SWR2 Wissen: Aula Raimund Allebrand: Ich bin dann mal weg! Sinn und Blödsinn in der postfaktischen Ära

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Ära postfaktisch
SWR2 Wissen: Aula Raimund Allebrand: Ich bin dann mal weg! Sinn und Blödsinn in der postfaktischen Ära

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Sendung: Sonntag, 11. Juni 2017, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2017
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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.


AUTOR
Raimund Allebrand (Jg. 1955) studierte Philosophie, kath. Theologie und Psychologie. Auf Tätigkeiten in Hochschule und Erwachsenenbildung und einen längeren Forschungsaufenthalt in Südspanien folgte ein Volontariat als Nachrichtenjournalist. Seit 2005 leitet Raimund Allebrand das IFIB – Institut für interkulturelle Beratung in spanischer Sprache (Bonn), daneben eigene niedergelassene Praxis für Psychotherapie, psychodynamisches Coaching und Supervision. In Beratung und Therapie ist Allebrand psycho-dynamisch orientiert und verbindet den tiefenpsychologischen Ansatz mit einer u.a. von Irvin D. Yalom geprägten existenzanalytischen Perspektive.
Buchauswahl:
- Die Burnout-Lüge: Ganz normaler Wahnsinn. Wie man mit Coolness sein Leben ruiniert. ehp-Verlag Bergisch Gladbach 2013.
- Tango – Das kurze Lied zum langen Abschied. Psychologie des Tango Argentino, 3. Aufl. Bad Honnef 2003.

ÜBERBLICK
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Vom postmodernen Leitmotiv "Alles ist möglich!" führt ein gerader Weg in die postfaktische Ära. Was jetzt zählt, sind nicht Überzeugungen, sondern Meinungen; nicht der argumentative Diskurs, sondern eine gefühlte Teilhabe am Mainstream ist gefragt, und Event statt Individualität. Zwischen der Moderne und der heutigen Postfaktizität liegt gefühlt ein halbes Jahrhundert, liegen am Ende dieser Zeitspanne Berlusconi, Putin und Erdogan und schließlich Donald Trump. Aber vor allem wurde der Schritt in eine postfaktische Gesellschaft von der Digitalisierung und Medialisierung unserer Event-Kultur jahrzehntelang vorbereitet. Der Psychotherapeut und Buchautor Raimund Allebrand zeichnet diese Linie nach.

INHALT
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Ansage:
Mit dem Thema: "Ich bin dann mal weg! – Sinn und Blödsinn in der postfaktischen Ära".
Vom postmodernen Leitmotiv "Alles ist möglich!" führt ein gerader Weg in die postfaktische Ära. Was jetzt zählt, sind nicht Überzeugungen, sondern Meinungen; nicht der argumentative Diskurs, sondern eine gefühlte Teilhabe am Mainstream ist gefragt, und Event statt Individualität. Zwischen der Moderne und der heutigen Postfaktizität liegt gefühlt ein halbes Jahrhundert, liegen am Ende dieser Zeitspanne Berlusconi, Putin und Erdogan und schließlich Donald Trump. Aber vor allem wurde der Schritt in eine postfaktische Gesellschaft von der Digitalisierung und Medialisierung unserer Event-Kultur jahrzehntelang vorbereitet. Der Psychotherapeut und Buchautor Raimund Allebrand zeichnet diese Linie nach.
Raimund Allebrand:
Tatsachen, mein lieber Sancho, sind die Feinde der Wahrheit! Der Schöpfer des Don Quijote, Miguel de Cervantes, legt diese Worte seinem Helden in den Mund, jenem Ritter von der traurigen Gestalt, der gemeinhin gegen Windmühlen kämpft. Aber selbst ein Don Quijote gerät zuweilen an seine Grenzen, und deshalb blendet er Tatsachen lieber aus wie kein anderer, oder er geht ihnen aus dem Wege, weil es einfacher ist und weniger Stress bringt. Damit passt er ganz gut in ein Zeitalter, das unsere, das man inzwischen als postfaktisch zu bezeichnen pflegt, nachdem die Postmoderne eben erst zu Ende ging – oder eben, doch nicht so ganz.
Vom postmodernen Leitmotiv Alles ist möglich! führt ein gerader Weg in
eben diese postfaktische Ära. Was jetzt zählt, sind nicht Überzeugungen, sondern Meinungen; nicht der argumentative Diskurs, sondern eine gefühlte Teilhabe am Mainstream ist gefragt, und Event statt Individualität. Zwischen der Moderne und der heutigen Postfaktizität liegt gefühlt ein halbes Jahrhundert, liegen am Ende dieser Zeitspanne Berlusconi, Putin und Erdogan und schließlich Donald Trump. Aber vor allem wurde der Schritt in eine postfaktische Gesellschaft von der Digitalisierung und Medialisierung unserer Event-Kultur Jahrzehnte lang vorbereitet. Diese Linie gilt es nachzuzeichnen.
Folgt man dem Philosophen Wolfgang Welsch, so beginnt die Zeit-strömung der Postmoderne dort, wo das Ganze aufhörte. Unabhängig von einer definierten Epoche ist ihr Grundmotiv eine Pluralität von Wertsystemen und gesellschaftlichen Orientierungen. Errungenschaften der Moderne und ihr damit verbundener Totalitätsanspruch werden in Frage gestellt. Das Monopol wissenschaftlich orientierter Rationalität erfährt eine nachhaltige Erschütterung, eine Absage an die moderne Welt des definiert Kognitiven und festgelegt Funktionalen. Postmoderne ist demnach eine Fortsetzung der Moderne, aber auf weiten Strecken gegen die Moderne, unter neuer Perspektive und mit anderen Mitteln. Damit einher geht eine Negierung gemein verbindlicher Konstruktionen der Wirklichkeit – was uns bisher zusammenhielt, kann Geltung nicht mehr ohne weiteres beanspruchen.
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Ein heraufbeschworener Weltuntergang fand jedoch nicht statt. Der Planet, mit ihm die Republik und die übrige Welt überlebten auch das Ende des zweiten Milleniums inmitten der so genannten Postmoderne. Bereits im Vorfeld des Jubiläums erhoben sich allerdings Stimmen, die ein Ende der Geschichte voraussagten, zumindest aber den Übergang in ein neues, ein anderes Zeitalter. Unter der Sammel-Überschrift New Age sorgte eine schwer definierbare Strömung zeitweise für Aufsehen und fand ihr lebhaftes Echo in Magazinen und Zeitungskolumnen. Zunächst in Nordamerika, bald darauf in Europa artikuliert sich ab den 1980er Jahren ein zuvor nicht gekanntes Interesse an Esoterik und Okkultismus, womöglich das erste postfaktische Phänomen mit einer gewissen Breitenwirkung.
Programmatisch ausgerufen wird das Neue Zeitalter seinerzeit in Kalifornien von Symbolfiguren wie der Publizistin Marilyn Ferguson und dem Physiker Fritjof Capra; dessen Schrift Wendezeit erzielt große Verbreitung, die Botschaft im Zeichen des Wassermanns findet Aufnahme auch im deutschen Sprachraum. Was zunächst in abgeschlossenen Zirkeln sein Dasein fristet, wird bald salonfähig. Von Astrologie über fernöstliche Meditation und Therapietechniken aller Art reicht ein bunt schillerndes Angebot bis zu Hexenglaube und schwarzer Magie, ein Supermarkt der religiösen Kulte. Anfangs eines Buchs mit sieben Siegeln, wird New Age erst durch die Massenmedien zum Markenzeichen. Das dazugehörige Ereignis vollzieht sich nicht zuletzt auf dem Papier: Bis zu zehn Prozent seines Umsatzes erzielt der deutsche Buchhandel Ende der achtziger Jahre mit esoterischer und okkulter Literatur.
Was Theologen als vagabundierende Religiosität bezeichnen, geht an der herkömmlichen Praxis eines westlich geprägten Christentums allerdings vorbei. Fernöstliche Vorstellungen prägen die Perspektive, eine große Rolle spielt ein neues Körpergefühl und die Suche nach ganzheitlichen Erfahrungen. Die Anhänger des New Age sind experimentierfreudig, fühlen sich nicht an feste Gruppen gebunden und praktizieren zahlreiche Riten als Zugang zum eigenen Ich. Während sich kirchliche Sektenbeauftragte schon bald gegen selbsternannte Gurus wenden fragen Psychologen und Soziologen nach Hintergründen der Bewegung. Eine Neigung zum Irrationalen, eine neue Suche nach Spiritualität als Reaktion auf die materialistisch ausgerichtete Konsumgesellschaft? Oder eben eine Grundlagenkrise der Moderne, die ein verbreitetes Unbehagen an der westlichen Kultur in neuen Strömungen artikuliert, die sich als postmodern umschreiben lassen?
Wie auch immer, die Bewegung flaut in den folgenden Jahrzehnten deutlich ab und verliert einen Teil ihrer exotischen Anziehungskraft. Manche Angebote des New Age konnten sich aber dauerhaft etablieren und gehören heute längst zum Standard einer breit gefächerten weltanschaulichen Szenerie. Von gemein verbindlicher Weltsicht, die sich zuvor in der flächendeckenden Zugehörigkeit zu christlichen Kirchen, politischen Parteien und kulturellen Vereinigungen manifestiert, kann im Dritten Jahrtausend nicht mehr die Rede sein. Politische Ideologien, die mit dem Ziel der Weltverbesserung noch gestern Massen in Bewegung setzen, haben ihre Anziehungskraft weitgehend verloren. Neben einem Trend zur Innerlichkeit, der sich sozialer Vereinnahmung entzieht, kennt die spätmoderne Zivilisation allerdings auch andere Erfahrungen: Evangelikale Christen und fundamentalistische Muslims, Neonazis, Extremisten aller Schattierung prägen das weltanschauliche Spektrum einer mehr und mehr permissiven Gesellschaft ebenso wie wertkonservative Aktivisten der Öko-Szene, vegane Ernährungs-Apostel oder eben jene enorm ge-
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wachsene Gruppe von Zeitgenossen, die in politischer Abstinenz einen Rückzug auf private Spielwiesen längst vollzogen hat.
Wo der einheitliche Zugang zur Wirklichkeit aufhört, beginnt eine Fragmentierung der Moderne, die man als Postmoderne begreifen kann. Anything goes lautet das Motto des begleitenden Lebensgefühls. Die Realität begegnet uns nur noch als kleiner Ausschnitt und unsere Wirklichkeit muss mit anderen Interpretationen konkurrieren. Weil jeder Lebensentwurf grundsätzlich möglich und scheinbar auch gleich berechtigt ist, bleibt unter dem Anspruch der political correctness wenig Raum für kritische Wertungen, für den diskursiven Dialog, für eine verbindende und verbindliche gemeinsame Basis. Nicht Überzeugungen sind gefragt, die sich rational begründen und argumentativ vertreten lassen, sondern Meinungen, die man mit dem Mainstream teilt. Andernfalls riskiert man einen so genannten shit-storm in den sozialen Netzwerken, und wer will das schon?
Folgt man soziologischen Analysen, dann gehört ein beträchtliches Segment der jüngeren Generation mit gehobenem sozialem Status, rund 20 Prozent der deutschen Bevölkerung, gegenwärtig bereits zum Milieu so genannter Experimentalisten, die gelernt haben, ideelle und biographische Widersprüche in ihr Lebenskonzept zu integrieren. An die Stelle traditioneller Wertorientierungen ist somit für nicht wenige Zeitgenossen ein vitaler Konstruktivismus getreten, der nahezu jede weltanschauliche Option für salonfähig hält. Moderne Errungenschaften wie etwa aufgeklärte Toleranz wurden abgelöst durch eine postmoderne Indifferenz. In seinem Essay Generation Golf liefert Florian Illies folgende Karikatur:
Früher war alles etwas übersichtlicher. Man glaubte an das Gute im Menschen und an das Böse im Amerikaner… Eine ganze Gesellschaft glaubte an den Marsch durch die Institutionen und an den Wandel durch Annäherung. An lauter Sachen eben, die davon ausgingen, dass sich die Welt verändern lasse. Die Generation Golf – die laut Illies zwischen 1965 und 1975 geboren ist – die Generation Golf hat früh gelernt, dass dies zu anstrengend ist. Sie sagt sich: Ich will so bleiben, wie ich bin. Und aus dem Hintergrund singt dazu der Chor: Du darfst!, so schreibt Illies im Jahr 2000.
Ein auf eintausend Euro reduzierter Bachelor-Absolvent, der mit einem Che- Guevara-Shirt bekleidet in seinem Cabrio sitzt, dessen Sprit gerade zur Neige ging, wird sich kaum Gedanken machen, wenn der Papst und der Dalai Lama eines Tages die Kutten tauschen. In diese weltanschauliche Szenerie passen Hape Kerkelings Wanderimpressionen auf dem spanischen Jakobsweg, die seit längerem als Bestseller und Kinofilm von sich reden machten. Sein Titel Ich bin dann mal weg! hielt sich mehr als hundert Wochen lang auf Platz eins der Sachbuchlisten. Mit diversen Printausgaben und Hörbüchern erzielte Comedian ab dem Jahre 2006 eine Gesamtauflage von über fünf Millionen Exemplaren.
Damit ist dieser Erlebnisbericht das Buchereignis der letzten Jahre. Über Kerkelings Reiseziel und den Weg durch Spaniens Nordwesten nach Santiago de Compostela wird man hier jedoch nicht unbedingt klüger. Allerdings ist das Buch flüssig geschrieben und stellt geringe Ansprüche an die Konzentration des Lesepublikums, somit die ideale Bettlektüre. Aus einem anfänglichen Geheimtipp wurde somit ein millionenfacher Bestseller, und allein die Tatsache dieser flächendeckenden Präsenz sorgt bereits für Gesprächsstoff. Ein Band, dessen Verbreitung mit dem Telefonbuch und der Bibel konkurrieren kann, muss nahezu unverzichtbar sein. Das Phänomen
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des Buchautors Kerkeling verdient deshalb Beachtung auch in der Rückschau auf seinen erstaunlichen Erfolg.
Kerkelings flüssig erzählte Erlebnisschilderung gerät zu einer Mischung von Ausgleichssport, Zufallsbekanntschaften und einer tieferen Bedeutung, die sich schnell im Banalen verliert. Ein wochenlanger Fußmarsch bietet dazu reichlich Anlass, wenn mürrische Gastwirte, skurrile Weggenossen und lädierte Fußsohlen farbig geschildert werden: Jakobsweg light, Pilgerschaft als zeitgemäße Kulisse einer Selbstbespiegelung, die aufgrund der Prominenz des Autors mit millionenfacher Beachtung rechnen darf.
Doch wird der Leser auf Kerkelings Weg durchaus mitgenommen, denn was ihm widerfährt könnte jedem von uns ebenfalls geschehen. Daneben beruhen der Kerkeling-Effekt und sein Erfolg auf dem kurzen Gedächtnis eines Medienbetriebs, der sich der authentischen Bedeutung des Pilgerwegs nicht erinnern kann, weil der historische Zusammenhang dem europäischen Kulturbewusstsein schon vor langer Zeit abhandenkam.
Gewiss waren die mittelalterlichen Pilger aus mancherlei Gründen unterwegs zum Ende der damaligen Welt, in zeitgenössischen Berichten sind diese Anlässe gut dokumentiert. Die lange Wanderung nach Santiago verspricht seit dem Hochmittelalter vor allem die Vergebung von Sündenstrafen, daneben spielen allerlei Ziele eine Rolle: Handel und Wandel, Tourismus, soziale und erotische Erfahrungen fernab heimatlicher Zwänge. Die Suche nach sich selbst zählt allerdings durchaus nicht unter diese oftmals recht weltlichen Motive. Der Sinn des Lebens steht seinerzeit außer Frage, und der spirituelle Kompass weist nicht auf die eigene Person, sondern in die Vertikale.
Demgegenüber geht man heute wie selbstverständlich davon aus, dass sich der Wanderer am Pilgerweg irgendwie auf der Suche befindet. Unterwegssein heißt demnach ein Ziel suchen, im Zweifelsfall einen Sinn, zumindest einen Weg zu sich selbst. Oder eben: Der Weg ist sein eigenes Ziel.
Dieses Konzept des Pilgerns als Sinnfindung steht in klarem Gegensatz zur traditionellen Bedeutung eines Pfades, dessen Sinn man nicht erfragen musste, weil sein Ziel jedem bekannt war. Wer nicht weiß, wohin er will, darf sich nicht wundern, wenn er woanders ankommt, heißt es bei Mark Twain. Soll der Weg ein Ziel haben, muss man um seinen Sinn bereits wissen – sonst bricht man auf, weiß nicht wohin und landet entsprechend wieder bei sich selbst. Das postmoderne Konzept des Wanderns auf dem Jakobsweg ist somit das ziemliche Gegenteil seiner ursprünglichen Dimension.
Ihrer Hintergründe entkleidet, steht die jüngst erst wieder entdeckte Pilgerstraße recht plötzlich im grellen Scheinwerferlicht einer postmodernen Sinnsuche, deren Bedarf an Wertorientierung immer verzweifelter wird. Der Camino als Symbol einer längst vergessenen Spiritualität signalisiert zumindest die Ahnung einer einstmals vertikal verankerten Gesinnung, die über die eigene Person hinaus weist.
Weil er aber Jahrhunderte lang gründlich vergessen wurde, wird der Pilgerweg heute – ganz unbelastet von historischer Erinnerung – neu erfunden. Er führt dann nicht über Santiago in die Transzendenz oder wie tausend Jahre zuvor mit einem
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christlichen Apostel in den Kampf gegen muslimische Spanier, sondern endet in der horizontalen Dimension des eigenen Hörsturzes, den es auf einem Umweg über das Mittelalter zu kurieren gilt.
Andererseits ist der Patron des christlichen Spanien überall am Wege als Matamoros dargestellt, als Maurentöter. Und schon deshalb kein guter Gesprächspartner für den Islam. Jakobus empfiehlt sich unter diesem Aspekt nicht unbedingt als Kandidat für den Friedensnobelpreis und präsentiert sich alles andere als politisch korrekt. Der Pilgerweg als Kriegspfad gegen Muslime! Da ist man schon froh, wenn postmoderne Pilger wie Hape Kerkeling diesen ideologischen Aspekt einfach ausblenden.
Sonst wäre nämlich der Weg nach Santiago längst, seiner historischen Bedeutung entsprechend, zum heutigen Symbol eines Heiligen Krieges gegen den Islam avanciert; statt Hape Kerkeling wäre George W. Bush nach Santiago gepilgert; Attentate nicht der baskischen ETA, sondern der muslimischen Al Kaida oder des IS wären dort an der Tagesordnung, der Fremdenverkehr am Jakobsweg bräche zusammen – und Kerkeling hätte den Weg zu sich selbst in der Eifel suchen müssen
oder im Schwarzwald.
Reichlich Polemik bei der Rezension eines harmlosen Reiseberichtes, möchte man sagen. Noch dazu aus der Feder eines Entertainers, dem auch der Autor dieser Zeilen durchaus Sympathie entgegen bringt. Das heißt, mit Kanonen schießen, und zwar auf Spatzen. Etwas Toleranz täte da gut! Hat nicht jeder längst seinen eigenen Jakobsweg? Oder gibt uns womöglich ein millionenfach verkaufter Buchtitel Hinweise auf Mentalität und Lebensgefühl der Gegenwart, auf einen Mainstream, der recht gut umschrieben ist mit dem Begriff postfaktisch?
Jedenfalls hat sich der Jakobsweg inzwischen etabliert als der kleinste gemeinsame Nenner eines untergehenden Abendlandes. Seit die soziale Marktwirtschaft vom neoliberalen Streichkonzert de facto abgeschafft wurde, wird man immer seltener fündig auf der Suche nach gemeinsamen Zielen und Werten. Am Ende muss ein fast vergessener Pilgerweg herhalten, seines Hintergrundes entkleidet und vom historischen Kontext befreit, als eine abgespeckte Version postmoderner Gesinnungsethik, die allerdings flächendeckend proklamiert wird durch einen Wald von Schildern und Wegweisern, damit sich der postfaktische Wallfahrer weniger schnell verirrt im Dschungel der Optionen. Man tut inzwischen gut daran, den eigenen Vorgarten, sollte man darüber verfügen, als jakobswegfreie Zone zu deklarieren, läuft man doch ansonsten Gefahr, dass auch die eigene Terrasse mit gelber Muschel auf blauem Grund gepflastert wird: Irgendwer wird da irgendwann schon mal gelaufen sein, alle Wege führen schließlich wohin, früher nach Rom und heute nach Santiago.
Diese aufdringliche Monokultur kündet längst von einem verzweifelten Ringen um postfaktische Gemeinsamkeiten. Ein Jakobsweg light tut zumindest niemandem weh. Nähme man hingegen statt seiner ein mittlerweile abgeschriebenes soziales Gut wie das Gemeinwohl wieder in den Kanon gemeinsamer Überzeugungen auf, dann würde es bald ungemütlich für manchen pilgernden Manager, der mit seiner wertfreien Selbstsuche auf Jakobs Spuren keine Probleme hat, denn Auswirkungen für die Einkommensverteilung unserer Gesellschaft sind hier nicht zu befürchten.
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Oder ist womöglich doch der Fußball jener gemeinsame Nenner, der unsere Welt gefühlt zusammenhält? Als ultimativer Realitätsersatz kann das Fußballgeschehen inzwischen auf jede Form sozialer Ethik souverän verzichten. Diese allerletzte Bastion einer fragmentierten Kultur findet als pseudo-religiöse Dauerliturgie auf Bildschirmen statt und somit in einem moralischen Vakuum. Sie wird aber weiterhin als Sport getarnt mit vermeintlichem Gemeinschaftsbezug und hat eine einsame Position zu verteidigen, als die Heilige Kuh der späten Moderne: Dabei darf sich nicht nur die FIFA nahezu alles erlauben, solange der Ball rund bleibt und nicht aufhört, uns ein dumpfes Gemeinschaftsgefühl vorzugaukeln – man hat ja sonst nichts!
Sie glauben nicht den Fakten, sie glauben nur sich, im Notfall müssen die Fakten dran glauben. Bertolt Brecht, Autor dieser Zeilen, könnte sich heute bestätigt sehen. Wichtig ist nicht, ob etwa Italien an Deutschland grenzt. Wichtig ist nur, ob sich genügend Leute für die Idee begeistern lassen, dass Italien an Deutschland grenzte. Wenn sich dann ausreichend Leute über das Faktum hinweg setzen, dass es noch Österreich und die Schweiz gibt, dann grenzt Italien eben an Deutschland. Schade, dass bei diesem Manöver gleich zwei Urlaubsländer verloren gehen.
Diese Art alternativer Geographie erinnert verdächtig an Donald Trump. Man kann auch andere Namen nennen, doch das Phänomen Trump hat die postfaktische Ära endgültig eingeläutet noch bevor der Begriff 2016 zu einem Wort des Jahres avancierte. Fakten spielen keine Rolle, es geht um die gefühlte Teilnahme an einem Trend, der uns durch die Massenmedien vorgegeben wird. Und ein bisschen Trump steckt wohl in jedem von uns, mit Verlaub! Das Internet und die elektronischen Medien als Wegbereiter des postfaktischen Zeitalters, sie können diese Rolle nur übernehmen, weil so gut wie jeder mitmacht. Oder zumindest glaubt, sich beteiligen zu müssen. Soziale Netzwerke beschaffen jene Mehrheiten, die an die Stelle von Inhalten traten. Nicht über Gespräch und Diskussion wird ein Konsens darüber hergestellt, was sein soll und sein muss, sondern über entsprechend viele Likes bei Facebook. Wer sich des Internet-Imperiums souverän zu bedienen weiß, stellt neue Realitäten her und bringt es womöglich zum Präsidenten einer Twitter-Diktatur.
In der digitalen und medialen Erlebniswelt, wie sie uns stündlich vermittelt wird, treffen wir auf eine permanente Produktion vermeintlicher Echtheit. Eine mutmaßliche Publikumserwartung, die sich mit Vokabeln wie authentisch, spontan und natürlich beschreiben lässt, wird hier mit entsprechenden Inszenierungen beantwortet und weithin befriedigt. Längst scheint uns die mediale Dramaturgie zuweilen echter als die eigene Lebenswelt und die eigentliche Realität, sofern es sie gibt.
Im endgültig medialen Zeitalter eines elektronisch vermittelten Weltbildes wird es heute zusehends schwieriger, Wirklichkeit und Fiktion voneinander zu trennen. Und es fällt schwer, gültig zu entscheiden, was echt ist und damit real – denn die mediale Inszenierung stellt die Realität bei weitem in den Schatten.
Dass sich aufgrund perfekter Technologie im Ergebnis zwischen Vorlage und Kopie nicht mehr unterscheiden lässt, ist gewollt: Wo Originale aufgehört haben zu existieren, gibt es keine Fälschungen. Und damit auch keine fake news, sondern nur noch alternative Informationen, die sich an keiner Realität messen lassen.
Das digitale Medium braucht keine Botschaft, es ist selbst die Botschaft, und nur eine medial konstruierte Welt gilt heute als Realität. Dann ist es nur ein kleiner Schritt vom
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postfaktischen zum antifaktischen, von der Wahrheit zu den alternativen Fakten im Stile von Donald Trump, die man Schönfärberei nennen kann, wenn' s beliebt. The Lie is the message! Das Wort Lüge wird jedoch heute seltener verwendet, denn - was ist Wahrheit, wo beginnt die Realität und wo endet sie?
Ein Betrunkener sucht unter einer Straßenlaterne seinen Schlüssel. Ein Polizist hilft bei der Suche. Als der Polizist nach langem Suchen wissen will, ob der Mann sicher sei, den Schlüssel unter der Laterne verloren zu haben, antwortet jener: „Nein, hier nicht, sondern da hinten – aber hier ist mehr Licht!“ In dieser Anekdote, wie sie Paul Watzlawick erzählt, führt die postfaktische Einstellung zu einem kontrafaktischen Ergebnis, denn so wird er niemals finden, was er sucht. Nicht umsonst steht diese Episode in Watzlawicks Anleitung zum Unglücklichsein als ein Beispiel für Realitätsflucht.
Die einen leugnen den Klimawandel – andere behaupten, die Erde sei sechstausend Jahre alt, weil es vermeintlich in der Bibel steht. Blödsinn, wenn er im Gewand religiöser Gefühle daherkommt, hatte schon immer die beste Aussicht auf Akzeptanz oder zumindest Toleranz; denn Gefühle dürfen nicht beleidigt werden, schon gar nicht durch die Realität. Eine kulturelle Umgebung, die sich immer weniger interessiert für die Qualität von Fakten und Tatsachen, orientiert sich stattdessen mehr und mehr an der gefühlten Quantität. Jedwede Veranstaltung muss da schon das Format eines Events haben, um Aufmerksamkeit zu finden. Der ultimative Event ist jene postfaktische Relevanz, die an die Stelle dessen trat, was man früher Realität zu nennen beliebte.
Etwa bei der medialen Inszenierung historischer Ereignisse, wie sie unter dem Motto Abenteuer Geschichte in zahllosen Varianten als History-Event über den abendlichen Bildschirm flimmern: Eine Kanonade schneller Einstellungen mit dramatischen Effekten zu agitierter Begleitmusik. Es versammeln sich Ritter und Mönche bei Fackelschein in unterirdischen Gewölben, stets einem vermeintlichen Geheimnis auf der Spur, das schließlich doch nicht gelüftet wird. Die Geschichte als eine faktische Folge von Ereignissen, die je nach Gang der Dinge bald spannend und bald langweilig ist, tritt hier zurück hinter der Pseudo-Aktualität eines historisierenden Event-Feuerwerks, das mit der Phantasie des Zuschauers spielt: Geschichte zum Anfassen, die als Abenteuer erlebt und nach Möglichkeit auch gefühlt werden soll. Der Informationswert dieser medialen Liturgie bleibt stets meilenweit zurück hinter dem Anspruch ihrer aufwändigen technischen Realisierung.
Denn es geht nicht um Inhalte, sondern um Gefühlswerte, die durch das Event-Format transportiert werden: Spätfolgen einer digitalen Revolution, deren Produkte sich jetzt anschicken, die Realität zu ersetzen. Natürlich nur, wenn alle mitmachen. Die Akzeptanz dieser medialen Fiktion wird allerdings erheblich erleichtert durch eine postfaktische Lebenshaltung.
Damit einher geht eine Absage an die Veränderbarkeit des Faktischen. Da wird uns allerhand Alternativlosigkeit vorgegaukelt, von der Systemrelevanz gewisser Banken, die noch eben ihr eigenes System durch Spekulation ruiniert haben, bis zur Unmöglichkeit eines Lebens ohne Internet und Smartphone oder gar – ohne Fußball. Was wirklich unverzichtbar ist, lässt sich immer schwerer sagen, denn unter den neuen Bedingungen ist eine Realitätsprüfung nahezu unmöglich und die Begegnung mit der eigenen Existenz findet jetzt seltener statt.
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Es schlägt die Stunde der phantasierten Bedeutsamkeit, wie sie Narzissten aller Schattierung auszeichnet. Das postfaktische Zeitalter ist die Fortsetzung und die Krönung der Postmoderne. Weil man sich in der gegenwärtigen Ära des Narzissmus schwer tut mit der Realität, wird jetzt emsig gearbeitet an einer Abschaffung der Wirklichkeit. Ein Streben nach Grenzenlosigkeit des eigenen Selbst ist hier das verbindende Merkmal.
Zahlreiche Kulturphänomene, die wir inzwischen als typisch post-modern erkennen, laufen auf eines hinaus: die Rettung einer gefühlten Bedeutsamkeit, die allerdings auf Fakten generös verzichten kann. Medien und Events müssen das Fehlen innerer Welten ersetzen, die in der Umgebung des dritten Jahrtausends nicht mehr stattfinden, aber als gefühlte Bedeutung im Kulturbetrieb erhältlich sind. Auf eine Realitätsprüfung muss man dabei dringend verzichten. Kein Wunder, dass man die Wirklichkeit immer öfter ersetzt durch eine mediale Fiktion, die vielleicht weniger schmerzt. Denn: Tatsachen, mein lieber Sancho, sind die Feinde der Wahrheit.
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