibt, zur Kirche zu gehen, dass es dort Seelsorge gibt, Gemeinschaft, Geborgenheit, dass man sich bestimmte Sinnhorizonte erschließen kann. All das ist zwar präsent, aber nicht vordergründig. Im Vordergrund steht die Freizeitgestaltung, der Beruf, das Vorankommen, die existenzielle Sicherung. Wenn man Menschen fragt, welche Bedeutung Religion in ihrem Leben hat, dann sprechen sie von einem sehr zurückgesetzten Verhältnis, weil andere Dinge Vorrang haben: Beruf, Freizeit, Familie, Nachbarschaft oder Politik.
Caspary:
Können Sie dieses zurückgesetzte Verlangen differenzieren zwischen Gläubigen und weniger Gläubigen?
Pollack:
Das muss man sogar auseinanderhalten. Auch für Gläubige steht die Religion oft nicht im Zentrum der eigenen Lebensführung, für Tiefgläubige hat sie natürlich einen höheren Stellenwert. Aber die Mehrheit der Kirchenmitglieder und derjenigen, die sich als Christen verstehen, haben zum Christentum ein eher distanziertes Verhältnis. Etwa 50 bis 60 Prozent sagen, ich finde es gut, dass es die Kirche gibt, gelegentlich nehme ich kirchliche Angebote in Anspruch, aber meine Verbundenheit mit dem Christentum, mit der Kirche ist nicht so ausgeprägt.
Caspary:
Ich habe die Frage zur "echten" Religiosität gestellt vor dem Hintergrund der Krise der Kirche – oder würden Sie sagen, der Kirchen?
Pollack:
Der Kirchen, ja. Ich würde sagen, wir haben seit mehreren Jahrzehnten eine langandauernde Krise.
Caspary:
Was bedeuten die kontinuierlich ansteigenden Zahlen von Kirchenaustritten für die Religiosität? Oder treffen die Menschen eine eher politisch gefärbte Entscheidung, weil sie mit der Institution Kirche nichts zu tun haben wollen, mit allen Glaubensinhalten und –botschaften jedoch schon?
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Pollack:
Die Menschen differenzieren sehr zwischen der Bindung an die Kirche und den Glaubensbindungen. Das ist bestimmt der Tatsache geschuldet, dass sie auch über ihren Glauben autonom entscheiden wollen und sich von der Kirche keine Lehrinhalte, keine Rituale vorschreiben lassen wollen. Die Frage ist, inwieweit der Einzelne seine religiöse Individualität mit den kirchlichen Angeboten in Übereinstimmung bringen kann. Das gelingt manchen, den meisten aber nicht. Viele Menschen treten aus der Kirche aus, weil sie Schwierigkeiten haben mit den Ritualen, mit dem Pfarrer oder mit den politischen Stellungnahmen. Das wesentliche Austrittsmotiv besteht darin zu sagen, ich kann mit der Kirche nichts mehr anfangen, sie ist mir gleichgültig und fremd geworden, ich weiß nicht, was ich glauben soll. Das ist ein wesentlicher Austrittsgrund. Im Hintergrund steht oft eine religiöse Indifferenz, nicht ein Leiden an der Kirche – obwohl es dieses Leiden an der Kirche auch gibt, vor allen Dingen innerhalb der katholischen Kirche. Aber dieses Leiden selbst kann auch an die Kirche binden, weil man möchte, dass sie anders wird.
Caspary:
Das ist interessant. In der Öffentlichkeit wird doch eher davon gesprochen, dass die Austritte mit dem Leiden an der Institution zu tun haben?
Pollack:
Ja, das sagen die Menschen auch selbst. Wenn man allerdings der Frage genauer nachgeht – und dazu gibt es repräsentative Untersuchen – dann ist die Unzufriedenheit mit dem Handeln der Kirchen nicht der entscheidende Grund. Sondern es gibt zwei entscheidende Motive: das Fremdwerden gegenüber allem, was mit dem Glauben zu tun hat: "Ich weiß nicht, was das bedeuten soll, es sagt mir nichts". Ein anderes Motiv ist, dass die Menschen sagen: "ich kann auch ohne Kirche gläubig sein". Vor allem im Westen Deutschlands ist diese Sicht sehr verbreitet. Das nimmt auch nochmal die Frage auf, die wir vorhin gestellt haben: Ja, die Menschen differenzieren sehr zwischen Kirchenbindung und ihrem eigenen persönlichen Glauben, aber die Menschen wollen kein lebendiges Glaubensleben führen, das vollkommen unabhängig von der Kirche ist, und individuell nach Religion suchen. Wir haben Menschen danach gefragt, ob sie aus der Kirche austreten, weil sie eine andere religiöse Überzeugung gefunden haben. Die Zahlen sind verschwindend gering: nur drei oder vier Prozent. Aber man muss sagen, im Großen und Ganzen gibt es zwar Phänomene der Religiosität außerhalb der Kirche. Das kann man nochmal genau spezifizieren. Aber auch die Kirchen sind wichtige Repräsentanten des Glaubens und vermitteln über Gemeinschaft, über Rituale, auch über Lehren, über Predigt, Seelsorge usw. Glaubensinhalte, Glaubensvollzüge. Wenn man sich davon löst, hat das auch einen Einfluss auf die individuelle Glaubensbindung.
Caspary:
Gilt das auch über die Grenzen Deutschlands hinaus?
Pollack:
Ja, das gilt für ganz Westeuropa.
Caspary:
Zwei Gründe haben Sie genannt: Entfremdung und den Satz "Ich kann auch ohne Kirche". Ist dieser Satz ein Zeichen dafür, dass wir in Bezug auf Religion – wie in
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allen Lebensbereichen – eine Art Individualisierung haben? Nach dem Motto: "Ich mach mir meine eigene Religion?"
Pollack:
Prozesse der Individualisierung finden wir in allen Gesellschaftsbereichen, die Menschen wollen über ihr Leben selbst entscheiden. Das gilt in eingeschränktem Maß auch für die Religion. Es ist nicht so, dass die Menschen in Westeuropa von einem Religionsangebot zum nächsten übergehen. Die Bereitschaft, die Konfession zu wechseln, ist – anders als in den USA, wo religiöse Individualität einen höheren Stellenwert hat – kaum ausgeprägt. Bei uns verläuft der Weg eher von einer laxen Kirchlichkeit hin zur Säkularität. Typisch ist, dass man eine traditionelle, konventionelle Bindung an die Kirche und das Christentum hat. Die Prozesse der Individualisierung wirken auf diese Bindung erodierend. Einige wenige suchen nach neuen religiösen Traditionen, stellen sich ihre Religion selbst zusammen. Aber die meisten sagen: "Mir ist das nicht so wichtig, ich kann damit nichts anfangen und nehme immer mehr Abstand zu den religiösen Überzeugungen und Ritualen".
Caspary:
Das heißt, die These von vielen Religionswissenschaftlern und Kirchengeschichtlern, wir hätten trotz der säkularen Moderne eine Wiederkehr der Götter in dem Sinne, dass wir uns alle als aufgeklärte Individualisten aus einem großen Supermarkt religiöser Angebote bedienen und uns unsere eigene Religion zusammenbasteln, stimmt nicht? So ähnlich wie das der Soziologe Ulrich Beck gesagt hat, wir hätten eine Bastelbiografie.
Pollack:
An vielen Stellen kann man von einer Bastelbiografie sprechen. Z.B. wechseln wir von einem Beruf zum anderen oder von einem Ort zum anderen. Aber in der Religion ist das weniger der Fall, wahrscheinlich weil sie nicht den zentralen Stellenwert für die Menschen hat. Es gibt direkte Befragungen dazu: Stellen Sie sich ihre eigene religiöse Überzeugung aus unterschiedlichen Traditionen zusammen? Immerhin 20 Prozent bestätigen das. Aber das ist eben nicht die Mehrheit. Die Mehrheit sagt: "Ich bin in einer bestimmten religiösen Tradition aufgewachsen, warum sollte ich wechseln? Warum solle ich von einer Religion zur anderen gehen?" Es stellt sich mehr die Frage, ob man bleibt oder ob man nicht bleibt.
Caspary:
Wie würden Sie dieses Phänomen einordnen? Sie haben vorhin von Erosion gesprochen. Deutet es auf eine Säkularisierung und in der Fortsetzung auf eine fortschreitende Herabstufung des Religiösen?
Pollack:
Ja, so sehe ich das. Für den einzelnen Menschen ist die Bindung an Religion, Kirche, religiöse Gemeinschaft im Großen und Ganzen rückläufig. Es gibt Auf- und Ab-Bewegungen, auch was die Anzahl der Kirchenaustritte angeht. Das sind keine linearen Prozesse. Aber über Jahrzehnte hinweg betrachtet schwächt sich die Bindung ab, das ist der entscheidende Befund. Ergänzend dazu gibt es sehr wohl auch eine religiöse Individualiserung. Und die Kirchen stellen sich darauf ein. Sie müssen mehr Angebote zum Dialog unterbreiten, sie müssen sich auf die Bedürfnisse der Menschen einrichten und sie ernst nehmen und in der Aufnahme der Autonomie-Ansprüche des religiösen Individuums ihre Predigten und Rituale
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gestalten. Das passiert immer mehr, so dass man wirklich von einem Ineinander von Entkirchlichung, ich würde sogar sagen Säkularisierung, und religiöser Individualisierung sprechen kann. Aber der generelle gesellschaftliche Trend ist eher eine Abstandnahme von allem Religiösen, was eventuell konterkariert wird durch die öffentliche Wahrnehmung. Die öffentliche Wahrnehmung von Religion ist eine ganz andere.
Caspary:
Das ist genau das Paradoxon, das sich für mich zeigt. Sie sagen, die Bindungen werden schwächer. Aber wenn ich die öffentlichen Diskurse betrachte, habe ich den Eindruck, sie werden stärker.
Pollack:
Das liegt aber meines Erachtens nicht daran, dass die Menschen religiöser werden und dem Religiösen einen höheren Stellenwert zuweisen, sondern daran, dass Religion ein politischer Faktor ist, dass im Medium Religion Konflikte ausgetragen werden, dass Religion sich benutzen lässt für politische, ethnische Anliegen und dass eine Vermischung von Religion und Politik stattfindet,.
Caspary:
Jetzt sind wir bei dem Thema, dass bestimmte Religionen instrumentalisiert werden, z. B. von terroristischen Gruppen wie den Dschihadisten. Warum greifen diese ideologisch geprägten Gruppen zum Teil auf Religion zurück? Sie legitimieren ihren Kampf durch die Religion, staffieren ihn mit religiösen Symbolen aus. Das wäre für mich ein Zeichen, dass Religion doch noch einen großen Stellenwert hat. Denn warum könnte man sonst auf ihre Symbole so zurückgreifen?
Pollack:
In der Öffentlichkeit spielt die Auseinandersetzung mit dem Islam eine zentrale Rolle, das Verhältnis des Islam zum Westen und umgekehrt, was auch immer man darunter versteht. Das ist der Kontrovers-Punkt. Und jetzt stellt sich die Frage, warum man, wenn man bestimmte politische, auch ökonomische Interessen hat, sich gerade der Religion so gut bedienen kann. Ich würde das von zwei Seiten betrachten. Religion ist etwas sehr Plastisches, man kann sie zu verschiedenen Absichten benutzen: friedlich, für Proteste, sie integriert, aber sie desintegriert auch – Religion ist sozusagen ein fluides Medium, was man ganz verschieden interpretieren und instrumentalisieren kann. Die andere Seite ist: Ich würde nicht davon ausgehen, dass die Dschihadisten oder islamistische Terroristen Religion nur benutzen. Natürlich verstehen sie sich auch als Wächter, als Soldaten, als Vertreter und Verteidiger des in ihren Augen angegriffenen Islam. Wenn man sich ihre Bekennerbriefe und ihre Rufe anschaut: Das ist nicht einfach eine Benutzung des Islam.
Caspary:
Dahinter steht ja eine gewisse religiöse Verblendung?
Pollack:
Ja, ein Fanatismus oder religiöser Fundamentalismus. Fundamentalismus ist dadurch gekennzeichnet, dass man seine eigenen Überzeugungen absolut setzt, sich damit aber nicht begnügt, sondern die anderen sollen genauso werden, wie man selber ist. Das ist der aggressive Angriff auf all die "Ungläubigen", die man zum Teil
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im Westen sieht, zum Teil im Christentum, zum Teil aber auch im Islam. Das ist ja auch ein Kampf gegen diejenigen Muslime, die den Dschihadisten nicht folgen.
Caspary:
Gemäß Ihrer Theorie könnte man das so interpretieren, dass je schwächer die religiösen Bindungen in westlichen Gesellschaften werden, desto mehr Zulauf könnten diese Fundamentalisten bekommen, weil die sich den Kampf gegen "Nichtgläubige" auf die Fahnen geschrieben haben?
Pollack:
Da bin ich nicht so sicher. Es gibt nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Religionen, sondern wir leben ja in einer Demokratie, in einem Rechtsstaat mit weiteren Gegen-Instrumenten und Gesetzen, die man gerne in Anspruch nimmt und von denen man sich auch geschützt fühlt, auch wenn man vielleicht an vielen Stellen rechtliche Überregulierung beklagen kann. Ich würde sagen, es gibt andere Instrumente, um die Zuwendung zum radikalisierten Islam zu behindern. Und eigentlich bin ich guter Hoffnung, dass die Menschen, gerade auch junge Menschen, sehr wohl auch Alternativen sehen. Es kommt eben sehr darauf an, wie attraktiv die Alternativen sind, wieviel wir in den westlichen Gesellschaften tun, damit die jungen Menschen nicht in den Fundamentalismus abdriften, sondern im Integrationsbereich unserer westlichen Demokratien bleiben.
Caspary:
Die Zeit, in der wir den Dialog zwischen den Religionen gepredigt und daran geglaubt haben, scheint dadurch aber vorbei zu sein? Ich meine, die muslimische Religion ist ja diskreditiert worden und steht unter Generalverdacht.
Pollack:
Das muss man ganz nüchtern sehen: Mehrheitlich ist das Bild vom Islam negativ. Der Islam wird assoziiert mit Fanatismus, mit Gewaltbereitschaft, mit Unterdrückung der Frau. Das ist eine verbreitete Stimmung, die wir sehr ernst nehmen müssen. Aber wir dürfen auf keinen Fall den Dialog als beendet betrachtet. Ganz im Gegenteil schreitet er voran. Im Augenblick gibt es viele zivilgesellschaftliche Initiativen, um z.B. die Flüchtlinge, die mehrheitlich ja Muslime sind, in Deutschland willkommen zu heißen, um ihnen zu helfen, um sie zu integrieren. Viele Menschen sind schon der Meinung, dass wir die Begegnung, den Kontakt nicht aufgeben dürfen. Gerade auch die christlichen Kirchen machen immer wieder Angebote für den Dialog und sind da auch sehr weit vorangekommen.
Caspary:
In den USA gibt es einen religiösen Kulturkampf. Kreationisten treten auf den Plan, die sagen, Evolution habe es nicht gegeben, es gibt politische Diskurse, die regelrecht religiös aufgeladen sind. Wie ordnen Sie das in Ihrer Analyse ein? Sind die USA ein Einzelfall?
Pollack:
Was ist der Maßstab und was ist die Ausnahme? In den USA ist die religiöse Landschaft ganz anders als in Europa. In der Tat vermischen sich dort religiöse Identitäten mit politischen Intentionen oder auch mit politischen Anschauungen über Wissenschaft so eng miteinander, dass man damit polarisiert. Von den Kreationisten haben Sie schon gesprochen, es gibt außerdem die Evangelikalen, die versuchen, in
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die Politik einzuwirken, und Amerika quasi eine göttliche Mission zuschreiben. Sie sagen, Amerika habe den Auftrag, der Welt Demokratie, Recht, Gerechtigkeit, Frieden zu bringen. Diese religiöse Motivation von politischen Anliegen polarisiert einerseits und zieht die Menschen an, aber sie stößt auch ab. Und gerade in den USA gibt es beides. Sie haben von einem Kulturkampf gesprochen. Dieser Begriff ist vielleicht zu scharf, aber es gibt eine Polarisierung der unterschiedlichen religiösen Gruppierungen. Die Tatsache, dass gerade die Evangelikalen viele Menschen gewinnen können und auch politisch-öffentlich einflussreich sind, motiviert andere dazu, auf Distanz zu gehen, nicht nur zu den Evangelikalen, sondern zur Religion insgesamt. 20 Prozent der Amerikaner fühlen sich keiner Religion mehr zugehörig, das ist soviel wie in Westdeutschland, und kann als starke Reaktion darauf verstanden werden, dass man sagt, wenn Religion und Politik so eng verknüpft sind, dann will ich nicht zu denen gehören, die das tun: "I'm not like them."
Caspary:
Was passiert mit den 20 Prozent der Konfessionslosen?
Pollack:
Es ist spannend zu beobachten, wie Konfessionslose versuchen, sich selbst zu organisieren, Ihr Organisationsgrad ist aber verschwindend gering. Konfessionslosigkeit ist ja terminologisch betrachtet irgendwie eine negative Kategorie.
Caspary:
Konfessionslosigkeit heute wird als defizitär verstanden?
Pollack:
Ja, aber es ist nicht etwas, was die Menschen zu mobilisieren vermag. Nur sehr wenige Konfessionslose suchen ihre Heimat z.B. in monistischen Verbänden. Man kann sagen, sie stellen eigentlich kaum ein Problem dar, sie integrieren sich einfach in die Gesellschaft. Mehrheitlich kann man jedenfalls nicht beobachten, dass neben den vielen Religionen eine weitere weltanschaulich aufgeladene Kraft entsteht.
Caspary:
Sie haben gesagt, religiöse Bindung erodiert, sie wird schwächer. Was bedeutet das für die Arbeit der beiden großen Kirchen in Deutschland? Was müssten sie ändern, wenn Sie den beiden Tipps geben würden.
Pollack:
Die meisten Soziologen geben nicht gerne Handlungsideen. Aber ich finde, einiges liegt offen zutage. Drei Dinge möchte ich nennen: An welchen Stellen ist die Kirche in der Lage, die Menschen zu gewinnen? Das ist überall dort, wo die Kirche auf die Familie, die Jugend, die Kinder orientierte Angebote unterbreitet. Der Weihnachtsgottesdienst ist ein Beispiel dafür. Wo die Kirche Verbindung zur Familie schafft, da ist sie stark. Zweitens: Religiöse kirchliche Bindungen entstehen nicht von heute auf morgen. Das sind langfristige Prozesse, und nur wenn es langfristige Prozesse sind, haben sie eine gewisse Stabilität und können den einzelnen Menschen tragen. Man muss vor allen Dingen in die Kinder- und Jugendarbeit investieren, denn dort werden die Wurzeln gelegt. Wer in der Familie und in der Kirche nicht religiös erzogen worden ist, wird sich im Erwachsenenalter wahrscheinlich nicht mehr zur Religion bekennen oder sich für Religion interessieren.
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Drittens: Kern des kirchlichen Handelns sind die Gottesdienste, dort wo man das Wort Gottes, die Anwesenheit Gottes meint, erfahren zu können. Gottesdienste sollten so ansprechend gestaltet sein, dass die Menschen gern in den Gottesdienst gehen. Die Kirchen machen da auch schon sehr viel. Man könnte weitere Punkte anfügen: Kirchen sollten z.B. um ein gutes Image in der Öffentlichkeit besorgt sein. Aber ich würde sagen, die Konzentration auf die klassische Arbeit der Kirche ist bestimmt kein schlechter Weg, um die Menschen an sie zu binden.
Caspary:
Müssten sich die Kirchen nicht auch neuen Lebensformen öffnen? Dann wäre die Fokussierung auf die Familie doch nur der halbrichtige Weg. Auf Menschen, die alleine leben oder in homosexueller Partnerschaft, kann die Kirche ja im Moment noch keine gute Antwort geben?
Pollack:
Das ist schwierig. Soziologisch können wir beobachten, dass Alleinerziehende tatsächlich eine geringere kirchliche Bindung haben als diejenigen, die ihre Kinder in einer klassischen Familie mit Vater und Mutter aufziehen. Ich glaube, die Kirche müsste anerkennen, dass es Grenzen ihrer eigenen Wirksamkeit gibt.
Caspary:
Wie müsste die Kirche auf den religiösen Fundamentalismus reagieren? Tut sie das adäquat. Ich finde, sie sagt viel zu wenig.
Pollack:
Das könnte sein, aber ich bin mir nicht ganz sicher. Es gab eine Zeit lang die Bemühung der evangelischen Kirche unter Ratspräsident Huber, Profil zu zeigen gegen Fundamentalismus. Das wurde oft als Abgrenzung und Kritik gegenüber dem Islam und Andersdenkenden missverstanden. Deshalb ist man vorsichtig geworden und möchte eher Brücken bauen. Die Kirche hat gelernt, dass sie ihre eigene Botschaft nur vertreten kann, wenn sie zugleich andere Lebenswege, andere Lebensorientierungen ernst nimmt.
Caspary:
Wenn wir nochmal über die schwächer werdenden religiösen Bindungen reden, meinen Sie, es wird in den nächsten 30 oder 40 Jahren so etwas wie Ersatzreligionen geben, wie auch immer die aussehen mögen?
Pollack:
Wir sehen bereits jetzt, dass sich das religiöse Feld in den letzten 20 bis 30 Jahren enorm pluralisiert hat. Ob man das Ersatzreligion nennen will, mag dahin gestellt sein. Ich würde nicht davon ausgehen, dass die Menschen ein starkes Bedürfnis danach haben, gewissermaßen Letztorientierung für sich selbst in Anspruch zu nehmen, dass sie nach einer letzt-ultimativen Antwort für ihre Leben suchen. Insofern werden sie auch nicht danach suchen. Aber natürlich werden die Angebote breiter und vielfältiger. Insofern ist es sehr wahrscheinlich, dass es in Zukunft eine wachsende Vielzahl von religiösen Angeboten geben wird, aber eben ohne den Anspruch, letzte Antworten auf das Leben zu bekommen.
Caspary:
Das klingt nach einem gesunden Skeptizismus.
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Pollack:
Man kann auch sagen, das ist ein Sich-Aussöhnen mit der Immanenz des Lebens. Im 16. und 17. Jahrhundert haben die Menschen damit gelebt, dass die Welt bald zu Ende sein wird und dass es ein Leben nach dem Tod geben wird. Sie haben sich zeitlebens darauf vorbereitet, vor dem Weltgericht Gottes bestehen zu können. Ich glaube, dass sich der Fokus heutzutage so stark von der Frage, was kommt nach dem diesseitigen Leben, auf die Frage, was kann ich aus meinem Leben machen, verschoben hat, dass damit auch diese Fragen des letzten Sinnes unseres Lebens und einer transzendenten Begründung für den Sinn unseres Lebens in den Hintergrund getreten sind. Man könnte es auch anders ausdrücken: Wir haben heute soviele Möglichkeiten, Kommunikationschancen, Verwirklichungschancen, soviele Möglichkeiten, uns selbst und anderes zu erfahren, dass damit auch in der Hintergrund rückt, was nach diesem Leben kommt. Natürlich gibt es immer wieder Unterbrechungen, wo man danach fragt, aber man ist auch immer wieder sehr mit der Organisation des eigenen Lebens beschäftigt.
Caspary:
Das heißt, das was Kritiker wie Nietzsche immer behauptet haben, das Christentum rufe dazu auf, nur ans Jenseits zu denken und das Diesseits völlig zu vergessen, trifft nicht mehr zu?
Pollack:
Ja. Wenn man sich die christlichen Predigten anschaut, auch dort wird eigentlich das Evangelium gepredigt, um ein vollgültiges, angemessenes, erfüllendes Leben führen zu können. Viele Christen sagen, der Glaube hilft, um dieses Leben führen zu können. Kaum jemand wird dazu neigen zu sagen: "Aber bereite dich vor. Eines Tages wirst du gefragt werden, inwieweit du den Willen Gottes erfüllt hast."
Caspary:
Ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch.
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