SWR2 Wissen: Aula Thomas Metzinger: Das Rätsel der negativen Emotionen .Über tierisches und menschliches Leiden
Diskurs SWR2-Kooperation
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Leiden (T. Metzinger)
SWR2 Wissen: Aula Thomas Metzinger: Das Rätsel der negativen Emotionen .Über tierisches und menschliches Leiden
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Sendung: Pfingstmontag, 05. Juni 2017, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2017
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
AUTOR
Prof. Dr. Thomas Metzinger, geboren 1958, Studium der Philosophie, Ethnologie und Religionswissenschaften in Frankfurt am Main, 1992 Habilitation im Fach Philosophie, er ist heute Leiter des Arbeitsbereich Theoretische Philosophie und der Forschungsstelle Neuroethik/Neurophilosophie an der Universität Mainz und Direktor der Mind Group, ein Zusammenschluss von Philosophen, die sich mit den Themen Geist, Bewusstsein und Kognition auseinandersetzen. Forschungsschwerpunkte: Analytische Philosophie des Geistes, Philosophie der Kognitionswissenschaft, Philosophische Probleme der Neurowissenschaften, Angewandte Ethik.
Bücher (Auswahl):
- Der Ego-Tunnel: Eine neue Philosophie des Selbst. (zus. mit Thorsten Schmidt), Piper-Taschenbuch, 2014.
- Grundkurs Philosophie des Geistes, Band 1 – 3, mentis-Verlag 2009-2013.
ÜBEBLICK
Viele Wissenschaftler und Philosophen nehmen das Leiden ganz automatisch als ein unattraktives Forschungsthema wahr, so dass es großen Forschungs- und Analysebedarf gibt, der weitreichende gesellschaftliche und ethische Konsequenzen haben könnte. Wenn die Wissenschaft zum Beispiel zweifelsfrei nachweisen könnte, dass Tiere, die wir jetzt noch bedenkenlos töten, um sie zu essen, im Ansatz so etwas wie ein phänomenales Selbstmodell besäßen, also eine Innenperspektive samt dazugehörigem Selbst-Gefühl, wenn sie also ähnlich wie Menschen Schmerz oder Todesangst empfinden könnten, dann wäre unser Handeln ethisch nicht mehr nachzuvollziehen. Doch wir brauchen, um dieses Problem zu lösen, wesentlich mehr empirische Daten und vor allem begriffliche Klarheit. Was wären die notwendigen Bedingungen dafür, dass ein Wesen die Fähigkeit zu leiden besitzt? Wie kann man sie definieren und was für ethische Konsequenzen hätte das? Thomas Metzinger, Professor für Philosophie an der Universität Mainz, erläutert seine Ansätze.
INHALT
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Ansage:
Mit dem Thema: "Das Rätsel der negativen Emotionen – Über tierisches und menschliches Leiden".
Was wäre, wenn man beweisen könnte, dass Tiere, die wir jetzt noch töten, um sie zu essen, im Ansatz so etwas wie ein phänomenales Selbstmodell besäßen, also eine Innenperspektive samt dazugehörigem Selbstgefühl, dass sie also Schmerz empfinden oder Todesangst haben könnten? Hier gibt es Forschungsbedarf, denn das Leiden ist immer noch ein blinder Fleck für viele Philosophen und Kognitionswissenschaftler, die halten das für gefährliches Terrain, und vielleicht hatte ja Nietzsche Recht, als er sagte: "Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein". Vielleicht ist das Leiden ja so ein Abgrund und wir scheuen uns vor seinem Blick? Im Folgenden beschäftigt sich Thomas Metzinger, Professor für Philosophie an der Uni Mainz, mit diesem Abgrund, er zeigt, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Wesen die Fähigkeit zu leiden besitzt und welche ethischen Konsequenzen daraus folgen:
Thomas Metzinger:
Die Erforschung des menschlichen Bewusstseins hat in den letzten drei Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. Bereits im Jahr 1994 wurde von führenden Bewusstseinsforschern die Association for the Scientific Study of Consciousness gegründet, die im Juni in Peking ihre 21. jährliche Konferenz abhält. Die begriffliche strenge philosophische Analyse des subjektiven Erlebens und anspruchsvolle naturwissenschaftliche Forschungsprogramme, die sich ebenfalls auf das Problem des Bewusstseins richten, haben eine große Renaissance erlebt. Die interdisziplinäre Bewusstseinsforschung erreicht jetzt einen Reifegrad, der es zunehmend nahelegt, die reine Grundlagenforschung schrittweise durch Relevanzkriterien zu ergänzen. Das können wir tun, indem wir vorsichtig und schrittweise beginnen, uns zu fragen, was eigentlich die wirklich wichtigen Aspekte des menschlichen Bewusstseins sind. Zum Beispiel könnten wir einen normativen Kontext einführen und untersuchen, was eigentlich unter ethischer Perspektive relevante Formen des subjektiven Erlebens sind.
In der nächsten halben Stunde möchte ich mich einem einzigen solchen Beispiel zuwenden, nämlich dem bewusst erlebten Leiden. Das bewusst erlebte Leiden ist ein wichtiges Thema, das von der Kognitionswissenschaft und der modernen Philosophie des Geistes fast vollständig ignoriert worden ist. Es ist allem Anschein nach ein blinder Fleck in unserer Selbstwahrnehmung - und das mag vielleicht daran liegen, dass wir alle bestimmten, evolutionär entstandener und tief verankerten Formen der Selbsttäuschung unterliegen. Das könnte ein Grund dafür sein, dass auch Wissenschaftler und Philosophen das Leiden ganz automatisch als ein unattraktives Forschungsthema wahrnehmen, möglicherweise sogar als eines, das ihren beruflichen Erfolg oder sogar ihren Ruf beschädigen könnte. Vielleicht ist es ja so, dass wir alle tief in unserem Innern schon lange etwas ahnen und aus gutem Grund ein bestimmtes Risiko scheuen. Dieses Risiko hat Friedrich Nietzsche im 146. Aphorismus seines im Jahre 1886 erschienenen Werks Jenseits von Gut und Böse folgendermaßen beschrieben: „Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“
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Man braucht Mut, um sich möglichen Verbindungen zwischen der modernen Bewusstseinsforschung und der angewandten Ethik auf etwas ernsthaftere Weise zuzuwenden. Denn welches Wesen auch immer leidensfähig ist, wird allein durch diesen Umstand notwendigerweise zu einem Gegenstand ethischer Überlegungen – und es könnte ja sein, dass wir entdecken, dass es in dieser Welt wesentlich mehr leidvolle Bewusstseinszustände gibt als Momente von Glück oder Freude. Nehmen wir das Beispiel des Fischbewusstseins: Glauben Sie, dass Fische leidensfähig sind? Jedes Jahr werden Billionen von Fischen in den Netzen und den Laderäumen großer Fangschiffe langsam zu Tode gedrückt oder sie sterben einen qualvollen Erstickungstod. Abermilliarden von Fischen, Krustentieren und Kopffüßern werden zerstückelt, bluten bei lebendigem Leib aus oder werden sterbend ins Meer zurückgeworfen. Viele explodieren aufgrund des Drucksturzes, wenn die Netze aus großen Wassertiefen heraufgezogen werden, andere wiederum leben unter qualvollen Bedingungen in überfüllten Zuchtanlagen. Wir wissen heute, dass Fische Schmerzrezeptoren haben und dass sie komplexes Schmerzverhalten zeigen. Die philosophisch entscheidende Frage ist aber, ob Sie ein phänomenales Selbstmodell besitzen: Gibt es in ihrem Gehirn nicht nur Bewusstsein, sondern auch ein Ich-Gefühl? Gibt es im Kopf des Fisches ein bewusstes Bild des Fischs als einer unteilbaren Ganzheit? Wir Menschen behandeln sie jedenfalls nicht als Individuen und wir berücksichtigen auch ihre Interessen nicht, soviel ist klar. Die entscheidende Frage ist aber, ob sie sich selbst als Individuen erleben und ihren Wunsch nach Dasein und körperlicher Unversehrtheit auch bewusst als ihren eigenen Wunsch erleben. Vielleicht sind Fische ja nur bewusstlose, leidensunfähige Bio-Roboter. Zwar intelligente, aber eben doch kalte Bio-Automaten ohne Selbstmodell und Ich-Gefühl. Bei einer Maschine, die durch Sensoren Verletzungen ihrer Hardware registrieren und darauf mit lautem Schreien oder Schmerzverhalten reagieren könnte, würden wir ja auch nicht davon ausgehen, dass es in dieser Maschine ein Erlebnissubjekt gibt, ein bewusstes Selbst. Auf der anderen Seite wären, wenn Fische eine bewusste Innenperspektive besäßen, das billionenfache Leiden, der Schmerz, die Verzweiflung und die Todesangst so groß, dass wir es uns nicht einmal ansatzweise vorstellen könnte, der phänomenale Raum des selbstbewussten Leidens der Fische wäre unfassbar tief – ein Abgrund, in den niemand für längere Zeit hineinschauen könnte.
Ich selbst zum Beispiel bin seit über 40 Jahren aus ethischen Gründen Vegetarier, war aber in meiner gesamten Kindheit und Jugend ein begeisterter Angler. Was ich damals mit hunderten von Fischen und Ködertieren gemacht habe, tut mir heute mehr als leid. Wenn die Wissenschaft mir aber zweifelsfrei nachweisen könnte, dass Fische kein phänomenales Selbstmodell besitzen, also keine Innenperspektive und kein bewusstes Ich-Gefühl, dann würde ich sofort wieder am Wochenende Angeln gehen und vor allem mit Begeisterung gegrillten Thunfisch mit indonesischer Erdnusssoße essen. Rationale, evidenzbasierte Bewusstseinsforschung ist wichtig für die angewandte Ethik. Wir brauchen wesentlich mehr empirische Daten und vor allem begriffliche Klarheit. Lassen Sie mich deshalb die vier wichtigsten notwendigen Bedingungen dafür angeben, dass ein Wesen die Fähigkeit zu leiden besitzt.
Die erste Bedingung ist die B-Bedingung, also der Besitz von Bewusstsein. „Leiden“ ist ein phänomenologischer Begriff. Das bedeutet, dass nur Wesen mit bewussten Erlebnissen überhaupt leidensfähig sind: Zombies, Menschen im traumlosen Tiefschlaf oder Patienten während eines tiefen Komas oder unter einer Narkose können nicht leiden, genau wie mögliche Personen oder ungeborene menschliche Wesen, die noch nicht in die Existenz getreten sind, auch nicht unter ihrer eigenen Nicht-Existenz leiden können. Roboter oder künstliche Intelligenzen in der Zukunft
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können ebenfalls nur dann leiden, wenn sie das haben, was Philosophen “phänomenale Zustände“ nennen, also subjektive Erlebnisse.
Die zweite Bedingung ist die PSM-Bedingung. Wir kennen Sie schon von den Fischen: Leidensfähig ist nur ein Wesen, dass ein bewusstes Selbst besitzt, ein Individuum, das sich subjektiv auch als Individuum erlebt. Es muss die Fähigkeit besitzen, zu erleben, dass es selbst gerade leidet und dass das bewusste Leiden sein eigenes Leiden ist. „PSM“ steht für „phänomenales Selbstmodell“ und das PSM ist die Grundlage dieser Fähigkeit. Die B-Bedingung alleine könnte niemals hinreichend sein, weil ein leidendes Wesen nicht nur Bewusstsein, sondern auch Selbstbewusstsein besitzen muss. Das System muss sich das Leiden sozusagen selbst zuschreiben. Das bedeutet, dass es sich automatisch mit einem negativen Zustand identifiziert, dass es den unangenehmen Zustand als einen Zustand von sich selbst erlebt, als einen Zustand der mit Kontrollverlust, ansteigender Unsicherheit und einer Bedrohung der eigenen Integrität einhergeht. Man sieht jetzt, dass die Erfindung des bewussten Leidens durch die Evolution auf unserem Planeten deshalb so extrem wirksam war, weil sie die selbstbewussten Tiere auf eine grausame Weise vorwärtstreibt. Die biologische Evolution ist nichts was man selbstverständlich bejahen oder gar verherrlichen könnte, weil sie ein Vorgang war, der einen Ozean von Leiden in einer Region des physikalischen Universums geschaffen hat in der es sowas so etwas vorher noch nicht gab. Der Kern dieses entsetzlichen neurokomputationalen Programmiertricks besteht darin, dass die Wesen sich nicht von ihrem eigenen Schmerz und ihrer Angst distanzieren können, weil sie durch ihr Selbstmodell dazu gezwungen werden, sich mit ihrem Leiden zu identifizieren.
Die die dritte Bedingung ist die NV-Bedingung. NV steht für „negative Valenz“, und das bedeutet, dass Zustände mit einem negativen Wert in das Selbstmodell eines bewussten Wesens eingebettet werden, also Zustände, die damit zu tun haben, dass eigene Präferenzen verletzt werden. Eine Präferenz, die alle Tiere haben, ist die nach möglichst vielen Nachkommen. Über 90 % aller Wildtiere werden aber gefressen oder kommen auf andere Weise zu Tode bevor sie ins fortpflanzungsfähige Alter gelangen. Das gilt zum Beispiel auch für die Fische, die nicht von Menschen gefangen werden. Es gibt also bereits in der nicht-menschlichen Natur ein unfassbares Ausmaß an verletzten Präferenzen, von denen viele wahrscheinlich auch bewusst erlebt werden. Auch die 60 Milliarden Zuchttiere, die von Menschen erzeugt werden und in Fleischfabriken leiden, haben zum Beispiel eine Präferenz für maximale Lebenserwartung. Das bedeutet, dass sie einen von der Evolution fest eingebauten „Durst nach Dasein“ haben, sie wollen einfach so lange leben wie möglich. Auch wenn wir diese Tiere also schmerzlos töten, verletzen wir diese objektiv vorhandene Präferenz für maximale Lebensdauer. Um leiden zu können, muss man natürlich nicht denken oder sprechen können und natürlich kann man auch unter solchen nicht erfüllten Wünschen und Bedürfnissen leiden, die man selbst nicht richtig verstanden hat. Auch wir Menschen kennen es ja, dass wir unglücklich sein können, ohne in der Lage zu sein, genau zu erklären, warum das eigentlich so ist. Worauf es ankommt, ist, dass ein Wesen subjektive Präferenzen und Wünsche besitzt, unter deren Verletzung und Nichterfüllung es bewusst leiden kann, Zustände, die es lieber nicht erleben würde, wenn es denn die Wahl hätte. Viele Philosophen haben gesagt, dass man sein eigenes Leiden sehr stark minimieren kann indem man einfach die Zahl der Wünsche minimiert, die man hat oder die einem von seiner sozialen Umwelt, über die Medien oder durch die Kultur
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suggeriert werden und mit denen man sich leichtfertig identifiziert. Viele spirituelle Menschheitstraditionen, aber auch antike griechische Philosophen haben gelehrt, dass Wunschlosigkeit ein gangbarer Weg zur Seelenruhe ist, ein möglicher Pfad zum leidfreien Leben.
Die letzte notwendige Bedingung für einen ersten logischen Kern, einen Arbeitsbegriff dessen, was wir unter „Leiden“ verstehen könnten, ist die T-Bedingung. T steht für Transparenz und bedeutet, dass wir einen bewussten Zustand nicht als eine Repräsentation erleben können. Was immer in unserem Bewusstsein auf transparente Weise dargestellt wird, gibt uns das Gefühl, dass es sich dabei um etwas unwiderruflich Reales handelt, etwas dessen Existenz man nicht bezweifeln kann, weil man es scheinbar ganz direkt und unvermittelt wahrnimmt. Ein Fenster ist durchsichtig, und wenn es sauber ist, dann sehen wir einfach nur den Vogel, der vorbeifliegt, und nicht das Fenster. Wir sehen auch nicht das Feuern der Neuronen in unserem Gehirn, sondern nur das, was sie für uns darstellen. Die Phänomenologie der Transparenz ist die Phänomenologie des direkten Realismus, denn das Bewusstsein der Menschen und Tiere ist so etwas wie ein unsichtbares Interface zur Welt, ein Medium, das wir subjektiv nicht mehr als ein Medium erleben können. Die Phänomenologie der Transparenz führt auf der Ebene des Selbstmodells zur Phänomenologie der Identifikation und dies ist wichtig, um zu verstehen was Leiden wirklich ist. Weil nämlich auch unser Selbstmodell fast vollständig transparent ist, identifizieren wir uns mit seinem Inhalt, wir haben automatisch das Gefühl, dass wir uns selbst unendlich nah sind, in direktem Kontakt mit uns selbst. Wenn nun ein negativer Zustand in diesem Selbstmodell auftritt, dann wird er sofort kausal wirksam, weil wir uns direkt mit diesem Zustand identifizieren und ihn als einen unwiderruflich realen Teil unseres eigenen Selbst erleben müssen. Eigentlich gibt es nichts Realeres, als die subjektive Qualität der Schmerzhaftigkeit in einem Schmerzerlebnis. Wenn es irgendetwas gibt, was für Wesen wie uns selbst absolut real und unhintergehbar ist, dann sind es Schmerzen oder das negative subjektive Erleben, das mit einem ernsthaften Kontrollverlust oder mit einer möglichen Bedrohung der eigenen Existenz einhergeht. Die T-Bedingung ist also das, was den eigentlichen Kern des selbstbewussten Leidens verständlich macht. Ein Wesen, das sich nicht mit den Inhalten seines bewussten Selbstmodells identifizieren würde, weil es dieses Selbstmodell in seiner Ganzheit als ein inneres Bild erleben kann, ein solches Wesen würde nicht leiden.
Wir brauchen für eine zeitgemäße Ethik deshalb ein wesentlich besseres Verständnis negativer subjektiver Zustände und der Art und Weise ihrer Einbettung ins Selbstmodell. Wir brauchen eine evidenzbasierte Theorie des Leidens, die uns Hardware-unabhängige Abgrenzungskriterien liefert und die uns später möglicherweise sogar erlaubt die unterschiedlichen Qualitäten und Intensitäten des bewussten Leidens bei Mensch und Tier vielleicht einmal quantitativ zu erfassen. Das größte theoretische Problem ist nämlich das der „Leidensmetrik“: Wir haben einfach keine überzeugenden Instrumente, um qualitativ ganz unterschiedliche Formen des Leidens miteinander zu vergleichen oder in ihrer Stärke zu messen. Für eine rationale Ethik wäre dies jedoch dringend nötig. Schmerzen sind nicht gleichbedeutend mit Leiden. Bei der sogenannten Schmerz-Asymbolie zum Beispiel können die sinnlichen Aspekte der Schmerzempfindungen gegeben sein, ohne dass diese Empfindungen für den Patienten eine affektive Bedeutung besitzen. Auf der anderen Seite wissen wir alle, dass man auch ohne sinnlich-körperliche Schmerzempfindungen zum Beispiel unter Weltschmerz leiden kann oder unter einer
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existenziellen Sinnlosigkeitserfahrung – möglicherweise dann, wenn man zu lange in den Abgrund geschaut hat, von dem bereits zweimal die Rede war. Auf ein drittes Beispiel für eine typisch menschliche, abstrakte Form des Leidens komme ich gleich zu sprechen.
Ich denke, es gibt zwei Aspekte die als generelles Definitionsmerkmal für als negativ erlebte Bewusstseinszustände gelten können. Beide Merkmale ließen sich, das ist eine meiner These, zumindest im Prinzip auch mathematisch modellieren, sie könnten also als Grundlage einer Leidensmetrik fungieren. Das erste ist ein sich entwickelnder Kontrollverlust, das heißt das innere Erleben von ansteigender Unsicherheit und Unvorhersagbarkeit. Das Leiden unter einem Kontrollverlust spielt gerade auch bei geistigen Erkrankungen wie der Depression eine große Rolle, aber auch bei vielen anderen Psychosen und natürlich bei vielen körperlichen Erkrankungen. Der zweite Aspekt charakterisiert ebenfalls sowohl das körperliche wie das psychologische Leiden: Es ist ein drohender Verlust der Kohärenz des Selbstmodells, des inneren Zusammenhalts. Das eigentlich Tragische am subjektiven Leiden ist nämlich, dass es mit einem drohenden Zerfall oder einer möglicherweise andauernden Beschädigung des bewussten Selbst einhergeht. In Alter, Krankheit und Tod erleben wir eine Bedrohung der organismischen Integrität, das physische Selbst droht zu zerfallen. Im seelischen Leiden und im Wahnsinn besteht der eigentliche Kern des Problems in der Möglichkeit der Auflösung der eigenen subjektiven Identität. Wenn man sie zusammennimmt, dann ergeben diese beiden philosophischen Kriterien aber auch empirisch gesehen guten Sinn: Das bewusste Selbstmodell ist ja gerade ein in der Evolution der Nervensysteme entstandenes Instrument zur Selbstkontrolle, ein inneres Werkzeug zur ganzheitlichen Steuerung des Körpers. Wenn dieses Werkzeug dauerhaften Schaden nimmt, wenn sein innerer Zusammenhalt nachlässt, dann sind wir letztlich in unserer biologischen Existenz bedroht.
Trotzdem gibt es viele abstraktere Formen des Leidens, die sehr wahrscheinlich nur der Mensch kennt und kein anderes Tier auf diesem Planeten. Zum Beispiel können Menschen unter dem Verlust ihrer Würde leiden. Historisch neu ist allerdings die Möglichkeit, dass die Menschheit als Ganze ihre Würde verliert. Das könnte geschehen, indem sie mit der Atmosphäre des Planeten eine Lebensgrundlage aller anderen empfindungsfähigen Wessen zerstört. Denn etwas hat sich geändert. Einer muss es aussprechen: In Bezug auf den Klimawandel ist es nicht mehr intellektuell redlich, noch Optimist zu sein. Wenn man den heute verfügbaren physikalischen, psychologischen und politischen Tatsachen vorurteilsfrei ins Auge sieht, dann sieht alles danach aus, dass die Menschheit an diesem Problem scheitern wird, und zwar sehenden Auges. Denn die vernünftigste Annahme ist jetzt, dass der Klimawandel in den kommenden Jahrzehnten und Jahrhunderten einen unkontrollierten und katastrophischen Verlauf nehmen wird. Was hat das aber mit dem Leiden unter dem Verlust der eigenen Würde zu tun?
Ein klassisches Verständnis von Würde besagt, dass man nicht nur im Anderen, sondern auch in sich selbst immer die Menschheit als Ganze respektieren soll. Die Gattung Homo sapiens scheint jedoch aus Gründen ihrer eigenen geistigen Struktur nicht adäquat reagieren zu können – und zwar auch, wenn ihre Mitglieder eine intellektuelle Einsicht in die zu erwartenden Folgen haben. Sehr bald kann man deshalb das Verhalten der Menschheit nicht mehr respektieren, und zwar, weil es sich ja auch dann nicht ändert, wenn wir sogar diese Tatsache selbst deutlich
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aussprechen können und auf der Ebene des eigenen Bewusstseins noch einmal klar und deutlich erleben. Der historische Übergang besteht darin, dass beim Klimawandel erstmals die Menschheit als Ganze versagt, und zwar sowohl in geistiger als auch in moralischer Hinsicht. Denn wir haben keine Achtung vor den anderen Personen und leidensfähigen Wesen, die nach uns auf diesem Planeten leben werden: Wir verweigern Ihnen vorsätzlich die Anerkennung. Wir können uns selbst bald auch nicht mehr als rationale Personen ernst nehmen, weil wir vorsätzlich Tatsachen ignoriert und auf politischer Ebene unsere eigene Selbsttäuschung organisiert haben. Der Klimawandel könnte also dazu führen, dass wir auf eine historisch neue Weise unter dem Verlust unserer Würde leiden.
Würde ist eine Beziehung zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft aller empfindungs- und leidensfähigen Wesen, insbesondere auch der ungeborenen Menschen und Tiere, die in der Zukunft auf diesem Planeten existieren werden. Unser gegenwärtiges Verhalten ist zutiefst würdelos, weil es dieser Gemeinschaft aus wirklichen und möglichen Wesen einen großen und nachhaltigen Schaden zufügt, zum Beispiel, weil es die Lebensqualität, aber auch die realen Handlungsoptionen zukünftiger bewusster Wesen radikal einschränkt. Für die Wenigen, die diese Tatsache erkennen und anders leben wollen, ergibt sich daraus folgendes Problem: Wer Mitglied einer Gattung ist, die sich vorsätzlich und wider besseres Wissen unethisch verhält, der kann diese Gattung weder in anderen Menschen noch in sich selbst respektieren. Dies wäre dann ein drittes Beispiel für eine abstrakte Form des Leidens, die die anderen Tiere auf diesem Planeten nicht kennen.
Viele denken heute, dass eine neue Form des säkularen Humanismus die richtige Antwort auf die Probleme der Zukunft sein könnte. Ein wunderschönes Motiv aus der Philosophiegeschichte ist in diesem Zusammenhang eben die klassische Idee Immanuel Kants, dass jeder Mensch die ganze Menschheit in seiner eigenen Person achten sollte, dass er diese Achtung dann aber auch von jedem anderen Menschen einfordern kann. Ich denke allerdings, dass beide Ansätze zu kurz greifen und deshalb letztlich auch oberflächlich sind. Worum es in Wirklichkeit geht, ist die Klasse aller leidensfähigen Wesen: Wir müssen die bewusste Leidensfähigkeit und auch das Existenzrecht in der Gesamtheit all jener Wesen respektieren, die ein phänomenales Selbstmodell besitzen, das sie zu leidensfähigen Subjekten macht. Und wir sollten prinzipiell keine Wesen töten, von denen wir annehmen müssen, dass sie das Potential zu einem auch subjektiv erlebten Interesse am Fortbestand der eigenen Existenz besitzen. Wenn wir die Leidensfähigkeit nicht-menschlicher Wesen nicht respektieren, können wir nämlich auch unsere eigene Leidensfähigkeit nicht wirklich achten. Wir töten das Mitgefühl in uns ab. Ohne die Fähigkeit zum Mitgefühl für andere können wir auch kein Selbstmitgefühl entwickeln. Und wenn wir die Todesangst anderer Bewusstseinssubjekte nicht ernst nehmen, werden wir auch keine würdevolle Einstellung zu unserer eigenen Sterblichkeit finden. Deshalb greift der traditionelle rationalistische Humanismus zu kurz. Es geht bei unserer Würde nicht um die bloße moralische Vernunft oder eine bestimmte biologische Gattung, sondern um die Klasse aller bewussten Systeme, die sich durch eine ganz bestimmte Art von Selbstmodell auszeichnen. Ich hoffe, dass es gerade unser tieferes naturwissenschaftliches Verständnis der Grundlagen des Selbstbewusstseins sein wird, das es uns in der Zukunft erlauben wird, diesen Punkt immer klarer zu sehen. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass sehr viele Tiere leidensfähig sind, weil sie ein bewusstes Selbstmodell besitzen, und dass unser heutiger Umgang mit
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Tieren ethisch in keiner Weise zu rechtfertigen ist. Ethisch handeln bedeutet, die Gesamtmenge der negativen Selbstmodell-Momente im Universum zu minimieren. Wir dürfen erstens anderen empfindungsfähigen Wesen keine negativen Bewusstseinszustände aufzwingen. Zweitens jedoch müssen wir in allen Situationen von mangelndem Wissen und vorläufiger philosophischer und wissenschaftlicher Unentscheidbarkeit darauf achten, immer auf der sicheren Seite zu sein um nicht fahrlässig oder aus Gedankenlosigkeit neue Abgründe des Leidens zu öffnen. Wir können natürlich auch fragen, was eigentlich ein guter Bewusstseinszustand ist und ob man solche Zustände kultivieren kann – zum Beispiel bei uns selbst.
Dabei darf man aber nicht die Asymmetrie zwischen Freude und Leiden übersehen. Leiden ist unvermeidlich und überwiegt in unserer Welt. Positive Bewusstseinszustände sind deutlich seltener, können aber wesentlich leichter vermieden oder beendet werden als negative Zustände. Weil wir körperliche Wesen sind, verhindern physikalische Entropie und die rein biologische Vergänglichkeit jede dauerhafte Wunscherfüllung. Auch psychologisch gesehen sind negative Zustände nicht einfach das Spiegelbild positiver Zustände, denn sie gehen mit einer wesentlich höheren subjektiv empfundenen Dringlichkeit für eine baldige Veränderung einher. Auch deshalb gibt es eine in vielen Kulturen vorhandene moralische Intuition, die besagt, dass es wichtiger ist, einem leidenden Menschen zu helfen als einen bereits glücklichen Menschen noch glücklicher zu machen. Es würde zudem auch das Leiden einer individuellen Person nicht mildern, wenn man zusätzlich eine große Anzahl von glücklichen Personen in die Welt bringt. Der positive Utilitarismus ist unersättlich, denn er sagt uns, dass es immer besser wäre, noch mehr Glück und Lebensqualität in die Welt zu bringen, er entspricht auf philosophischer Ebene der hysterischen Lebensbejahung und der Wachstumsideologie westlicher Gesellschaften. Der negative Utilitarismus, der die Minimierung von Leiden priorisiert, erzeugt dagegen keine weiteren moralischen Pflichten, sobald das Ziel der Leidensfreiheit erreicht ist. Wir sollten uns deshalb in der Praxis auf die Verminderung bewusst erlebten Leidens konzentrieren.
Ein wichtiges Kriterium für einen guten Bewusstseinszustand ergibt sich neben seinem Erkenntnispotential aus diesem Grund eben genau aus der Frage, ob er bewusst erlebtes Leiden vermindert – insbesondere auch in der Zukunft und bei anderen leidensfähigen Wesen. Lassen Sie mich diese Grundidee zusammenfassen, indem ich einen letzten neuen Arbeitsbegriff in die Diskussion einführe: den „NP-Fußabdruck“. Ob ein Bewusstseinszustand ein guter Bewusstseinszustand ist, hängt zu einem großen Teil davon ab, wie groß sein NP-Fußabdruck ist. „NP“ steht für „negative Phänomenologie“, also für die Klasse aller leidvollen und unangenehmen Bewusstseinszustände. Wir können sie einfach als diejenigen Bewusstseinszustände definieren, die ein empfindungsfähiges Wesen lieber nicht noch einmal erleben würde, wenn es die Wahl hätte.
Die Idee eines Fußabdruckes dagegen kennen wir alle schon seit langem aus der Umweltethik: Der „Ökologische Fußabdruck“ ist eine einfache Metapher und gleichzeitig ein begriffliches Werkzeug, das man im Prinzip immer weiter differenzieren kann. Er ist zum Beispiel ein Nachhaltigkeitsindikator, welcher den Ressourcenverbrauch mit der Biokapazität der Erde in Relation setzt. Dabei ist der Ökologische Fußabdruck nicht nur für Personen oder Haushalte berechenbar, sondern auch für ganze Nationen, und sogar Produkte und Dienstleistungen können mit dem Ökologischen Fußabdruck bilanziert werden. Insbesondere ist der Ökologische Fußabdruck auch ein Gerechtigkeitsindikator, denn er basiert auf der
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Grundannahme, dass allen Menschen gleich viel zur Verfügung stehen sollte. Hier ist ein Ergebnis für Deutschland: Wenn alle Menschen so leben würden wie wir, bräuchten wir 2,8 Erden, denn der deutsche Fußabdruck ist 5,09 Hektar groß. Der gerechte Ökologische Fußabdruck liegt jedoch bei 1,9 Hektar. Der ökologische Fußabdruck ist also auch so etwas wie eine Währung, mit deren Hilfe die Inanspruchnahme der Biosphäre gemessen werden kann, der Preis unserer Lebensweise, und zwar für sämtliche Ressourcen und jeglichen Nutzen.
Ich denke, wir brauchen etwas ganz Ähnliches für die Bewusstseinsethik. Der Ego-Tunnel ist unsere innere Umwelt, deshalb geht es in der Bewusstseinsethik um etwas, das man als „innere Ökologie“ bezeichnen könnte. Auch hier kann man Kosten externalisieren, also dafür sorgen, dass es am Ende die anderen sind, die den Preis für die eigene Lebensweise zahlen. Das ethische Prinzip der Leidensverminderung besagt nun, dass wir negative Bewusstseinszustände bei allen bewussten, leidensfähigen Wesen vermindern sollten, indem wir unseren eigenen NP-Fußabdruck immer weiter verringern. Bei der Erzeugung oder Kultivierung eines bestimmten Bewusstseinszustandes sollten wir uns also immer fragen: Verringert er meinen NP-Fußabdruck, oder bringt er möglicherweise in der Gesamtbilanz noch mehr Leiden in die Welt? Welchen NP-Fußabdruck hat der RTL2-Bewusstseinszustand, wie groß ist der NP-Fußabdruck des Alkohol-Bewusstseinszustandes? Was ist etwa mit Nationalstolz oder starkem persönlichem Ehrgeiz – sind sie würdevoll oder würdelos? Wie steht es um die lustvollen Bewusstseinszustände, die beim Essen von Fleisch entstehen? Eine gute Handlung und ein guter Bewusstseinszustand sind dann solche, die das Leiden nicht nur im betreffenden Erlebnissubjekt selbst minimieren, sondern auch in allen anderen leidensfähigen Wesen. Die wichtigste Frage ist also immer: Wie viel bewusstes Leiden erzeugt ein bestimmter Bewusstseinszustand nicht nur in mir selbst, sondern bei anderen Menschen, bei leidensfähigen Tieren - aber vielleicht auch bei potentiellen künstlichen Subjekten in der Zukunft? Hierbei geht es vor allem auch um mögliche Erlebnissubjekte, also zukünftige menschliche Personen, in der Zukunft existierende leidensfähige Tiere und auch um denkbare postbiotische Systeme, etwa bewusste Roboter und Avatare. In der Bewusstseinsethik geht es also unter anderem um den NP-Fußabdruck, den ich in meinem eigenen Leben hinterlasse, aber immer auch um die Folgen im bewussten Selbstmodell anderer Wesen – und zwar nicht nur in der Gegenwart, sondern auch in der Zukunft.
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