Michael Maier: Globale Verblödung oder Fortschritt . Wie verändert das Internet unsere Welt?
SWR2 Wissen: Aula -
Sendung am Sonntag, 29.08.2010, 08.30 bis 9.00 Uhr
Autor und Sprecher: Dr. Michael Maier *
Redaktion: Ralf Caspary
Sendung: Sonntag, 29. August 2010, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
ÜBERBLICK
Kaum ein neues Medium wird so unterschiedlich bewertet wie das Internet. Die einen verbinden mit ihm den Untergang des Abendlandes, sie haben Furcht vor Kindern, die nicht mehr richtig lesen und schreiben können, vor einer Gesellschaft, die nur noch Diskurse im Cyberspace führt. Andere verbinden mit dem Internet lauter Revolutionen, sie träumen von neuen Kommunikations- und Arbeitsformen, die dieses Medium eingeführt hat. Michael Maier, Buchautor, Internet-Unternehmer und Journalist, erklärt, wie und warum sich unser Leben mit dem Internet verändert.
Zum Autor:
* Zum Autor: Dr. Michael Maier (früher Chefredakteur „Die Presse“/Wien, „Berliner Zeitung“, „Stern“ und „Netzeitung“) leitet das Team der Fachinformation „Blogform Professionell Information“, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, aus der unübersehbaren Anzahl ständig neuer Quellen in den neuen Medien unabhängig in die Tiefe gehende Informationen und Analysen aus gesellschaftlichen relevanten Bereichen anzubieten. Er hat an der Hebräischen Universität Jerusalem zum Thema „Antisemitismus in den Medien der DDR“ und als Fellow am Joan Shorenstein Center for the Press, Politics and Public Policy der Kennendy School of Government an der Harvard Universität zum Thema „Umweltjournalismus in Bürgermedien“ geforscht. Er ist Lehrbeauftragter an der Fachhochschule für Management und Kommunikation in Wien.
Buchtipp:
Die ersten Tage der Zukunft. Wie wir mit dem Internet unser Denken verändern und die Welt retten können. Pendo Verlag. 2008.
Buchtipp:
Die ersten Tage der Zukunft. Wie wir mit dem Internet unser Denken verändern und die Welt retten können. Pendo Verlag. 2008.
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INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: „Globale Verblödung oder Fortschritt zum Besseren – Wie verändert das Internet unser Denken?“
Internet-Kulturpessimisten und -Optimisten können sich trefflich über dieses Medium streiten. Jene sagen: Das Internet macht uns zu Cyberspacejunkies, die nicht mehr wissen, wie die Realität aussieht und funktioniert, die deshalb ins Virtuelle flüchten. Statt Freunde zu treffen, nehmen wir mit Facebook vorlieb, statt sich mit Gleichgesinnten auszutauschen oder zu engagieren, schreiben wir neuerdings irgendwelche kruden Botschaften in einen Blog. Falls wir überhaupt noch schreiben können, denn – auch das sagen die Pessimisten – das Internet fördert Analphabetismus, weil ja die Bilder dominieren.
Und was sagen die Optimisten? Das erfahren Sie nun im Vortrag von Michael Maier, er ist so ein Optimist, gleichzeitig ist er Journalist, Medienunternehmer, Buchautor. Er zeigt in der SWR2 Aula, warum es völlig falsch wäre, das Internet zu dämonisieren.
Michael Maier:
Das Internet ist ein Informationsmedium und Informationskanal. Das Internet ist etwas, vor dem wir uns nicht fürchten müssen. Ich glaube, das ist eines der großen Probleme, mit denen wir in Deutschland zu kämpfen haben: eine gewisse Skepsis gegenüber Technik bzw. gegenüber der Möglichkeit, Technik zu missbrauchen. Diese Skepsis rührt vermutlich aus unserer Geschichte. Wir haben es erlebt, und Hannah Arendt hat es einmal sehr drastisch ausgedrückt, indem sie gesagt hat: "Man stelle sich einmal vor, die Atombombe in den Händen eines Tyrannen wie Adolf Hitler – das würde das Ende der Welt bedeuten."
In Deutschland ist sehr lange alles, was technische Implikationen hat oder nur ansatzweise mit Technik zu tun hat, unter einem Generalsverdacht gestanden. Jeder Computer musste sich zunächst einmal rechtfertigen. Es war nicht so sehr die Frage, wie kann ich ihn denn vernünftig verwenden, sondern die Hauptsorge der Leute war, was kann der Computer eigentlich für eine Gefahr für mich bedeutet. Das widerspricht meiner grundsätzlichen Sicht von Dingen, und ich halte es da mit Thomas von Aquin, der sagt, es gibt keine guten und schlechten Dinge, es gibt nur guten und schlechten Gebrauch von Dingen. Und daher, glaube ich, ist die Angst vor Technik oder die Unterstellung, dass Technik uns überrollen könnte, ein irrationale Angst, die in der deutschen Kultur und in der deutschen Geschichte sehr begründet ist. Wir leben in einer globalisierten Welt, und die deutsche Sicht ist nur eine von vielen.
Wir haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten immer vom Primat der Amerikaner gesprochen; wenn wir heute in die Welt schauen, sehen wir, dass die Welt größer und kleiner zugleich geworden ist: wir haben es mit asiatischen Märkten zu tun, wir haben es mit asiatischen Kulturen zu tun, Wir haben es mit afrikanischen Kulturen zu tun, mit russischen, mit lateinamerikanischen, alles vermischt sich, und wir können es uns aus deutscher Sicht, so meine ich, nicht leisten zu sagen, wir ziehen uns zurück, wir hatten immer eine bessere Welt, wir brauchen das nicht, wir schotten uns ab gegen das Böse. Diese Theorie funktioniert nicht. Ich glaube, wir müssen an das Internet vollkommen wertfrei herangehen. Wir müssen sagen, das Internet ist ein neuer Informationskanal, ein neuer Kommunikationskanal, den wir haben, und wir müssen erst lernen, diesen Kanal richtig zu verwenden.
Warum ist das notwendig? Man könnte ja auch sagen, wir haben 2000 Jahre ohne Internet gelebt, brauchen wir das eigentlich? Meine These ist, dass durch die Globalisierung auch ein globaler Informations- und Kommunikationskanal notwendig geworden ist. Unsere Probleme, wir haben das während der Finanzkrise gesehen, unsere Umweltprobleme, Umweltkatastrophen, die uns drohen können, sind global geworden. Also müssen auch unsere Instrumente zur Lösung der Probleme global sein.
Dazu reicht es nicht mehr zu sagen, wir haben aber ein gutes Rundfunksystem; es reicht auch nicht mehr zu sagen wir haben gute Zeitungen. Beides ist richtig und toll. Es reicht aber nicht. Wir müssen eine gemeinsame Verständigung finden, von Asien über Afrika über Lateinamerika und durch die ganze Welt. Die Beschleunigung, die durch die Entwicklung der globalen Kommunikationssysteme entstanden ist, hat uns das Internet einerseits ins Haus gebracht, aber zugleich auch die Lösung aufgezeigt, wie wir damit umgehen können. Ich habe mir einen Vergleich überlegt, der ein bisschen nach Biologie klingt, der aber nicht so gemeint ist, sondern mehr als Metapher dienen soll.
Wenn wir uns den Menschen anschauen und sagen, der Mensch ist die Krönung der Schöpfung, so ist das zwar einerseits richtig, aber es gibt auch andere Lebewesen, die schon über viele Millionen Jahre global kommunizieren können. Ich nehme da gerne das Beispiel der Delphine. Delphine leben eigentlich seit Tausenden von Jahren so wie die Menschen heute leben: Sie sind Migranten, sie leben in Ozeanen, sie müssen sich bewegen, sie müssen durch hohe Wellengänge, sie sind verstreut, sie sehen einander nicht, sie müssen auf Zuruf funktionieren, obwohl sie Tausende von Kilometern voneinander entfernt sind. Und erstaunlicherweise hat die Forschung ermittelt, dass die Delphine das so genannte Echolotsystem entwickelt haben, welches eigentlich den Prinzipien des Internet sehr ähnlich ist. Das heißt, sie haben als Gattung einen Kommunikationskanal entwickelt, mit dem sie bei undurchsichtigem Wasser, bei hohem Wellengang, über große Entfernungen miteinander kommunizieren können.
Sie können nicht mit einer Zeitung kommunizieren, sie können nicht Radio hören, sie können auch keine Briefe schreiben, sie können nicht miteinander sprechen im klassischen Sinne, aber sie haben etwas entwickelt, was Raum und Zeit überwindet und ihnen als Gattung die Möglichkeit gibt, Gefahren schneller zu erkennen. Und wenn wir das Internet einmal aus dieser Perspektive betrachten, sehe ich es genauso: als eine Möglichkeit für Menschen, schnell miteinander zu kommunizieren, gemeinsam auf Gefahren hinzuweisen, um uns gemeinsam auf Gefahren einzustellen und uns zusammen zu tun, um Probleme zu lösen.
Was ist das Internet eigentlich? Letztlich ist es nichts anderes als eine technische Infrastruktur, Kabel, die unter der Erde verlegt sind, die für uns Menschen eigentlich keine Bedeutung hätten. Wir haben aber begonnen, es zu benutzen, und haben ganz neue Formen entwickelt.
Ich glaube, dass diese neuen Formen in mancherlei Hinsicht dem Echolot der Delphine sehr ähnlich sind. Alle diese Kommunikationsprozesse laufen darauf hinaus, dass man sagt, ich möchte die Nähe des Anderen haben, ich muss wissen, wo ist der andere, ich muss ein Gefühl haben, was macht der andere gerade. Das können sie natürlich bei Kindern und Jugendlichen besonders beobachten. Kinder und Jugendliche haben ein ausgeprägtes Kommunikationsbedürfnis, gesellschaftlich betrachtet haben sie jedoch immer große Kommunikationsdefizite. In den Familien wird wenig gesprochen, das Fernsehen hat dazu geführt, dass Passivität und Konsum letztendlich vor dem Informationsaustausch in den Vordergrund getreten ist. Dabei wissen wir, dass Fernsehen tatsächlich zur Nicht-Aktivität des Gehirns führt. Aber die Jugendlichen und Kinder haben wenige Möglichkeiten, sich zu artikulieren. Heute, durch das Internet, sind sie auf einmal in der Lage, über die Kontinente, über Länder, über Orte hinweg mit allem und jedem zu kommunizieren.
Wir älteren Mitbürger, wie Harald Schmidt sagen würde, sind ja eher noch mit der E-Mail beschäftigt und halten die E-Mail für das Internet. Wenn man genau hinschaut, ist die E-Mail schon längst überholt. Die E-Mail ist ein erster Schritt des schnellen Kontakts, aber tatsächlich kommunizieren die jungen Menschen heute über ganz neue Dinge wie Instant Messaging, über soziale Netzwerke, sie kommunizieren sehr schnell, sie sind immer online, immer mit ihren Freunden vernetzt und sie sind damit in der Lage, Informationen auszutauschen, aber auch ein Gefühl der Geborgenheit zu bekommen.
Wenn man das ausweitet auf das Erwachsenenleben heute, noch anders als vor zwei Jahren, sind auch die meisten Erwachsenen bereits in irgendwelchen sozialen Netzwerken organisiert. Ich glaube, dass das für viele Menschen eine Möglichkeit ist, aus ihrer täglichen Isolation herauszukommen und sich mit anderen in Verbindung zu bringen. In diesem Zusammenhang muss man zum Beispiel Partnernetzwerke erwähnen. Früher war es für jemanden, der im Dorf oder in der Kleinstadt ab einem gewissen Alter nicht sehr gut verdrahtet war, praktisch unmöglich oder zumindest sehr schwer, einen Lebenspartner zu finden. Wenn der- oder diejenige noch dazu berufstätig war und erst abends nach Hause kam, war die Chance, einen Lebenspartner zu finden, sehr gering. Heute schließen Millionen von Menschen Beziehungen über das Internet, ganz unspektakulär, davon hören wir nichts, es gibt keine Skandale, es gibt nichts, worüber man in dem Sinn berichten könnte - außer, dass Millionen von Menschen mithilfe der Technik in der Lage gewesen sind, ihre eigene Isolation zu durchbrechen und einen Partner für das Leben zu finden.
Dazu kommt, dass das Internet über das gesprochene Wort hinausgeht. Ich halte das für ein kulturell ganz wichtiges Phänomen: Junge Menschen drücken sich am liebsten durch Bilder aus – durch bewegte Bilder, durch Musik, durch Tanz. Viele können nicht gut reden oder schreiben, sie haben eher andere Stärken. Gerade sie profitierten vom Internet, denn dort ist das Primat der Sprache aufgehoben. Es gibt eine Art Triumph der Bilder. Es wird anhand von Bildern kommuniziert, bewegte Bilder oder Fotos zum Beispiel. Das ist eines der großen Themenbereiche des Internets. Dieser globale Kommunikationskanal ermöglicht uns und ermöglicht auch quasi sprachlosen Menschen, sich zu artikulieren, was ich für ein unglaubliches Phänomen halte.
Er ermöglicht auch alten Menschen zu kommunizieren. Eines der ganz großen Wachstumssegmente im Internet sind Menschen über 50, die nun in der Lage sind, über das Internet Kontakte aufzunehmen, die sie früher nie hatten. Oft haben sie zum Beispiel Familien, die über die Welt verstreut sind, mit denen sie Kontakt halten. Ich kenne viele ältere Menschen, die sich mit Leidenschaft mit ihren Enkeln vernetzt haben, die mit großer Begeisterung auch über Kontinente hinweg sich mit anderen Menschen, die gleiche Interessen haben, austauschen. Das heißt, auch hier sehen wir wieder ein Stück Aufhebung der Isolation im Sinne von globaler Kommunikation.
Das ist auch deswegen wichtig, weil wir nur so zu einer globalen Verständigung kommen können. Ein Hirnforscher hat einmal gesagt, viele Kriege der Welt würden nicht stattfinden und viele Krisen könnten gewaltfrei gelöst werden, wenn wir differenziertere Formen der Kommunikation besäßen. Beispielsweise könnte eine Friedenskonferenz nicht nur aus Texten und Resolutionen bestehen, sondern eine globale oder regionale Friedenskonferenz könnte vielleicht ermöglichen, dass Völker, die sich im Tanz am besten ausdrücken können, ihre Meinung tanzen könnten, dass Völker, die sich in Musik besser ausdrücken können, ihre Positionen durch Musik zu Gehör bringen könnten. Das ist sehr visionär und davon sind wir noch sehr weit weg, aber durch das Internet nähern wir uns einer solchen Entwicklung an, weil der Primat der Sprache sozusagen gebrochen wird und es auch Bilder, Tanz, Bewegung, Musik als gleichberechtigte Kommunikationsmittel gibt.
Zugleich, und das ist als Plädoyer für die jungen Leute gemeint, hat das Internet den jungen Leuten in ihren Familien einen ganz neuen Status verschafft. Sie sind die Computer-Experten, sie sind diejenigen, die man fragt, sie sind diejenigen, denen die Eltern nicht von oben herunter alles erklären, sondern die Eltern kommen zu den Kindern und sagen: "Erklärt du mir das einmal." Ein von Soziologen beobachtetes Phänomen, das enorm zur Wertsteigerung und zur Steigerung des Selbstbewusstseins von Kindern geführt hat.
Es wäre natürlich naiv zu glauben, dass alles rosig ist im Internet. Trotzdem sollten wir vielleicht einen kurzen Blick werfen auf ein paar Erfolge, die dieses Internet ermöglicht hat. Ich glaube nicht, dass das Internet den Erfolg herbeiführt, aber es ermöglicht sie. Denken müssen am Ende immer noch die Menschen.
Es gibt eine Einrichtung, die die meisten Zuhörerinnen und Zuhörer wahrscheinlich auch kennen oder vielleicht schon einmal benutzt haben: Wikipedia, ein globales Lexikon. Für mich ist das so ein Beispiel dafür, was möglich ist, wenn Menschen Technik richtig einsetzen. In Wikipedia tragen tausende Menschen freiwillig, ohne Bezahlung, mit größter Akribie und größter Hingabe, in Kollaboration mit anderen das Wissen der Welt zusammen. Wenn man sich anschaut, wie Wikipedia sich in den letzten 5, 6 Jahren entwickelt hat, kann man sagen, es ist heute ein anerkanntes Kompendium, das wahrscheinlich vor allen Enzyklopädien rangiert.
Ich hatte neulich ein lustiges Erlebnis mit meinen Kollegen in Harvard: Als ich vor drei Jahren dort gewesen bin, war die Skepsis gegenüber Wikipedia groß, fast mit deutschen Vorbehalten hatte man das Gefühl, hier ist mehr Gefahr als Chance. Als ich jetzt vor einem halben Jahr wieder mit den Kollegen gesprochen habe, hat sich herausgestellt, dass selbst an den renommiertesten Institutionen wie der Kennedy School in Harvard Wikipedia heute die zentrale Quelle der Informationsvermittlung ist. Das hängt auch damit zusammen, dass Wikipedia es geschafft hat, über die reine Wissensvermittlung hinweg eine Gemeinschaft zu gründen und Methoden zu entwickeln, dass Inhalte tatsächlich verlässlich richtig sind. Sie finden einfach weniger Fehler.
Ein anderes Beispiel ist die Entdeckung des SARS-Virus. Vor einigen Jahren brach in Asien diese Pandemie aus, und die globale Gesellschaft stand vor der Frage, was können wir machen, wie können wir einen solchen globalen Virus a) erkennen und b) eindämmen? Sollen wir einen Experten in New York fragen, sollen wir einen Experten in Peking fragen, sollen wir die Deutschen fragen? Und dann hat sich die Weltgesundheitsorganisation erstmals in der Geschichte entschlossen, dieses Virus in einem Kollaborationsprozess auszuschalten. Sie hat mehrere Universitäten zusammengedockt und gesagt, ihr Universitäten müsst herausfinden, was ist der Virus und wie können wir ihn bekämpfen. Daraufhin haben sich an verschiedenen Orten des Globus Wissenschaftler hingesetzt, ohne dass sie einander gekannt haben, und haben mithilfe des Internet den Virus entdeckt, identifiziert, und so konnte er bekämpft werden. Das ist für mich ein sehr vielsagendes Beispiel über die Möglichkeiten der globalen Kooperation.
Natürlich stellt sich die Frage, was macht eigentlich das Internet mit unseren Köpfen? Werden wir schlechtere Menschen? Werden wir Maschinen, verschmilzt der Mensch mit der Maschine, werden wir Roboter? Diese Fragen beantworte ich gerne mit einem Vergleich: Auch die klassische Zeitung hat unser Denken signifikant verändert. In gewisser Weise sind auch durch die klassische Zeitung Mensch und Maschine miteinander verschmolzen. Denn durch das Aufschneiden von Papier auf Zeitungspapier war es notwendig geworden, Texte in Kolumnen zu lesen. Das ist etwas, was sozusagen aus dem menschlichen Hirn heraus überhaupt keine Notwendigkeit ist, was aber aufgrund der Technik notwendig ist, weil das Zeitungspapier aus gefällten Bäumen hergestellt werden musste. Das hat mit den Pamphleten im 17., 18. Jahrhundert begonnen. Und nun haben wir uns seit 300 Jahren angewöhnt, Texte in Kolumnen zu lesen. Hier sind Technik, Mensch und Maschine irgendwie verschmolzen, ohne dass wir es gemerkt haben.
Im Internet ist das anders. Ich glaube, und die Hirnforschung beschreibt uns verschiedene, interessante Phänomene, beim Internet geht es vor allem darum, dass das menschliche Hirn Erfahrungswerte gesammelt: durch Aktivität lernen. Experimente aus der Hirnforschung haben gezeigt, was passiert mit Tieren, zum Beispiel Mäusen, passiert, die sich nicht bewegen, und was mit solchen passiert, die aktiv sind. Fast alle diese Experimente beweisen, dass aktive Mäuse gesünder und lebensfähiger sind, in gewisser Weise gemäß dem Prinzip "survival of the fittest" – Überleben des Stärkeren, wie Darwin das genannt hat (Darwin hat ja nicht gesagt, der Stärkere, der dem anderen auf den Kopf haut, sondern Darwin hat gesagt, der, der am ehesten in der Lage ist, sich auf neue Lebensumstände einzustellen, überlebt). Das ist etwas, was durch das Internet sehr stark gefördert wird: Unser Denken wird flexibler, wir können unsere Synapsen erweitern, dass wir also letztlich unsere Denkkapazität und unsere Denkfähigkeit verbessern können. Auch dazu gibt es wissenschaftliche Studien, die das belegen.
Was bedeutet das in ethischer Hinsicht? Heißt das, wenn alle Menschen gemeinsam denken, werden sie gut oder werden sie böse? Ich glaube, da gibt es einige sehr interessante Erkenntnisse aus der Soziologie, die belegen, dass je mehr Menschen sich mit einem Thema beschäftigen, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie zu dem richtigen Ergebnis kommen. Wir kennen das vielleicht noch aus den siebziger Jahren: Gruppendiskussionen, über die wir in der Soziologie viele Experimente gemacht haben. Damals ist man von der These ausgegangen, die Gruppe leiste mehr als der Einzelne. Dann hat man gesehen, dass die Gruppe eigentlich sehr anfällig ist, dass sie irgendwelchen Führern folgt, dass sie Kaskadeneffekten unterliegt, dass die Gruppe Fehler macht und sich in der Gruppe Vorurteile verstärken. Daraus folgerte man, die Gruppe allein kann es nicht sein.
Im 18. Jahrhundert hat ein französischer Mathematiker, Marquis de Condorcet, ein mathematisches Theorem entwickelt, das besagt: Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen zu einem richtigen Ergebnis kommen, steigt gegen 100, je mehr Menschen sich beteiligen. Das ist ein einfaches Beispiel der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Das heißt, die Möglichkeit der Partizipation, die Möglichkeit der Menschen mitzuwirken erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass wir zu den richtigen Ergebnissen kommen. Werden das auch die richtig guten Ergebnisse sein?
Nun, ich glaube, ganz wichtig ist, dass im Internet der Einzelne die größte Rolle spielt. Anders als bei Gruppendiskussionen oder bei klassischen Massenzusammenballungen spielt der Einzelne im Internet immer noch die größte Rolle, denn am Ende ist der Einzelne verantwortlich für seine Handlungen und Entscheidungen.
Wenn wir uns anschauen, wie im Internet moralische Kriterien angewandt werden, so kann man feststellen, es gibt ein phänomenales Ausmaß an Selbstregulierung und Selbstkontrolle. Es gibt die so genannte Netiquette und darüber hinaus Bestrafungen und Belohnungen für falsches oder richtiges Verhalten. Das heißt, der Einzelne handelt im Internet, wenn er da alleine vor seinem Computer sitzt, nach der Kantschen Maxime immer so, dass sein Handeln zur Norm für die Allgemeinheit werden könnte. Das ist eines der unausgesprochenen Gesetze im Internet, an das sich die einzelnen Teilnehmer halten.
Dessen ungeachtet wäre es natürlich Unsinn zu glauben, dass eine Technologie, ein Ding nicht auch schlecht zu gebrauchen wäre. Und resultiert eigentlich mein größtes Plädoyer für die aktive, engagierte, leidenschaftliche Nutzung des Internet. Es gibt nämlich weltweit viele Kräfte, die das Internet wohl in ihren Besitz bringen wollen, die uns manipulieren wollen. Größte Gefahr: der Kommerz. Wenn Sie heute sehen, wie viel PR-Aktivitäten und Vernebelungstaktik betrieben wird, wie viel an Unwahrheiten, auch bewusst, industriell, verbreitet wird, dann sehen sie einen riesigen Strom. Sie können diesen Strom der Manipulation aber nicht bekämpfen, indem Sie ausschalten und auf Urlaub gehen. Ich lehne diese Herangehensweise ab. Sondern Sie können sie nur bekämpfen, indem Sie sagen, wir müssen besser sein, wir müssen es besser beherrschen.
Stichwort: Terrorismus, politische Gewalt. Vor etwa einem Jahr gab es eine richtiggehende Cyber-Attacke der russischen Regierung, die einen unliebsamen Bürger in Georgien finden wollte und daraufhin europaweit viele Server ausgeschaltet hat. Das heißt, die politische Bereitschaft, das Internet auch zum Krieg zu verwenden, zur Bekämpfung von anderen Meinungen ist groß. Wir müssen also in der Lage sein, mit unseren Werten dagegenzuhalten. Das setzt aber voraus, dass wir ein perfektes Verständnis der Technik haben. Denn die Feinde der Demokratie, die Feinde unserer zivilisatorischen Gesellschaft sind technisch hervorragend ausgerüstet. Die Kommerzialisten, wenn ich sie mal so nennen darf, wissen genau, wie sie vorgehen. Naivität und den Kopf in den Sand stecken hilft hier nicht. Wir müssen sozusagen in einen Kampf einsteigen, indem wir uns als Anwälte des Guten verstehen und indem wir sagen, wir wollen dem Guten zum Durchbruch verhelfen.
Am Ende glaube ich, dass wir optimistisch sein können. Ich glaube, dass die Menschheit sich in ihrer gesamten Geschichte, das kann die jüngere Geschichte sein, das kann die ältere Geschichte sein, immer in der Lage gewesen ist, sich aus existenzbedrohenden Krisen zu retten. Sie hat das gemacht, indem sie sich weiter entwickelt hat. Das Internet ist aus meiner Sicht die Reaktion der Spezies Mensch auf die globale Bedrohung, dass, wenn sie nicht aufpasst, sie ausgerottet werden kann. Das ist also ein ernstes Szenario. Ich glaube, dass die Menschheit intelligent genug ist, das Internet als Technologie so zu nutzen, dass es zu ihrer Weiterentwicklung und zu einer guten Zukunft für die nachfolgenden Generationen werden kann, und dass das Internet nicht dazu verwendet werden wird, uns alle kaputt zu machen und uns am Ende traurig zurückzulassen.
Wie recht Condorcet hat, zeigt auch die Tatsache, dass heute die Netzwerkstrukturen genau nach diesem Prinzip funktionieren: Menschen arbeiten zusammen, bewusst und in immer größerer Anzahl. Das war vor 20 Jahren ein kulturell völlig unverständliches Phänomen. Damals kamen die so genannten Hacker auf. Wenn wir damals von Hackern gehört haben, waren das für uns immer die Bösen, die uns schaden und etwas zerstören, das wir mühsam aufgebaut haben. Diese Sorge hatten vor allem Großunternehmen, wie etwa der Computerhersteller IBM. Tatsächlich aber stellte sich heraus, dass das Interesse der Hacker nicht in der Zerstörung bestand, sondern darin, eine Entwicklung zu verbessern. Sie "hackten" sich in Programme, um dadurch zu beweisen, dass sie fehlerhaft waren.
Es entstand eine dramatische Veränderung dessen, was wir unter Kollaboration verstehen. Große Firmen haben begonnen, Hacker aktiv in ihre Produktionsprozesse einzubeziehen. Sie haben gesagt, ja, es stimmt, diese Menschen schaden uns nicht, diese Menschen helfen uns zur Weiterentwicklung und Verbesserung des Produktes. Und so entstand etwas, was heute ganz wichtig ist im Internet, die so genannte Open Source-Bewegung, das heißt, im Wissen, dass wir gemeinsam stärker sind, vertrauen wir aktiv auf den anderen, wir setzen uns in Verbindung mit dem anderen, wir treten gewissermaßen in sein Denken hinein, wir machen ihn aufmerksam auf einen Fehler. Das ist nicht so wie früher, als man etwas hämisch gesagt hat, der hat sich aber geirrt, ich weiß es besser. Nein, es ist ein gemeinsames Bemühen, die Wahrheit zu finden, die richtigen Ergebnisse zu finden.
Diese Form der Kollaboration führt dazu, dass wir tatsächlich auf dem Weg sind, viel bessere Ergebnisse herbeizuführen. Das hat im Übrigen sogar Auswirkungen auf die Wissenschaft. Früher war es so, dass wissenschaftliche Arbeiten von ein oder zwei Experten beurteilt werden sollten. Heute ist die Wissenschaft dazu übergegangen, wissenschaftliche Arbeiten komplett ins Internet zu stellen mit dem Wunsch und der ausdrücklichen Aufforderung, möglichst viele Experten auf der Welt sollten dazu ihre Meinung äußern, weil – gemäß des Theorems von Condorcet – die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns dem richtigen Ergebnis annähern, gegen 100 geht, je mehr Leute mitwirken. Wir sind davon weggekommen zu sagen, es muss geschützt werden, es wird nur das preisgegeben, was wir preisgeben können. Nein, es hat sich durch das Internet ein gemeinsamer Prozess des Denkens entwickelt, der aus meiner Sicht Denken in der klassischen Form, wie wir es noch vor 50 Jahren gekannt haben, völlig neu definieren wird in den nächsten Jahren.
Gert Heidenreich: Das Netz, das Glück, die Beziehung – Die Gesellschaft und das Internet
SWR2 Aula -
Autor: Gert Heidenreich *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 1. April 2012, 8.30 Uhr, SWR 2
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Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
* Zum Autor:
Gert Heidenreich, geb. 1944, lebt als freier Schriftsteller in Oberbayern. Er studierte alte und neuere deutsche Literatur, Theaterwissenschaft, Soziologie und Philosophie und arbeitete als Theaterautor und als Journalist für mehrere Rundfunkanstalten und renommierte Zeitungen und Zeitschriften. Seit 1970 unternahm er weltweite (Lese-) Reisen, auch für das Goethe-Institut, die ihn u. a. nach Afrika, Ägypten, Island, Japan, USA, Russland, Usbekistan und Kirgistan führten. Außerdem ist er als Sprecher für Rundfunk, Fernsehen und Hörverlage tätig und Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Gert Heidenreich hat zahlreiche Preise erhalten, darunter den Adolf Grimme Preis.
Bücher (Auswahl):
- Mein ist der Tod. LangenMueller. März 2012.
- Das Fest der Fliegen. LangenMueller. 2009.
- Die Nacht der Händler. LangenMueller. 2009.
- Im Dunkel der Zeit. Kriminalroman. dtv. 2008.
- Mein ist der Tod". Kriminalroman. LangenMüller. 2012
ÜBERBLICK
Kunstaktion Netzwerk in StuttgartDas Netz ist die zentrale Metapher der vergangenen zwei Jahrzehnte, in denen wir gelernt haben, uns als verknüpfte Wesen und die Welt als Flechtwerk einander überlagernder Handels- und Kommunikationsnetze zu sehen. Wir denken und leben im Netz. Wer vernetzt ist, hat gute Beziehungen in die Höhe und Breite der Gesellschaft. Der Schriftsteller Gert Heidenreich nimmt das Netz unter die Lupe und zeigt, warum es die Gesellschaft und das Miteinander nicht nur voran bringt.
INHALT
Ansage
Mit dem Thema: „Das Netz, das Glück, die Beziehung – Gesellschaft und Internet“.
Das Netz ist die zentrale Metapher für unsere Gegenwart und unsere Gesellschaft. Wir denken und leben im Netz, wer vernetzt ist via Facebook, hat viele Freunde und viel Kommunikation, wer twittert, schafft sich einen sozialen Resonanzraum, wer zu wenig weiß, behebt das Defizit mit Wikipedia. Das Netz ist alles, und genau das ist unser Problem.
Das sagt der Schriftsteller Gert Heidenreich; für ihn ist das Netz schön und gut, allerdings bleibt bei der ganzen Netzeuphorie eines auf der Strecke, die Frage nach der Bildung. Dazu jetzt die SWR2 Aula von Gert Heidenreich.
Gert Heidenreich:
Manchmal ist es nicht falsch, auf sehr alte Geschichten zurückzugreifen, wenn man versucht, sich die Gegenwart und ihre mögliche Zukunft zu erklären. Da gibt es ein Ereignis im Alten Testament, in dem vordergründig von Gold und Sünde, eigentlich jedoch von der Ungeduld die Rede ist.
Da riss alles Volk sich die goldenen Ohrringe von den Ohren und brachte sie zu Aaron. Und er nahm sie von ihren Händen und bildete das Gold in einer Form und machte ein gegossenes Kalb. Und sie sprachen: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat!
Mögen die Parallelen zur zügellosen Geldgier unserer Jahre, die in die allenthalben bedauerte Krise geführt hat, auf der Hand liegen, wenn man liest, wie das Volk dem goldenen Götzen das Kostbarste opfert, was es hat: seine Hoffnung. Eine mindestens ebenso bedenkenswerte Botschaft des Textes aber liegt in der unmittelbaren Vorgeschichte des Tanzes ums Goldene Kalb, nämlich in der Herleitung des Sündenfalls. Im 2. Mose, Exodus, 32, heißt es: Als aber das Volk sah, dass Mose ausblieb und nicht wieder von dem Berg zurückkam, sammelte es sich gegen Aaron und sprach zu ihm: Auf, mache uns einen Gott, der vor uns her geht.
Einfach gesagt: Sie konnten nicht abwarten, bis Moses mit den Gesetzestafeln unterm Arm wiederkehrte. Sie wollten die Erlösung jetzt und sofort. Was daraus wurde, ist bekannt: Moses zerbricht die Gesetzestafeln, Gott muss neue schreiben und in zähen Verhandlungen davon abgebracht werden, am Volk der Israeliten seinen Zorn auszulassen. Der Tanz ums Goldene Kalb ist zur kritischen Metapher für die Verabsolutierung materieller Werte geworden. Wovor die Geschichte warnt, ist aber mehr als nur die Verherrlichung des Mammon. Sie handelt von Menschen, die nicht genug Vorstellungsvermögen und nicht genug Geduld haben, um sich auf die Gesetze, sprich: die nötigen Regeln einer für alle bekömmlichen Gesellschaft einzulassen. Ihr Problem ist, dass sie nicht verstehen, was auf ihrem Exodus eigentlich vorgeht; dass sie auf den ungeheuren Wandel, der ihnen durch die Zehn
Gebote bevorsteht, nicht vorbereitet sind. Diese Leute haben offensichtlich ein Bildungsproblem, das lebensgefährlich ist. Sie haben nicht gelernt, die eigene Lage kritisch zu reflektieren und daraus sinnvolle, das heißt verantwortbare Folgerungen abzuleiten. Stattdessen wenden sie sich zurück und unterwerfen sich einem selbst geschaffenen Götzen.
Sie merken, wohin uns dieser kleine exegetische Ausflug führt: In unsere Gegenwart und ihre Götzen. Einiges spricht dafür, dass wir das Vorspiel einer ebenso ungeheuerlichen Veränderung erleben, wie sie damals den Israeliten widerfuhr, und dass wir auf die gewaltigen Verwerfungen und Verschiebungen in den Weltgewichten, auf den Verlust sicher geglaubter Vereinbarungen und den möglichen Gewinn neuer Perspektiven geistig und seelisch ebenso schlecht vorbereitet sind, wie es damals das Volk war, das in eine ungewisse Zukunft ging.
Das klingt kulturpessimistisch, aber wenn ich eine Hoffnung in unserer Lage habe, dann ist es die Fähigkeit des Menschen zur Kultur, die Kraft der Kultur für die Erhaltung der Zivilisation. Ich bin ein Kulturoptimist bis an die Grenze der Fahrlässigkeit. Zugespitzt: Ich setze auf den Kern jeder Kultur seit der Aufklärung: auf Bildung. Und schon stellt sich die Frage: Welche Bildung, welche Inhalte, wie gewertet, wie vermittelt, mit welchem Ziel oder gar Zweck? Keine pädagogische Antwort aus den fünfziger, siebziger oder neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts scheint mehr zu passen. Vielleicht muss man auch hier noch sehr viel weiter zurück greifen.
Glücklicherweise haben wir das Netz. Es wird uns schon sagen, ob vielleicht Aristoteles klüger war, als wir es zurzeit sind. Das Netz ist die zentrale Metapher der vergangenen zwei Jahrzehnte, in denen wir gelernt haben, uns als verknüpfte Wesen und die Welt als Flechtwerk einander überlagernder Handels- und Kommunikationsnetze zu sehen. Wir denken Netz. Wir leben Netz. Wir haben Netzwerke und Netzagenturen, sprechen von neuronalen und mobilen Netzen. Die Bordcomputer unserer Autos werden zum Zweck der Unfallvermeidung miteinander vernetzbar, und die Waffenindustrie arbeitet an tödlichen Drohnen, die als Schwarm über das Ziel herfallen und sich wechselseitig so informieren, dass jede weiß, welche Zerstörungsaufgabe die andere schon erledigt hat.
Das Netz trägt und fängt, es informiert und kontrolliert, späht aus und verleiht Macht, es definiert menschliche Existenz oder versucht es zumindest: Wer keine Netzadresse hat, scheint nicht in der Welt zu sein, wer sein Gesicht nicht an facebook verkauft und nicht dem niedlichen Twittervögelchen seinen banalsten Alltag als Tweet anvertraut, gerät in Verweigerungsverdacht. Das Netz erklärt Nichtnutzer zu Nichtsnutzen. Andererseits: Was wüssten wir ohne Twitter über den Aufstand der Syrer gegen den Massenmörder an der Spitze ihres Staates?
Das Netz ist unschuldig – wie ein Messer.
Es wird geliebt, gehasst, gefürchtet, bewundert und zum Teufelszeug erklärt, das uns angeblich verdummt, entmündigt und entwürdigt.
Das Netz fasziniert – wie der Apfel vom Baum der Erkenntnis.
Vor allem aber ist es nahezu überall verfügbar und jedem Nutzer-Willen gefügig. Ein derartiges Weltinstrument hat es in der Geschichte der Menschheit nie zuvor gegeben; es beeinflusst unseren Alltag mehr, als es die katholische Kirche in ihren höchsten Machtphasen konnte.
Entscheidend für seinen Erfolg ist, dass es Freiheit verspricht. Freiheit von Ort und Zeit, Freiheit vom Unwissen, Freiheit von Langeweile und Langsamkeit. Die Kehrseite ist bekannt: Google hat längst zugegeben, dass amerikanische Geheimdienste mehrfach auf das Datenmaterial der Server in den USA und Europa zugegriffen haben. Wer das tut, erhält nicht nur ein paar wichtige Informationen, er greift auf das virtuelle Spiegelbild der Welt zu.
Das Netz behauptet, dezentral zu sein und an jeder seiner Stellen gleichberechtigt. Unsere Web-Adressen, Suchwege, Interessen, Verhaltensweisen, Konsumvorlieben, Hausfassaden, unsere Emailtexte, blog-Kommentare, Fotos und so fort sind jedoch in Servern zusammengefasst, jeder Mausklick hinterlässt dort eine Spur. Wer über die Spurensumme verfügt, hat eine Machtfülle, von der Kaiser Karl V. und sein Sohn Philipp II., in deren Reich die Sonne nicht unterging, nur träumen konnten.
Das Netz ist ein dienstbarer Geist, so lange wir einigermaßen zivilisierte Zustände haben und die Menschen in der Lage sind, zu wissen, was zivilisiert Sein heißt und wie man es macht.
Im gegenteiligen Fall, der Barbarei, gnade uns Gott. Ein autoritärer Staat kann sich kein besseres Instrument wünschen. Auch wenn es in gewissem Maße freiheitlichen Widerstand ermöglicht: Keine geheimpolizeilich angelegte Datenbank kann so effektiv sein wie die Summe der über Jahre freiwillig abgegebenen, gespeicherten und miteinander abgeglichenen Persönlichkeitsprofile. Das Netz ist ein Menschensammler, und seine Betreiber sind unersättlich.
Seit wir uns im Netz spiegeln, sind Kontrolle der Macht und Rechtssicherheit für das Individuum nicht allein moralisch, sittlich und juristisch wünschenswerte Attribute des freiheitlichen Rechtsstaates. Sie sind unabdingbare Voraussetzungen dafür geworden, dass uns das Netz mehr nutzt als schadet. Alles kommt darauf an, dass es gelingt, diese Voraussetzungen zu erhalten oder herzustellen.
Dazu bedarf es einer aufmerksamen Öffentlichkeit, vor allem einer Pädagogik, die junge Menschen für diese Fragen sensibilisiert und ihnen Kriterien vermittelt, nach denen sie den politischen Zustand ihrer Gesellschaft möglichst unvoreingenommen beurteilen können. Wieder sind wir bei Fragen der Bildung, und es geht dabei keineswegs nur um politische Theorie.
Wenn Frank Schirrmacher und Günther Jauch Oberflächlichkeit und Datenmüll beklagen und sich davor fürchten, das Netz könne ihnen ihre humanistische Bildung abfischen, begründen sie ein begreifliches Unbehagen mit einer falschen Vermutung. Denn es ist nicht nur die Größe des Netzes, die unser Leben radikal verändert hat und noch weit mehr verändern wird – es ist vor allem sein steigendes
Tempo trotz wachsender Datenmenge. Das Netz hat die Geschwindigkeit zum Fetisch unseres Denkens gemacht, und längst werden unter diesem Fetisch nicht nur Produktionsabläufe auf Kosten der Menschen zeitlich optimiert. Auch die Bildungspolitik will Schulzeit einsparen und gleichzeitig den Stoff, also die Datenmenge, in bestimmten Fächern erhöhen. Leicht zu erkennen, woher das Prinzip Schneller mehr Input stammt: Vorbild ist das Netz.
Ich gehöre zur 68er-Generation. Vielleicht wichtiger als die damit verbundenen Hoffnungen und Irrtümer ist, dass ich zur Vor-Fax-Generation gehöre, das heißt: Ich entstamme dem inzwischen unvorstellbar langsamen Briefpostzeitalter. Und heute? Wenn es mir zu lange dauert, ein Dokument per Email zu empfangen, zu bearbeiten und wieder zu mailen, lege ich auf einem Server einen gemeinsamen Ordner mit meinem entfernten Partner an und arbeite mit ihm in einer Cloud gleichzeitig an den Änderungen. Wer sich dabei wo befindet, spielt keine Rolle. Der Zeitverlust durch Übermittlung schrumpft gegen Null.
Das heißt: Unsere Erwartung hat sich an einen Zeittakt gewöhnt, bei dessen unerklärter Verzögerung wir sofort den Verdacht haben, dass es irgendwo einen Fehler geben muss, einen Haken, eine Panne. Erinnern Sie sich an die Israeliten, die nicht warten konnten, bis Moses mit den Zehn Geboten aus Gottes Schreibwerkstatt zurückkehrte – nach vierzig Tagen, was nicht viel für die Erarbeitung von Regeln ist, die weitgehend unbestritten bis heute Bestand haben?
Zeiterwartung und Zeitgefühl, Zeitmanagement und Zeiteinteilung beeinflussen eine Gesellschaft mehr als ideologische Vorgaben oder sozialpolitische Eingriffe. Die Beschleunigung kennt vorerst keine Grenzen. Kaum haben wir uns an den neuen, schnelleren Computer gewöhnt, kommt der doppelt so schnelle Prozessor auf den Markt. Letzthin wurde bekannt, dass ein neues Internet-Unterseekabel zwischen den Börsenplätzen New York und London verlegt werden soll, das 300 Millionen Dollar kostet. Es ermöglicht Spekulanten eine um 6 Millisekunden schnellere Verbindung. Trotz der deutlich höheren Nutzungsgebühren werden große Hedgefonds durch die um 6 Millisekunden verkürzte Datenlaufzeit bis zu hundert Millionen Dollar im Jahr mehr verdienen. Verkäufe und Käufe in diesem Tempo können ausschließlich von Computern getätigt werden. Das hat nicht nur technische Ähnlichkeit mit den vorhin erwähnten selbständigen Drohnenschwärmen, an denen die US-Militärindustrie, und gewiss nicht nur sie, arbeitet. Es hat durchaus inhaltliche Verwandtschaft.
Von den vernetzten Geldmärkten geht ein Krieg aus, in dem gegenwärtig ganze Volkswirtschaften zugrunde gehen. In kritischen Kommentaren über Spekulanten und Rating-Agenturen ist oft von unersättlicher und verantwortungsloser Geldgier die Rede, so als ginge es nur um den Tanz ums goldene Börsenkalb. Darum geht es auch, denn offenbar kriegen manche den Hals nicht voll und ignorieren, dass ihre Geldgefräßigkeit auf Teufel komm raus für soziale Unruhen und den davon profitierenden Extremismus verantwortlich ist. Wer die letzten Jahre die Wirtschaftsseiten gelesen hat, kann sich aber eines anderen Eindrucks kaum erwehren:
Es geht nicht mehr nur um Geld im Sinne von angehäuftem Reichtum. Die Gier der Spekulanten und Investoren hat sich offenbar darauf gerichtet, sich mittels des Geldes politische Macht anzueignen. Der Gier nach Geld folgt die Gier nach Herrschaft. Wir erleben die Umkehr der Weltreichkonstruktionen, in denen die Erlangung der Macht noch der Geldgier voran ging, die freilich stets auf dem Fuß folgte, manchmal übrigens mit wirtschaftlichen Konsequenzen, die uns bekannt vorkommen: Philipp II. beispielsweise hat für sein Reich mit Dauersonne dreimal den Staatsbankrott erklärt.
Für den gegenwärtigen Versuch der Kaufleute, sich zu Königen zu krönen, bedurfte es keiner Verschwörung. Rating-Agenturen, die so tun, als hätten sie in den vergangenen Jahren alles richtig gemacht, spielen mit dem Schicksal von Staaten, die sich selbst – seinerzeit von denselben Agenturen kräftig ermuntert – durch ungehemmte Schuldenaufnahme zum Spielball der Banken gemacht haben. Die Nationen-Bewerter mussten sich um politische Macht nicht bewerben, sie haben sie von den Regierungen, vor allem der USA und Europas, nachgeworfen und von den Medien bestätigt bekommen. Politische Entscheidungsprozesse sind viel zu umständlich, um den Ratings und rasanten Zinssprüngen im Netz Einhalt zu gebieten. Ein entmündigender und gefährlicher Zustand.
Gefährlich vor allem für die Armenhäuser der Welt, denn ein Großteil dortiger Hungersnöte wird durch die Spekulation mit den Grundnahrungsmitteln Mais, Weizen und Reis verursacht –
genau besehen ein weltweit betriebener Genozid, an dem sich Börsen bedenkenlos beteiligen und die Preistreiber skrupellos bereichern.
All dies funktioniert nur mit der noch immer zunehmenden Geschwindigkeit der vernetzten Zahlenströme, die Geld oder Güter bedeuten, aber nicht sind. Das Netz selbst ist daran nicht schuld. Es beschleunigt nur den Verfall politischer Regulierungsmacht und den Aufstieg des Kapitalistischen Fundamentalismus.
In solcher Lage hört man gehäuft eine Vokabel: Vertrauen. Bezeichnender Weise wird lauthals um das Vertrauen der Märkte gebuhlt. Wie steht es mit dem Vertrauen der jungen Generation in die Fähigkeit dieser Gesellschaft, lebenswerte Zukunft zu gestalten oder wenigstens zuzulassen? Diese Frage halte ich für vorrangig. Denn diejenigen, die jetzt lernen, sich in der Welt zurecht zu finden, werden einst entweder in einer Gesellschaft leben, in der sie ihre Individualität nach Möglichkeit frei entwickeln können, oder in einer, in der sie biologische, möglichst kostengünstige Faktoren des Bruttoinlandprodukts sind.
Vertrauen in die Welt und in die eigene Zukunft zu haben, ist die Grundvoraussetzung für demokratische Teilnahme, für Engagement, Voraussetzung für Hoffnung, Neugier, Mut. Setzen wir einmal idealistisch voraus, dass in den Binnenwelten von Schule und Familie Vertrauen und emotionale Sicherheit vorhanden seien: Was ist mit der Außenwelt? Was hält sie an soliden Vorbildern, Leitlinien, Wegmarken bereit?
Schon immer redet die politische Klasse davon, der Jugend Chancen zu verschaffen. Doch wer fragt danach, wie eigentlich das politische und gesellschaftliche Bild unseres Landes auf seine jüngeren Generationen wirkt? Wer von Vertrauen spricht, muss Verlässlichkeit bieten, muss sich beim Wort nehmen lassen und sich hüten, Zukunftsformeln in die Welt zu blasen, die mit seinen wahrnehmbaren und nachprüfbaren Handlungen nicht übereinstimmen. Ist erst der Eindruck von Unaufrichtigkeit entstanden, helfen auch keine Blogs oder Chatrooms der Parteien mehr. Zu viel Glaubwürdigkeit wurde durch handfeste Skandale, nicht minder durch Hanswurstiaden verspielt: die Guttenbergiade und die Wulffiade standen ja dem Berlusconismo unserer gedemütigten italienischen Nachbarn kaum nach.
Wie sollen Lehrer ihrem Auftrag gerecht werden, vernünftige, mündige und engagierte Demokraten aus der Schule zu entlassen, wenn die Gesellschaft, in die sie gehen, die eben gelernten Ideale ignoriert – um es euphemistisch auszudrücken? Wie sollen Eltern in einem Land, in dem sich Spitzenversager und die Verursacher von Parteispendenskandalen und Korruptionsaffären gut dotiert zur Ruhe setzen, ihren Kindern den Zielbegriff Anständigkeit vermitteln? Bedenkt eigentlich jemand in der politischen Klasse die Wirkung öffentlicher Lügen auf Kinder, die lernen sollen, die Wahrheit zu sagen? Bedenkt jemand den Eindruck, den die unbekümmerte Geldscheffelei so mancher Unternehmensvorstände bei einer Jugend hinterlässt, der man Verantwortung für die Solidargemeinschaft predigt?
Vertrauen und Verlässlichkeit: Jeder Pädagoge kennt die Bedeutung dieser Worte. Sind sie öffentlich verspielt, werden sie auch privat entwertet. Wenn Familien da nicht gegenhalten können, und das ist immer häufiger der Fall, ist die Schule kompensatorisch gefordert. Ihr erklärtes Ziel aber, autonome Persönlichkeiten zu entlassen, wird mehr und mehr davon verstellt, dass die Schule politisch zum Institut für angepasste Informationsvermittlung und gesellschaftsgerechte Konditionierung ausgerichtet wird. Aus ihr sollen junge Menschen mit zehn Tools an jedem Finger als nützliche Wirtschaftsfaktoren in die Welt gehen. Sie gehen aber nicht, sie taumeln. Das Gehen nämlich, das selbständige Gehen, erwirbt man durch Wissen und Werkzeuge allein nicht. Dazu braucht es die Verwandlung von Wissen in Bewusstsein; und die in vielen Sonntagsreden geforderte Ausbildung sozial-emotionaler Kompetenzen.
Die alltägliche Wirklichkeit außerhalb der Schule aber besteht gerade in ihrer öffentlich am stärksten präsenten oberen politischen Etage häufig nur aus Als-Ob-Verhaltensweisen und Parolen. Ihr auffälligstes Signal ist Unglaubwürdigkeit. Das heißt: Schule befindet sich mit ihren Erziehungszielen in einem permanenten und für den Nachwuchs leicht erkennbaren Widerspruch zur Realität der Gesellschaft, auf die sie doch die Jugend vorbereiten will und soll. Ein Dilemma für die Erwachsenen. Eine Tragödie für manche Kinder, die unter dem Eindruck einer perfiden Rosstäuschergesellschaft aufwachsen und keine Chance sehen, sie zu ändern. Kaum etwas ist schlimmer, als resigniert und gleichsam abwinkend ins selbstbestimmte Leben einzutreten.
Nun sind junge Menschen aber auch gewitzt. Alle sind auf ihre Weise klug. Sie leben besser in der Gegenwart als die Erwachsenen, weil sie alles vor sich haben, die Erwachsenen hingegen viel hinter sich her schleppen. Und so kann nicht verwundern, dass im jungen Kopf das Netz eine ganz andere Rolle spielt als im alten. Ins Netz geboren, werden sich diese Generation und die künftigen ihr Leben lang nicht mehr daraus lösen können. Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als das Netz so gut wie möglich zu begreifen und zu nutzen.
Das bringt Vorteile: Das Netz weiß mehr als die Eltern, auch mehr als die Lehrkraft. Das Netz hilft allerdings auch bei der Vorspiegelung erbrachter Leistungen, vorwiegend im Bereich der Geisteswissenschaften, besonders häufig in der Literatur, die im derzeitigen Deutschunterricht vorwiegend analysiert und kaum mehr erfahren wird. Dazu passt das Netzangebot an Inhaltsangaben und Interpretationen.
Doch die Literatur ist nicht geschrieben, um analysiert, zusammengefasst und historisch eingeordnet zu werden. Literatur ist dazu geschrieben, ihre Leser in Konflikte, aus denen sie fast ganz besteht, und in deren möglichst intensives Erleben zu verwickeln. Beim Lesen wird unwillkürlich das Verhalten der Helden beurteilt und die eigene Position im Konflikt bestimmt. Literaturgeschichte und -wissenschaft sind schön und gut; sie taugen nur überhaupt nichts, wenn man die Literatur selbst nicht lesend erfahren hat. Ein Roman, von dem Schüler zum Zweck von Stilanalyse und Epochenzuordnung Auszüge kennen, ist ihnen entgangen, genauer gesagt: Er wurde ihnen vorenthalten. Seine ausführliche Lektüre hätte ihnen etwas beigebracht über den Menschen, seine Neigungen, seine Stärken und Schwächen, über die Zeitläufte, über Liebe, Tod, Eifersucht, Verwirrung, Geiz, Hochmut, Mitleid, Demut, Trauer, Machtbesessenheit, Empörung und Enttäuschung, den Übermut der Ämter und den Mut vor Königsthronen; all dies nicht als abstrakte Reduktion, sondern im Miterleben und – unvermeidlich geschieht das – sich identifizierend: ein multipler Erkenntnisprozess, der in der Antizipation von Lebenslagen besteht, die auf jeden jungen Menschen zukommen werden wie das Amen in der Kirche. Es ist hilfreich, das vor-erfahren zu haben, dem man später standhalten muss. Zugleich lernt man den Reichtum der Sprache kennen, der wiederum die eigene Ausdrucksfähigkeit fördert. Im Netz lernt man nicht, was im Buch steht. Im Netz stehen fremde Lese-Ergebnisse bereit. Die selbst gelesenen Bücher trägt man im Kopf.
Im Netz wird demnächst das gesamte enzyklopädische Weltwissen aufgehoben sein. In der Weltliteratur aber wird das Schicksal des Menschen unaufhörlich erneuert. Die Literatur, und nicht die Literaturanalyse, müsste darum in der Schule das primäre, lustvolle und für die Bildung einer autonomen Persönlichkeit entscheidende Instrument sein. Wer auf diese Fülle verzichtet, ignoriert die Erfahrung der Menschheit mit sich selbst, denn die ist sprachlich ganz und gar in der Literatur aufgehoben. Wenn Goethe im Faust I den Mephisto zum Schüler sagen lässt: Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, / Und grün des Lebens goldner Baum, spricht er die eigene Überzeugung aus: Wer sich von Sekundärem nährt, lebt auch aus zweiter Hand. Wer hingegen die Literatur in ihren Werken und nicht in vorverdauter Form liest, erwirbt, wie der Neurobiologen Gerhard Roth sagt, "die
Fähigkeit, sich in das Denken und Fühlen der Anderen hineinzuversetzen und die Gefühle und das Verhalten der Anderen zu antizipieren“.
Dass die Gehirnforschung das Lesen von Büchern dringend empfiehlt, ist ein alter Hut, und jedermann kann wissen, dass mangelnde Sprachbeherrschung ein verhängnisvolles Lernhindernis für alle Disziplinen ist. Es geht dabei nicht allein um Gehirntraining, sondern um die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, Kontext mitzudenken, Bedeutung zu ermitteln. Die Semantische Kompetenz, die man beim Lesen von Belletristik erwirbt, bezieht sich nicht allein auf das Verstehen literarischer Mitteilungen – so wie die semantische Kompetenz etwa in Chemie uns ermöglicht, komplizierte chemische Vorgänge nachzuvollziehen oder selbst ausdrücken zu können. Die semantische Kompetenz, die beim Lesen vorzugsweise erzählender Literatur entsteht, greift über die Literatur selbst hinaus, sie wird gleichsam Teil von Lebenskompetenz.
Die Sprache ist das entscheidende Instrument, um uns in der Welt verständlich zu machen und sie zu verstehen. Erklären kann man die Welt großteils auch in Formeln, Bildern, Piktogrammen und Statistiken. Verstehen nicht.
Womit werden nun kommende Generationen mehr Mühe haben? Mit dem Erklären oder dem Verstehen? Mit dem Wissen oder mit seiner Bedeutung? Was wird ihr Kopf vorrangig leisten müssen?
Es gehört keine Science-Fiction-Phantasie dazu, eine Prognose zu wagen. Den Bereich des Erklärens wird mehr und mehr das Netz übernehmen, es ist der neue Universalgelehrte, mit dessen Wissensfülle und Geschwindigkeit kein Mensch konkurrieren kann. Seine multimedialen Darlegungsmethoden sind unübertrefflich, und jeder didaktisch noch so ausgefuchste Professor könnte keine auch nur annähernd ebenbürtige Informations-Schau bieten. Das Netz ist – oder wird sein – der perfekte Instruktor, das heißt: perfekt zur Unterrichtung – wie auch zur Irreführung.
Was bleibt als Aufgabe der Lehre, da sie auf Dauer nicht als Konkurrenz zum allwissenden Netz bestehen kann? Sie wird zu seiner Partnerin, sie kooperiert. Es bleibt ihr gar keine Wahl: Sie muss die Schüler dafür ausbilden, sich im Netz zurechtzufinden und es skeptisch und kritisch, also intelligent zu nutzen.
Damit schafft die Schule sich in ihrer gegenwärtigen Gestalt selbst ab. Sie wird sich dann auf jene Aufgaben konzentrieren, die das Netz nicht ausführen kann: gebildete, menschliche, kritikfähige, neugierige und lebenszugewandte Köpfe heranzubilden, die sich selbst besser verstehen und dafür sorgen, dass die Gesellschaft dem Netz nicht unterliegt, sondern es als Instrument beherrscht. Mit ein paar Korrekturen an den Lehrplänen wird das nicht gelingen.
Die Schule wird sich von einer Institution zur Wissensvermittlung in eine zur Bedeutungsvermittlung wandeln müssen, sie wird für naturwissenschaftliche Information das Netz heranziehen; und sie wird pädagogisch sehr viel mehr dafür da sein, dass Kinder die Menschenwelt und sich in ihr begreifen können. Sie wird
folglich ihr Schwergewicht auf die Geisteswissenschaften und die Künste legen. Lehrkräfte werden sich vor allem als Helfer ins Leben begreifen und ihren Beruf dafür vielleicht neu definieren müssen.
Ich weiß, dass diese Vorstellung von Bildungszukunft der landläufigen Ansicht diametral widerspricht. Noch hängen wir ja am Bild des Nürnberger Trichters, der längst zum Einfüllstutzen für das Internet geworden ist. Noch bereiten wir die Jugendlichen informativ auf die Wirtschaft, die Sozialstrukturen und den Markt vor, sie sollen nicht mit alten Fragen, sondern mit neuen Antworten gefüttert und für die Anforderungen der sogenannten Wissensgesellschaft trainiert werden.
Das ist bereits jetzt ein überholtes Konzept. Denn es kann die Frage, die ja über aller Erziehung steht, nicht mehr hinreichend beantworten: Was braucht es, um aus unseren Kindern Menschen werden zu lassen, die sich in der Welt verstehen und ein erfülltes, gelingendes Leben führen können? Aristoteles nannte das in seiner Nikomachischen Ethik Eudaimonia. Seiner Ansicht nach ist das, was den Menschen kennzeichnet, sein ergon, die Begabung zur Vernunft. Hinzu kommen Sprache, sittliches Verhalten und politische (staatsbürgerliche) Verantwortlichkeit. Die Fähigkeiten und Tugenden, im richtigen Maß, also in menschengemäßer Weise ausgeübt, führen zum Lebensglück. Die Suche danach ist seither das große Thema der Weltliteratur.
Auf die Frage des unglücklichen und am Ende verblendeten Faust, wie wir erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält, fand er keine naturwissenschaftliche Antwort. Auch das Netz würde ihm bei dieser Frage nicht helfen. Wo er als Mann des Mittelalters den Ausweg in die Magie wählte, steht es uns frei, mit einer neuen geisteswissenschaftlichen Perspektive uns selbst besser zu begreifen und unsere Umwelt menschengemäß zu gestalten: ohne Goldenes Kalb, ohne Ungeduld, mit einem neuen Verständnis für die Langsamkeit der Bildung. Das wäre nicht weniger als eine zweite Renaissance.
Vielleicht haben wir diese Renaissance sehr bald nötig, wenn wir Europa erhalten wollen
Johnny Haeusler, Tanja Haeusler: Netzgemüse . Aufzucht und Pflege der Generation Internet
Online-Publikation: Dezember 2012 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
Buch: Taschenbuch, Klappenbroschur, 288 Seiten, 12,5 x 18,7 cm; ISBN: 978-3-442-15743-3; € 9,99 [D] | € 10,30 [A] | CHF 14,90
eBook: ISBN: 978-3-641-08878-1; € 8,99 [D] | CHF 12,00
Randomhouse-Blessing Verlag München; www.randomhouse.de/goldmann;
Inhalt
Schluss mit Panik und Sorgen, hier kommt das einzige Buch, das Eltern brauchen, um sich bei den Themen Internet, Social Networks, Videospiele, Smartphones und dem ganzen anderen modernen Kram nicht mehr wie digitale Analphabeten zu fühlen.
Als Eltern zweier Heranwachsender können die Autoren, beide langjährige Internet- und Familienstreit-Fachleute und Grimme-Preis-prämiert in einem der beiden Gebiete, ein Lied vom Leid beim Heranziehen der digitalen Generation singen. Doch sie versprechen: Nach der Lektüre von »Netzgemüse« werden Eltern den Kulturraum Internet mehr lieben, als es ihre Kinder tun. Und sie werden ihnen daher entspannt und mit Spaß auf ihrem Weg durch die allgegenwärtigen Online-Welten zur Seite stehen können.
AutorInnenteam
Johnny Haeusler,
geboren 1964 und digital vernetzt seit 1990, schreibt seit über einem Jahrzehnt im Internet und in Printmedien wie Tagesspiegel, SPEX und WIRED über digitale Medien. Er arbeitet zudem als Radiomoderator und Musiker.
Tanja Haeusler,
Jahrgang 1966, entwickelte nach dem Studium der Kunstgeschichte und Arbeit als Theater- und Filmrequisiteurin Ende der Neunziger Jahre ihre Begeisterung für das Internet, ihr Fokus liegt dabei auf lehr- und bildungspolitischen Themen.
Stimmen
"Netzgemüse ist lehrreich, lesenswert und lustig."
Der Tagesspiegel (17.11.2012)
Tanja und Johnny Haeusler betreiben gemeinsam das mit dem Grimme-Online-Award ausgezeichnete Weblog „Spreeblick“. Seit 2007 gehört das Paar außerdem zum Gründungs- und Veranstaltungsteam der „re:publica“, einer der wichtigsten europäischen Konferenzen für Online-Medien und die digitale Gesellschaft.
Die Autoren leben mit ihren derzeit zehn- und dreizehnjährigen Söhnen in Berlin.
www.spreeblick.com
Fazit
Das Internet-Lebensraum-Expertenteam Tanja und Johnny Haeusler sorgt sich um " Netzgemüse " zur Aufzucht und Pflege der Generation Internet. Es bringt eine ganze Palette von Menüs mit jugendfrischem Humor zur Klarheit und sorgt für Anregungen, die es verdienen nachschlagend gelesen zu werden. Es ist stark zu vermuten - aufgrund unserer empirischen Langzeitbeobachtungen, dass Tanja die Analog-Frauensprachgewandte und Johnny der Digital-Sprachkundige im Team darstellt. Sei es wie es sei. Das Nachschlagewerk im Taschenbuchformat biete zu YouTube, Facebook, Schutz und Schmutz, Videospielarten, Regeln sowie zu Smartphones mit "e-Pilog", Tipps, Kindersicherungen mit weiterführenden Links eine locker zu lesende Anleitung für die digitale Tischkultur im und mit Netz. m+w.p12-12