SWR2 Wissen: Aula - Bernhard Pörksen: Die fünfte Gewalt . Die neue Macht der Vernetzten

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Die fünfte Gewalt

SWR2 Wissen: Aula - Bernhard Pörksen: Die fünfte Gewalt . Die neue Macht der Vernetzten

Sendung: Sonntag, 3. April 2016
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2016;  http://www.swr.de/swr2/programm/
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ÜBERBLICK
Diese Vernetzten verändern die Agenda und das Tempo des klassischen Journalismus', sie veröffentlichen auf Blogs, in Wikis, in sozialen Netzwerken, sie stürzen Politiker, bilden Protestgemeinschaften, bringen Unternehmen in Bedrängnis. Und sie finden zu grausamen Mordspektakeln zusammen. Bei alledem bleiben Fragen: Wie können sich die Vernetzten selbst zivilisieren? Wie verhindert man die Entstehung von Parallelgesellschaften? Antworten gibt Professor Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler an der Universität Tübingen.
AUTOR
Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zu Bernhard Pörksens Forschungsschwerpunkten und zentralen Themengebieten gehören: der Medienwandel im digitalen Zeitalter, Krisen- und Reputationsmanagement, Kommunikationsmodelle und Kommunikationstheorien, Inszenierungsstile in Politik und Medien und die Dynamik von Skandalen als Spiegel aktueller Wertedebatten. Dieser Aula-Beitrag basiert auf Vorträgen (u.a. auf der Netzkonferenz re:publica) sowie Cicero- und Zeit-Artikeln des Autors zum Thema.
Bücher (Auswahl):
- Die Beobachtung des Beobachters. Eine Erkenntnistheorie der Journalistik. Carl-Auer-Systeme. 2015.
- Kommunikation als Lebenskunst (zus. mit Friedemann Schulz von Thun). Auer-Verlag. 2014.
- Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter. Herbert von Halem Verlag. 2012.

INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: "Die fünfte Gewalt – Die neue Macht der Vernetzten"
Diese digital Vernetzten verändern die Agenda und das Tempo klassischen Journalismus, sie veröffentlichen auf Blogs, Wikis, in sozialen Netzwerken, sie stürzen Politiker, bilden Protestgemeinschaften, bringen Unternehmen in Bedrängnis. Und sie finden manchmal zu grausamen Rufmordaktionen zusammen. Bei alledem bleiben Fragen: Wie können sich die Vernetzten selbst zivilisieren? Wie verhindert man die Entstehung von Parallelgesellschaften? Wie funktionieren diese Netzwerke genau?
Antworten gibt Professor Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler an der Universität Tübingen.
Bernhard Pörksen:
Martha erklärt ihrem Vater, dass sie Journalistin werden will und täglich schreiben möchte. Ihr Vater richtet ihr einen Blog ein. Martha Payne entschließt sich, damit sie überhaupt etwas zu schreiben hat, gleichsam Stoff und Inhalte für die tägliche Produktion, über ihr Schulessen zu berichten, das sie jeden Tag in ihrer Grundschule bekommt. Sie leiht sich die Kamera des Vaters, fotografiert ihr Essen in der Schulküche, schreibt auf, was es so gibt – und entwickelt als neugeborene Restaurantkritikerin eine Art Bewertungssystem: die Zahl der Bissen bei jeder Mahlzeit, ihre Einschätzung, ob das Essen gesund ist, schließlich: die Zahl der Haare, die sie findet und die nicht ihr gehören. Bald geht der erste Blogeintrag online, es gibt das erste Foto. Dieses Foto zeigt eine einzelne, traurige Krokette, ein wenig Zuckermais, ein irgendwie vergilbt wirkendes Stück Pizza. Martha Payne notiert: "Ich bin ein Kind, das wächst, und ich muss mich den ganzen Nachmittag konzentrieren. Das schaffe ich nicht nur mit einer Krokette."
Ihr Vater verlinkt den Blogeintrag über Twitter. Und dann geht alles ganz schnell. Die neunjährige Martha hat mit einem Mal Tausende von Lesern. Es erscheinen die ersten Zeitungsberichte, der Starkoch Jamie Oliver schaltet sich über Twitter zu. Schulkinder aus Japan, Amerika, China, Korea, Finnland und vielen anderen Ländern der Welt schicken Bilder von ihren Mittagsmahlzeiten, die sie veröffentlicht. Alles explodiert endgültig, als Martha eines Tages in das Büro der Schulleiterin zitiert wird; man verbietet ihr, weitere Essensfotos zu machen – aus Angst vor noch mehr schlechter Presse im Angesicht all der entsetzlich verkochten Mahlzeiten, im Angesicht der brutalen Evidenz aus glasiger Dosenananas und organisierter Lieblosigkeit.
Martha schreibt einen Blogeintrag mit dem Titel "Goodbye" und erzählt, dass sie traurig sei über das Verbot, aber nun aufhören werde. Ein Twitter-Sturm der Solidarität bricht los. Die New York Times und viele internationale Medien greifen jetzt die Geschichte auf. Innerhalb von 24 Stunden hat ihr Blog mehr als eine Million Besucher. Es kommt zu sogenannten ragedonations, Wutspenden. Viele Menschen sammeln jetzt Geld für Martha und ihr Anliegen. Und die Schulleitung lernt auf bittere Weise zwei Gesetze des digitalen Zeitalters kennen: Das erste Gesetz ist das Gesetz von der neuartigen Asymmetrie von Anlass und Effekt, von Ursache und

Wirkung – Schmetterlingseffekte produzieren heute nicht mehr nur die Schmetterlinge, sie sind jedem möglich, der einen Netzzugang besitzt. Das zweite Gesetz ist das Gesetz von der Unmöglichkeit und der Kontraproduktivität der Zensur. Natürlich wird das Foto-Verbot im Angesicht des Empörungs-Tsunamis gleich wieder aufgehoben. Und Martha bloggt weiter. Sie erreicht, dass das Schulessen besser wird. Sie sammelt mehr als 100.000 Pfund und eröffnet von dem Geld eine eigene Schulküche im afrikanischen Malawi. Deutlich wird: Ein neunjähriges Mädchen kann im Zusammenspiel mit anderen ein Thema auf die globale Agenda setzen: das Essen, das wir unseren Kindern zumuten.
Welche Geschichte erzählt diese Geschichte? Ich würde sagen: Sie handelt von der Macht der vernetzten Vielen. Sie handelt davon, dass irgendwo dort draußen im digitalen Universum eine neue Macht- und Einflusssphäre entstanden ist, eine fünfte Gewalt, die sich neben die staatliche Gewalt aus Exekutive, Judikative, Legislative und neben die vierte Gewalt des traditionellen Journalismus schiebt. Die fünfte Gewalt – das sind diejenigen, die protestieren, die manchmal einen Shitstorm entfachen, über eine Facebook-Gruppe zu einer Demonstration aufrufen. Die fünfte Gewalt – das sind diejenigen, die erfolgreiche Online-Petitionen starten, die sich um ein Hashtag versammeln, ein Twitter-Gewitter auslösen, mal mit guten, mal mit bösen Absichten. Kurzum: Die fünfte Gewalt – das sind wir potentiell alle. Die fünfte Gewalt – das ist im digitalen Zeitalter potentiell jeder, der für sein Thema Aufmerksamkeit und Aktivität organisieren kann. Das heißt, diese neue Machtsphäre ist nicht über eine gemeinsame Idee greifbar, denn die Ideen, die sich hier finden, sind unendlich vielfältig, vielleicht auch gegensätzlich. Diese neue Machtsphäre lässt nicht über eine gemeinsame Ideologie fassen, denn die Ideologien, auf die man hier stößt, sind womöglich radikal verschieden, vielleicht auch gegensätzlich. Und diese neue Machtsphäre lässt sich nicht über eine kollektive Moral oder Unmoral bestimmen, denn die fünfte Gewalt hat unendlich viele Gesichter: Mal ist sie klug und sensibel, mal wütend und fanatisch, mal ist sie engagierte Kraft, mal zerstörerische Macht, mal sehen wir sie als Mob, dann wieder zeigt sie sich als freundlicher Schwarm, der für das Gute kämpft, gegen Ausbeutung, miese Arbeitsbedingungen und die Diskriminierung von Minderheiten.
Und doch ist diese neue Macht längst zu einer "Publikative" eigenen Rechts geworden, Stofflieferant einer inhaltlich und medial entgrenzten, barrierefrei zugänglichen Öffentlichkeit. Sie publiziert in sozialen Netzwerken, auf Wikipedia, Wikis, Blogs. Sie erzeugt Images, sie dokumentiert peinliche Momente auf der Weltbühne des Internets, sie verlinkt und verbreitet kompromittierende Äußerungen, Fotos und Videos von Mächtigen und Prominenten, die auf Dauer im Online-Universum kursieren. Sie setzt eigene Themen, tatkräftig unterstützt von den klassischen Leitmedien, die aufgreifen, was die Vielen eben gerade debattieren. Die schlichte Netzpublizität (eine Trendwelle auf Twitter, ein Shitstorm, ein paar heiß laufende Gerüchte in den sozialen Netzwerken) ist zum Nachrichtenfaktor und zum Argument der journalistischen Themenrechtfertigung geworden, das es erlaubt, auch ein banales Spektakel massenmedial aufzuwerten. Das Motto: "Seht her, was sich da tut!"
Überdies: Die fünfte Gewalt der digitalen Gegenwart tritt, dies wird gerade im Zuge der momentanen Kriegs- und Krisenberichterstattung offenbar, als medienkritische Instanz und Meinungskorrektiv in Erscheinung. Ob es die Russlandberichte sind, die angebliche Dämonisierung Putins – das einst zur Passivität verdammte

Medienpublikum fühlt sich längst mitverantwortlich für das Programm. Netz-Initiativen wie die ständige Publikumskonferenz der öffentlich-rechtlichen Medien weisen auf Fehler hin und kritisieren Normverletzungen. Es sind umsichtige Rechercheure und wütende Ankläger, die hier auftreten und Beschwerden in Serie abfeuern, durchaus mit Folgen. Vor einiger Zeit sah sich der ARD-Frontmann Thomas Roth zu einer öffentlichen Entschuldigung genötigt – Zuschauer hatten Fehler in der Ukraine-Berichterstattung entdeckt. Manchmal richtet sich die Wut der Vielen auch gegen eine einzelne Person. So attackierten aufgebrachte Zuschauer Anfang 2014 den Talkmaster Markus Lanz, der nach einem gründlich misslungenen Interview mit der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht zur Symbolfigur des gedankenarmen Spektakelfernsehens wurde – Hundertausende forderten in einer eigenen Online-Petition seine Entlassung, viele twitterten ihren Protest, ärgerten sich einfach, wüteten vor sich hin oder lieferten kluge Kommentare zur Boulevardisierung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.
Schon diese wenigen Schlaglichter zeigen: Die fünfte Gewalt ist radikal pluralistisch. Sie hat kein großes, gemeinsames Thema, wohl aber gemeinsam genutzte Plattformen und Instrumente – soziale Netzwerke, Blogs, Wikis, Websites, Smartphones, leistungsstarke Computer, das gesamte Spektrum digitaler Medien. Es macht keinen Sinn, die vernetzten Vielen nur als Mob zu präsentieren, auch wenn sie das grausame Mobbingspektakel und die vernichtende Attacke beherrschen. Und es ist ebenso wenig plausibel – dies wäre das andere Extrem – pauschal von einer digitalen Graswurzelbewegung zu schwärmen, die endlich mit ihren Notebooks und Smartphones die Welt zum Guten wendet.
Ihre große Gemeinsamkeit ist allein der Modus vernetzter Organisation. Es handelt sich um eine Gemeinschaft neuen Typs. Man könnte sie – im Unterschied zu einem strikt hierarchisch geprägten Kollektiv – ein Konnektiv nennen, eine Organisation ohne Organisation. Was ist der Unterschied? Kollektive (man denke nur an eine Partei oder ein beliebiges Unternehmen) agieren auf der Grundlage klarer Absprachen, gemeinsamer Grundsätze und starker Bindungen, orientiert an deutlich erkennbaren Machtzentren, sie haben mehr oder minder präzise Außengrenzen: Man weiß, wer dazu gehört – und wer eben nicht! Konnektive sind demgegenüber weniger fremdbestimmt, stärker am individuell-persönlichen Selbstausdruck ausgerichtet, geprägt von digitalen Medien. Die Mobilisierung einer großen Zahl kann spontan und ohne klar identifizierbare Anführer erfolgen, ausgelöst durch plötzlich durchdringende Anstöße.
Man denke nur an die sogenannte #aufschrei-Debatte. Wie hat alles angefangen? Eine Nacht im Januar 2013. In der Nacht des 24. Januar 2013 liest die Netzaktivistin Anne Wizorek einen Tweet ihrer Online-Bekanntschaft Nicole von Horst, der sie erschüttert. Hier heißt es – ich zitiere: "Der Arzt, der meinen Po tätschelte, nachdem ich wegen eines Selbstmordversuches im Krankenhaus lag." Es ist dieser aufs Äußerste verknappte Bericht von einem Übergriff, der Anne Wizorek auf die Idee bringt, solche Erfahrungen sexistischer Brutalität unter dem Hashtag #aufschrei zu sammeln. Und plötzlich werden jede Menge dummer Sprüche sichtbar, aber auch Gewalt, Schläge, Attacken. Als sich immer mehr Frauen mit ihren Erlebnissen zu Wort melden, schreibt Anne Wizorek: "Ich heule gerade, aber hört nicht auf." 60.000 Tweets kommen allein innerhalb der ersten beiden Wochen zusammen – schockierende Mini-Narrative, erzählt in einer Länge von maximal 140 Zeichen.

Was zeigt das Beispiel von #aufschrei? Es zeigt sich, dass das Konnektiv – das Organisationsmuster der fünften Gewalt – im Gegensatz zum Kollektiv nicht hierarchisch ist, überdies: Ein Konnektiv besitzt keine klar definierten Innen-Außen-Grenzen. Man kann einem Konnektiv keine Befehle erteilen und ein gemeinsames Vorgehen erzwingen. Niemand kann sagen: "So, Schluss jetzt! Nun aber in die andere Richtung! Nun lass mal Deine blöden Tweets, das passt hier gerade nicht!" Nein, es kommt auf etwas anderes an: Ein Konnektiv ermöglicht eine neuartige Kombination aus dem Ich und dem Wir. Ein Konnektiv ist eine Ich-Wir-Gemeinschaft, eine Gemeinschaftsform neuen Typs, ermöglicht durch digitale Medien. Man gehört zwar einer Bewegung an, aber geht doch nicht in ihr auf, zeigt sich gleichzeitig als Individuum, ist mit seiner persönlichen Note, seiner Geschichte, seinem Foto, seinem besonderen Stil, seinem Text sichtbar.
Eben das ist das Attraktivitätsgeheimnis von Konnektiven und Organisationen ohne Organisation: Sie erlauben die bindungsfreie Geselligkeit und die Kombination von Gruppengefühl und Selbstausdruck, manchmal auch von Gratis-Engagement und Ego-Pflege. In jedem Fall ist jedoch selbst im plötzlichen Twitter-Gewitter und im Shitstorm der Einzelne präsent und geht nicht gänzlich unter, gibt er doch den Botschaften stets seinen besonderen Akzent und besitzt im Akt des gemeinsamen Protests gleichzeitig die Chance massiver Wirkung, die alleine nicht zu haben wäre.
Und tatsächlich: Die vernetzten Vielen haben Wirkungen, Effekte in der wirklichen Welt. 100 Millionen Menschen sahen – ein massives Plebiszit der Klickzahlen – innerhalb kürzester Zeit das Video, das den ugandischen Rebellenführer Joseph Kony vor den Augen eines Weltpublikums zur Fahndung ausschrieb, ihn als Schlächter und Menschenschinder attackierte. Nicht mehr die Reichen und Mächtigen, so heißt es in dem Video, würden nun bestimmen, was als wichtig zu gelten habe. Jetzt würden die Vielen "einander beschützen". Die USA lobten unter dem Eindruck dieser Kampagne fünf Millionen Dollar Kopfgeld aus und schickten Spezialflugzeuge und zusätzliche Soldaten nach Uganda, um den Mann endlich zu fassen.
Und mitunter trägt die fünfte Gewalt ziemlich direkt zum Sturz von Politikern bei. Man denke nur an Karl-Theodor zu Guttenberg, einst Shootingstar der CSU. Wütende Doktoranden nahmen auf einem eigens eingerichteten Wiki seine zusammengestoppelte, aus unterschiedlichsten Quellen komponierte Doktorarbeit in Hochgeschwindigkeit vor aller Augen auseinander und dokumentierten seine Abschreibereien. Man sieht: Hier wirkt die fünfte Gewalt aufklärerisch, sie recherchiert selbst, sie liefert Enthüllungen und erzeugt öffentlich Druck.
Manchmal jedoch, auch dies gehört zu einem umfassenden, um Vielschichtigkeit bemühten Bild, attackiert ein entfesselter Mob gänzlich Unschuldige – mitunter übrigens im Verbund mit den klassischen Massenmedien. So geschehen kurz nach dem Boston-Attentat am 15. April 2013. An diesem Tag explodierten, inmitten einer Zuschauermenge, in zwei Rucksäcken versteckte Sprengsätze in der Zielgeraden einer Marathonstrecke. Getötet wurden drei Menschen, Hunderte verletzt. Was folgte, war das Spektakel einer fiebrigen Menschenjagd. Plattformen und Netzwerke wie Twitter, Reddit, Facebook und 4chan wurden für einen langen Augenblick zu den Instrumenten einer modernen Hexenjagd. Und selbst CNN und die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) verbreiteten Falschmeldungen, angesteckt vom allgemeinen Tempowahn und dem Wettlauf um die Attentäter-

Trophäe. Die New York Post veröffentlichte das Foto eines zu Unrecht Verdächtigten auf der Titelseite. Die Bilanz des Informationsdesasters: millionenfach verbreitete Gerüchte über vermeintlich Verdächtige, fatale Fehlinterpretationen grobkörniger FBI-Fahndungsfotos und angeblicher Polizeifunkmeldungen, Hassausbrüche gegenüber der Familie eines zu Unrecht beschuldigten Studenten, die ihren unter Depressionen leidenden, später tot aufgefundenen Sohn vermisst gemeldet hatte und nun im Moment einer verzweifelten, immer noch hoffenden Suche am Pranger stand.
Noch etwas anderes zeigt sich hier: Die Macht der fünften Gewalt ist nicht mehr einfach zurechenbar. Ihre Macht entsteht in einem plötzlichen aufschäumenden Aufmerksamkeits- und Empörungsexzess. In der Regel wird ja auf eine ziemlich einfache Weise über Macht nachgedacht, nämlich linear-kausal. Es gibt, so nimmt man an, eine Ursache, die eine Wirkung erzeugt. Und je stärker die Ursache, desto massiver die Wirkung. Vielleicht ist genau dieses vereinfachte Denken der Grund, warum es bislang keine wirkliche Debatte über den Einfluss der fünften Gewalt auf Politik und Öffentlichkeit gegeben hat – Netzwerke passen einfach nicht zu dem gängigen Kausalitätsmodell der Machtanalyse. Sie verletzen die Sehnsucht nach klar identifizierbaren Schuldigen, sie konterkarieren unsere Vorstellung von einer nachvollziehbaren Schrittfolge und einer erkennbaren Proportionalität der Kräfte. Faktisch zeigt sich die Macht der fünften Gewalt jedoch genau in dieser anderen, so schwer fasslichen Form. Man entdeckt sie in verschlungenen, zirkulär miteinander verflochtenen Wirkungsketten und im energetischen Zusammenspiel unterschiedlichster Kräfte, die selbst geringfügige Anlässe plötzlich zu Großereignissen explodieren lässt. Die Macht der fünften Gewalt ist diffus, asymmetrisch, epidemisch.
Am 20. Dezember 2013 twittert die amerikanische PR-Managerin Justine Sacco, kurz bevor sie in London das Flugzeug Richtung Südafrika besteigt, folgende Sätze – Zitat: "Ich bin auf dem Weg nach Afrika. Hoffentlich bekomme ich kein AIDS. Ich mach nur Spaß. Ich bin weiß." Sie findet, das sei ein ironischer Witz. Sie findet, das sei eigentlich eine Veräppelung der Perspektive eines Weißen in seiner Filterblase der Vorurteile. Sie rechnet nicht damit, dass irgendwer reagiert. Justine Sacco hat 170 Twitter-Follower. Aber ihr Tweet wird auch von einem Autor und Blogger mit Namen Sam Biddle entdeckt, der ihn retweetet. Biddle wiederum hat 15.000 Follower. Sam Biddle fragt sich, wie eine PR-Frau im Ernst solche Sätze schreiben kann. Und dann explodiert die Geschichte, wird zum weltweiten Twitter-Trend, tausende Empörte schalten sich unter dem Hashtag #HasJustineLandedYet zu. Überall auf der Welt greifen Medien die Geschichte auf, von der New York Times bis zur Bild-Zeitung. Ihre PR-Agentur feuert sie.
Das Interessante ist: Eines Tages meldet sich Justine Sacco bei dem Blogger Sam Biddle. Sie will ihn treffen; ganz so wie jemand, der seinem Henker einmal in die Augen sehen möchte. Und schon beim ersten Treffen entschuldigt er sich bei ihr, weil er ihre Karriere zerstört hat und ihr glaubt, dass alles nur ein missglückter Witz war. Das ist natürlich schön, eine gute Geschichte. Aber in dieser Entschuldigung zeigt sich noch etwas anderes, ein typisches, aber eben falsches Denkmuster, nämlich eine irreführende Personalisierung von Netzwerkeffekten.
Wir denken für gewöhnlich linear-kausal und damit viel zu einfach über Macht, Schuld, Ursache und Wirkung nach. Immer geht es um ein Drama rund um eine

einzelne Person, die dann schuldig wird. Immer gibt es den einen Auslöser. Ein Twitterer mit 15.000 Followern ruiniert ein Leben, Schluss, aus, Ende. So erzählen wir Wirkungsgeschichten. Aber das ist falsch. Justine Sacco ist ein Opfer der fünften Gewalt. Und die fünfte Gewalt übt ihre Macht in einer anderen, sehr viel schwerer fasslichen Form aus. Natürlich, es gibt Anlässe; natürlich, es gibt prominente Vermittler. Natürlich, es gibt zentrale Knoten und Konnektoren in einem Netzwerk, wichtige Blogger, aber es braucht eben auch die große Zahl derjenigen, die auf ein Thema anspringen. Und schließlich braucht es die klassischen Massenmedien und den Aufmerksamkeitsexzess im Medienmix, also ein hoch nervöses, hoch reaktionsbereites Zusammenspiel unterschiedlichster Kräfte.
Das heißt: Die Wirkung, die Macht der fünften Gewalt entfaltet sich erst in einem Wirkungsnetz. Sie ist nicht isoliert vorstellbar. Diese neue Form der Macht lebt im Konnektiv der vernetzten Vielen.
Allerdings: Die fünfte Gewalt mag als Ausdruck eines autonomen Publikumswillens erscheinen, als direkte Verkörperung von Volkes Stimme, aber das stimmt längst nicht immer. Diese neue Macht ist selbst manipulierbar und korrumpierbar, sie wirkt unabhängig, aber das muss nicht so sein. Denn es ist längst bekannt und dokumentiert, dass man PR-Söldner in die sozialen Netzwerke schicken, Fans und Follower ohne großen finanziellen Aufwand kaufen und gefakte Accounts anlegen kann, um den Schlachtruf zu verkünden: "Wir sind viele. Und wir kommen von unten. Schaut her, die Masse protestiert!"
Ryan Holiday, PR-Berater aus den USA, beschreibt solche Mechanismen der Manipulation im Detail in seinem Buch Trust me, I’m lying. Es sind die Bekenntnisse eines Medien-Manipulators, der Empörung gezielt anheizt und auslöst. Prominente Blogs sind für ihn – so schreibt er – lediglich "Brückenköpfe zur Erzeugung von Nachrichten". Man nehme ein paar interne Sitzungsprotokolle, kennzeichne sie als geheim, schicke sie an Blogger, die diese dann als exklusive News veröffentlichen, schreibe unter Pseudonym Kommentare, erzeuge künstlich Traffic und mache die klassischen Massenmedien auf die gewünschten Themen aufmerksam. "Aufwärts verkaufen" nennt Holiday diese Strategie: Fake-Personen können so Fake-Scoops zur Netz-Veröffentlichung bringen, um dann schließlich "echte" Artikel in den etablierten Medien auszulösen.
Damit stellt sich grundsätzlich die Frage, wer eigentlich spricht, wenn scheinbar die Masse online die Stimme erhebt. Denn es lässt sich gar nicht unmittelbar erkennen, ob die Aufgebrachten repräsentativ sind und ob die vermeintlich authentisch-unmittelbare Publikumsempörung im Extremfall nicht gerade von interessierter Seite simuliert wird. Das entsprechende Instrument aus dem Baukasten moderner Propaganda heißt Astroturfing. Astroturf ist ein in den USA verwendeter Kunstrasen. Astroturfing besagt, dass man entsprechend instruierte Graswurzelbewegungen und scheinbar unabhängige Netzkommentatoren gezielt zur Manipulation der digitalen Öffentlichkeit einsetzt – Unternehmen und Lobbyorganisationen tun dies, aber auch Parteien und Regierungen. Sie zahlen für Postings, sie fingieren Bewertungen, sie erzeugen bezahlten Meinungsdruck. Ein inzwischen gut dokumentiertes Beispiel sind Putins Trolle, regierungsnahe Blogger und Kommentatoren, die in sozialen Netzwerken und den Foren westlicher Medien gezielt für die russische Seite im Ukraine-Konflikt werben und bei Bedarf Andersdenkende niederbrüllen. Aufmerksamkeits- und Meinungsströme auf verdeckte Weise zu lenken, die

massenmediale Öffentlichkeit über den Umweg der digitalen Gegenöffentlichkeit zu beeinflussen – das ist das Ziel, das hier offenbar wird.
Es bleibt also, auch vor dem Hintergrund einer solchen Manipulationsanfälligkeit, die Frage: Wie ist die neue Machtsphäre einzuschätzen? Muss man die fünfte Gewalt verdammen und prinzipiell verdächtigen, muss man sie feiern und pauschal als basisdemokratische Bewegung verherrlichen? Als das Time Magazine im Jahre 2006 traditionell den Menschen des Jahres auf dem Cover präsentierte, da druckte man kein Konterfei einer realen Person, sondern das Foto eines Computerbildschirms mit einer reflektierenden, das eigene Gesicht spiegelnden Fläche. Das war eine pfiffige und doch prophetische Idee, eine visionäre Spielerei. Die Botschaft: Schau her, da bist Du selbst, fähig zu publizieren und zu protestieren, eigene Themen zu setzen und die öffentliche Agenda zu bestimmen. "Es geht darum", so begründete das Magazin die Wahl des digital vernetzten Individuums zur Person des Jahres, "dass die vielen den wenigen die Macht entreißen" und ein Zeitalter der digitalen Demokratie, der universalen Beteiligung und der wechselseitigen Unterstützung beginne. So heiter, so gelassen und utopisch-fröhlich kann man die Dinge im Jahre 2016 nicht mehr sehen! Heute, ein Jahrzehnt später, muss man konstatieren: Als das Time Magazine das vernetzte Individuum zum Menschen des Jahres hochjubelte, da war dies ein aufschlussreicher Gag in anderen Zeiten.
Heute verwandelt sich die einst von publizistischen Großmächten regierte Mediendemokratie allmählich in die Empörungsdemokratie des digitalen Zeitalters. Macht verstreut sich, sie verliert ihr institutionelles Zentrum – und bleibt doch angreifbar, manipulationsanfällig und in der Gesamtbetrachtung ambivalent. Es ist, ohne Zweifel, die Stunde der vernetzten Vielen, die großartige Enthüllungen und wichtige Recherchehinweise liefern, aber eben auch kleingeistige Attacken.
Offen und ungeklärt ist jedoch, wie sich die fünfte Gewalt, wie sich das mächtig gewordene Medienpublikum – ohne institutionelle Anbindung, ohne feste Adresse, ohne verantwortungsethische Erreichbarkeit, wie sie ja der klassische Journalismus besitzt – gleichsam selbst zivilisieren kann? Auf welche Weise verhindert man, dass ideologische Parallelrealitäten und bizarre Bestätigungsmilieus entstehen, die einer offenen Gesellschaft insgesamt gefährlich werden können? Und wer entscheidet in den Zeiten des radikalen Pluralismus überhaupt, was als sinnvoll durchgehen kann und was als gemeines Spektakel gelten muss? Wer zivilisiert die fünfte Gewalt, ohne dabei schrecklich verspannt aufzutreten und im Extremfall ins Diktatorische abzugleiten? Braucht es den Zwang? Oder reicht die Debatte, das große Gespräch der Gesellschaft und die gemeinsame Bildungsanstrengung? Das sind fundamentale, schillernde, das eigene Menschenbild berührende Fragen. Und man muss heute und für den Moment – ohne falschen Pessimismus oder übertriebenen Optimismus – festhalten: Diese Fragen bleiben. Es gibt keine Bilanz, kein letztgültiges Fazit. Ob sich die Öffentlichkeit in eine Sphäre des Spektakels verwandelt oder in eine Welt der wechselseitigen Ermutigung und des Arguments, hängt von allen ab, die senden, posten, publizieren und sich mit den neuen Möglichkeiten und Medien vernetzen und verbünden. Das ist der Schrecken und die Schönheit der Gegenwart, der digitalen Zeit.
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Bernhard Pörksen, 46 ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zu Bernhard Pörksens Forschungsschwerpunkten und zentralen Themengebieten gehören: der Medienwandel im digitalen Zeitalter, Krisen- und Reputationsmanagement, Kommunikationsmodelle und Kommunikationstheorien, Inszenierungsstile in Politik und Medien und die Dynamik von Skandalen als Spiegel aktueller Wertedebatten. Dieser Aula-Beitrag basiert auf Vorträgen (u.a. auf der Netzkonferenz re:publica) sowie Cicero- und Zeit-Artikeln des Autors zum Thema.
Bücher (Auswahl):
- Die Beobachtung des Beobachters. Eine Erkenntnistheorie der Journalistik. Carl-Auer-Systeme. 2015.
- Kommunikation als Lebenskunst (zus. mit Friedemann Schulz von Thun). Auer-Verlag. 2014.
- Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter. Herbert von Halem Verlag. 2012.

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