Professor Dr. Matthias Burchardt „Dollarzeichen im Auge – Die Ökonomisierung der Gesellschaft“.

SWR 2 Aula -

Autor und Sprecher: Professor Dr. Matthias Burchardt *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 6. Oktober 2013, 8.30 Uhr, SWR 2
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* Zum Autor:
Matthias Burchardt lehrt am Institut der Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Seine Schwerpunkte sind: Allgemeine Pädagogik, Anthropologie, Archäologie des Zeitgenössischen.
Buch:
- Ja? Nein? … Jein. Kompass für den alltäglichen Gewissenskonflikt. (zus. mit Nora Hespers und Andrea Meyer). Kiwi-Paperback. 2012.
Literatur:
(letzter Aufruf der Online Quellen: 5.10.2013)
Bernays, Edward: Propaganda – Die Kunst der Public Relations. 2011 (3. Aufl.)
Blüm, Norbert: Gerechtigkeit. Freiburg 2008 (3. Aufl.).
BMI www.verwaltunginnovativ.de/nn_684516/DE/Steuerung/ChangeManagement/change__management__node.html?__nnn=true
Cremer, D.; Herz, S: Oma Gunda klagt.
http://www.bild.de/unterhaltung/tv/einsatz-in-4-waenden/wohnexpertin-tine-wittler-hat-alle-erinnerungen-von-oma-gunda-weggeworfen-13746904.bild.html
Crouch, Colin: Postdemokratie. Frankfurt 2008.
Han, Byung Chul: Transparenzgesellschaft. Berlin 2012.
Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Werke. Hrsg. von W. Weischedel. Bd. 9. Darmstadt 1983 (5. Aufl.). S. 53ff.
Losmann, Carmen: Work hard – Play hard. DVD

ÜBERBLICK
Reich und glücklich?Das Fernsehen verspricht mit seinen Castingshows den Mythos vom schnellen Aufstieg zum Superstar, der keine Geldsorgen mehr hat; das Fernsehen suggeriert in den inflationären Quizsendungen, Wissen habe mit enzyklopädischem Wissen zu tun, das in der Wissensgesellschaft ungeahnte Wettbewerbsvorteile verschafft. Und in anderen Formaten des Privatfernsehens darf man sich als Zuschauer lustig machen über die Verlierer der Gesellschaft, was sich auf reale Entsolidarisierungstendenzen bezieht. Der Erziehungswissenschaftler Matthias Burchardt von der PH Ludwigsburg nimmt Fernsehformate kritisch unter die Lupe und zeigt, wie sie die Ökonomisierung der Gesellschaft widerspiegeln.

INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: „Dollarzeichen im Auge – Die Ökonomisierung der Gesellschaft“.
Es gibt vor allem im Privatfernsehen unzählige Formate, in denen gezeigt wird, wie Menschen geholfen wird, ihr Leben vollständig umzukrempeln und neuen Imperativen unterzuordnen. Diese Formate kann man auf mindestens zwei Ebenen interpretieren: auf einer medienwissenschaftlichen und auf einer psychosozialen. Und bei letzterer wird es interessant, denn man kann anhand der Geschichten, die da erzählt werden, anhand der Inszenierungsformen ein perfides Projekt zur Umerziehung erkennen: Es geht um die Ökonomisierung des privaten Lebensbereichs.
Das meint der Erziehungswissenschaftler Matthias Burchardt von der PH Ludwigsburg in der SWR2 Aula.
Matthias Burchardt:
Auswanderer-Dokus deuten die Frage nach dem Mobilitätsimperativ im globalisierten Wirtschaftsraum. Ein englischer Starkoch sorgt für Vitamine unter den Bedingungen einer institutionalisierten Kindheit. Die Super-Nanny wendet sich dysfunktionalen Familien zu und kommuniziert, dass mangelnde Bildung zu sozialem Abstieg führt. Der Schuldnerberater zeigt der vom Statusverlust bedrohten Mittelschicht, wie man mit fehlendem Geld umgeht. Trödelexperten zeigen, wie man aus vermeintlichem Gerümpel Kapital schlägt. Modells erteilen unbeholfenen jungen Männern Nachhilfe in erfolgreicher Partnersuche und wirken damit symbolisch der Atomisierung der Gesellschaft entgegen. Restauranttester bringen angeschlagene Gastronomie-Unternehmen wieder auf Kurs. Plastische Chirurgen korrigieren Nasen, Brüste und Gebisse, damit Frauen „extrem schön“ und in Familie und Beruf endlich erfolgreich sind. Und Coaches helfen beim Abnehmen, bei der Erziehung von Haustieren oder der Eventisierung von Heiratsanträgen. Als Kuriositäten seien noch die RTL II-Shows „Hüllenlos – Auch nackt gut aussehen“ und „Rotlichtexperten im Einsatz“ genannt, wo nach dem Modell des Restauranttesters Bordelle, die nicht mehr ganz wettbewerbsfähig sind, modernisiert werden.
Es scheint keinen Lebensbereich zu geben, der nicht des medialen Coachings fähig, gar bedürftig wäre. Über die kleinen Schummeleien der Sender während der Produktion ist hinreichend berichtet worden, ebenso über deren Neigung, solche Formate für verdeckte Produktwerbung zu missbrauchen. All dies ist hinlänglich bekannt.
Mir geht es auch weniger um das offensichtliche ökonomische Interesse als um die Art und Weise der Sinnfabrikation und die impliziten Botschaften dieser Shows. Auffällig ist, dass die Sender bei der Inszenierung ihrer Hilfe meist die Formensprache des Religiösen bemühen: Betroffene schreiben verzweifelte Bitt- und Flehbriefe, der Experte wird als eine messianische Figur dargestellt, er fordert die Beichte ein und das Eingeständnis der Schuld, er nimmt das Leid der Betroffenen auf sich, er zürnt und predigt Umkehr, er verlangt ein Bekenntnis und gewährt schließlich Erlösung. Wer seine Fehler einsieht und sich an die Rezepte des Experten hält, wird
fortan alle Verwerfungen und Unabsehbarkeiten des prekären Lebens meistern – wer scheitert, ist selbst Schuld, weil er sich nicht an die Rezepte des Coaches gehalten hat oder vielleicht nicht ausreichend an den Mythos des „gelingenden Lebens“ geglaubt hat. Es stellt sich also die Frage: Welche Mission wird hier verfolgt? Und: Wozu sollen wir eigentlich missioniert werden?
Wem diese Analogie zur Machtdiskursen des Religiösen zu weit hergeholt erscheint, könnte in diesen Formaten auch eine pädagogische Dimension entdecken und den Sendern attestieren, dass sie angesichts von unübersichtlichen Lebensverhältnissen „Volkserziehung“ leisten und damit ihrem Bildungsauftrag nachkommen. Was sollte daran verkehrt sein, dass man Menschen zeigt, wie sie mehr aus ihrem Körper, ihren Kindern, ihrer Wohnung, ihrem Hund und ihrem Garten machen? Doch geht es wirklich um Bildung oder nicht eher um Umerziehung? Es sollte zumindest nachdenklich stimmen, dass die globalen Medienkonzerne und die mächtigen Mogule im Hintergrund, wie z. B. Rupert Murdoch oder die Familie Mohn mit dem Bertelsmann-Konzern, in der Verfolgung ihrer ökonomischen Ziele für eben die sozialpolitischen, gesellschaftlichen und kulturellen Verwerfungen mitverantwortlich sind, die sie mit den messianischen Experten in ihren Kanälen zu heilen versprechen. Philanthropische Motive ließen sich also auf direkterem Wege erreichen.
Ich möchte – angesichts dieses Verdachtes – die genannten Sendungen im Folgenden noch in einem anderen Licht betrachten, nämlich vor dem Hintergrund der Propaganda-Hypothese, als einen gezielten Versuch der Transformation von kulturellen Leitvorstellungen und Lebensmodellen, eingebettet in einen größeren Kontext von Reformen und Koordinatenverschiebungen im globalen Maßstab, die auch unter dem Titel „Neoliberalismus“ oder „Ökonomisierung“ diskutiert werden. Dabei unterstelle ich kein einseitiges Wirkungsverhältnis von medialer Beeinflussung und innerer Haltung des Mediennutzers: Denn Propaganda verliert bekanntlich ihre Wirkung, sobald sie als solche durchschaut wird. Dazu muss man allerdings zuvor den Versuch der Manipulation und Beeinflussung beim Namen nennen. Norbert Blüm, den ich hier als Paten des Gedankens anführen möchte, schreibt in seinem zeitkritischen Buch „Gerechtigkeit“ über bedenkliche Strömungen innerhalb des ökonomischen Feldes:
„Wir haben es mit einer Wirtschaft zu tun, die sich anschickt, totalitär zu werden, weil sie alles unter den Befehl einer ökonomischen Ratio zu zwingen sucht. (...) Aus Marktwirtschaft soll Marktgesellschaft werden. Das ist der neue Imperialismus. Er erobert nicht mehr Gebiete, sondern macht sich auf, Hirn und Herz der Menschen einzunehmen. Sein Besatzungsregime verzichtet auf körperliche Gewalt und besetzt die Zentralen der inneren Steuerung des Menschen.“ (Norbert Blüm 2006, Gerechtigkeit. S. 81)
Die meisten der genannten Formate konvergieren inhaltlich in ein und demselben Modell: im Konzept unternehmerischer Selbstführung. Ein managerialer Umgang mit dem eigenen Leben wird als Patentrezept für alle biographischen Probleme präsentiert. Im Sinne dessen, was Blüm als ökonomischen Totalitarismus bezeichnet, wird die Rationalität des Marktes, welche in der ökonomischen Sphäre durchaus sinnvoll sein kann, auf alle anderen Lebensbereiche ausgedehnt. Wettbewerb, Kosten-Nutzen-Kalkül, Angebot und Nachfrage, Investition und Rendite,
kreative Zerstörung und permanente Innovation erscheinen nunmehr als normative Kriterien in allen Lebensbereichen. Die Kandidaten der Doku-Formate vollziehen exemplarisch die Transformation des Menschen zum homo oeconomicus, zum „unternehmerischen Selbst“ wie der Soziologe Ulrich Bröckling sagen würde. Sie sind angehalten, Unternehmer ihrer eigenen Biographie zu werden, d. h. unter Konkurrenzdruck in ihr Humankapital zu investieren, um im Wettbewerb um das knappe Gut der Sozialchancen bestehen zu können.
Die sozialpolitische Botschaft ist durchaus ambivalent: Wer Investitionen in seine Gesundheit, seine Schönheit, sein soziales Ansehen oder seine Fähigkeiten versäumt, ist für sein Scheitern selbst verantwortlich und braucht nicht mehr auf die Solidarität der Gemeinschaft zu hoffen. Dadurch werden Lebensrisiken wie Krankheit oder Schicksalsschläge in individuelle Versäumnisse umgedeutet, und die ungerechte Akkumulation von Wohlstand, Privilegien und Macht in den Händen der Reichen und Superreichen zu Effekten persönlicher Leistung verklärt. An die Stelle kultureller Schonräume der Humanität tritt die Inklusion in einen totalen Markt, der im Grunde das vorgeblich naturgegebene Recht des Stärkeren legitimiert. Ethische oder sozialpolitische Fragen nach Gerechtigkeit sind allerdings suspendiert, wenn die „Erfordernisse des Marktes“ nach alternativlosen Anpassungen verlangen.
Was sich also in den Shows als „Emanzipation“, „Aktivierung“ oder „Hilfe zur Selbsthilfe“ darstellt, kann auch als Implantation einer managerialen Sicht auf sich selbst, auf die Welt und die Mitmenschen gelesen werden. Doch die Coaching- und Aktivierungsformate zielen nicht nur inhaltlich auf ein Regime unternehmerischer Selbststeuerung ab, sondern etablieren auch Muster, die die Menschen an den reformerischen Umbau seiner Kultur gewöhnen.
Besonders aufschlussreich scheint mir hier die erfolgreiche Sendung ‚Einsatz in vier Wänden‘ zu sein, in der Tine Wittler und ihr Team Wohnungen und Häuser von Familien umgestalten. Schon der Titel nimmt den invasiven Besatzungsgestus, von dem Norbert Blüm gesprochen hat, auf. Und tatsächlich dringen Kamera und Akteure tief in die Privatsphäre von Familien ein und verändern im Modus einer ›wohltätigen Vergewaltigung‹ den Zuschnitt ihrer Räume, Möblierung und Atmosphäre, ohne dass die Betroffenen maßgeblich in die Gestaltung mit einbezogen wären.
Die Sendung verläuft nach einer typischen Liturgie: Wohlmeinende Angehörige oder Nachbarn – vielleicht auch die Betroffenen selbst – wenden sich an den Sender, weil eine Wohnsituation problematisch geworden ist. Stellen wir uns eine ältere Dame vor und nennen sie – rein fiktiv – Oma Gunda. Oma Gunda hat im Laufe ihres Lebens mehr Kleidung, Gebrauchsgegenstände und Erinnerungsstücke angesammelt als ihre wuchtigen Holzmöbel fassen können. Zudem bereitet es ihr Probleme, die Übersicht zu bewahren und aus eigener Kraft die nötige Sauberkeit zu gewährleisten. Vermutlich schämt sie sich auch ihrer Situation, so dass sie keine Gäste empfängt und dadurch vielleicht einsam ist. Womöglich leidet sie auch unter unbewältigten Konflikten mit ihren Angehörigen.
In diese sensible Situation dringen jetzt Tine Wittler und ihr Team ein und machen zunächst einmal vor laufender Kamera eine schonungslose Bestandsaufnahme von den geschmacklichen und hygienischen Missständen in der Wohnung. Um dem Handwerkern den nötigen Spielraum zu verschaffen, wird Oma Gunda in ein Hotel
oder eine Pension verbracht, wo sie sich einmal so „richtig verwöhnen“ lassen kann – so zumindest das Versprechen. Zur Klärung von psychischen Problemen oder familiären Konflikten arrangiert der Sender während dieser Zeit ggf. auch gerne einen Spaziergang im Park oder einen Besuch im Hochseilgarten – je nach körperlicher Verfassung der Kandidaten.
Unterdessen machen sich die Handwerker an die Arbeit und entrümpeln die Wohnung. Das aus der Mode gekommene Mobiliar wird demonstrativ in einer Sperrmüllpresse entsorgt, die es – unter den Augen der bestürzten Nachbarn – lautstark zermalmt. Tine Wittler verwahrt lediglich ein Erinnerungsstück, z. B. das Foto des verstorbenen Familienmitgliedes; ansonsten werden alle Spuren einer organisch gewachsenen Einrichtungsgeschichte getilgt, bis tabula rasa herrscht und die Stunde der Experten und ihrer technischen Planungsrationalität schlägt. Grundrisse werden verändert, Funktionen optimiert, Atmosphären kreiert und das alte Erinnerungsstück schließlich als Identifikationsanker in der frisch möblierten Schöner-Wohnen-Landschaft installiert.
Die Krönung des Ablaufschemas bildet die Rückkehr der Bewohnerin: Mit verbundenen Augen wird Oma Gunda in ihr neugestaltetes Heim geführt. Unter den Klängen emotionaler Musik wird sie dort „sehen gemacht“ und von Raum zu Raum geführt, wo Tine Wittler dann die ästhetischen und funktionalen Leistungsmerkmale herausgestellt. Ein Sprecher erklärt dem Zuschauer aus dem off noch einmal im Vorher-Nachher-Vergleich die Vorzüge und von Oma Gunda wird erwartet, dass sie in Tränen ausbricht, Dankbarkeit kundtut und Schwüre ablegt, dass nun nicht nur das Mobiliar ausgetauscht sei, sondern insgesamt ein neues, erfolgreiches Leben beginne. Rückblenden zeigen, wie unvorteilhaft und belastend doch das alte Leben war, und am Ende liegen sich alle in den Armen. Sogar die staunenden Nachbarn stoßen dazu und bestätigen die geglückte Transformation. Oma Gunda gewinnt auf diese Weise durch die neue Inneneinrichtung auch die soziale Anerkennung, nach der sie sich immer gesehnt hat.
Gelegentlich hat die Sendung auch ein Nachspiel, denn natürlich ist Tine Wittler an der Nachhaltigkeit ihrer Arbeit interessiert. Deshalb kontrolliert sie mitunter schwierige Fälle, damit sich alte Wohn- und Verhaltenssünden nicht wieder einschleichen. Sollte Oma Gunda also auf die Idee kommen, beim nächsten Flohmarktbesuch wieder Porzellanfiguren zu erwerben oder Kartons mit Krimskrams in den Flur zu stellen, muss sie mit strengen Vorhaltungen der ansonsten so fröhlichen Tine Wittler rechnen.
Seltener begibt es sich, dass die Kandidaten Kritik an der Sendung üben, zumal ihnen dies vom Sender vertraglich untersagt ist. Oma Gunda wendet sich trotzdem an die Boulevard-Zeitung ihres Vertrauens und beklagt den Verlust ihrer Erinnerungsstücke. Verzweifelt stellt sie fest: „Nichts ist mehr, wie es einmal war“. (D.Cremer und S. Herz in: Bild 26.8.2010 – http://www.bild.de/unterhaltung/tv/einsatz-in-4-waenden/wohnexpertin-tine-wittler-hat-alle-erinnerungen-von-oma-gunda-weggeworfen-13746904.bild.html  letzter Aufruf: 9.9.2013)
Was sich hier in der weitgehend erfundenen und doch idealtypischen Folge von „Einsatz in vier Wänden“ abgespielt hat, gleicht in erschreckender Weise politischen
Reformprozessen, die in den letzten Jahren in wesentlichen Politikfeldern durchgeführt worden sind. Durch eine (heuristische) Analogie von medialem Mikro- und gesellschaftlichem Makrokosmos möchte ich im Folgenden die propagandistische Funktion der Coaching- und Aktivierungsshows herausarbeiten. Ob es sich um den Umbau im Bereich Bildung, Arbeitsmarkt, Kultur, Bundeswehr oder Gesundheit handelt – immer wieder finden sich die Dramaturgie der ›kreativen Zerstörung‹ und das Narrativ vom „Schöner Wohnen“, und besetzt so die demagogische Semantik des Reformbegriffs. Ganz entgegen dem Wortsinn der lateinischen Wurzel re-formare – etwas in seine ursprüngliche bzw. wesentliche Form zurückbringen – fungiert die Vokabel der „Reform“ heute nämlich als eine universell akzeptierte Allzweckformel zum permanenten Umbau gesellschaftlicher Wirklichkeit. Politik und Medien vermitteln den Eindruck, dass unter bestehenden Sachzwängen wie dem „internationalen Wettbewerb“, der „Globalisierung“, der „Schuldenkrise“, dem „demographischen Wandel“ oder der „Erderwärmung“ eine stetige Veränderung alternativlos sei. Damit wird zugleich dem Bestehenden, schon als Bestehendem, die Legitimation entzogen. Um zukunftsfähig zu sein, müsse man alles auf den Prüfstand stellen und gegebenenfalls in die Sperrmüllpresse der Geschichte stecken: Soziale Sicherung, solidarische Daseinsvorsorge, humboldtsches Bildungsideal, Bürgerrechte, demokratische Verfahren, Menschenrechte, Privatsphäre usf. erscheinen in der Perspektive der Reformer bloß noch als ein dysfunktionaler Ballast. Meine Beispiele werden sich vor allem auf den Bildungsbereich beziehen, eine Übertragung auf die anderen Politikfelder ist jederzeit möglich. Nehmen wir etwa die Schulreform im Zuge der PISA-Studie oder den Umbau der Hochschulen im Namen von Bologna:
Wie Tine Wittlers Team ist die OECD mit zweifelhaftem Mandat in das deutsche Bildungssystem eingedrungen, um dort als Qualitätstribunal zu wirken und eine radikale Entrümpelungsaktionen zu entfesseln. Die Studie verfolgte gar nicht den Zweck die nationalen Besonderheiten und Stärken der gewachsenen Bildungssysteme in ihrer Vielfalt zu erfassen oder die Kritikpunkte und Schwächen aus Sicht der Betroffenen darzustellen. Vielmehr wurden alle Länder an ein und demselben Maßstab gemessen, um eine Norm zu etablieren, nach der man sich zu richten habe, um erfolgreich zu sein. PISA war kein Erkenntnisinstrument, sondern ein Machtinstrument der OECD. Diese Hintergründe sind heute mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung weitgehend belegt. (Vgl. Niemann, Dennis: Changing Patterns)
In der ersten Hysterie des inszenierten PISA-Schocks ging es Skeptikern, die über Modelle, Ziele und Tempo zunächst einmal abwägend nachdenken wollten, oft wie Oma Gunda: Mit dem Vorwürfen „rückwärtsgewand“ oder „nicht mehr zeitgemäß“ war die Person diskreditiert und die sachliche Auseinandersetzung umgangen. Kritiker werden diffamierend mit der medial konstruierten Kulturfigur des Messies identifiziert. Der Messie des Privatfernsehens – ich spreche ausdrücklich nicht vom psychologischen Krankheitsbild – ist nicht in der Lage, sich vom Hergebrachten zu trennen und erstickt deshalb im Gerümpel seiner Kulturtradition. Professoren, die in den Zeiten von Bologna, mit guten Argumenten an Diplom- und Magisterabschlüssen, oder Lehrer, die Mündigkeit oder Menschenbildung als Ziele ihrer pädagogischen Tätigkeit festhalten wollten, geraten zu Bildungsmessies, die dem Erfolg des Bildungssystems im internationalen Vergleich im Wege stehen.
Nachdem das System durch das Anlegen willkürlicher, externer Standards schlecht- und den Insassen die Alternativlosigkeit von Reformen und ihre eigene Inkompetenz eingeredet wurde, setzt das Moment der „kreativen Zerstörung“ ein, die Transformation des Systems. Nicht zufällig greifen in dieser Phase die Etablierung neuer Denk- und Handlungsmustern und der Umbau von Strukturen und Prozessen ineinander: Im Rahmen des Bologna-Prozesses wurden nicht nur modularisierte und gestufte Studiengänge mit Bachelor- und Masterabschluss eingeführt, sondern zugleich externe Akkreditierungs-Agenturen und Hochschulräte etabliert. Die kollegiale Selbstverwaltung wurde durch manageriale Top-Down-Strukturen ersetzt, Institute und Fakultäten wurden neu arrondiert, Beschäftigungsformen diversifiziert, Forschung und Lehre auseinander dividiert, Wettbewerbssituationen durch die Exzellenzinitiative und die Steuerungsfunktion von Drittmitteln geschaffen.
Ganz aktuell zeigt sich der Wirbelsturm der Transformation in Baden-Württemberg bei der Einführung der Gemeinschaftschule. Auffällig ist auch hier der tiefe Einschnitt in sämtliche institutionellen Bezugsfelder und kulturellen Werthaltungen, der weit über die bloße Einführung einer neuen Schulform hinausgeht: Andere Schulformen gelten als abwicklungsbedürftig, überkommene Pädagogische Methoden sollen durch die „Neue Lernkultur“ abgelöst werden, Inklusion und Verganztagung greifen massiv in pädagogische Abläufe ein. Die Lehrerbildung soll nach Maßgabe einer Kommission umgestaltet werden, in der relevante Vertreter aus dem Bundesland selbst nicht stimmberechtigt waren, Lehrer sollen in Fortbildungen von schweizerischen Bildungsunternehmern zu Lernbegleitern umerzogen werden. Es entsteht eine neue Stabstelle im Ministerium, Personal wird ausgetauscht, Befugnisse werden neu verteilt, Pädagogische Hochschulen und Universitäten in ihren Zuständigkeiten entgrenzt, Regierungspräsidien und Lehrerbildungsseminare verunsichert.
In der Summe geht es in diesem zweiten Reformschritt darum, etablierte handlungsfähige Strukturen und informelle kollegiale Bindungen, von denen ein System lebt, zu zerschlagen, und die Betroffenen weitgehend von der konzeptuellen Gestaltung auszuschließen bzw. mundtot zu machen. Durch Bedrohungs- und Konkurrenzszenarien werden Solidarisierungseffekte verhindert. Mögliche Status- und Kompetenzverluste bzw. in Aussicht gestellte Karrieremöglichkeiten vereinzeln die Betroffenen in einer Zone genereller Unsicherheit. Mutigen Kritikern werden Partikularinteressen unterstellt, Sachargumente von Verlieren wird die Geltung abgesprochen, eben weil sie von den Verlierern stammen. Divide et impera! Um die Akzeptanz bei den Unentschlossenen zu erhöhen, zeigt man kleinere Identifikationsattrappen, so wie das neu gerahmte Familienfoto in der Wohnung von Oma Gunda: „Guckt mal, es ist doch im Grunde alles gut! Es heißt jetzt zwar ‚Kompetenz‘, aber im Grunde ist es immer noch die gute alte Bildung“.
Natürlich setzen die Betroffenen zunächst auch Hoffnungen in die Reformen. Gerade engagierte Kräfte versprechen sich einen neuen Aufbruch und die Gelegenheit alte Missstände zu beseitigen. Da man auf diese Menschen als Transformationsressourcen angewiesen ist, muss der ideelle Mehrwert zumindest auf der Ebene sprachlicher Verheißungen immer wieder in Aussicht gestellt werden. Vokabeln wie „sozial“, „gerecht“, „individuell“ werden also als Wechsel ohne Deckung an diejenigen ausgestellt, die man dazu missbraucht, unwissentlich genau das zu zerstören, was sie eigentlich anstreben. So macht sich an Schulen und Hochschulen
inzwischen selbst bei ursprünglichen Befürwortern ein erheblicher Reformkater breit, da die versprochenen Reformziele allesamt verfehlt wurden, während jedoch die Einrichtungen in ihrer Identität und Leistungsfähigkeit bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wurden: Bologna konnte weder die internationale Mobilität fördern, noch klarere Studiengänge etablieren oder die Studienabbrecherquote senken, und auch der PISA-Schule ist es nicht gelungen, die Folgen verfehlter Sozial- und Integrationspolitik auszugleichen, geschweige denn, das Wissen und Können der Schüler signifikant zu mehren. Mancher möchte gerne mit der unschuldigen Verzweiflung Oma Gundas ausrufen: „Nichts ist mehr, wie es einmal war.“
Nach dem bösen Erwachen werden wir uns die Frage stellen müssen, wem wir eigentlich die Gestaltung der wesentlichen Politikfelder überlassen haben, in einer Demokratie, in deren Grundgesetz Artikel 20 steht, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Denn so wenig kommerzielles Fernsehen am Lebensglück von überforderten Rentnern interessiert ist, so wenig bezwecken OECD, Stiftungen, think-tanks und Lobbygruppen tatsächliche Bildung, Humanität, Mündigkeit, Wissenschaftlichkeit oder soziale Gerechtigkeit.
Das verbindende Glied zwischen den individual- wie massenpsychologischen Steuerungsstrategien, die hier zum Einsatz kommen, bilden die Psychotechniken des Change-Managements, die auf den Psychologen Kurt Lewin (1890-1947) zurückgehen. Sie kommen explizit in Unternehmen oder Schulen zu Einsatz, um dort den Oma Gunda-Effekt – also die Weigerung, das Neue zu akzeptieren – zu verhindern. Unternehmensberater weisen darauf hin, dass man Strukturen und Prozesse in Organisationen durch äußere Macht relativ leicht ändern kann, nicht aber die innere Einstellung der Mitarbeiter zu diesen neuen Formen. So steht zu befürchten, dass es zu offenem Widerstand, subversiven Aktionen oder innerer Emigration kommt. Das change-management mobilisiert und programmiert die innere Steuerung des Menschen, so als könnte man deren DNA umschreiben, wie eine DHL-Führungskraft in dem sehenswerten Dokumentarfilm „work hard, play hard“ von Carmen Losmann freimütig erzählt. Dazu werden zunächst geronnene Einstellungen der Mitarbeiter aufgetaut, die neuen geistigen Modelle implementiert und anschließend wieder verfestigt. Die Notwendigkeit des Wandels wird in der Change-Story als unumgänglich dargestellt: Schockierende Nachrichten oder das Bedrohungsszenario einer „burning platform“ bis hin zur Induzierung von Leidensdruck bei Einzelnen machen die Botschaft ist klar: „Wer sich nicht ändert, geht unter!“ Flankierend kommen auch gruppendynamische Techniken zum Einsatz, bei denen durch bewusste Infantilisierungs-Spiele die Rollensouveränität der Kollegen gebrochen wird, um neue Botschaften unter Gruppendruck besser einpflanzen zu können.
Als prototypischen Verlauf beschreibt das online-Handbuch change-management, dass die Mitarbeiter sich nach dem ersten Schock zunächst auf ihre Souveränität als Experten zurückziehen und die neuen Modelle mit guten Gründen ablehnen bzw. die Notwendigkeit der Veränderung abstreiten. Unter zunehmendem Druck, Desorientierung und Vereinzelung durch die Change-Agenten kommt es dann in einem Moment großer Ohnmachtsgefühle zur emotionalen Akzeptanz des Wandels, eine Akzeptanz, die dann in einer nachträglichen intellektuellen Anpassungsphase verfestigt wird. Diese Phasierung ähnelt übrigens frappierend den 5 Phasen des Sterbens, wie sie von Elisabeth Kübler-Ross beschrieben wurden. Und tatsächlich
macht sich das Change-Management diese Analogie zunutze: Es suggeriert den Manipulierten, dass sie sich in das Unvermeidliche zu fügen haben. Dabei wird geschickt die konstruierte Alternativlosigkeit des erwünschten Geisteswandels mit der faktischen Notwendigkeit des Todes gleichgesetzt. Möglicherweise spielt auch das psychologische Phänomen der Identifikation mit dem Aggressor eine Rolle, ähnlich wie beim Stockholm-Syndrom, bei dem sich Geiseln mit ihren Peinigern solidarisieren.
Wohlgemerkt: Das Modell des change-management wird bewusst von Reformkräften zum Einsatz gebracht. Das Bundesministerium des Inneren hat sogar eine eigene Broschüre zum change-management als Leitfaden innovativer Verwaltung verfasst. (vgl. BMI) und auch private Stiftungen realisieren ihre gesellschaftlichen Transformationsziele, indem sie Experten in Change und Social-Marketing engagieren. (Vgl. Bertelsmann, Breuninger, Ruep – Belege im Anhang)
Schon diese Andeutungen zu den Versuchen, mit den Mitteln von Propaganda und change, die öffentliche Meinung und die innere Haltung der Einzelnen zu kontrollieren, wirft ein bedenkliches Licht auf den Zustand unserer Demokratie. Deren Institutionen dauern zwar formal und prozedural fort, werden aber durch den Versuch einer viralen Besiedlung des Bewusstseins von Bürgern und deren Repräsentanten zunehmend konterkariert. Dass dieser Versuch unternommen wird, bedeutet jedoch glücklicherweise nicht, dass der Mensch, seine Überzeugungen und Handlungsweisen nur ein Effekt von propagandistischen Einflüsterungen sind.
Zu den Schlüsseldokumenten unserer Kultur gehört Kants Schrift: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ Der Eingangssatz wird vielen geläufig sein: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ – einer Unmündigkeit, die aus Faulheit oder Feigheit resultiert. Wer die Anstrengung des eigenen Urteilens auf sich nimmt und die Furcht vor Repression durch Vorgesetzte oder den Opportunitätsdruck der Mehrheitsmeinung hinter sich lässt, ist in der Lage, Propaganda zu durchschauen und in der Abwägung von Argumenten besonnene politische Entscheidungen zu treffen. Exponierte Orte, die eigene Urteilkraft zu üben und seine Feigheit durch Persönlichkeitsbildung zu überwinden, sind Schulen und Universitäten. Bildung ist in dieser Hinsicht das Lebenselixier des demokratischen Staates. Die genannten Psychotechniken dagegen zielen auf die Neutralisierung von Mündigkeit und Urteilskraft. Sie beschädigen die Würde des Menschen, indem sie ihn als ein Manipulandum betrachten. Da helfen auch die vorgeschobenen oder tatsächlich guten Absichten der Reformer nicht. Besinnen wir uns lieber auf die Fundamente der demokratischen Kultur und reklamieren eine Reformpolitik, die Vernunft und Freiheit der Bürger nicht als potentiellen Widerstand neutralisiert, sondern zu ihrem einzig legitimen Ausgangspunkt nimmt.