SWR2 Wissen - Aula - Wilhelm Vossenkuhl: Geistesblitze und Neuronen . Wie erklärt die Hirnforschung das Denken
http://www.swr.de/swr2/wissen/-/id=661224/1muyzmy/index.html
 Autor und Sprecher: Professor Wilhelm Vossenkuhl *
 Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
 Sendung: Donnerstag, 6. Januar 2011, 8.30 Uhr, SWR 2
 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen. Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
 ÜBERBLICK
 Die Neurowissenschaften reklamieren für sich eine Dominanz als neue Leitdisziplin, die selbst so subjektive Vorgänge wie das Empfinden oder das Denken auf neurologische und damit biochemische Vorgänge im Gehirn zurückführen kann. Das beinhaltet immer wieder die Gefahr des Reduktionismus, weil die Komplexität menschlicher Erfahrungen und Handlungsweisen damit nicht erfasst werden kann. Das zeigt sich besonders beim Thema "Denken": Hier stößt die Neurowissenschaft trotz neuer bildgebender Verfahren immer wieder an ihre Grenzen.
 Wilhelm Vossenkuhl, Professor für Philosophie an der LMU in München, zeigt, warum das Denken niemals mit naturwissenschaftlichen Methoden beschreib- und erklärbar ist.
 * Zum Autor:
 Wilhelm Vossenkuhl, geboren 1945, studierte Philosophie, Neuere Geschichte und
 Politikwissenschaft in München. 1972 Promotion zum Dr. phil. an der Universität
 München;1980 Habilitation. Seit 1993 hat Vossenkuhl den Lehrstuhl für Philosophie
 1 an der LMU in München inne. Schwerpunkte: Praktische Philosophie und
 Handlungstheorie, Grundlagen der Ethik, Philosophie der Sozialwissenschaften,
 Theorie der Rationalität.
 Buchauswahl:
- Philosophie für die Westentasche. Piper
- Die Möglichkeit des Guten. Ethik im 21. Jahrhundert. Beck
 - Ludwig Wittgenstein. becksche reihe denker
 - Stammzellenforschung und therapeutisches Klonen (zusammen m. Oduncu u.a.).
 Vanderhoek & Ruprecht
 INHALT
 ___________________________________________________________________
 Ansage:
 Mit dem Thema: „Geistesblitze und Neuronen – die Hirnforschung und das Denken“.
Das Denken ist eigentlich eine Tätigkeit, ein Phänomen, das zu den klassischen
 Feldern der Philosophie gehört. Seit über 2000 Jahren denken die Denker über das
 Denken nach. Aber es gibt auch eine harte naturwissenschaftliche Disziplin, die sich
 in den philosophischen Diskurs einmischt, gemeint sind die Hirnforscher, die mit
 Philosophen im regen Dialog stehen, die sich auch ums Denken kümmern und mit
 vielen Experimenten einige Theorien und Konzepte der Geisteswissenschaftler
 bestätigen konnten.
 Wilhelm Vossenkuhl, Professor für Philosophie an der LMU in München, zeigt im
 Folgenden, wo und wie sich Hirnforschung und Philosophie überschneiden.
 Wilhelm Vossenkuhl:
 Die Philosophie hat von alters her darüber nachgedacht: Was denken wir eigentlich.
 Das war eine zentrale Frage. Parmenides, ein Grieche und einer der ersten großen
 Philosophen, hat ganz klar festgestellt: Denken und Sein ist dasselbe. Das bedeutet,
 wir denken das, was ist.
 Völlig getrennt von der Frage „was denken wir“ sind die Fragen „wie denken wir“ und
–da wären wir schon bei den Neurowissenschaften – „wer oder was denkt in uns, mit
 unserem Gehirn“. Das sind drei sehr unterschiedliche Fragen: Was denken wir? Wie
 denken wir? Und wer oder was denkt?
 Parmenides meinte, wir denken einfach das, was ist. Die Frage, was wir denken,
 steht also im Vordergrund. Alles, was nicht ist, können wir auch nicht denken. Diese
 These lässt sich natürlich leicht in Zweifel ziehen, denn wir denken natürlich auch
 Dinge, die es gar nicht gibt: goldene Berge, Einhörner, Weihnachtsgeschenke, die
 wir uns gewünscht, aber dann doch nicht bekommen haben, usw.
 Platon hat deswegen das Thema deutlich vertieft, indem er die Frage „wie denken
 wir eigentlich“ beantwortete mit „dem Vermögen der Seele“. Also es ist eine Art von
 Tätigkeit. Er dachte natürlich nicht an das menschliche Gehirn oder an die
 Zirbeldrüse oder etwas Ähnliches. Nein, er dachte an die Tätigkeit der Seele, eine
 Seele, die uns bei unserer Geburt zugeteilt wird, die zu uns kommt und, wenn wir
 sterben, auch wieder geht, die aber unsterblich ist. Tätigkeit der Seele bedeutet, die
 Seele denkt in gewisser Weise in uns. Es ist ein moderner Gedanke, wenn man statt
 Seele Gehirn sagen würde.
 Aristoteles wiederum war der Ansicht, dass wir mit Hilfe von bestimmten Begriffen
 denken. Er hat eine Theorie, ein Denken des Denkens, entwickelt. Eine Theorie, die
 neben der sinnlichen Erkenntnis auch die seelische und praktische Erkenntnis
 thematisiert hat. Theoretisches Erkennen durch Schlussfolgerungsverfahren –
Syllogismen.
 Wenn wir einen großen Sprung machen in die frühe Moderne zu René Descartes,
 dann stellen wir fest, dass sich die Fragestellungen, was und wie wir denken, schon
 wieder deutlich geändert haben. Descartes nahm zunächst eine skeptische Haltung
 ein. Er meinte, wenn wir überhaupt über die Welt nachdenken, könnten wir uns doch
 eigentlich immer irren, wir könnten ständig vielleicht einem „Ungeist“ aufsitzen und
 meinen, dass wir etwas denken, aber letztlich doch nichts wirklich. Daraufhin hat er
 einen Test gemacht, um herauszufinden, was wir tatsächlich und sicher denken
 können. Die Gewissheitsproblematik taucht hier auf. Descartes kommt zu dem
 Schluss, das einzige Gewisse, was wir denken, ist eigentlich folgendes: Ich denke
 oder ich zweifle – also all das, was nicht mehr weiter auf irgendetwas anderes
 reduziert werden kann.
 Von da aus geht die Post eigentlich Richtung Subjektivitätstheorien des Denkens ab.
 Kant hat die Descarte’sche Grundposition sehr stark vertieft und noch deutlicher
 gemacht, was wir eigentlich tun, wenn wir denken, wenn wir mit Hilfe von Begriffen
 denken. Er ist der Ansicht, dass das, was von der Außenwelt auf uns einströmt,
 dieses mannigfaltige Unübersichtliche, durch unsere Begriffe geordnet, strukturiert
 und dann schließlich beurteilt wird. Wir bilden Synthesen. Wir bilden Synthesen
 übrigens auch nach Ansicht der Neurowissenschaften. Natürlich hat Kant ein
 bisschen etwas anderes gemeint, aber die Assoziation, die Intuition, die er hatte, ist
 heute durchaus von den Neurowissenschaften bestätigbar. Es ist also gar nicht
 schlecht, was Kant dachte: Es geht um Synthesen.
 In der neuesten Moderne haben Philosophen, auch gestützt auf einen Fast-
Zeitgenossen von Kant, auf den schottischen Philosophen David Hume, wie Edmund
 Husserl und Rudolf Carnap, gemeint, Denken ist eigentlich Vergleichen. Das ist
 schon ein Gedanke von Hume gewesen, ist aber von Husserl und Carnap noch
 einmal vertieft worden.
 Das sind eine ganze Menge interessanter Vorschläge zu den Fragen, was und wie
 wir denken. Aus heutiger Sicht, mit den Informationen, die uns die
 Neurowissenschaften geliefert haben, können wir natürlich auch die Frage stellen,
 kann man denn Denken überhaupt erklären. Sie werden sich vielleicht wundern und
 sagen, warum denn nicht. Das Problem ist, erklären kann man eigentlich nur etwas,
 was unterschieden werden kann Richtung Erklärendem und Zu-Erklärendem. Man
 spricht in der Theoriebildung von Explanans (das Erklärende) und Explanandum (das
 zu Erklärende). Wenn man beides vermischt – und das wäre ja der Fall, wenn man
 mit dem Denken über das Denken nachdenkt und Erklärungen abgeben will – wäre
 man in einem Zirkel gefangen, der selbst gar nichts erklärt.
 Zirkuläre Erklärungen, das wusste schon Aristoteles, sind also eigentlich unsinnig.
 Sie erklären nichts, man bildet sich ein, man würde etwas erklären, tut es aber nicht.
 Die Neurowissenschaften wollen schon etwas erklären, sie wollen die Funktionen
 unseres Gehirns erklären und Explanans und Explanandum deutlich trennen. Das
 funktioniert auf verschiedene Weisen. Man könnte zum Beispiel annehmen, es gibt
 Mechanismen des Denkens, die auf der Basis des neuronalen Geschehens im
 menschlichen Gehirn ablaufen. Es gibt in diesem Gehirn 100 Milliarden Neuronen –
das ist schon eine ganze Menge, und jedes Neuron ist mit jedem anderen
 verbunden, eines mit 10.000 anderen auf einmal, das ist eine völlig unübersichtliche
 Menge an Verbindungen, man wundert sich natürlich nicht, was manchmal beim
 Denken alles so rauskommt. Aber zurück zum Ernst der Lage: Die komplexen
 Funktionen, die durch diese Neuronen zustande kommen, könnte man von unten
 nach oben, „bottom up“, wie man so schön sagt, erklären. Man könnte sagen, die
 Strukturen des Gehirns erlauben es irgendwann einmal, wenn man genügend weiß,
 zu erklären, wie die komplexen Zusammenhänge des Denkens, zum Beispiel das
 Farbensehen usw., zustande kommen.
 Über das Farbensehen, das Hören und Schmecken wissen wir neuronal betrachtet
 schon eine ganze Menge, mehr als die Philosophie je darüber in Erfahrung bringen
 konnte. Also es existiert durchaus Hoffnung, dass mit Hilfe der Neurowissenschaften
 der Blick ins Denken selbst vertieft werden kann. Aber auch das, was die
 Neurowissenschaften tun, wenn ich sie mal alle in einen Topf werfen kann, ist doch
 letztlich auch eine Art von erklärendem Denken, eine nicht völlig zirkelfreie Art von
 Erklärungstätigkeit: denkend über das Denken etwas herausfinden. Denn natürlich
 weiß jeder Neurowissenschaftler, wenn er erklärt, was es heißt, gelb von grün oder
 blau zu unterscheiden. Er weiß natürlich schon, was gelb, grün oder blau ist. Das
 sind Farben. Und er hat ungefähr eine Vorstellung, wie diese Farben aussehen. Also
 wird er wohl schon mit dem Wissen, was grün, gelb, blau ist, an seinen Laborversuch
 herangehen, wenn er feststellen will, welcher Teil unseres Gehirns mit Farbensehen
 zu tun hat. Nichts desto weniger haben wir heute durch die bildgebenden Verfahren
 die Chance, eine Menge deutlich zu machen, zumindest im Ansatz. Und wir haben
 von daher auch die Möglichkeit, ein bisschen mehr zu erfahren über das, was wir so
 tun, wenn wir denken.
 Was haben uns die Neurowissenschaften zu sagen? Die Neurowissenschaften
 haben nicht so angefangen, wie ich das vielleicht suggeriert habe. Anfangs
 beschäftigten sich sie sich mit dem Gehirn, und zwar mit dem verletzten Organ. Die
 Neurowissenschaften haben angefangen, das Gehirn zu verstehen, indem sie sich
 mit Menschen beschäftigt haben, die an Hirnläsionen litten. Da gibt es ganz
 berühmte Beispiele, und einige dieser Beispiele wurden von Forschern zum Anlass
 genommen, etwas über bestimmte Hirnpartien herauszubekommen, je nachdem
 welche Teile des Gehirns verletzt waren. Wir alle kennen Menschen oder haben
 zumindest von ihnen gehört, die einen Hirnschlag hatten, die nicht mehr sprechen
 konnten und erst mühselig, nach langer Zeit, wieder in der Lage sind, das Sprechen
 zu lernen. Konnten sie, bevor sie wieder sprechen lernten, denken? Ja,
 wahrscheinlich. Aber sie konnten die Worte, die sie gedacht haben, mit den Worten,
 die sie sprechen wollten, nicht in Einklang bringen – durch die Verletzung des
 Gehirns.
 Andere Forscher haben das Spektrum ihrer Forschungen weit ausgedehnt und
 gefragt, was haben das Denken und das Gehirn mit den kulturellen Lernprozessen
 über die vielen Generationen der Menschen hinweg miteinander zu tun? Welche
 Leistungen erbringt das Gehirn im Hinblick auf den kulturellen Lernprozess? Ist der
 kulturelle Lernprozess nicht einer der erstaunlichsten Leistungen des menschlichen
 Gehirns?
 Um herauszufinden, was die Philosophie und den Neurowissenschaften einander zu
 sagen haben, könnte man mal versuchsweise die Bereiche mit einer imaginären
 Trennlinie strukturieren. Man könnte sagen, die Neurowissenschaften thematisieren
 mit sehr viel Erfolg den so genannten subpersonalen Bereich. Das ist ein schönes
 Wort für etwas sehr Kompliziertes: All das, was wir nicht wirklich bewusst an
 Leistungen mit unserem Gehirn erbringen, nennt man heutzutage etwas salopp
 subpersonal. Wir wissen nicht genau, wie unsere Gefühle, Empfindungen, all das
 tiefe Rauschen in uns unser bewusstes Denken beeinflusst. Man könnte sagen,
 dieser eine große Kompetenzbereich, das Unbewusste, ist ein Bereich der
 Neurowissenschaften, die nehmen heute an, dass das Bewusstsein nur ein ganz
 kleiner Teil im menschlichen Gehirn ist, bedeutsamer ist das Unbewusste.
 Und dann bliebe natürlich das bewusste Denken für die Philosophie übrig. Aber die
 Tatsache, dass das eine mit dem anderen Ende verkoppelt ist, bringt uns
 notgedrungen in eine Arbeitsgemeinschaft mit den Neurowissenschaften. Als
 Philosoph möchte man natürlich unbedingt die Leistungen der Philosophie in den
 Vordergrund stellen. Aber wir müssen bescheiden bleiben und sehen, wir können
 eine ganze Menge von den Neurowissenschaften lernen. Wir können zum Beispiel
 lernen, dass vieles von dem, was einige Philosophen, die ich vorhin genannt habe,
 zum Beispiel Kant oder Descartes, als A priori, also als vor aller Erfahrung gegeben,
 charakterisiert haben, von den Neurobiologen heute schon erklärt werden kann. Die
 Leistungen des Gehirns – und hier sind wir schon bei der dritten Frage angelangt
 "was denkt“ –, die wir bewusst gar nicht wahrnehmen, sind inzwischen von der
 Neurobiologie ganz gut analysiert worden. Da gibt es interessante Dinge, die sehr
 viel mit dem zu tun haben, was zumindest seit Descartes als ein A priori
 gekennzeichnet wurde: die angeborenen Ideen („ideae innata“), klare und deutliche
 Ideen, Begriffe von Dingen.
 Neurobiologen sprechen natürlich nicht mehr von angeboren oder vom A priori. Sie
 sagen, weil das Gehirn eine mehrere 100 Millionen Jahre lange Entwicklung hatte,
 gibt es eine Art von Phylogenese, also eine Entwicklungsgeschichte, die völlig
 unabhängig von der Ontogenese, von der Struktur des individuellen Gehirns, das Sie
 und ich haben, zu betrachten ist. Diese Phylogenese ist also das, was diesen großen
 Pool an subpersonalen Leistungen erbringt oder erklärt, über den wir verfügen. Und
 da klingt das, was uns die Neurobiologen sagen, ganz ähnlich wie das, was uns Kant
 oder Descartes oder andere Philosophen auf ihre Weisen erklärt haben. Die
 Neurobiologen sagen nämlich, dass das Gehirn – man höre und staune – Objekte
 konstruiert, also zum Beispiel Umrisse, Gesichter, Gegenstände. Das Gehirn
 konstruiert diese Objekte nach strikten Regeln. Ähnliches sagt auch Kant. Natürlich
 sind das keine Regeln, die wir uns bewusst geben. Nein, diese Regeln haben sich im
 Laufe der vielen Entwicklungsstufen des menschlichen Gehirns gebildet.
 Manche Dinge können wir mit Erstaunen auch selber im Versuch feststellen. Zum
 Beispiel: Licht kommt von oben. Da denkt man, wir können uns doch gut vorstellen,
 eine Lampe am Boden anzubringen, und dann kommt das Licht eben von unten.
 Nein, wenn wir Gegenstände sehen, betrachten wir das Licht immer so, als ob das
 Licht von oben käme. Ganz erstaunlich. Unser Gehirn macht das von selbst.
 Oder: Unsere Netzhaut (Retina), die in unserem Auge für das Sehvermögen
 zuständig ist, bezieht sich immer nur auf einen kleinen Ausschnitt unseres Seefelds.
 Vieles von dem, was wir aber bewusst sehen, liegt außerhalb dieses kleinen Feldes.
 Was macht das Gehirn? Die Neurobiologen sagen, das Gehirn ergänzt das
 eingeschränkte Sehfeld: was wir nicht sehen, wird einfach vom Gehirn ergänzt. Wir
 sehen Menschen und darum herum Pflanzen, Bäume, Gebäude usw. und wir bauen
 das alles zusammen, ohne dass wir bewusst dieses ganze komplexe Bild
 wahrnehmen. Unser Gehirn hat gelernt, Bilder selbstständig zu vollenden.
 Dabei kann es aber Fehler geben. Das Gehirn bildet nämlich aus dem
 zweidimensionalen Gesehenen Dreidimensionales ab. Sie kennen diese
 Zeichnungen von Escher, die so aussehen, als würden wir ununterbrochen eine
 Treppe hinauf und gleichzeitig eine Treppe hinunter gehen. Unser Gehirn ergänzt,
 ohne dass wir das wollen oder beeinflussen könnten, dieses zweidimensionale Bild
 und macht es dreidimensional; und wenn es dreidimensional wird, dann wird es
 plötzlich inkohärent und verwirrend. Es gibt viele ähnliche
 Wahrnehmungstäuschungen. Täuschungen, die nur deswegen zu Stande kommen,
 weil unser Gehirn selbstständig etwas tut, ohne dass wir es wollen. Im Normalfall
 jedoch konstruiert es ein zusammenhängendes kohärentes Bild von der Wirklichkeit
 ab.
 Also Licht kommt von oben, die Welt ist für uns stabil, Verdecktes gehört zusammen
– das sind von uns nicht beeinflussbare Konstruktionsweisen. Wenn Sie zum
 Beispiel in Italien die wunderschönen Marmorböden aus weißen und schwarzen
 geometrischen Marmorfiguren betrachten, dann stellen Sie etwas ganz
 Merkwürdiges fest, nämlich dass die Böden zweidimensional und manchmal
 dreidimensional sind. Das Bild scheint hin und her zu springen. Oder der berühmte
 Hasen-Enten-Kopf. Sie können sich das vielleicht, wenn ich das so erzähle, nicht so
 recht vorstellen. Den Hasen-Enten-Kopf finden Sie in Ludwig Wittgensteins
 philosophischen Untersuchungen. Das Bild springt hin und her, mal sehen Sie einen
 Hasen-, mal einen Entenkopf.
 Also unsere Hirnleistungen sind von uns nicht in jeder Hinsicht kontrollierbar. Die
 Neurowissenschaften zeigen, dass man mit guten Gründen davon sprechen kann,
 dass das Gehirn denkt, auch wenn das nicht so richtig in unser Sprachspiel passt.
 Denn in unserer Sprache ist es immer ein Subjekt, eine Person, die denkt, und nicht
 etwas, das denkt. Aber wir müssen uns eben einfach angewöhnen, dass das Gehirn
 tatsächlich etwas tut, dass es etwas mit uns veranstaltet, egal ob wir wollen oder
 nicht. Wieviel es tut, was genau – da werden wir noch eine ganze Menge dazu
 lernen müssen. Also die phylogenetische Entwicklung unseres Gehirns deckt diesen
 großen Kompetenzbereich der Neurobiologie ab, den wir folgendermaßen
 beschreiben könnten: Erklärt wird, was uns bewusst nicht zugänglich ist, das so
 genannte Subpersonale. Und das wiederum hängt mit dem, was wir bewusst tun, in
 enger Weise zusammen.
 Man würde natürlich gerne noch ein bisschen mehr erfahren. Wir haben gelernt,
 dass ein Großteil dessen, was wir bisher mit a priori oder angeboren bezeichnet
 haben, a posteriori aus der Perspektive der Wissenschaften erklärt werden kann und
 Explanans und Explanandum deutlich unterschieden werden. Der Zirkel ist hier
 vermieden.
 Ich habe vorhin die bildgebende Verfahren erwähnt. Im Englischen heißt das sehr
 schön: functional magnetic resonance imaging – abgekürzt FRMI. Das lesen Sie
 heute in vielen Artikeln in großen Tageszeitungen, leider nicht immer gut erklärt.
 Diese bildgebenden Verfahren kann man dazu benutzen, um festzustellen, was
 Menschen, die etwas lesen, die sprechen, die etwas sehen oder hören, in ihrem
 Gehirn an Leistungen erbringen. Sichtbar gemacht wird der Sauerstoffverbrauch des
 Gehirns im Moment der Aktivität.
 Wir springen also jetzt von der Phylogenese in die Ontogenese. Mit den
 bildgebenden Verfahren werden aufschlussreiche Versuche gemacht mit Personen,
 die am so genannten Locked-in-Syndrom leiden. Das sind ethisch sehr interessante
 Versuche, denn diese Menschen können nicht kommunizieren, sie können nicht auf
 Fragen antworten, sie können auch nicht deutlich zu erkennen geben, dass sie etwas
 verstanden, gehört haben. Meist sind ihre Augen geöffnet und sie vermitteln dadurch
 auf den ersten Blick den Eindruck, als seien sie wach bei Bewusstsein. Aber sie sind
 es nicht, vielleicht schlafen sie. Bildgebende Verfahren haben nun Erstaunliches
 festgestellt: Wenn diese Menschen etwas vorgelesen bekommen oder sie gebeten
 werden, sich etwas vorzustellen, werden in ihnen die gleichen Hirnregionen aktiv wie
 beim gesunden Menschen. Die Neurowissenschaften zeigen also etwas ethisch
 Interessantes, nämlich dass diese Personen, die scheinbar für immer bis zu ihrem
 Tod in sich eingeschlossen sind, doch denken, in einer bestimmten Hinsicht
 jedenfalls.
 Was genau, das können wir natürlich nicht sagen. Wir können nicht in Gedanken
 hineingucken. Das war übrigens etwas, was schon Leibniz festgestellt hat. Wenn wir
 uns unser Gehirn einmal riesengroß vorstellen, so dass wir in es hineingehen und es
 von innen betrachten könnten, könnten wir beobachten, wie die Neuronen feuern.
 Doch Gedanken könnten wir keine lesen. Das gilt natürlich genauso für Locked-in-
Patienten. Auch ihre Gedanken können wir nicht lesen. Wir können überhaupt keine
 Gedanken lesen, da können Sie ganz sicher sein.
 Die Erkenntnisse der Neurobiologie geben uns Möglichkeiten an die Hand, durchaus
 auch in ethischer Weise eine Veränderung in unserer Beurteilung von Krankheiten
 herbeizuführen. Denn noch immer sind viele der Meinung, dass man Menschen, die
 an dem Locked-in-Syndrom leiden, doch sterben lassen sollte, weil sie angeblich
 nicht denken.
 Wieder zurück zum Verhältnis Philosophie-Neurobiologie: Das ist ein neues
 Verhältnis, bei dem beide Disziplinen voneinander lernen können. Ich habe sehr viel
 von dem, was die Philosophen von der Neurobiologie lernen könnten, angesprochen,
 aber auch das Umgekehrte ist der Fall. Die Neurobiologen sind, jedenfalls die, die ich
 kenne, begierig zu wissen, was die Philosophen zu den so genannten A prioris oder
 angeborenen Leistungen gesagt haben. Ist das nicht etwas, was hilfreich sein könnte
 für die Strukturierung etwa von Laborversuchen?
 Es zeichnet sich eine Arbeitsteilung zwischen Neurobiologie und Philosophie ab, die
 etwa darauf hinausläuft, dass Bereiche des Bewussten und des nicht Bewussten
 oder des Phylogenetischen und des Ontogenetischen zusammenführt werden. Denn
– und da treffen sich die Linien – wir wollen doch etwa wissen, wie das menschliche
 Gehirn funktioniert, wie es lernt. Das ist nicht nur wichtig für die so genannten
 normalen Menschen, sondern auch vor allem für die, die durch Gehirnschläge oder
 andere Unglücksfälle verlernt haben zu sprechen. Das Lernen ist das große Feld, auf
 dem Neurobiologie und Philosophie wirklich zusammenkommen.
 *****