Prof. Günter G. Voß : Ohne Lohn - der arbeitende Kunde - ( u.v.a. im Web 2.0

SWR2 Wissen: Aula -
Abschrift eines frei gehaltenen Vortrags. Anmerkung :( kultur-punkt)
Ohne Lohn – der arbeitende Kunde
Autor und Sprecher: Professor G. Günter Voß *
Redaktion: Ralf Caspary
Erst-Sendung: Sonntag, 1. Mai 2011, 8.30 Uhr, SWR2
Wiederholung: Dienstag, 1. Mai 2012, 8.30 Uhr, SWR2
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ÜBERBLICK
Sie sitzen an Ihrem PC und stellen sich bei einer Firma Ihren Traumschuh zusammen: Farbe, Größe, Form, eventuelle Muster - das alles können Sie selbstständig bestimmen. Oder Sie werden via PC von einer anderen Firma dazu aufgefordert, bestimmte Produkte zu beurteilen und eventuell zu verbessern. Beide Beispiele zeigen nicht nur die schöne neue digitale Konsumwelt, sondern auch, welche Gefahren diese Welt mit sich bringt. Sie als Konsument leisten nämlich in den genannten Fällen für bestimmte Firmen unbezahlte Arbeit. Und das ist ein Problem. Professor Günter Voß, Industrie- und Techniksoziologe an der TU Chemnitz, zeigt die Ursachen und Wirkungen dieser Entwicklung. (Produktion 2011)

Autor
Gerd-Günter Voß studierte Soziologie (mit Psychologie und Politischer Wissenschaft) an der Universität München und ist seit 1994 Professor an der Universität Chemnitz. Er leitet dort die Professur Industrie- und Techniksoziologie. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind u. a.: Wandel des Verhältnisses von Produktion und Konsumtion; neue Formen des (technisch vermittelten) betrieblichen Zugriffs auf private Arbeit und Kompetenzen ("Arbeitende Kunden"), vor allem auf Basis 'neuer Medien', wie etwa den web2.0; Wandel des Verhältnisses von Arbeit und Leben, Beruf und Familie ("Lebensführung").
Bücher (Auswahl):
Wie Surfen zu Arbeit wird. Crowdsourcing im Web 2.0. (zus. mit Christian Papsdorf). Campus-Verlag. 2010.
Der arbeitende Kunde. Wenn Konsumenten zu unbezahlten Mitarbeitern werden (zus. mit Kerstin Rieder). Campus-Verlag. 2005.

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INHALT
Das ist ein Wunschtraum der Unternehmen: Sie haben lauter Kunden, die für sie Arbeit verrichten, die man nicht bezahlen muss. Diese Kunden designen sich zum Beispiel selbst die Produkte, die sie kaufen wollen, Taschen, Schuhe, T-Shirts etc.; oder diese Kunden versorgen die Firma mit neuen Ideen in Bezug auf Werbestrategien.
Der Trend ist seit langem zu bemerken, er hat einen neuen Kick durch das Internet erfahren, vor allem durch das neue Web 2.0. Günter G. Voß ist Professor für Industrie- und Techniksoziologie an der TU-Chemnitz, und er beschäftigt sich mit neuen Formen unbezahlter und quasi auch unsichtbarer Kundenarbeit im Internet. In der SWR2 Aula beschreibt Voß diese Formen und erklärt, warum das ein gefährlicher Trend ist.
Günter Voß:
Mein Thema ist, dass es im Web 2.0 in einer zunehmenden Weise neue Formen von Arbeit gibt, die nicht Erwerbsarbeit ist, sondern informell und nicht reguliert – und vor allen Dingen, die nicht bezahlt wird. Bevor ich darauf näher eingehe, möchte ich darauf hinweisen, dass dieses neue Internet oder Web 2.0 auch eine Sphäre von erwerbsförmiger Arbeit ist. Alle möglichen Selbstständigen sind präsent im Internet, es gibt, glaube ich, keinen Arzt, Handwerker oder Anwalt, der nicht eine Web-Seite hat. Es entstehen ganz neue Typen von Selbstständigen, die nur im Internet unterwegs sind: Übersetzer, Designer, Journalisten, Händler, die etwa auf Ebay einen eigenen Shop haben und etwas verkaufen.
Es entstehen auch noch ganz neue Formen von Selbstständigen, nämlich solche, deren Geschäftsmodell ausschließlich über das World Wide Web funktioniert, die ganz besondere Produkte anbieten. Das könnte eine Web-Seite sein, die Informationen über den Sicherheitsstandard von Airlines verbreitet (gleichzeitig aber Werbung der Airlines aufnimmt, worüber man noch einmal gesondert nachdenken kann); oder wenn jemand seine privaten Fotos als semiprofessioneller Hobby-Fotograf ins Netz stellt und glaubt, sie vermarkten zu können – was tatsächlich gelegentlich funktioniert; oder wenn jemand wie ich seine alten Bücher im Internet verkauft; oder wenn jemand eine Seite entwickelt, die berühmt geworden ist für die individuelle Gestaltung von T-Shirts und damit ziemlich viel Geld verdient.
Das sind neue Geschäftsmodelle, die eigentlich nur im Internet funktionieren. Und es gibt noch eine neue Erwerbsform, nämlich Internet-Tagelöhner oder Mini-Jobber. Das sind zum Beispiel Personen, die von großen Unternehmen den Auftrag bekommen, minimale Arbeiten zu übernehmen, etwa von einem großen Buchversender die Bilder in den Büchern zu verschlagworten, weil das eine Software noch nicht übernehmen kann. Für jedes Stichwort bzw. jedes Schlagwort, das sie eingeben, bekommen sie eine Minimalbezahlung (Micro-Pay). Man nennt diese Menschen Klick-Worker oder Micro-Tasker. Inzwischen gibt es große Internet-Portale, die nur diese Form von Mini-Jobs verteilen und vermarkten.
Aber wie gesagt, ich will eigentlich gar nicht über die Erwerbsarbeit reden, sondern über die andere Arbeit im Internet – die informelle, nicht sichtbare, die unbezahlte Arbeit. Ich behaupte, dass das eine wichtige Entwicklung ist, sie wird, so meine ich, breiteste Folgen haben und ist deshalb nicht zu unterschätzen. Hier entsteht eine ganz neue Sphäre, eine ganz neue Qualität gesellschaftlicher Arbeit von großer Dynamik. Und wir sind mitten in dieser Entwicklung beziehungsweise ich glaube fast, wir sind erst am Anfang dieser Entwicklung. Ich werde einige Beispiele nennen, um die Dimension zu verdeutlichen.
Ich möchte vier Felder dieser neuen Arbeit unterscheiden und lehne mich damit einigen Kategorien an, die in der Soziologie der Arbeit – das ist mein wissenschaftliches Fach – durchaus gängig sind.
Das erste Feld ist eine neue Form von Freiwilligen-Arbeit im Internet, manche würden vielleicht auch von ehrenamtlicher Arbeit sprechen, was hier aber nicht so ganz passt. Die berühmteste Form ist die so genannte Wiki-Bewegung. Die ist den meisten Internet-Usern bekannt, gemeint ist die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Hier nehmen viele User die Aufgabe auf sich, ganze Artikel zu schreiben oder Artikel zu überarbeiten. Das ist eine sehr aufwändige, kollaborative und kooperative Arbeit von vielen Menschen, oft Laien, die viel Mühe investieren, aber dafür nichts bekommen außer der Ehre, daran beteiligt zu sein. Eine Variante der Wiki-Bewegung ist die so genannte Open-Source-Bewegung. Das sind mehr oder weniger etablierte Programmierer, die an Software arbeiten, Betriebssysteme entwickeln, allen voran das berühmte Linux, ein Hauptkonkurrent des Marktführers.
Es haben sich eine Fülle von Selbsthilfeaktivitäten und Selbsthilfenetzwerken im Internet gebildet zu allen möglichen Themen. Um es ein bisschen ironisch zu sagen: das geht von Blinddarm bis Backrezept, von Hundehaltungen bis zu Ratschlägen für den Hausbau. Daneben gibt es Tauschbörsen für eigentlich alles, unter anderem Tauschbörsen für soziale Kontakte, nämlich Partner-Tauschbörsen aller Art, mehr oder weniger solide oder seriös. Es gibt eine große Sphäre von Aktivitäten, die sich mit Kultur und Politik beschäftigen. Das ist der Bereich von aktiven Bürgern, den sogenannten Bloggern oder Twitterern. Ich bin selber aktiver Twitterer. Das sind Menschen, die sich öffentlich äußern wollen zu allen möglichen Themen, so genannte Bürger-Journalisten (citizen journalists).
Berühmt ist auch der Wiki-Plug, das ist die Wiki-Seite, wo viele Menschen kollaborativ die Dissertation eines berühmten Politikers auseinander genommen haben. Wie man weiß, waren sie sehr erfolgreich damit. Und auch aktuell ist immer noch das kollektive Strahlenmess-System in Japan rund um Fukushima, das entstanden ist, weil die japanische Regierung nicht in der Lage ist, ihre Bürger mit angemessenen Daten über die Verstrahlung ihrer Wohngebiete zu versorgen.
Ein weiteres Beispiel sind die citizen scientists: Bürger, die als Wissenschaftler arbeiten. Entstanden ist diese Idee bei der Nasa, die eine große Anzahl von Aufnahmen wahrscheinlich von irgendwelchen Sternen und kosmischen Erscheinungen hatte, aber nicht genügend Gelegenheiten, diese auszuwerten. So hat die Nasa die Bilder kurzerhand ins Internet gestellt und vergibt kleine Aufträge an interessierte Bürger, vielleicht Krater zu vermessen oder Krater zu suchen oder
Ähnliches. Bezahlt werden die Menschen nicht, sie sind einfach nur stolz darauf, am großen Geschäft der Wissenschaft beteiligt zu sein. (click-worker)
Ein letztes, ganz aktuelles Beispiel: Etliche Museen haben Dinge in ihren Befunden, von denen sie nicht genau wissen, was diese Dinge darstellen oder symbolisieren. Sie stellen die Bilder ins Netz und fragen: „Wisst Ihr, was das ist? Das ist ein seltsames Instrument, wir haben es in unserem Technikfundus, aber wir wissen nicht, was es ist.“ Und das scheint zu funktionieren.
Es gibt also eine große, unüberschaubare, vielfältige und irgendwie auch amüsante und gesellschaftlich nützliche Sphäre von Arbeit, die die meisten gar nicht als Arbeit wahrnehmen, die nicht bezahlt wird, die aber eine große gesellschaftliche Bedeutung hat. Das sind alles freiwillige Tätigkeiten im Internet in unterschiedlichsten Ausmaßen.
Eine zweite Sphäre würde ich Eigenarbeit im Internet nennen, also eine Arbeit, die man für sich macht und nicht wie im Beispiel vorher für irgendwelche gesellschaftlichen Bedürfnisse. Wir alle, die wir im Internet unterwegs sind, beschaffen uns fast selbstredend Informationen im Internet über Dinge, die uns interessieren oder betreffen, sei es eine Krankheit oder ein Artikel, den wir kaufen wollen, ein Reise etc. Das haben wir zwar auch vor dem Internet-Zeitalter getan, aber bei weitem nicht in einer solchen Intensität wie heute. Gerade die jüngere Generation geht kaum noch in einen Laden, ohne vorher Preisvergleiche im Internet angestellt zu haben. Man findet Partner im Internet, man pflegt seine Freundschaften, entwickelt neue Freundschaften und macht das, was Soziologen schlicht Beziehungsarbeit nennen. Das ist die Sphäre der klassischen social networks: Facebook, StudiVZ, Xing und vieles andere mehr.
Und natürlich ist das Internet eine Sphäre der Selbstdarstellung. Das meine ich gar nicht mal nur negativ. Fast jeder Profi braucht eine eigene Website als Teil der Selbstvermarktung. Ein paar Zahlen zu Facebook, um die Dimension zu verdeutlichen: Facebook hat 700 Millionen Mitglieder, der tägliche Zuwachs beträgt eine Million neuer Mitglieder. Innerhalb von 20 Minuten werden drei Millionen Fotos werden hochgeladen. Facebooks Top-Seite ist die eines großen Softdrinks-Anbieters, nämlich Coca-Cola, mit 24 Millionen sogenannten „Freunden“. Im Jahr 2010 wurden auf Youtube 13 Millionen Stunden Video hochgeladen und 700 Milliarden Videos angeschaut. Das sind keine Peanuts, das sind gigantische Ausmaße.
Eine dritte Sphäre sind die arbeitenden Kunden im Internet, und jetzt wird es ökonomisch spannend. Das sind Kunden, die Arbeiten im Internet verrichten, die nicht nur zu ihrem eigenen Nutzen, sondern auch zum Nutzen der Unternehmen sind. Sie arbeiten den Unternehmen zu. Hier möchte ich zwei Formen unterscheiden. Die erste Form ist eine erweiterte Selbstbedienung. Selbstbedienung gibt es schon seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als man begann, sich die gewünschten Artikel selbst aus dem Regal zu nehmen. Inzwischen hat das neue Formen angenommen. Es ist inzwischen fast normal, dass wir, nämlich 27 Millionen Deutsche, Online-Banking betreiben, dass wir Bahntickets online kaufen, 31 Millionen Deutsche tun das in einem Jahr. Wir betreiben Online-Shopping, viele Menschen kaufen nur noch über das Internet. Der größte Online-Versand von
Büchern vermarktet inzwischen alles Mögliche von Schrauben bis Unterhosen – und natürlich auch Bücher. Alle, die sich im Internet bewegen, wissen, wie mühsam es sein kann, sich eine Software selbst zu installieren und immer wieder zu aktualisieren und dass das ständig schiefgeht. Selbst wenn wir eine Hardware installieren, müssen wir ins Internet gehen. Wenn wir einen Kühlschrank kaufen, müssen wir ihn vorher online prüfen, und wahrscheinlich wird er sogar irgendwann online vernetzt. Das ist viel Arbeit, die wir erbringen müssen, denn es ist niemand mehr da, der uns berät. Man kann ja mal versuchen, eine Hotline anzurufen, um Hilfe zu erbitten – meistens kommt man da nicht durch.
Daneben müssen wir noch Selbstberatung betreiben, denn auch professionelle Beratung ist selten geworden. Handbücher, die wir bekommen, sind oft kaum zu verstehen, so dass sie meist in der Ecke landen. Ich denke, das ist bei den meisten Menschen so.
Hervorheben möchte ich nun das Mass-Customization, eine eigenartige Wortschöpfung. Unter Mass-Customization versteht man ein Produkt, dass zwar ein Massenprodukt ist, es wird jedoch individuell konfiguriert. Ich kann mir wie schon erwähnt ein T-Shirt nach meinen persönlichen Wünschen erstellen lassen, ich kann mir ein Müesli oder eine Schokolade zusammen basteln und dabei unter den verschiedensten Zutaten, mitunter ganz absurden Zutaten wählen und sie, individuell verpackt, meiner Frau schenken. Ich kann mir Schuhe designen lassen und ich kann mir sogar, was ich mir gar nicht vorstellen kann, ein individuelles Parfum mischen lassen. Im Internet finde ich ein Tool dafür, es gibt 20 Ingredienzen, ich stelle mir meinen eigenen Duft zusammen und der wird zu mir nach Hause geliefert in einem Flakon, den ich mir auch gestalten kann. Das ist Mass-Customization. Dass ich mein Auto maß-konfigurieren kann, ist fast schon selbstverständlich. Das ist wunderbar! Ich bekomme meine ganz eigene Schokolade – die Arbeit erledige aber ich. Nebenbei freut sich das Unternehmen sehr, wenn ich ein neues interessantes Rezept entwickele, das es gesondert vermarkten kann.
Ein zweites, ökonomisch äußerst interessantes Feld möchte ich hervorheben, bei dem es um viel Geld geht. Es geht um Kunden, die Arbeiten im Internet nicht für sich selbst ausführen im Sinne von Selbstbedienung, sondern sie arbeiten Unternehmen zu. Die Unternehmen fahren dadurch mitunter immense Gewinne ein – wenn das Geschäftsmodell funktioniert, was nicht immer der Fall ist. Auf den ersten Blick wirken diese Arbeiten jedenfalls harmlos:
Wir alle haben uns daran gewöhnt, dass wir nach einem Kauf im Internet Rückmeldungen abgeben, in Form von Sternchen, die wir vergeben, Kommentare und Bewertungen, die wir hinterlassen. Damit sind wir Teil der betrieblichen Qualitätskontrolle. Das hat eine hohe Bedeutung für Unternehmen, denn bisher mussten sie das selbst erledigen, jetzt haben ihre Kunden das übernommen. Für jeden Einzelnen ist das nur ein kleiner Schritt, für das Unternehmen hat das eine große Bedeutung.
Aber es geht weiter: Kunden entwickeln an ganz vielen Stellen Ideen. Systematisch wird versucht, Ideen der Kunden für alles Mögliche abzurufen. Große Kampagnen sind damit berühmt geworden, zum Beispiel „Starbucks Idea“. Starbucks hat weltweit dazu aufgerufen, Ideen für die Gestaltung ihrer Angebote zu machen. Und es hat
funktioniert: Tausende von Design-Ideen gingen ein, die Starbucks auswerten konnte. Gekostet hat das das Unternehmen erst mal fast nichts. Dell hat das nachgeahmt, in Deutschland macht es Tchibo, Lego lässt von Vätern neue Lego-Schachteln entwickeln und vermarktet das.
Das sind Produktideen von größter Bedeutung, weil sie direkt vom Kunden kommen und nichts kosten. Sogar gesamte Inhalte von Unternehmen werden von Kunden entworfen und geliefert. Wir hatten schon Youtube angesprochen. Youtube lebt von nichts anderem als von den Inhalten, die die Konsumenten oder User produzieren, und verdient damit eine Menge Geld. Man nennt das user generated content (nutzergenerierter Inhalt), eine gängige Formulierung für ganz viele Anbieter im Internet. Dazu gehören zum Beispiel auch Ebay und Facebook, letztere Firma lebt nur davon, dass Millionen Menschen Inhalte einstellen, und dieses Portal versucht damit, Geld zu verdienen.
Auch konventionelle Medien greifen darauf zurück, dass die Menschen, die Zuhörer, Zuschauer und Leser sich an allen möglichen Diskussionen beteiligen, im Internet ihre Meinung hinterlassen und Kommentare abgeben. Das macht inzwischen einen großen Teil der Print-Journale aus.
Es gibt eine Fülle von Beratungs- und Info-Seiten, von Bewertungsseiten für fast jedes Produkt, aber auch für Lebensfragen aller Art, zum Beispiel die Seite „Frag Oma“. Diese Seite funktioniert so, dass ein Nutzer eine Frage stellt, vielleicht wie ein bestimmter Fleck aus meiner Hose entfernt werden kann, und ein anderer User hat möglicherweise eine Antwort darauf. Dieses Angebot besteht ausschließlich aus Fragen und Antworten der Nutzer.
Ein wichtiger Begriff an dieser Stelle ist das sogenannte Crowdsourcing. Dieser Begriff ist abgeleitet von dem Wort Outsourcing, das besagt, dass eine Firma Aufgaben nicht selbst erledigt, sondern sie woanders einkauft. Crowdsourcing ist ein tausendfach genutztes Mittel im Internet, es geht darum, Möglichkeiten zu finden, wie User dazu gebracht werden können, etwas zu generieren, das vermarktet werden kann. Dabei geht es um viel Geld. Und das sind Portale, die nur funktionieren, weil User etwas hochladen.
Die Geschichte weitet sich aus. Inzwischen gibt es das E-Government. Bürger werden an vielen Stellen aufgefordert, über das Internet alle möglichen Dinge selbst zu erledigen. Bekanntes Beispiel ist die elektronische Steuererklärung Elster, die wir in Zukunft alle selbst machen müssen und dabei nicht nur unsere Daten eintragen müssen, sondern wir müssen auch selbst kontrollieren, ob die Berechnungen stimmen. Sie werden, abgesehen von Stichproben, nicht mehr überprüft. Ich muss also selbst die Berechnungen nachvollziehen und trage entsprechend die Verantwortung für die Richtigkeit meiner Steuererklärung, nicht mehr der Bearbeiter im Finanzamt. Ähnlich funktionieren viele Bereiche: die Gewerbeanmeldung, Fahrzeuganmeldung, vielleicht irgendwann sogar die Anmeldung eines neugeborenen Kindes. Außerdem gibt es die Möglichkeit, im Internet Strafanzeige zu stellen. Bürger erbringen aktiv Leistung, manchmal sogar als Hilfspolizisten. Bei uns ist das noch nicht so gängig, aber die US-Border-Patrol an der Grenze zu Mexiko hat überall Videokameras aufgestellt, im Internet kann man die Videos buchen und dann damit auf Fang gehen und Leute melden, die dann von der US-Border-Patrol
festgenommen werden. Das mag uns außergewöhnlich erscheinen, ist aber ein Vorgeschmack auf das, was uns noch passieren kann.
Bürgermeister starten Umfragen, um ihre Bürger zu befragen, ob das örtliche Schwimmbad geschlossen werden soll oder nicht, weil die Kommune kein Geld mehr hat. Die Obama-Regierung ist berühmt dafür, dass sie systematisch ihre Bürger befragt, nicht nur um Meinungen herauszufinden, sondern auch um Ideen zu bekommen, was man anders machen kann, vor allen Dingen, wo man Einsparungen vornehmen kann.
Manche Kommunen betreiben ein sogenanntes crowdfunding. Darunter versteht man das Besorgen von Kapital über die Masse von Usern. Ein Fußballclub hat Fans dazu aufgefordert, kleine Summen zu spenden, um eine interessante Mannschaft zusammen zu stellen. Im Gegenzug dürfen sich die Fans an der Mannschaftsaufstellung beteiligen.
Ein weiterer Begriff ist E-health. Zunehmend werden im Medizinbereich Kosten auf Patienten abgewälzt. E-health oder Tele-Medizin sind Stichworte dazu. Das ist eine ambivalente Angelegenheit. Jeder ist froh, wenn die Oma ein Gerät bekommt, das ihren Blutdruck misst, die Werte werden ins Internet gestellt und der Arzt kann, wenn nötig, schnell reagieren. Inzwischen verlangen Krankenkassen in anderen Ländern, dass man erst übers Internet sich mit einem Experten bespricht, bevor man einen realen Arzt aufsuchen darf. Der Experte stellt eine Ferndiagnose und macht eventuell eine Fernbehandlung. Wenn das Internet dazu genutzt wird, dass ich zuerst eine Selbstdiagnose stellen muss, dann wird es gefährlich.
Aber immerhin: Jährlich kontaktieren 15 Millionen Deutsche regelmäßig Gesundheitsportale aller Art, um sich zu informieren. Das sind Portale wie netdoktor.de, sprechzimmer.de oder netgate.ch mit dem besonderen Angebot „doc around the clock“, was bedeutet, „unser Arzt ist immer für Sie da“. Ich finde das gar nicht so schlecht. Aber schauen Sie sich mal medgle.com an, dort können Sie Symptome eingeben und bekommen einen Diagnose-Vorschlag – und natürlich Werbung, welche Medikamente Sie benutzen können. Spätestens bei solchen Beispielen wird es unseriös.
Auch der Bildungsbereich ist ins Internet gewandert. Ein Stichwort dazu ist E-Learning. Ich warte schon darauf, wann es die ersten virtuellen Professoren gibt und ich meinen Job verliere. Virtuelle Universitäten gibt es, das muss ja nicht schlecht sein, die Konsequenz ist trotzdem, dass die Studierenden immer mehr Arbeit machen müssen.
Und noch etwas Absurdes: Es gibt auch E-Churches. Gehen Sie mal auf beichte.de. Dort können Sie online eine Beichte ablegen mit Glockengeläut, Weihrauch können Sie zwar noch nicht riechen, aber – man ahnt es schon – Sie bekommen auch online eine Absolution, natürlich mit der Auflage, drei Vater Unser zu beten.
Erste Frage: Was steckt eigentlich dahinter, wer sind die Akteure und was sind ihre Interessen? Zum einen sind es natürlich – ich denke, das ist deutlich geworden – die Organisationen oder Unternehmen, die schlicht ihre Kosten senken, denen es aber auch über Crowdsourcing gelingt, produktive Leistungen ihrer Nutzer, also ihrer
Kunden, Patienten etc., abzurufen und direkt in ihre Wertschöpfung einzuspeisen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass die Dinge, die die Kunden machen, verbunden sind mit Werbeauftritten oder dem Abzocken von Daten aller Art. Damit werden Millionen-Gewinne gemacht. Das betriebswirtschaftliche Stichwort der Wertschöpfungspartner, dass nämlich der Kunde oder User neuerdings ein Partner des Betriebes bei der Herstellung von Gewinn ist, ist ein Euphemismus, denn das sind keine Partner auf gleicher Augenhöhe.
Warum machen die User das mit? An vielen Stellen haben sie gar keine andere Wahl. Sie können ja mal versuchen, eine Bank zu finden, die noch einen Schalter hat. Wenn Sie Ihr Bahnticket am Schalter kaufen, müssen Sie einen Aufschlag bezahlen gegenüber dem Online-Ticket. Manchmal hat man online tatsächlich einen kleinen Preisvorteil, aber Sie ahnen es, sobald sich das Online-Verfahren etabliert hat, werden die Preise angehoben. Nicht selten ist es aber auch so, dass Online-Arbeiten Spaß machen – wenn man es kann und es funktioniert. Manchmal spart man auch Zeit oder Aufwand. An vielen Stellen hat man sich aber schlicht daran gewöhnt wie zum Beispiel beim Online-Banking. Wir machen es, obwohl wir es stressig finden. Und wenn man sich auskennt, kann man vielleicht die eine Bank gegen die andere ausspielen, um zum Beispiel höhere Zinsen zu bekommen oder bessere Konditionen für den Kredit.
Nicht zuletzt gibt es eine neue Generation von jungen Menschen, die ins Internetzeitalter hineingewachsen ist und die es gar nicht anders kennt, die es völlig selbstverständlich findet, dass wir überall im Internet die Arbeit machen.
Eine letzte Bemerkung zum Thema Arbeitsgesellschaft, mit dem ich angefangen habe. Über das Internet wird die Arbeitsgesellschaft ausgeweitet. Es entsteht eine ganz neue Form von Gesellschaft, die systematisch auf Selbsterledigung umgestellt wird. Und diese Selbsterledigung bedeutet in jeglicher Hinsicht Arbeit, eine Arbeit, die in fast allen gesellschaftlichen Sphären ausgeführt wird. Ein paar absurde Beispiele hatte ich ja genannt.
Die berühmte Informations- und Wissensgesellschaft basiert in diesem Sinne auf zunehmend aktiven, produktiven und damit auch arbeitenden Menschen, wobei es sich nicht mehr nur um Erwerbsarbeit handelt, sondern um neue, sehr intensive, anstrengende, Qualifikation erfordernde private Arbeit im Internet. Dies hat eine Menge von Folgen, und ich will das nicht nur so beschreiben, dass das von Elend wäre, denn wer es hinbekommt, hat große Vorteile. Aber wir müssen natürlich fragen, wer bekommt es nicht hin? Was ist mit denen, die die Qualifikationen nicht haben? Was ist mit denen, die die entsprechenden Ressourcen nicht haben? Man muss ja immer die neueste Generation von Hard- und Software haben, ich denke, alle zwei bis drei Jahre muss man einen Austausch vornehmen, das kostet ziemlich viel Geld. Das können sich viele Leute nicht leisten. Und ich würde sagen, die sind eher Verlierer dieser Prozesse.
Die neue Arbeit im Internet beinhaltet auch eine philosophische Frage: Was ist dann eigentlich Arbeit in der Gesellschaft? Ich würde sagen, es gibt wahrscheinlich keine einheitliche Definition, sondern es gibt unendlich viele Formen von Arbeit in der Gesellschaft. Und wir fangen an, das zu begreifen. Das macht den Begriff Arbeitsgesellschaft noch einmal in ganz neuer Weise relevant.
Nicht zuletzt ist, und damit möchte ich schließen, auch die Politik gefragt; all das, was ich eben beschrieben habe, muss möglicherweise an der einen oder anderen Stelle reguliert werden, und damit meine ich nicht nur den Datenschutz. Sondern es stellt sich die Frage, ob viele Prozesse nicht schlichtweg begrenzt oder zumindest gestaltet werden müssen. Das Stichwort der Netzwerkpolitik, das ganz aktuell überall diskutiert wird, meint nicht nur, dass alle User freien Zugang zu allen Inhalten bekommen sollen, sondern dass die Politik ein Stück weit Verantwortung übernehmen muss. Denn wer vertritt die Interessen der User, die im Internet arbeiten? Die Gewerkschaften sind es nicht, die Verbraucherschützer sind es auch nicht. Es haben sich übrigens die ersten Internet-Gewerkschaften gebildet, in denen Leute, die im Internet arbeiten, etwa Entwickler von Androids oder Apps, versuchen, sich international zu organisieren. Es muss also etwas passieren, damit diese Arbeitenden in irgendeiner Weise geschützt oder zumindest ihre Interessen artikuliert werden.
Es ist auch eine Aufgabe für jeden persönlich, sich selbst zu schützen. Das müssen wir neu lernen. Vielleicht müssen wir lernen, nicht nur abzuschalten, sondern einfach mal auszuschalten – Internetabstinenz oder World Wide Web-Fasten an einem Tag in der Woche, das ist ein guter Weg. Ich kann Ihnen versichern, ich versuche das und es gelingt mir so gut wie nicht. Aber ich weiß, wie wichtig das wäre. Und vielleicht müssten wir lernen, die schöne alte analoge Welt, den ganz praktischen Alltag wieder neu zu schätzen und uns dessen Qualitäten wieder in Erinnerung zu rufen.
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