SWR2 Wissen: Aula . Mut zur Negativität . Ein Plädoyer gegen positives Denken .Von Arnold Retzer
Negativität (A.Retzer)
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SWR2 Wissen: Aula
Mut zur Negativität . Ein Plädoyer gegen positives Denken .Von Arnold Retzer
Wir alle sind dem Diktat des positiven Denkens ausgeliefert, gerade in einer Gesellschaft, in der es permanent um Selbstoptimierung geht. Noch nie konnten wir unser Glück angeblich so einfach finden, es liegt in uns selbst, wir müssen es nur zur Entfaltung bringen. Doch dieser Zwang zur Selbstverbesserung ist verbunden mit Mythen, falschen Hoffnungen und Ängsten. Arnold Retzer, Psychologe, Therapeut, Buchautor zeigt Wege aus der Glücksfalle auf. (Produktion 2013)
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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Aula
Mut zur Negativität
Ein Plädoyer gegen positives Denken
Von Arnold Retzer
Sendung: Sonntag, 1. Februar 2015, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2013
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Ansage:
Mit dem Thema: „Mut zur Negativität – Ein Plädoyer gegen positives Denken“.
Sei glücklich, nimm Dein Leben in die Hand und gestalte es so, dass es ein gelungenes Leben wird, ein Kunstwerk; optimiere Dich permanent – und wehe, Du hast miese Stimmung.
Noch nie war das Diktat des positiven Denkens so allgegenwärtig und so drängend wie heute. Wir sind umstellt von Aposteln des positiven Denkens, in Buchform und in natürlich menschlicher Form. Doch dieser Zwang zur Selbstverbesserung ist ungesund und gefährlich, er ist verbunden mit Mythen, falschen Hoffnungen und Halbwahrheiten. Warum das so ist, zeigt Arnold Retzer, Psychologe, Therapeut und Buchautor aus Mannheim.
Arnold Retzer:
Man kommt kaum aus dem Morgentief. Der Job macht keinen Spaß mehr, vieles andere auch nicht. Und den Kollegen und Freunden scheint es nicht besser zu gehen. Niedergeschlagenheit, Depression und Burnout greifen um sich. Acht Millionen erwachsene Deutsche leiden an behandlungsbedürftigen Depressionen. Depression ist die bei weitem häufigste Diagnose psychischer Auffälligkeiten. Die Steigerungsraten sind enorm und die Aussichten sind auch nicht rosig: Im Jahr 2020 sollen Depressionen laut der Weltgesundheitsbehörde WHO den zweiten Platz aller Krankheiten und Behinderungen einnehmen.
Aber auch sonst ist die Stimmung im Land schlecht. Die Finanz-, und Schuldenkrise hält an bzw. eine Krise löst die andere ab. Kriege werden geführt und nicht beendet, auch wenn sie nicht zu gewinnen sind. Ein Skandal, der die Stimmung trübt und das moralische Empfinden beleidigt, folgt dem anderen.
Aber das ist nur die eine Seite unserer Stimmungswirklichkeit: Gleichzeitig wird nämlich überall heftig für positive Stimmung geworben: Die Bedingungen für Glück und Wohlbefinden, heißt es, sind noch nie so gut gewesen wie heute, und sie sollen sich in Zukunft noch weiter verbessern. Noch nie hatten die Menschen in unserem Land so gute und zahlreiche Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. Noch nie waren die Aussichten auf ein immer länger währendes Leben ohne Angst, materielle Sorgen und gesundheitliche Einschränkungen günstiger. Man müsse die Chancen nur nutzen. Deshalb sind wir aufgefordert, ständig guter Laune zu sein und ein permanentes Dauergrinsen zu erzeugen. Wenn man dann trotz dieser Verheißungen und den zudringlichen Aufforderungen nicht in der positiven Stimmung ist, in der man sein soll, fragt man sich, was mit einem eigentlich los ist, was mit einem selbst nicht stimmt.
Die Antwort steht fest: An unseren privaten Niederlagen und schlechten Stimmungen sind unsere angeblich fehlerhaft funktionierenden Psychen Schuld – was immer das sein soll. In den letzten Jahren wird aber auch immer öfter unsere biologische Konstitution für unsere fehlerhaften miesen Stimmungen zur Verantwortung gezogen. Unsere Biologie ist der Gegner, und unsere schlechte Stimmung soll in unserem Gehirn und seinem Stoffwechsel bekämpft werden. Der optimistische Kampf gegen
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den Pessimismus und die miese Stimmung ist auf breiter Front eröffnet und tobt erbarmungslos. Er besteht in psychologischer und vor allem in chemischer Kriegsführung. Überall werden psychologische Therapien, Betreuungsangebote und Coaching zur Erzeugung guter Stimmung verkauft und an den Mann, die Frau und auch an das Kind gebracht.
Lässt sich die gute Stimmung nicht durch positives Denken herstellen, dann vielleicht doch mit Chemie. Stimmt die Chemie, stimmt auch die Stimmung: Im Studium, im Beruf, in der Freizeit! Drogen, Medikamente und Doping sollen helfen, um sich fit zu machen für Freizeit und Job. Fitter als man ist. Das Angebot an angstlösenden, aggressiv machenden und aufputschenden Substanzen ist groß. Pro Tag werden in Deutschland allein für Versicherte der gesetzlichen Krankenkassen in der ambulanten Versorgung über zwei Millionen Tagesdosen Antidepressiva verordnet, obwohl die positive Wirkung von Antidepressiva alles andere als gesichert ist.
Gleichzeitig setzen noch mehr Menschen auch weiterhin auf die bewährten chemischen Kampfmittel im Stimmungskrieg wie Alkohol, Drogen und Doping, um wieder in die richtige, sprich: positive Stimmung zu kommen.
Immer mehr Menschen bedienen sich pharmakologischer Hilfen, um den eigenen Ansprüchen oder wenigstens den Ansprüchen anderer gerecht zu werden. Mit Hilfe des Hirndopings erhoffen sich mindestens zwei Millionen Deutsche, konzentrations- und leistungsfähiger zu werden. Allein in Deutschland nehmen 800.000 Arbeitnehmer regelmäßig, wie es so schön heißt, „Kokain fürs Büro“ oder „Viagra fürs Gehirn“. Eines der bekanntesten Mittel ist Ritalin.
Chemische Selbstoptimierungsversuche werden nicht nur für den alltäglichen Kampf um die gute Stimmung genutzt, sondern auch und vor allem für Kriege, für die richtige Kriegsstimmung, damit sich gut gelaunt und positiv gestimmt in den Krieg ziehen lässt. Im Zweiten Weltkrieg zog man so gestimmt mit Hilfe von Pervitin, einem Amphetamin, in den Krieg. Es wurde von den Endverbrauchern liebevolle Hermann-Göring-Pille, Stuka-Tablette oder Panzerschokolade genannt. Inzwischen ist zwar einige Zeit vergangen, aber mit der entsprechenden guten Stimmung in den Krieg zu ziehen, ist weiterhin angesagt und wird entsprechend durchgeführt.
Wie kommt man aber funktionstüchtig, d. h. leistungsstark, positiv gestimmt und gut gelaunt wieder heraus aus dem Krieg? Eine nicht gerade neue Frage. Aber es gibt neue viel versprechende Antworten: Es wird am Vergessen gearbeitet! Amerikanische Forscher experimentieren mit einer Substanz, die das Angstgedächtnis und traumatisierende Erinnerungen auslöschen soll. Das US-amerikanische Militär will ihre Soldaten durch gezieltes Hirndoping vergessen lassen, was sie im Krieg Schreckliches erlebt haben. Propranolol ist die Hoffnungssubstanz und genießt besondere Aufmerksamkeit. Propranolol ist ein so genannter Betablocker, der auch bei Bluthochdruck, bei Herzinsuffizienz und Herzrhythmusstörungen eingesetzt wird, aber inzwischen auch bei Ängsten. Propranolol blockiert die Wirkung von Adrenalin und Noradrenalin im Gehirn und verhindert so die Aktivierung der Mandelkerne und dadurch die Stabilisierung von Gedächtnisinhalten.
Kurz: Propranolol verhindert Erinnerung und erzeugt Vergessen. Welch ein Segen! Kriege, wenn auch nicht mehr gewinnbar, bleiben führbar durch Hirndoping von Soldaten, die in guter Stimmung sind und bleiben. Nun wird es möglich, nicht nur gut
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gelaunt und leistungsstark in den Krieg zu ziehen, sondern auch gut gelaunt und leistungsstark wieder aus dem Krieg herauszukommen. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, Propranolol auch Angehörigen, Bekannten und Freunden von kämpfenden Soldaten zur Verfügung zu stellen, damit auch sie in guter Stimmung sind, während sich ihre Lieben im Krieg betätigen.
Vor allem aber – und das wäre ja wirklich ein Segen – wäre es dann nicht mehr nötig, sich über den Sinn und die Folgen von Kriegen Gedanken zu machen. Welche Entlastung! Hirndoping ermöglicht also, dabei zu bleiben, durchzuhalten, nicht aufzugeben und nicht auszusteigen – wo immer es sei und worum auch immer es geht.
Unsere Biologie und unsere Gehirne sind aber nicht nur die Gegner im Kampf gegen die schlechte Stimmung. Dort soll die schlechte Stimmung auch umweltverträglich entsorgt werden, d. h. ohne dass sie „Schaden“ anrichtet, ohne dass nämlich jemand auf den Gedanken käme, notwendige gesellschaftliche Veränderungen oder notwendige Einstellungsänderungen ins Auge zu fassen: Schlechte Stimmungen werden zu Krankheiten erklärt und damit zum individuellen Problem des Einzelnen und seiner Biologie. Unser Unbehagen und unsere Verzweiflung wird in den Synapsenspalt zwischen Neuronen verortet und soll auch genau dort bleiben und dort behandelt werden.
Doch es bleiben Fragen: Bedeutet die enorme Zunahme depressiver Zustände und mieser Stimmungen in den letzten Jahren, dass sich die Biologie unzähliger Menschen zum Schlechten hin verändert hat? Wohl kaum! So schnell ändern sich die biologischen Eigenschaften des Menschen, die menschliche Hardware, nicht. Etwas hat sich allerdings geändert, und zwar sehr nachhaltig: die sozialen, die gesellschaftlichen und politischen Zustände – und die Vorstellungen der Menschen von sich selbst und der Welt (also wenn man so will: die menschliche Software).
Unsere persönlich erlebten und erlittenen Krisen werden von gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgebracht, geformt und aufrechterhalten und unsere soziale und kulturelle Umwelt und unsere Vorstellungen von uns selbst beeinflussen uns meist stärker, als wir es uns selbst eingestehen wollen. Die Glaubensbekenntnisse unserer Kultur und die damit verbundenen sozialen und gesellschaftlichen Verfahrensweisen prägen nicht nur unser persönliches Verhalten, sondern auch unsere intimsten Erwartungen, Träume, Hoffnungen, Befürchtungen und natürlich unsere Stimmungen.
Gerade in der Krise ist es notwendig, nicht auf bewährte Vorstellungen, auf die bekannten und überall gegebenen Antworten zurückzugreifen und sich darauf zu verlassen. Wir müssen damit rechnen, dass wir manches davon aufgeben müssen, weil es einfach nicht funktioniert. Wir sollten darauf gefasst sein, von toten Gäulen abzusteigen. Krisen bieten die Chance, bisher gültige und hochgehaltene Werte zu hinterfragen und zu neuen Bewertungen zu gelangen. Abgewertet, weil abgewirtschaftet, haben Heldentum, blindes Festhalten an Hoffnungen, das Ideal der Fehlerlosigkeit, Werte wie Autonomie, Optimismus, Gewissheit, Wissen und Glaubensfestigkeit. Diese Wertvorstellungen haben nicht nur in die Krise geführt, sondern auch zu den weithin beklagten, erlittenen und bekämpften miesen Stimmungen.
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Aufzuwerten sind dagegen, weil dringend benötigt, Zustände und Phänomene wie Angst, Trauer, Hoffnungslosigkeit, Pessimismus, Abhängigkeit, Ungewissheit und Ungläubigkeit, Fehlerfreundlichkeit, Scheitern, Verzweiflung und Tod. Ihre Aufwertung kann nicht nur aus der Krise führen, sondern auch zu besserer Stimmung beitragen.
Zu den absoluten Topfavoriten unserer Wertekultur zählt die Hoffnung. Die Hoffnung hat dazu noch eine extrem lange Lebenserwartung. Sie soll ja angeblich zuletzt sterben, also dann, wenn alles andere schon tot ist. Die Halbwertszeit der Hoffnung scheint sehr lang zu sein. Soviel scheint sicher, die Hoffnung ist der Energielieferant für das Vorwärts. Rückschläge können der Hoffnung oft nichts anhaben. Im Gegenteil! Rückschläge sind meist sogar Hoffnungsverstärker. Hoffnung erscheint als eine merkwürdige, erneuerbare Energie, die sich durch ihren Verbrauch von selbst erneuert und sogar vermehrt. Jeder leidenschaftliche Glücksspieler weiß davon: Eigentlich müsste er nach jeder Niederlage hoffnungsloser werden. Das Gegenteil ist der Fall. Von Niederlage zu Niederlage steigert sich seine Hoffnung. Mit jedem Verlust glaubt er, die Wahrscheinlichkeit nehme zu, dass sein Einsatz jetzt endlich dran sei, zu gewinnen. Das Ergebnis ist meist fatal: Der Spieler hofft sich bankrott!
Damit die Hoffnung zuletzt stirbt, d. h. mit allen Mitteln am Leben erhalten werden kann, benötigt sie lebenserhaltende Maßnahmen: Schönfärberei, Verschleierung, Desinformation, Lügen, Betrug oder auch einfach nur Dummheit. Wie sonst wäre zu erklären, dass die Hoffnung (alles wird gut!) überall soviel Selbst- und Fremdvernebelung erzeugt? Wenn beispielsweise Tiefseebohrungen nach Öl ohne die entsprechenden Sicherheitsauflagen möglich sind oder der Zusammenbruch der Lehmann-Bank, der Finanzcrash und die Atomkatastrophe in Fukushima. Der Hoffnungsnebel trübt den Blick, bei den Verantwortlichen und bei den Betroffenen. Wer Hoffnung hat, ist meist einfach nur schlecht informiert oder informiert andere schlecht.
Glauben, Hoffnung und Spekulation. Spekulation bezeichnet im Alltagsleben, aber auch im Wirtschaftsleben, eine unbewiesene Annahme, eine Hoffnung. Wenn jemand eine Sache oder ein Wertpapier kauft, tut er das, weil er hofft, dass dieses in der Zukunft im Wert steigt, um es dann Gewinn bringend zu verkaufen. Was sind die Schritte, wenn mit viel Hoffnung und Optimismus in eine goldene Zukunft spekuliert und gleichzeitig mit Vollgas der nächste Crash produziert wird, mit dem wiederum alt bekannten Katzenjammer und zahlreichen Toten?
Zunächst bringt das Wirtschaften Menschen zusammen, als Kreditnehmer und Kreditgeber, als Gläubiger und Schuldner. Im notwendig gemeinsamen Tun miteinander denken und fühlen sie dann immer ähnlicher. Es kommt zu einer affektiven Infektion. Die Akteure hoffen sich nach einer gewissen Zeit in einen euphorisch-optimistischen Rausch hinein. Das ursprünglich möglicherweise bescheidene ökonomische Interesse wächst sich zu einem kollektiven Größenwahn des Hoffens aus. Immer wieder werden Erfolge und Gewinne beobachtet oder berichtet. Diese Berichte wirken als Glaubens- und Hoffnungsverstärker. Dabei wäre der Begriff Brandbeschleuniger zutreffender, denn der Prozess nimmt Geschwindigkeit auf: mit Vollgas an die Mauer.
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Allein schon Erfolgsversprechungen verstärken den Glauben an den Erfolg. Der anschwellende Hoffnungswahn wird zur Erfolgsgewissheit. Preise steigen, weil den Investoren versprochen wird, sie würden noch weiter steigen, und die Versprechungen führen dazu, dass es so geschieht. Es wäre dann die Dummheit eines hoffnungslosen Pessimisten, nicht dabei zu sein. Da die Hoffnung groß ist und immer größer wird, wird auf Pump gekauft. Es werden Schulden gemacht. Wir hoffen uns bankrott!
Aber es kann noch schlimmer kommen: Wir können uns auch zu Tode hoffen. Seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts wird immer wieder lautstark behauptet, dass die richtige Einstellung, Krankheiten verhindern und gesund machen könne, selbst bei Krebs. Man wird aufgefordert, den Krebs wegzuhoffen und ihn mit positiven Gedanken und dem richtigen Erleben zu heilen. Weltweit tummeln sich seitdem Verkünder positiven Denkens, um Krebspatienten mental auszurichten. Kranke werden aufgefordert, ihre Vorstellungskraft zu nutzen, um irgendwelche inneren Kraftquellen anzuzapfen. Sie sollen lernen „gesunde Gedanken“ von „ungesunden Gedanken“ zu trennen. Ungesund sei pessimistisches Grübeln, Angst und Verzweiflung. Es werden schwachsinnige Anweisungen gegeben. Man solle sich beispielsweise den Kampf irgendwelcher käferartiger Zellen vorstellen oder zeichnen. Aber man hat dies auf die richtige Weise zu tun. Stellt man sich die Krebszellen „falsch“ vor, nämlich nicht schwach und unterlegen, und die körpereigenen Abwehrzellen nicht stark, angriffslustig und überlegen, so liebäugle man mit dem Tod. Noch intensiver als bisher müsse man dann an sich und seinen hoffnungsvollen und optimistischen Gedanken arbeiten.
Was ist die Konsequenz solcher absurder Vorstellungen, dass nämlich Hoffnung, positive Gedanken und Optimismus gesund machen? Wenn Kranke nicht erfolgreich sind, sind sie nicht nur weiterhin krank, sondern auch noch Schuld daran. Sie haben dann nämlich nicht genug Hoffnung und positive Gedanken und Gefühle erzeugt. Und wenn sie sich nicht schuldig fühlen, haben sie zumindest allen Grund, sich zu schämen. In meinem Buch kommt eine Patientin zu Wort, die das auf erschütternde Weise beschreibt: „Ich weiß, dass ich immer positiv sein muss und dies der einzige Weg ist, mit dem Krebs umzugehen – aber das ist furchtbar schwer. Ich weiß, wenn ich traurig bin, Angst habe oder mich aufrege, mache ich, dass mein Tumor schneller wächst, und verkürze damit mein Leben.“
Soweit so schlecht: Die Aufforderung, Hoffnung, positive Gedanken und positive Gefühle zu erzeugen, macht nicht nur viel Arbeit und stellt vor nicht zu bewältigende Aufgaben, sondern erzeugt auch schlechte Gefühle. Denn wenn der Krebs sich nicht einsichtig zeigt und verschwindet, d. h. sich von positiven Gedanken vertreiben lässt, ist man nicht nur schuldig, weil man den Krebs verursacht hat, man ist auch schuldig, weil man ihn nicht geheilt hat und nun weiter daran leiden muss. Fakt ist dagegen: Es ist ein gefährlicher Irrglaube, dass man den Krebs mit positivem Denken niederringen könne. Das Leben von Krebspatienten wird durch noch so viel Hoffnung und positives Denken nicht verlängert.
Wir sind aber nicht nur aufgefordert, durch positives Denken Krebs zu heilen, werden dabei todunglücklich und sterben dann doch, sondern wir sind auch aufgefordert, bevor wir sterben, an unserem Glück zu arbeiten und uns – und noch schlimmer andere – glücklich zu machen. Dabei können wir überall und jederzeit mit Glückshilfen oder Glücknachhilfen rechnen. In Buchhandlungen sind wir umzingelt
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von Glücksratgebern, die helfen und uns anleiten, was wir tun müssen, wie wir denken und wie wir fühlen müssen, um rundum glücklich zu sein. Wir gehen dann wieder voller Hoffnung nach Hause, gehorchen den Anleitungen und dann haben wir es wieder nicht ganz geschafft, die Sache mit dem Glück. Jetzt sind wir nicht nur nicht glücklich, sondern auch noch Schuld daran, dass wir nicht glücklich sind, weil wir es ja in der Hand haben, das Glück, weil wir die Schmiede unseres Glückes sind, so wurde es uns zumindest gesagt.
„Zuerst hatten wir kein Glück und dann kam auch noch Pech dazu!“ (Jürgen Wegmann, ehemaliger Stürmer bei Borussia Dortmund). Unser Leben reduziert sich auf die beiden Zustände Glück oder Unglück. Der große Bereich dazwischen, den ich die Banalität des Guten nenne, verschwindet und damit auch eine menschliche Lebensqualität. Der größte Teil unseres Lebens besteht nicht in der Alternative von Glück und Unglück. Er besteht vor allem aus den großen Zwischenräumen, die angefüllt sind mit Banalem und Alltäglichem, mit Ärgernissen, Sorgen, Fehlern, Irrtümern, kleinen Freuden, Erwartungen, Enttäuschungen, Hindernissen und Plänen.
Das Recht auf das Streben nach dem Glück, wie es etwa in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika aus dem Jahre 1776 formuliert wurde, ist inzwischen zur Pflicht geworden. Es verpflichtete einen dazu, alles was dem Glück widerspricht, zu unterlassen. Es ist geradezu verboten. Der Widerspruch, der skandalöse Einspruch gegen das Glück ist natürlich das Unglück. Man hatte und hat nun alle Rechte – außer dem, unglücklich zu sein. Unglücklich zu sein ist ein Vergehen. Der Traum vom Glück wird zum Albtraum des Unglücks.
Wie also mit dem Glück fertig werden? Nicht glücklich zu sein und sich dennoch dafür nicht schämen oder schuldig fühlen zu müssen, kann entlasten. Es kann aber auch entlasten, hin und wieder vielleicht glücklich zu sein, ohne das als eine besondere Leistung ansehen zu müssen.
Das Geheimnis eines erfolgreichen, guten Lebens besteht darin, auf das Glück zu pfeifen. Man sollte es nicht versuchen herzustellen, sondern es nehmen, ohne sich zu fragen, ob man es verdient. Man sollte akzeptieren, dass es an ganz gewöhnlichen Tagen plötzlich und überraschend auftaucht und man manchmal sogar mehr davon bekommt, als man sich selbst hat träumen lassen, oder dass es sich auch wieder aus unerklärlichen Gründen davonstiehlt.
Was tun? Wir sollten die Krisen und das Scheitern nicht zu schnell als schlecht abtun und abwerten, sondern sie als eine ungeheure Chance begreifen. Wenn wir nicht länger autistische Leistungs- und Erfolgsmaschinen oder von der Biologie terrorisierte Haustiere sein wollen, besteht unsere Chance gerade darin, kaputt zu gehen, d. h. nicht mehr zu funktionieren. Wir erhalten dann die Möglichkeit, uns zu entziehen, unseren Wider-Willen zu aktivieren und uns damit vor Selbstauflösung zu schützen. Wir können endlich der ständig perfektionierten Vernetzung mit Gott und der Welt und allen anderen auch ein Ende bereiten.
Abgekoppelt und mit etwas Distanz können wir sehen, wie uns Hoffnung blind, blöd und kriminell gemacht hat und zu einem lebensgefährlichen Wahn geworden ist, dass Wissen, Erfolg und Null-Fehler-Toleranz und Glücksproduktion nicht nur dumm machen und unser Leben verkürzen, sondern beunruhigen, verunsichern, gefährlich
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sind und miese Stimmung erzeugen. Wir sehen und können es fühlen, wie uns und auch andere der unbeirrbare Wille zur überfordernden Autonomie drangsaliert und zerstört. Und wir können schließlich sehen und fühlen, wie uns unsere Irrtümer, unsere Fehler und Niederlagen weiterbringen, uns klug machen und menschlich bleiben lassen. Wir können erkennen, dass die Akzeptanz unserer Abhängigkeiten uns autonom sein lässt, dass das Beste nicht immer gut ist und etwas weniger davon für ein gutes Leben und gute Stimmung ausreicht.
Mit der absolut gesetzten und daher notwendig ignoranten Autonomie kann man seine Not haben. Nicht das romantische, sich autonom gebärdende Selbst, sondern ein Selbst, das seine Gefährdungen und seine Abhängigkeiten in Rechnung stellt, wird sich selbst, die anderen und auch die umgebende Welt menschlich gestalten. Die Stimmung profitiert allemal davon. Sich den Erfolgserwartungen zu entziehen, erlaubt, sich selbst wieder in den Blick zu nehmen. Dem verbreiteten, angeblich lebensklugen Motto „Erkenne, wer du bist!“ sollte man sich aber auch zu entziehen wissen. Die gegenwärtig bei weitem wichtigere, überlebenswichtige Aufgabe heißt: Erkenne, wer du nicht bist! Dieser Weg eröffnet Chancen für ein gutes Leben. Und das hätten wir doch alle gern. Nicht umsonst finden Bücher zum Thema Lebenskunst reißenden Absatz.
Doch halten wir auch hier noch einmal inne: Die Begriffe „Lebenskunst“ und “Lebenskünstler“ sind nicht unproblematisch. Vermitteln sie doch den Eindruck, als sei unser Leben ein Kunstwerk, das von uns Künstlern geschaffen wird. Aber ist das wirklich so? Oder sind wir damit schon wieder in die Falle der Selbstüberschätzung geraten? Wir mögen zwar die Vorstellung gerne, dass wir unser Leben selbst bestimmt haben. Unsere Biografien erzählen wir uns dann als eine Geschichte bewusster Verknüpfung von autonomen Entscheidungen, die uns ein selbstbestimmtes Leben haben führen lassen. Aber ist dies bei genauerem Hinschauen nicht doch nur eine überhebliche Verblendung? Blenden wir dabei nicht das aus, was oftmals die entscheidenden Wendepunkte unserer Biografien waren – Dinge, die uns widerfahren sind, Entwicklungen, die eher durch andere als durch uns selbst angestoßen, beeinflusst und gesteuert wurden?
Die Vorstellung, dass nur wir selbst unserem gesamten Leben Form geben, ist nicht nur eine Illusion, sie führt auch auf eine Weise in die Irre, die für uns selbst destruktiv sein kann. Wir mögen zwar unserem Leben eine Form geben, aber allzu oft zerbricht das Leben diese Form. Das Leben legt sein Veto ein gegen die Form, die wir ihm gegeben haben, gegen die Vorstellung, die wir uns von unserem Leben gemacht haben. Oft wird das gute Leben als Kunstwerk missverstanden, das sich erweitert, entfaltet und immer großartiger wird. Es ist ein Missverständnis zu glauben, dem Kunstwerk Leben als Lebenskünstler immer noch mehr hinzufügen zu können und zu müssen. Wenn die Metapher des Kunstwerks überhaupt Sinn machen soll, dann wohl eher in der Form, dass die Kunst im Weglassen besteht. So wie der Bildhauer ein Kunstwerk schafft durch Weglassen eines Teils des Marmors, der stört, der unbrauchbar ist.
All das habe ich versucht in dem von mir erfundenen Begriff der resignativen Reife anklingen zu lassen. Die resignative Reife ist der wichtigste Gegner der illusionären Hoffnung. Sie ist der wichtigste Gegner der weitverbreiteten Zukunfts- und Vollendungsillusionen, den typischen Fortschrittsillusionen, denen jegliche Resignation verdächtig sein muss. Die resignative Reife überhört nicht, wenn das
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Leben sein Veto gegenüber unseren Vorstellungen und Glaubensüberzeugungen eingelegt hat. Die resignative Reife ignoriert nicht, wenn das Leben die Form zerbricht, die wir ihm gegeben haben.
Deshalb wünsche ich allen, die es hören wollen, zum Schluss und zu Beginn des neuen Jahres viel Glück und ein gehöriges Maß an resignativer Reife.
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Zum Autor:
Arnold Retzer ist Arzt, Psychologe, Privatdozent für Psychotherapie an der Universität Heidelberg und Gründer und Leiter des Systemischen Instituts Heidelberg (SIH)
Homepages: www.arnretzer.de und www.si-hd.de
Bücher (Auswahl):
– Miese Stimmung. Eine Streitschrift gegen positives Denken. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012.
– Lob der Vernunftehe. Eine Streitschrift für mehr Realismus in der Liebe. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009, Taschenbuch 2011.