Bassam Tibi : Ein Weg nach Europa oder weg aus Europa - Soll die Türkei der EU beitreten?
Islamische Demokratie, demokratischer Islam – Die Türkei auf dem Weg nach Europa
SWR2 Aula
Autor und Sprecher: Professor Bassam Tibi *
Redaktion: Ralf Caspary; Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 1. Oktober 2006, 8.30 Uhr, SWR 2
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ÜBERBLICK
Seit Jahren wird über einen eventuellen Beitritt der Türkei zur europäischen Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft kontrovers diskutiert. Die Gegner sagen, das Land sei wegen der Mentalität, der Kultur, der antidemokratischen Tendenzen noch lange Zeit nicht dazu in der Lage, in den Kanon der demokratischen Staaten mit einzustimmen.
Die Befürworter wiederum sagen, erst durch einen Beitritt werde die Türkei zu Veränderungen in Richtung mehr Demokratie quasi gezwungen. Bassam Tibi, Professor für internationale Beziehungen an der Universität Göttingen, gehört zu den Gegnern. Er weist besonders auf die Gefahr hin, dass durch einen Beitritt Islamisten auch die europäische Wertegemeinschaft unterwandern könnten.
INHALT
Ansage:
Heute mit dem Thema :“Islamische Demokratie, demokratischer Islam – Die Türkei auf dem Weg nach Europa“.
Bundeskanzlerin Merkel wird sich kommende Woche auf den Weg in die Türkei machen, es wird in Gesprächen mit führenden türkischen Politikern natürlich um die Beitrittsverhandlungen gehen. Im Vorfeld signalisierte Merkel, dass man grundsätzlich offen sei, die Beitrittsverhandlungen sollen auf jeden Fall weitergeführt werden, die Türkei spiele eine wichtige Rolle als Brücke zur islamischen Welt. Damit setzte sich die Kanzlerin eindeutig vom CSU-Vorsitzenden Stoiber ab, der vor kurzem noch den Stopp der Verhandlungen gefordert hatte.
Also: Europa nähert sich der Türkei an, die Türkei wiederum ist auf dem Weg nach Europa. Und die entscheidende Frage ist, ob die Türkei den Willen hat, Reformen in Angriff zu nehmen, die das Land EU-kompatibel machen.
Bassam Tibi, Professor für internationale Beziehungen an der Universität Göttingen, verfügt als Nahost-Experte und Politikwissenschaftler, der in Deutschland und Ankara lehrt, über Erfahrungen und das nötige Insiderwissen. In der SWR2 AULA zeigt er, warum er skeptisch ist, warum sich in Bezug auf Demokratisierung in der Türkei noch viel ändern muss.
Bassam Tibi:
Das Thema Türkei und Europa bzw. Türkei und die Europäische Union ist ein sehr „heißes“ Eisen. Es geht nicht nur um eine Beziehung zwischen den beiden, sondern darum, dass die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden will, obwohl sie eigentlich kein europäisches Land ist. Damit meine ich, die Türkei ist nicht christlich. Und hier beginnen schon die Polemiken auf beiden Seiten. Deswegen wird das Thema sehr kontrovers diskutiert.
Hinzu kommen die geographische Lage – die Türkei gehört zum größten Teil dem asiatischen Kontinent an -, und ihre Bevölkerungsstärke von zur Zeit ca. 72 Millionen Menschen. Bis zu einem möglichen Beitritt der Türkei in die EU in frühestens 10 Jahren - die Beitrittsverhandlungen sind auf ungefähr 10 Jahre angesetzt - wird die Bevölkerung schon auf 85 bis 90 Millionen Menschen angewachsen sein. Das sind mehr als in jedem anderen europäischen Land. Mit anderen Worten: Wäre die Türkei nicht ein so großes bevölkerungsreiches Land, wäre ihr Beitritt in die EU sicher auch nicht so umstritten.
Beginnen möchte ich mit einem Bekenntnis: Ich stamme aus Syrien und ich bin Moslem, komme also nicht aus einem „europäischen Land“ mit einer christlichen Religion, sondern aus einem islamischen Land, südlich der Türkei in Asien. Mein Großvater war General in der osmanischen Armee. Ich bin deutscher Staatsbürger und beanspruche für mich, deutscher Bürger zu sein, denn deutscher Bürger zu sein bedeutet in meinen Augen mehr als nur einen deutschen Pass zu haben. Viele Leute meinen zwar, ich sei eigentlich Syrer mit einem deutschen Pass. Aber ich verstehe mich als europäischen Bürger, d. h. als Mitglied des europäischen Gemeinwesens, und als solcher stelle ich Anforderungen an die Türkei, wenn sie der EU beitreten will. Außerdem bin ich Wissenschaftler, d. h. ich befasse mich mit rein sachlichen Kriterien und Fundamenten, die ich im folgenden zu erläutern versuche. Beginnen möchte ich mit zwei verschiedenen Sichtweisen auf das Thema:
Zunächst möchte ich über die Sichtweise der USA sprechen, obwohl die USA ja streng betrachtet nichts mit der Problematik Türkei und EU zu tun haben. Aber sowohl die Europäer als auch die Türken tanzen nach der Pfeife der USA, weil das die einzige Supermacht auf der Welt ist. Die USA reden kräftig mit bei dem Thema, denn sie brauchen die Türkei als geopolitische Schachfigur. Der wichtigste amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „The Grand Chess-Board“ („Das große Schachspiel“). Darin bezeichnet er die Türkei als wichtige Schachfigur für die amerikanische Außenpolitik, es sei im Interesse der USA, dass die Türkei in die Europäische Union aufgenommen werde. Aber was im amerikanischen Interesse ist, muss nicht unbedingt im europäischen Interesse sein.
Ich bin kein Anti-Amerikanist, ich habe einen Lehrstuhl in den USA und lebe zeitweise auch dort. Trotzdem bin ich der Meinung, eine europäische Kooperation mit Amerika heißt nicht Unterordnung. Leider verwechselt die amerikanische Politik manchmal das Wort „Koordination“ mit dem Wort „Subordination“. Aber das ist nicht dasselbe!
Der Krieg im Libanon ist zu einem Ende gekommen mit der Resolution des Weltsicherheitsrates 1701. Diese Resolution sieht die Stationierung von UN-Truppen an der libanesisch-israelischen Grenze vor. Die Amerikaner wollten keine Soldaten dorthin schicken aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen im Jahr 1983: Damals wurden bei einem Angriff der Hisbollah auf eine Kaserne der amerikanischen Marines 283 Soldaten ermordet. Amerika möchte, dass europäische und islamische Truppen dorthin geschickt werden. In den letzten Wochen waren in amerikanischen Zeitungen regelmäßig Leitartikel zu lesen, alle mit dem gleichen Tenor: Die Türkei müsse die dominierende Militärmacht im Südlibanon sein, weil das im westlichen Interesse sei. Und weiter: Wenn die Türkei ihre Aufgabe gut erledige, dann solle sie belohnt werden durch ihre Aufnahme in die EU – so die amerikanischen Kommentatoren. Mit anderen Worten: Die Amerikaner bestimmen über Europa und legen fest, welcher Weg zu gehen ist. Aber den Lohn für die Türkei zahlen nicht die Amerikaner, den Lohn zahlt Europa.
Amerika setzt Europa unter Druck, die Türkei aufzunehmen. Ein weiteres Beispiel zeigt das: Als vor ca. 2 Jahren der europäische Gipfel in Kopenhagen stattfand, telefonierte US-Präsident Bush fast täglich mit dem dänischen Ministerpräsidenten Anders Fogh Rasmussen und drängte: „You must let them in!“ – Sie müssen die Türkei in die EU aufnehmen.
Nun ein innereuropäischer Blick: Dieser Tage hat die Europäische Union einen Bericht des Erweiterungskommissars veröffentlicht, der für die Türkei nicht sehr positiv ausfällt. Die Türkei wird in zwei Bereichen kritisiert: Voraussetzung für die Aufnahme in die EU sind politische, wirtschaftliche und soziale Reformen. Je schneller die Reformen vorangetrieben werden, desto schneller schreitet der Prozess der Aufnahme voran. Aber der EU-Bericht konstatiert: Die Reformen stagnieren, und wenn das so weitergeht, können die Aufnahmeverhandlungen eingestellt werden, weil dann die Grundlage fehlt. Der zweite Kritikpunkt betrifft die Grundfreiheiten. In der Türkei herrscht zwar Demokratie, trotzdem entsprechen die Grundfreiheiten nicht dem europäischen Standard. Angesprochen werden hier die Frauenrechte. Und die Redefreiheit: In der Türkei werden Schriftsteller dauernd angeklagt und vor Gericht gebracht wegen ihrer Romane und Veröffentlichungen. Außerdem ist noch die Religion zu nennen, ein Thema, das in der EU sehr kritisch beobachtet wird. In der Türkei herrscht die Säkularisierung, also die Trennung zwischen Kirche und Staat. Trotzdem werden andere Religionen immer noch unterdrückt. Das zeigt sich z. B. daran, dass in Ankara keine einzige christliche Kirche steht, obwohl dort 800 Christen leben. Diese Menschen müssen in die päpstliche Kirche, also quasi die diplomatische Vertretung, gehen, eine eigene Kirche zu bauen wird ihnen versagt. Die einzigen christlichen Kirchen in der Türkei befinden sich in Istanbul. Diese stammen noch aus alten Zeiten und unterliegen heute strengen Restriktionen.
Soweit die Sicht von außen, von Europa. Ich möchte nun auf das Innere der Türkei blicken.
Mir liegt eine Studie von zwei türkischen Professoren, die an Elite-Universitäten in der Türkei lehren, vor. Diese beiden Wissenschaftler haben mehrere Tausend Menschen in der gesamten Türkei befragt mit folgenden Ergebnissen: Die Islamisierung, also die Zusammenführung von Staat und Religion, auf Kosten der Säkularisierung ist in der Türkei auf dem Vormarsch. 60 Prozent aller türkischen Männer wären nicht bereit, ihre Tochter einem „Ungläubigen“, also einem Nicht-Muslim, zur Ehe zu geben. Dazu muss man wissen, dass für Muslime eine Eheschließung ohne Genehmigung des Vaters unmöglich ist, der Vater gibt seine Tochter zur Ehe frei.
Die zunehmende Islamisierung deutet sich für mich auch noch auf andere Weise an: Ich besuche die Türkei regelmäßig, dieses Jahr war ich schon drei Mal dort. Dabei fällt mir auf, dass von Jahr zu Jahr immer mehr Frauen Kopftuch tragen. Noch vor 10 Jahren fand man auf der Hauptstraße von Istanbul, sie ist etwa vergleichbar mit dem Kurfürstendamm in Berlin, kaum eine verschleierte Frau. Heute dagegen trägt jede zweite Kopftuch. Kopftuchtragen ist ein Zeichen für Islamismus. Außerdem nimmt die religiöse Erziehung zu. Und es ist eine Schwächung der säkularen Eliten zu beobachten. Das sind die Befunde der beiden türkischen Wissenschaftler.
Die Türkei ist ein demokratisches Land. Unter den 57 islamischen Ländern gibt es nur zwei demokratische Länder im eigentlich Sinn, die Türkei und Indonesien in Südostasien. Den Irak würde ich nicht dazu zählen.
Indonesien ist sehr weit und betrifft Europa nur wenig. Deshalb interessiert uns hier nur die Türkei. Dort wird die Frage gestellt, ist Islam mit Demokratie vereinbar. Die Türkei ist zwar islamisch, aber sie hat eine säkulare Verfassung, die meiner Meinung nach sogar viel säkularer als die deutsche oder schwedische Verfassung ist. Sie trennt sehr streng zwischen Religion und Politik. Dieses Verständnis beruht auf den Ideen von Kemal Atatürk, dem Begründer der Türkei (Kemalismus). Kemal Atatürk, sein ursprünglicher Name war Mustafa Kemal, war General der türkischen Armee. Mit seiner Revolution von 1919 hatte er die alte osmanisch Ordnung aufgelöst, er verbot die islamische Scharia und islamische Kleidung sowohl für Männer als auch für Frauen. Statt dessen führte er quasi „von oben“ die Säkularisierung ein. Und das ist das Problem in der Türkei: Die Säkularisierung hat sich nicht von unten, aus der Gesellschaft heraus entwickelt, sondern sie ist vom Staat von oben verordnet worden. Deshalb konnte sie keine Wurzeln fassen.
Seit ihrer Gründung wurde die Türkei fast nur von kemalistischen säkularen Parteien regiert. Jetzt kommen zum zweiten Mal Islamisten an die Macht, und zwar mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Es gab mehrere islamistische Parteien in der Türkei, die sich als demokratisch ausgaben und an der Demokratie teilhaben wollten, obwohl sie eine nicht-demokratische Ideologie vertreten. Diese Parteien sind immer verboten worden. Die letzte dieser Parteien war die Fazilet Partisi, (Tugendpartei) und einer ihrer wichtigsten Politiker war Erdogan, der jetzige türkische Ministerpräsident. Erdogan hatte in einer hitzigen Rede einmal gesagt: „Unsere Moscheen sind die Kasernen, die Kuppeln unserer Moscheen sind unsere Helme und unsere Bajonette sind unsere Waffen im Jihad.“ So sprechen islamische Fundamentalisten. Er saß vier Monate im Gefängnis. Und in diesen vier Monaten, so behauptet Erdogan, habe er sich geläutert und herausgefunden, dass die beste Lösung für die Türkei der Weg nach Europa sei. Er hat die neue Partei AKP gegründet. Das war zu einer Zeit, als sich die kemalistischen Parteien in einer Krise befanden. Ihre Politiker ließen sich bestechen und so konnte die AKP die Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament erreichen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei ist so etwas passiert. Mit demokratischen Mitteln hat die AKP das Land in ihren Griff bekommen. Ihre einzige Hürde ist jetzt noch Präsident Ahmet Necdet Sezer. Sezer gilt als Vollblut-Kemalist. Er verweigert seine Unterschrift unter vielen Beschlüssen des Parlaments. Aber in einem Jahr geht seine Amtszeit zu Ende, und dann wählt das Parlament einen neuen Saatspräsidenten. Erdogan liebäugelt mit dem Amt, und er wird es auch bekommen, wenn er das will. Denn seine Partei, die AKP (Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung), bildet ja die Mehrheit im Parlament.
In ihrer Public Relation gegenüber Europa behaupten die AKP-Politiker, sie seien keine Islamisten mehr, sie seien jetzt islamisch-konservativ. Sie sagen, sie seien so islamisch-konservativ wie die CDU christlich-konservativ ist. Aber die CDU will keinen christlichen Staat etablieren. Ich meine, wir haben jetzt eine CDU-Bundeskanzlerin, aber ich habe noch keine Bewegung in der CDU gesehen, die säkulares Recht durch ein christliches Recht ersetzen will. Ganz im Gegensatz zur AKP: Dort ist die Scharia-Orientierung sehr deutlich. Auch die Verbindungen der AKP zu islamistischen Parteien in der Region des Nahen Ostens sind auffällig. Ein Beispiel: Als die Hamas, eine islamistische terroristische Bewegung, im Januar d. J. die Wahl in Palästina gewonnen hatte, führte die erste Reise einer Hamas-Delegation nach Ankara, wo sie offiziell empfangen wurde.
Schauen wir noch einmal auf den Libanon: Meiner Ansicht nach ist die USA blind, wenn sie fordert, dass die Türkei in militärischer Hinsicht im Südlibanon dominieren solle. Der türkische Ministerpräsident Erdogan sagte, die Türkei sei bereit, Truppen in den Libanon zu schicken. Aber wenn türkische Truppen die Hisbollah entwaffnen sollen, werden sie sofort abgezogen und in die Türkei zurückkehren. Diese Aussage zeugt nicht gerade von einer Distanz der AKP zur Hisbollah, und das ist ein Problem.
Wie schon gesagt, reise ich seit Jahren regelmäßig in die Türkei. Seit vier Jahren, seit die AKP an der Macht ist, beobachte ich, wie die AKP das demokratische System unterwandert. Sie hat mehrere tausend Beamte und Richter ausgetauscht, um damit eine schleichende Islamisierung in den politischen Institutionen durchzusetzen. Nur in eine Institution können sie nicht eindringen, und das ist die Armee. Die türkische Armee umfasst etwa 1 Million Soldaten. Sie ist auch eine soziale Institution, denn Offiziere, die in die Kadettenschule aufgenommen werden wollen, werden zuerst aufs Genaueste überprüft auf mögliche Verbindungen zu Islamisten. Ausgebildet wird nicht nur in militärischer Hinsicht, sondern die Ausbildung beinhaltet auch eine kemalistisch Indoktrination hinsichtlich des Säkularismus. Auch im Sicherheitsrat ist die türkische Armee vertreten. Die Islamisten wiederum benutzen die Europäische Union, um den Sicherheitsrat zu neutralisieren, und sie waren ziemlich erfolgreich damit. Die Armee hat heute nicht mehr den gleichen Einfluss wie früher, und trotzdem hält sie still. Denn sie bekommt Druck von den USA: Seid still, stürzt Erdogan nicht, Ihr dürft Euch nicht in die Politik einmischen!
Zur Zeit ist die Situation in der Türkei höchst angespannt. Die Atmosphäre ist vergiftet durch den Konflikt zwischen Islamisten und Kemalisten. Die Kemalisten werden immer schwächer, während die Islamisten erstarken und sehr an Einfluss gewonnen haben. Wenn man in der Türkei gelebt und nicht nur als Tourist das Land besucht hat, erkennt man zwei Gesichter der Türkei: Das eine ist das städtische säkulare Gesicht, z. B. in Ankara, Instanbul und Izmir. Die andere Seite ist die ländliche islamistische Türkei, die Osttürkei, vor allem Anatolien. Von dort stammen auch die Hauptwähler der AKP. Und im rahmen dieses Unterschiedes wird in der Türkei die Identitäts-Debatte geführt: Wer sind wir? Gehören wir zu Europa oder gehören wir zum Nahen Osten, zur islamischen Welt? Trotz der vergifteten Atmosphäre war es nach meiner Erfahrung leichter, in Istanbul über diese Fragen zu reden als in Deutschland. Eine türkische Zeitung hat mich gebeten, einen Artikel zum Thema: Gehört die Türkei zu Europa? zu verfassen. Ich habe geschrieben, dass die Eintrittskarte der Türkei für Europa die Integration der Türken in Europa ist. 4 Millionen Türken leben in Europa, 2,5 Millionen in Deutschland, der Rest ist in ganz Europa zerstreut. Die Türkei gehört erst dann zu Europa, wenn die sie europäisiert wird. Auf islamischer Grundlage wäre das nicht möglich.
Dieser Artikel wurde in Istanbul veröffentlich. Ich war dort und habe mit den Menschen darüber gesprochen, sachlich diskutiert, manchmal wurde geschrieen, aber wir sind eben Orientalen, wir meinen das nicht so. In Deutschland aber gibt es Tabus. Ich merke das auch an meinem Buch „Mit dem Kopftuch nach Europa“, ich werde deswegen angefeindet. Mir wird unterstellt, ich hätte ein Feindbild Islam, dabei bin ich selber Moslem. Ich bin dafür, dass die Türkei in die EU aufgenommen wird, aber auf Grundlage europäischer Werteorientierung.
Ich weiß als Nahost-Experte, dass die Araber eine türkische Führung nie akzeptieren würden. Anders sieht das in Zentralasien aus. In fünf Staaten Zentralasiens, den ehemalige Republiken der Sowjetunion, leben türkische Völker. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass nur wenige Türken folgende Tatsache kennen: Anfang des 9. Jahrhunderts gab es überhaupt keine Türken in dem Gebiet, das heute Türkei heißt. Dieses Gebiet gehörte früher zu Byzanz. Die Türken beginnen ab dem 8. Jahrhundert, von Zentralasien in den Vorderen Orient zu wandern. Das waren richtige Völkerwanderungen. Sie haben sich den arabischen Armeen angeschlossen und sich später verselbständigt. Aber das alles begann erst im späten 8. und Anfang des 9. Jahrhunderts.
Der Ursprung der Türken ist also Zentralasien, Usbekistan, Turkmenistan. 1993 war ich zum ersten Mal in Taschkent und mehreren anderen usbekischen Städten. Damals habe ich die große Begeisterung der Menschen für die Türkei erlebt. Sie glaubten, die Türkei werde sie in die Zukunft führen. Bestätigt wurde das durch den damaligen türkischen Präsident im gleichen Jahr, der bei einem Besuch in Taschkent sagte: „Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Türken. Die Türken werden sich vereinigen von Südostasien bis zum Balkan, und wir – die Türken – werden die nächste Weltmacht sein.“ Daraus wurde bekanntermaßen nichts. Acht Jahre später im Jahr 2001 habe ich Usbekistan nochmals besucht. Da war nichts mehr von der früheren Begeisterung zu spüren, im Gegenteil: Die Menschen lehnten die Türkei total ab.
Eine Erklärung dafür ist, dass früher viele tausend junge Usbeken in die Türkei gehen sollten, um dort zu studieren, gleichzeitig sollten sie den Kemalismus verinnerlichen und dann in ihre Heimat zurückkehren und dort helfen, eine Art türkisch-orientierte Renaissance in Zentralasien zu initiieren.
Zu dieser Zeit, 1995, hatte ich gerade eine Professur in Ankara und hatte Gelegenheit, viele dieser usbekischen Studenten kennen zu lernen. Dabei habe ich beobachtet, wie sie unter den Einfluss von Islamisten gerieten, und viele von ihnen sind nicht etwa als Kemalisten in ihre Heimat zurückgekehrt, sondern als Islamisten mit der Idee eines islamischen Staates im Kopf. In der Folge hat der usbekische Präsident Islam Karimow dann verordnet, keine Studenten mehr in die Türkei zu schicken, er sagte sinngemäß: „Wir wollen keine Islamisten. Wir haben die jungen Leute in die Türkei geschickt, damit sie unsere Trennung zwischen Religion unterstützen, und nun kommen sie als Islamisten zurück.“
Ich fasse zusammen: Der Einfluss der Türkei heute im Nahen Osten, Zentralasien und im Balkan ist minimal. Die Rechnung der Amerikaner, die Türkei als Schachfigur in dieser Region zu verwenden, geht nicht auf. Natürlich darf man der Türkei aber nicht den Rücken zuwenden. Das wäre mörderisch für Europa! Aber das andere Extrem ist auch falsch. Beitrittsverhandlungen müssen sachlich geführt werden und als Orientierung müssen europäische Werte gelten. Europa darf sich nicht erpressen lassen. Die türkische Regierung beschimpft die EU gerne als „Christenclub“ nach dem Motto: Wenn Ihr uns nicht aufnehmt, seid Ihr als „Christenclub“ Feinde des Islam. Das ist Erpressung, das darf sich die EU nicht gefallen lassen! Die Europäische Union ist ein säkularer Staatenverband und kein Christenclub.
Umgekehrt lässt sich aber auch sagen: Die EU mischt sich immer wieder in die türkische Innenpolitik ein und verhält sich dabei leider wie ein „Elefant im Porzellanladen“. Das erzeugt bei den Türken natürlich eher eine anti-europäische Haltung. Tatsächlich zeigen die letzten Umfragen auch, dass die Zustimmung unter den Türken zum Beitritt in die EU innerhalb von nur einem halben Jahr auf 15 Prozent zurückgegangen ist. Deshalb ist es wichtig, dass die Europäer darüber nachdenken, wie sie die Türkei unterstützen können. Bisher passiert das zu wenig. Europa arbeitet leider eng mit der AKP, zusammen. Eine Diskussion, ob die AKP islamisch-konservativ oder islamistisch ist, ist in Brüssel unerwünscht.
Dabei gibt es Hoffnung. Ich würde sagen, ungefähr 20 Prozent der Türken denken europäisch und sind europäisch sozialisiert. Diese Menschen darf Europa nicht verlieren! Sie müssen gefördert und angesprochen werden.
Und es gibt noch ein Problem: Die türkischen Islamisten betreiben sogenannte Welfare Institutions (Wohlfahrtinstitutionen). Wir kennen das von der Hisbollah im Libanon oder den Hamas, deren Stärke sind eben ihre Wohlfahrtsorganisationen, mit denen sie die Gesellschaft von innen erobern. Die Hisbollah hat jetzt jedem, der im Krieg sein Haus verloren hat, 12.000 Dollar gegeben als erste Zahlung. Die libanesische Regierung kann das nicht bezahlen, deshalb ist Europa aufgerufen, die libanesische Regierung finanziell zu unterstützen, um den Einfluss der Hisbollah zurückzuschrauben.
In der Türkei ist es ähnlich: Ich habe gesehen, wie massiv präsent die zivilgesellschaftlichen Organisationen der AKP in der Türkei sind, sie erobern die Herzen und Seelen der Türken – zu Ungunsten der 20 Prozent, die europäisch denken. Wenn die Türkei verloren ginge für Europa, wäre das ein Riesenschaden, nicht nur in geopolitischer Hinsicht.
Ein weiteres Argument will ich aufführen: Einige türkische Politiker sagen, die Türkei müsse in die EU aufgenommen werden, weil immerhin 4 Millionen Türken in Europa leben. Die Türkei sei demnach ein Stück von Europa. Meiner Meinung nach ist das kein Argument. Schauen Sie nach Frankreich, wo 8 Millionen Muslime beheimatet sind, 95 Prozent davon stammen aus Nordafrika – Algerien, Tunesien und Marokko. Algerien und Marokko verlangen deswegen aber noch lange nicht die Aufnahme in die EU. Oder die Niederlande: Die Niederlande hat insgesamt rund 14 Millionen Einwohner, 1 Million davon sind Nordafrikaner, fast 10 Prozent. Also dieses Argument trägt nicht!
Summa sumarum meine ich: Die Türkei muss drei Kriterien erfüllen, um der EU beitreten zu können. Erstens muss sie den europäischen Standard in Sachen Demokratie aufweisen. Zweitens: Europäische Werte, zu denen z. B. auch gehört, dass Religionen gleich sind, müssen auch in der Türkei gelten. Die Türkei diskriminiert aber nicht nur Christen und Kurden, sondern auch innerhalb der Islamgemeinde herrscht Diskriminierung. Ein Beispiel: Mindestens 25 Prozent der Türken gehören den Aleviten an. Aleviten haben in der Türkei nichts zu melden, sie werden diskriminiert, denn der Islam in der Türkei in seiner Mehrheit ist sunnitisch. Die Türkei sagt zwar, sie sei säkular, aber was bedeutet schon säkular, wenn sie im Namen eines sunnitischen Islam Aleviten diskriminiert? Nach europäischen Maßstäben darf das nicht sein.
Und der dritte Bereich betrifft die türkische Wirtschaft, in meinen Augen ist das ein Fass ohne Boden. Als Tansu Ciller Ministerpräsidentin war, habe ich gerade in der Türkei gelebt. Damals hatte die Weltbank der Türkei eine Geldspritze von mehreren Milliarden, ich glaube, es waren 16 Milliarden Dollar, verpasst, um die Ökonomie zu sanieren. Dieses Geld ist einfach verschwunden. Man weiß nicht, wo es ist. Einen Teil, soviel ist klar, hat Tansu Ciller bekommen. Sie hatte deswegen auch ein Verfahren im Parlament, nachdem aber eine Koalition mit den regierenden Islamisten gebildet hatte, wurde das Verfahren eingestellt. So was darf einfach nicht passieren. Wenn ein Politiker in Deutschland oder Europa auch nur in den geringsten Verdacht der Korruption gerät, muss er am nächsten Tag seinen Hut nehmen. In der Türkei sieht das leider anders aus.
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* Zum Autor:
Bassam Tibi wurde 1944 in Damaskus geboren, wo er bis zum Abitur die Schule besuchte. Er kam 1962 nach Frankfurt am Main und studierte bei Horkheimer und Adorno Sozialwissenschaften, Geschichte und Philosophie. Es folgten die Promotion in Frankfurt und die Habilitation in Hamburg. Seit 1973 ist Tibi Professor für Internationale Beziehung an der Universität Göttingen, seit 1988 leitet er diesen Fachbereich. Tibi gilt als Begründer der „Islamologie“ und ist einer der Exponenten des islamisch-jüdisch-christlichen Trialogs.
Bücher:
- Die Krise des modernen Islams. Suhrkamp-Verlag.
- Mit dem Kopftuch nach Europa. Die Türkei auf dem Weg in die Europ. Union. Primus-Verlag.
- Kreuzzug und Djihad. Goldmann-Verlag.
- Der neue Totalitarismus. Primus-Verlag.
- Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte. Ullstein-Verlag.
- Krieg der Zivilisationen. Verlag Hoffman & Campe.
- Europa ohne Identität? Bertelsmann-Verlag.
- Mit dem Kopftuch nach Europa. Die Türkei auf dem Weg in die Europäische Union. Wissenschaftliche Buchgesellschaft