Krank, asozial, kreativ . Der Mythos von Genie und Wahnsinn . Von Rainer Holm-Hadulla


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Krank, asozial, kreativ . Der Mythos von Genie und Wahnsinn . Von Rainer Holm-Hadulla

Sendung: Freitag, 6. Januar 2017, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2017
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

AUTOR
Prof. Dr. med. Rainer Matthias Holm-Hadulla ist Psychiater, Psychotherapeut und Psychoanalytiker. Er lehrt an der Universität Heidelberg und an verschiedenen Ausbildungsinstituten im In- und Ausland. Er betreibt eine Privatpraxis und ist als Berater und Coach für Einzelpersonen und Organisationen tätig.
Bücher (Auswahl):
- Integrative Psychotherapie. Verlag Klett-Cotta, 2015
(The Recovered Voice – Tales from Practical Psychotherapy, Karnac Books 2017)
- Die vielen Gesichter der Depression. (Hg. mit A. Draguhn), Universitätsverlag Winter. 2015
- Kreativität zwischen Schöpfung und Zerstörung. Vandenhoeck & Ruprecht. 2011
- Kreativität - Konzept und Lebensstil. 3. Aufl., Vandenhoeck & Ruprecht. 2010
- Leidenschaft - Goethes Weg zur Kreativität. 2. Aufl., Vandenhoeck & Ruprecht. 2009 (erweiterte Fassungen in spanischer, italienischer und persischer Sprache erhältlich)

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ÜBERSICHT
Die Geschichte des genialen Mathematikers und Spieltheoretikers John Forbes Nash wurde für das Kino verfilmt und begeisterte ein Massenpublikum. Nash litt unter Schizophrenie und gewann den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Er fasziniert bis heute, weil er einen Mythos verkörpert, der besagt: Kreative geistige Höchstleistungen entspringen eben nicht einem "normalen" konventionellen Geist, sondern einem, der Grenzgebiete erkundet und alles andere als alltagstauglich ist. Doch stimmt das? Was ist dran am Mythos vom wahnsinnigen Genie? Antworten gibt Rainer Holm-Hadulla, Professor für psychotherapeutische Medizin an der Universität Heidelberg.

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MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: "Krank, asozial, kreativ – Der Mythos von Genie und Wahnsinn".
Die Geschichte des genialen Mathematikers und Spieltheoretikers John Forbes Nash wurde für das Kino verfilmt und begeisterte ein Massenpublikum. Nash litt unter Schizophrenie und gewann den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Er fasziniert bis heute, weil er einen Mythos verkörpert, der besagt: Kreative geistige Höchstleistungen entspringen eben nicht einem "normalen" konventionellen Geist, sondern einem, der Grenzgebiete erkundet und der alles andere als alltagstauglich ist. Doch stimmt das? Was ist dran am Mythos vom wahnsinnigen Genie? Antworten gibt Rainer Holm-Hadulla, Professor für psychotherapeutische Medizin an der Universität Heidelberg.
Rainer Holm-Hadulla:
Ein junger Musiker konsultiert mich mit der Frage, wie er seine Kreativität steigern könne. Durch Rauschzustände hoffte er, besonders inspiriert zu werden. Er musste aber feststellen, dass ihn Cannabis apathisch macht. Bei einer hohen Dosis spüre er jedoch, dass seine Gedanken fliegen würden und sich auflösten. Sollte er auf diesem Weg weitergehen, um sich schöpferischen Einfällen zu öffnen? Er knüpft mit dieser Frage an eine sehr alte Vorstellung an.
Schon in Platos „Phaidros“ findet sich das Denkbild, dass ein Zustand der enthusiastischen Ekstase besondere Leistungen ermögliche. Die theia mania, das gottgeschenkte Außer-sich-Sein, gewähre nicht nur prophetische und philosophische, sondern auch poetische und erotische Inspiration. Die Bewunderung für das Außergewöhnliche drücken manche heute noch in der Alltagssprache mit Formulierungen wie „Das ist ja wahnsinnig“ oder „Das ist ja irre“. Das hat natürlich mit einer krankhaften Störung nichts zu tun. Shakespeare sagt im Sommernachtstraum: „Verliebte und Verrückte sind von so brausendem Gemüt/ So bildungsreicher Phantasie, die mehr erfasst/ Als kühlerer Verstand sich je erklären kann.“ Acht Verse weiter heißt es aber: „Und wie die Phantasie Ideen ausgebiert/ von unbekannten Dingen, bannt der Stift/ Des Dichters sie in Formen ein und gibt/ Luftigem Nichts in Worten ein Zuhause“.
Es geht also um ein Zusammenspiel von ekstatischer Eingebung und ordnender Gestaltung. Friedrich Nietzsche lässt seinen Zarathustra sagen: „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern zu gebären“. Diesen Satz von Friedrich Nietzsche kann die moderne Forschung bestätigen. Dabei müssen wir aber das kleine Wort „noch“ beachten. Ungeordnete und originelle Einfälle werden erst dann kreativ, wenn sie durch Wissen, Können und konzentrierte Arbeit eine brauchbare Form erhalten. Dabei kann eine gewisse psychische Labilität sowohl Motivation als auch Stoff für schöpferische Leistungen liefern. Ist eine psychische Störung aber zu ausgeprägt, führt sie zu einer Beeinträchtigung, mitunter auch zu einem kompletten Verlust kreativer Fähigkeiten. Das zeigen sowohl
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wissenschaftliche Studien als auch die Biografien kreativer Persönlichkeiten von Goethe und Hölderlin bis zu Madonna und Amy Winehouse.
Wie gesagt, der Wunsch, schöpferisch die eigenen Grenzen zu überschreiten, ist so alt wie die Menschheit. Goethes Werther sehnt sich nach dieser Grenzenlosigkeit, er will sein Ich auflösen, um sich mit der „Wonne eines einzigen, großen herrlichen Gefühls ausfüllen zu lassen“. Im Roman erschießt sich Werther, Goethe selbst war gerettet. Zuvor hatte er sich der Zweiundzwanzigjährige unsterblich in Charlotte Buff verliebt und wurde zurückgewiesen. Gebrochenen Herzens kehrte er in sein Elternhaus zurück und verarbeitete seine Verzweiflung durch Lesen, Gespräche und einsame Wanderungen. Eineinhalb Jahre nach der Trennung schrieb er „einem Traumwandler gleich, halb unbewusst“ in wenigen Worten die „Leiden des jungen Werthers“, durch die er sich „den Klauen des Todes“ entronnen fühlte. Er befand sich in einem höchst labilen Zustand, war aber weder psychotisch noch manisch oder so schwer depressiv, dass er nicht hätte arbeiten können.
Wie der „Werther“ sind die meisten seiner poetischen Werke aus einem Zustand melancholischer Labilität entstanden. Etwas Ähnliches wie „der Stift des Dichters“, der dem „Luftigen Nichts in Worten ein Zuhause“ gibt, legt Goethe seinem Torquato Tasso in den Mund. Die literarische Figur kann, anders als der historische Tasso, dem Wahnsinn durch die sprachliche Formgebung entgehen: „Nur eines bleibt:/ Die Träne hat uns die Natur verliehen,/ Den Schrei des Schmerzens, wenn der Mann zuletzt/ Es nicht mehr trägt … Sie ließ im Schmerz mir Melodie und Rede,/ Die tiefste Fülle meiner Not zu klagen:/ Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,/ Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide“ (Vs. 3426-3433).
Fünfzig Jahre nachdem er „Werthers Leiden“ geschrieben hat, erinnert sich Goethe an sein Alter Ego Werther. Er weiß, dass seine Liebe zu Ulrike v. Levetzow aussichtslos ist. In tiefer Verzweiflung schreibt er das Gedicht „An Werther“: „Zum Bleiben ich, zum Scheiden du erkoren,/ Gingst du voran – und hast nicht viel verloren“ (HA 1, S. 380f.). Das poetische Selbst klagt: „Mit ist das All, ich bin mir selbst verloren ...“. Doch wieder retten Sprache, Musik und alltägliche Arbeit. Überhaupt war Goethe in psychisch stabiler Verfassung, wenn er praktisch-politisch oder wissenschaftlich arbeitete. „Der Druck der Geschäfte ist sehr schön für die Seele; wenn sie entladen ist, spielt sie freier und genießt des Lebens. Elender ist nichts, als der behagliche Mensch ohne Arbeit …“. Goethe fand offensichtlich ein produktives Gleichgewicht zwischen konzentriertem Arbeiten und freiem Fantasieren.
Demgegenüber liefern sich manche Künstler der Melancholie und dem Wahnsinn so weit aus, dass sie im Chaos ihrer Empfindungen und Gedanken untergehen. Der Dichter Hölderlin verstummte fast gänzlich, nachdem ihm seine zweite psychotische Episode die Fähigkeit raubte, verwirrenden Gefühlen und Gedanken sprachliche Form zu verleihen.
Die Pop-Ikone Jim Morrison erhoffte sich, wie viele seiner Generation, durch Exzesse und Drogen eine „ganz andere Welt“ zu eröffnen. Songs wie „Break on through to the other side“, „Riders on the storm“ und „The End“ klingen bis heute nach. Sie besingen manische Ekstase und melancholische Verzweiflung. Jim Morrison fasste Verstimmungen aber nicht nur in Verse, sondern lieferte sich ihnen aus. „Alle Spiele beinhalten die Idee des Todes“, schreibt er in seinem ersten Gedichtband. Später besingt er nicht nur die wahnsinnige Ekstase, sondern durchlebt sie bis zum bitteren
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Ende. Wenige Monate nach den ersten Erfolgen wird sein inneres Chaos so stark, dass er seine Dämonen nur mit hohen Mengen von Alkohol und vielerlei Drogen besänftigen kann. Er verliert seine Schöpferkraft, gerät in einen Teufelskreis und geht schließlich nach einer kurzen kreativen Phase zu Grunde.
Demgegenüber bleibt sein englischer Antipode Mick Jagger selbst in seinen wildesten Jahren diszipliniert und sorgsam auf haltgebende Beziehungen bedacht. Auch er besingt Enttäuschungen und Verzweiflung: von „Love in Vain“ und „Paint it Black“ bis zu „Angie“ und „You can’t always get what you want“. Er bleibt aber Künstler, der seinen Gefühlen und Erfahrungen eine Sprache verleiht und sie damit auch bewältigt. In ihrem Havanna-Konzert 2016 präsentieren die Rolling Stones Lieder, die sie vor fünfzig Jahren komponiert und immer wieder neu inszeniert haben. Ihr wirkmächtigster Song „Sympathy for the Devil“ beschäftigt sich explizit mit dem Wahn der Destruktivität, mit dem man sich aber anfreunden müsse: „Just call me Lucifer … So if you meet me, have some courtesy, have some sympathy and some taste. (Nenne mich einfach Lucifer …. Wenn Du mich also triffst, zeige Höflichkeit, Sympathie und Geschmack.) Wird hier das Böse und Verrückte zum kreativen Prinzip stilisiert? Ich glaube, dass es sich eher umgekehrt verhält: Die Bewältigung des Bösen, Verrückten und Verzweifelten ist das schöpferische Prinzip. Dazu ist es aber nötig, sich mit destruktiven Regungen zu beschäftigen.
Die Transformation menschlicher Destruktivität, die sich in Wahn und Melancholie ausdrücken kann, ist eine kulturelle Grundidee. Bevor Mick Jagger „Sympathy for the Devil“ verfasste, hatte ihm seine Freundin Marianne Faithful Bulgakows Roman „Der Meister und Margarete“ zu lesen gegeben. Das im nachrevolutionären Russland geschriebene Werk bezieht sich direkt auf Goethes Faust und zitiert den berühmten Dialog mit dem Teufel: „Nun gut, wer bist du denn? –/ Ein Teil von jener Kraft,/ die stets das Böse will und stets das Gute schafft“. Wie Goethes Faustfigur widmen sich die Stones, Protagonisten der zeitgenössischen Pop-Kultur, dem wahnsinnigen Expansionsdrang. Sie durchschreiten aber vorher, ebenfalls wie Faust im ersten Teil der Tragödie, mit Songs wie „Paint it Black“ das Tal melancholischer Verzweiflung. Wahnsinn, Manie und Melancholie werden auch hier durch des „Dichters Kiel gebannt“. Des „Dichters Kiel“ meint in diesem Zusammenhang letztlich jede kulturelle Aktivität. Diese ist auch nach Sigmund Freud die wichtigste Möglichkeit, destruktives Chaos zu bewältigen.
In meinem letztjährigen Vortrag in der SWR2-Aula habe ich den Pop-Star Madonna als weiteres schillerndes Beispiel für die Bewältigung von Verzweiflung und Chaos erwähnt. Sie ist auch für unseren jetzigen Zusammenhang interessant. Madonna war vier Jahre alt, als ihre Mutter das sechste Mal schwanger wurde. Während dieser Zeit entwickelte sich ein Brustkarzinom. Sie konnte wegen der Schwangerschaft nicht behandelt werden und verstarb kurz nach der Geburt ihres sechsten Kindes. Wie reagiert die jetzt fünfjährige Madonna auf dieses Trauma? Sie beginnt, leidenschaftlich an sich zu arbeiten und wird eine hervorragende Tänzerin. Später entdeckt sie die Musik und die Lyrik. Sie arbeitet diszipliniert, verzichtet auf Alkohol und Drogen und wird zu einer Künstlerin, weil sie ihre Taumata – der qualvolle Tod der Mutter war nicht das einzige – kreativ transformiert. „Like a Prayer“, einer ihrer ersten Songs, die sie weltberühmt machten, ist eine Hommage an die Mutter: „Life is a mystery/ Everyone must stand alone/ I hear you call my name/ And it feels like home/ …In the midnight hour I can feel your power/ …I hear your voice/ It's like an angel sighing/ … Oh God I think I'm falling/ Out of the sky, I close my eyes/ Heaven
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help me./ Like a child/ You whisper softly to me/ You're in control just like a child/ Now I'm dancing.” (Leben ist ein Mysterium/ Jeder muss allein standhalten/ Ich höre Dich meinen Namen rufen/ Und es fühlt sich an wie zu Hause/… Zur Mitternachtsstunde kann ich Deine Kraft spüren… Ich höre Deine Stimme/ Es klingt, als ob ein Engel seufzt/ Oh Gott, ich glaube, ich falle / aus dem Himmel herab, ich schließe die Augen, Himmel, hilf mir./ Wie ein Kind flüsterst du mir sanft zu/ du bist sicher wie ein Kind/ Nun tanze ich.)
Für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ist die Frage zentral, welche Bedingungen dazu führen, dass manche Personen widrige Ereignisse, Traumata und psychische Störungen kreativ bewältigen können, statt krank zu werden. Meist findet sich ein gelungenes Zusammenspiel von Struktur und Freiheit, konventionellem Lernen und rebellischer Grenzüberschreitung. Madonna kommt in ihren Songs mit schwierigen, ja traumatisierenden Kindheitserfahrungen in Berührung. Sie testet Grenzen aus, transformiert aber ihre Trauer und Wut zum Beispiel auf ihren Vater und über eine sexuelle Traumatisierung durch harte Arbeit in künstlerische Werke.
Ein Gegenbeispiel ist Amy Winehouse. Auch diese Sängerin verfügte über eine hohe Begabung. Sie war außergewöhnlich musikalisch und verspürte auch eine große Motivation, künstlerisch tätig zu sein. Ihre Umgebungsbedingungen waren, ähnlich wie bei Madonna, eher ungünstig. Ihre Mutter konnte ihr keinen ausreichenden Halt vermitteln, der Vater war abwesend, später schien er sie sogar auszunutzen. Früher und regelmäßiger Cannabiskonsum seit dem 13. Lebensjahr führten zu Verstimmungen und Apathie. Ein schwer drogensüchtiger Liebhaber bescherte ihr für kurze Zeit eine neue Vitalität, rasch verlor sie jedoch ihre kreative Energie. Die Medien schlachteten ihren Untergang aus. Sie wurde wie Jim Morrison als gefallener Engel inszeniert, der unter den Augen eines erregten Publikums in unproduktiver Melancholie und wahnsinnigen Alkoholexzessen unterging. Dennoch nähren die medialen Inszenierungen immer wieder die Illusion, dass beziehungsloser Sex, Drogen und wahnsinnige Selbstzerstörung die Kreativität steigern könnten: Sex and Drugs and Rock'n'Roll. Die Einsicht, dass die erotische und schöpferische Ekstase auch Disziplin verlangt, lässt sich offensichtlich schlecht verkaufen.
Das haben die antiken Philosophen schon so gesehen. Bei Theophrast, einem Schüler des Aristoteles, heißt es, dass alle außergewöhnlichen Persönlichkeiten Melancholiker seien. Im Zustand wahnähnlicher Ekstase erschufen sie das Besondere und Originelle. Dabei wird gerne übersehen, wie der Text des Fragmentum XXX,1 von Theophrast weitergeht: Bei manchen werde die Melancholie so stark, dass sie krankhaft sei. Mit anderen Worten: Manie und Melancholie bezeichnen zunächst keine krankhaften Zustände, sondern eine psychische Labilität, die kreative Hochleistungen begünstigen kann. Bei einem Übermaß kann sie aber zur Krankheit führen, die die schöpferischen Möglichkeiten vernichtet.
Ich komme nun zu Ergebnissen der modernen Psychologie und Psychiatrie. Empirische Studien (z. B. Ludwig, 1992) belegen, dass außergewöhnlich kreative Persönlichkeiten nicht psychisch gestörter sind als der Durchschnitt der Bevölkerung. In vielen Professionen sind außergewöhnlich Kreative sogar weniger beeinträchtigt als die Durchschnittsbevölkerung. Bei prominenten Persönlichkeiten wie z.B. Abraham Lincoln, der unter einer manisch-depressiven Erkrankung litt, fallen die Störungen einfach stärker ins Auge. Es existieren sogar empirische Studien, die nahelegen, dass Kreativität ein Gesundheitsfaktor ist (Runco, 2010).
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Allerdings gibt es zwei Ausnahmen: Dichter sowie Jazz- und Popmusiker. Dichter erleiden drei Mal so häufig depressive Störungen und nehmen sich auch drei Mal so häufig das Leben wie die Durchschnittsbevölkerung. Für Dichter ist das persönliche Leiden häufig Antrieb und Thema ihres Schaffens. Ihr Krankheitsrisiko ist allerdings wesentlich geringer, wenn sie erfolgreich sind und nicht verarmen. Popmusiker unterscheiden sich von der Durchschnittsbevölkerung dadurch, dass bei ihnen Alkohol- und Drogenmissbrauch wesentlich häufiger sind. Die mediale Inszenierung der Pop-Musiker bedient häufig die Illusion, durch Alkohol und Drogen kreativ werden zu können.
Thomas Mann sagte in diesem Zusammenhang einmal, dass die meisten der Alkohol trinkenden Schriftsteller nicht wegen sondern trotz Alkohols kreativ waren. Sie trinken zum Spannungsabbau, beim Schreiben sind sie meist nüchtern. Der große Trinker Frederick Scott Fitzgerald, der durch The Great Gatsby bekannt wurde, formulierte dies sehr einprägsam: „I never wrote a line under the glow of only one cocktail“. (Ich habe niemals eine Zeile unter dem Einfluss auch nur eines Cocktails geschrieben). Biografien von Brian Jones, Jimmy Hendrix, Janis Joplin und Kurt Cobain zeigen, dass harte Drogen und große Mengen Alkohols die Kreativität schnell zerstören. Die länger überlebenden drogenkonsumierenden Künstler haben es, oft unter großen Schmerzen, geschafft, sich von Drogen zu entziehen oder ihren Konsum radikal einzuschränken.
Klinische Erfahrungen zeigen, dass schwere psychische Störungen Kreativität beeinträchtigen oder zum Versiegen bringen. Der Dichter Hölderlin ist ein Beispiel, wie eine schwere psychotische Erkrankung die Schaffenskraft zum Erliegen bringen kann. Im Beginn seiner Erkrankung waren ihm noch wunderbare Dichtungen möglich. Nachdem seine Psychose aber chronisch geworden war, erlosch seine Schaffenskraft. Für viele als schizophren bezeichnete Patientinnen und Patienten kann die Labilisierung durch ihre Erkrankung kreative Impulse freisetzen, doch schwere und längere Krankheitsphasen beeinträchtigen ihre Produktivität. Manche bleiben aber trotz ihrer Erkrankung schöpferisch und für viele sind kreative Tätigkeiten auch ein Therapeutikum. Selbst zu Beginn einer Hirnerkrankung finden wir bei manchem Menschen einen Anstieg kreativer Impulse. Ist die Erkrankung allerdings weiter fortgeschritten, erlischt die Kreativität.
Leichtere psychische Störungen können mit einer emotionalen Labilität einhergehen, die kreative Prozesse auslösen und begünstigen kann. So haben seine melancholischen Verstimmungen Goethe zu Höchstleistungen inspiriert. Picasso fand nach einer schweren persönlichen Krise als verarmter und vereinsamter Künstler in Paris, sein bester Freund Casagemas hatte sich gerade das Leben genommen, in seiner blauen Periode erstmals zu einem authentischen künstlerischen Ausdruck. Mozart komponierte in der Trauerphase um seinen Vater, mit dem ihn nicht nur positive Gefühle verbanden, in wenigen Wochen seine Oper „Don Giovanni“. In diesem wunderbaren Kunstwerk fasst er eine unglaubliche Vielfalt von Emotionen in Musik, die bis heute begeistert.
Werfen wir einen kurzen systematischen Blick auf die Kreativität. Neurobiologie, Psychologie und Kulturwissenschaften stimmen darin überein, dass im kreativen Prozess gewohnte Ordnungen labilisiert werden. Neue und brauchbare Formen
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entstehen, wenn das gelernte Wissen und Können originell verändert wird. Es existiert keine Kreativität aus dem Nichts (Holm-Hadulla 2013).
Die Grundbedingungen der Kreativität sind Begabung, Wissen, Können, Motivation, Persönlichkeitseigenschaften und Umgebungsbedingungen. Begabungen hängen in der Regel nicht mit psychischen Störungen zusammen. Sie werden wie der Erwerb von Wissen und Können durch seelische Erkrankungen eher beeinträchtigt. Wenn zum Beispiel eine Depression mit einer Antriebshemmung verbunden ist oder eine Emotionskontrollstörung mit Konzentrationsstörungen einhergeht, so werden diese den Erwerb der Grundkenntnisse, die zur kreativen Neuschöpfung notwendig sind, beeinträchtigen. Auch Drogenmissbrauch, z.B. von Cannabis, führt meist zur Beeinträchtigung von Konzentration und Gedächtnis. Dadurch wird ebenfalls der Erwerb von Wissen und Können behindert. Die Forschung zeigt, dass Kreativität nicht nur dadurch entsteht, dass man originelle Einfälle hat, sondern diesen durch konzentrierte Arbeit eine künstlerische, wissenschaftliche oder praktische Form verleiht.
Die Motivation zu kreativen Aktivitäten kann nun durch psychische Störungen begünstigt werden. Insbesondere leichte bis mittelschwere depressive Verstimmungen führen oft zu schöpferischen Suchbewegungen. In Bezug auf Persönlichkeitseigenschaften sind Frustrationstoleranz und Widerstandsfähigkeit für kreatives Arbeiten besonders bedeutsam. Diese werden durch ausgeprägte psychische Erkrankungen meist beeinträchtigt. Geeignete Umgebungsbedingungen, wie zum Beispiel unterstützende Partner, Freunde und Kollegen können bei psychischen Erkrankungen, die mit starker Angst und ausgeprägtem Misstrauen einhergehen, oft nicht genutzt werden. Anderseits können psychische Krisen dazu führen, sich Hilfe bei anderen Menschen zu suchen. Goethe geriet in seiner ersten Studienzeit in Leipzig in eine depressive Episode, die über ein Jahr dauerte. Er fand aber einen Freund, der sich wie seine Familie um ihn kümmerte und ihn zum Schreiben anhielt. So entstanden seine ersten nennenswerten Gedichte.
Ich komme zu einem Fazit: Die Auflösung gewohnter Ordnungen kann kreativ sein, wenn sie zu neuen Formen führt. Man sollte also noch Chaos in sich haben, aber auch seine Materie beherrschen und über genügend Stabilität verfügen, um Einfälle in kreative Produkte zu verwandeln. Deswegen führen schwere psychische Störungen zu Kreativitätseinbußen. Die kreative Ekstase ist etwas anderes als der pathologische Wahnsinn. Auch Manie und Melancholie des Künstlers unterscheiden sich von krankhaften Störungen dadurch, dass die Fähigkeit zur Gestaltung erhalten bleibt. Kreative Persönlichkeiten können die Spannungen widerstreitender Gefühle und Gedanken ertragen und gestalten. Insofern kann man auch wie Nietzsche von einer „höheren Gesundheit“ sprechen.
Ein besonderes Beispiel für diese „höhere Gesundheit“ ist Robert Schumann. Von prominenten Psychiatern wurden ihm buchstäblich alle möglichen psychischen Erkrankungen bescheinigt: Syphilitische Hirnerkrankung, schizophrene Episoden, manisch-depressive Psychosen, Angst- und Persönlichkeitsstörungen. Bei genauer Betrachtung kann man aber erst wenige Monate vor seinem Tod, abgesehen von seiner Trunksucht, eindeutige Krankheitssymptome rekonstruieren, die möglicherweise auf Mangelernährung zurückzuführen waren. Seine berühmte Krise im Februar 1852 war hingegen ausgelöst durch tiefreichende emotionale Erschütterungen und massive soziale Kränkungen. Sie führten zur Einlieferung in die
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Psychiatrische Anstalt Endenich. Seine Fähigkeit, innere Spannungen und interpersonelle Konflikte künstlerisch zu transformieren, war nicht mehr ausreichend, um sich gegen soziale Ausgrenzungen zur Wehr zu setzen. In produktiven Zeiten war er aber, trotz großer affektiver Erregungen, ganz gesund. Er litt unter keiner bipolaren Störung, sondern wurde ähnlich wie Goethe häufig von widerstreitenden Gefühlen und psychisch labilisierenden Inspirationen erfasst, die man auch als „kreative Bipolorität“ definieren könnte. Das berühmte Liederjahr mit den traurig-schönen Zyklen „Liederkreis“ und Dichterliebe“ war zum Beispiel eine sehr glückliche Zeit, die ihm und seiner Frau Clara die besagte „höhere Gesundheit“ bescherte.
Diese ist allerdings, wie man auch bei Robert Schumann sehen kann, mit Zerreißproben verbunden, die besondere Rücksicht verlangen: produktive Arbeits-Rituale, unterstützende Beziehungen und heutzutage auch Beratung, Coaching und Psychotherapie. Es ist ein weiterer in die Irre führender Mythos, dass mit der psychoanalytischen Austreibung der Dämonen auch die Engel der Inspiration ausgetrieben würden, wie Rilke dies befürchtete. Ganz im Gegenteil, eine kluge Begleitung durch kompetente Berater und Therapeuten kann zur Entdeckung und Weiterentwicklung schöpferischer Potentiale führen. Wenn sie dies nicht tut, sollte man sie schnell beenden. Goethe konnte immer wieder auf Beziehungen zurückgreifen, von denen einige ausgesprochen psychotherapeutische Züge trugen (Holm-Hadulla 2009). Jim Morrison lehnte professionelle Unterstützung ab und ein wunderbarer Stern verlosch viel zu früh in manischem und melancholischem Chaos.
Bei der Betrachtung der kreativen Spannung, der alle schöpferischen Persönlichkeiten ausgesetzt sind, können wir also eine „kreative Bipolarität“ von bipolaren Störungen im krankhaften Sinne unterscheiden. Allerdings finden sich bipolare Störungen bei manchen Künstlern gehäuft. Sind diese zu ausgeprägt, erlischt die Schaffenskraft. Dann können auch medikamentöse Behandlungen notwendig werden. Aber auch hier ist eine Feinabstimmung, am besten im Rahmen einer zusätzlichen psychotherapeutischen Behandlung, notwendig. Der Grat zwischen der Skylla unproduktiver Verwirrung und der Charybdis medikamentöser Abstumpfung ist mitunter sehr schmal.
Kreative Aktivitäten sind oft so heilsam, weil sie emotionale und intellektuelle Ordnung herstellen, die wir als schön erleben. Allerdings stellt sich dieses Gefühl ästhetischer Erfüllung nur für mehr oder minder kurze Augenblicke ein. Wir müssen uns selbst in unserem Alltag immer wieder neu erschaffen. Psychische Gesundheit entsteht, wenn wir ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Struktur und Freiheit, Ordnung und Chaos erreichen.
(Rainer Holm-Hadulla hält am 24. Februar 2017 einen öffentlichen Vortrag zum Thema "Kreativität in Alltag, Kunst und Wissenschaft" in der Großen Aula der Neuen Universität am Universitätsplatz Heidelberg.)
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Literatur:
Bulgakow M. (1994). Der Meister und Margarita. Sammlung Luchterhand, München
Holm-Hadulla RM (2013). The Dialectic of Creativity: Towards an Integration of Neurobiological, Psychological, Socio-Cultural and Practical Aspects of the Creative Process.
Creativity Research Journal, 25(3), 1-7
Holm-Hadulla RM (2011). Kreativität zwischen Schöpfung und Zerstörung.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
Holm-Hadulla RM (2010). Kreativität - Konzept und Lebensstil.
3rd Edition. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
Holm-Hadulla RM (2009). Leidenschaft - Goethes Weg zur Kreativität.
2nd Edition. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
Holm-Hadulla, RM (2015). Integrative Psychotherapie. Verlag Klett-Cotta, 2015
(The Recovered Voice – Tales from Practical Psychotherapy, Karnac Books 2017)
Ludwig AM (1992). Creative Achievement and Psychopathology: Comparison Among Professions. American Journal of Psychotherapy, XLVI (3), pp. 330-354
Rolling Stones Complete (1981). E.M.I. Music Publishing Limited, London
Runco MA (2010). Creativity. Elsevier, Burlington, MA
Skakespeare, W. (1995). Ein Sommernachstraum. Übersetzung von Frank Günther, dtv, München
Thase et. al. (2015). Schizophrenia and Creativity. Psychopathology
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