Christoph Butterwegge: Krise und Zukunft des Sozialstaates
Online-Publikation: August 2008 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
3., erweiterte Aufl. , 354 S. Geb. ISBN: 978-3-531-44848-0; EUR 24,90
VS Verlag, Wiesbaden 2006; www.gwv-fachverlage.de
Inhalt
Grundlagen und Organisationsstrukturen des Sozialstaates - Das "goldene Zeitalter" des Wohlfahrtsstaates: Auf-, Ab- und Ausbau des Systems der sozialen Sicherung - Medienberichterstattung und Akzeptanzprobleme des Sozialstaates - Die rot-grüne Regierungspolitik: Auflösung des "Reformstaus" oder Verschärfung des Sozialabbaus? - Diskussionen über den Wohlfahrtsstaat der Zukunft - Alternativen zum neoliberalen Um- bzw. Abbau des Sozialstaates - Zwischenbilanz der Koalition von CDU, CSU und SPD: Sozialpolitik paradox - großzügig und kleinkariert
Inhaltsgliederung
Die Sozialstaatsdiskussion - Grundlagen und Lösungswege. Mit einer Bilanz zur Großen Koalition!
Kaum jemand leugnet, dass sich der Sozialstaat in einer tiefen Krise befindet, aber ist es auch die Krise des Sozialstaates, oder wird dieser nur zum Hauptleidtragenden einer Entwicklung, deren Ursachen ganz woanders liegen? Um welche Sachfragen und Kontroversen es bei der Diskussion darüber geht, macht dieses Buch deutlich.
Autor
Prof. Dr. Christoph Butterwegge leitet die Abteilung für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln.
Fazit
Christoph Butterwegge zeigt mit seinem hervorragendem Buch "Krise und Zukunft des Sozialstaates" die sozialen und neoliberal-volkswirtschaftlichen Vorder- und Hintergründe auf, weist auf den Abbau der Sozialnetze hin und bietet mit einem bestfundiertem Material und Argumente zum einen dringend nötigen gesellschaftlich Diskurs zum Wandel an. Es ist neben seiner Qualitäten nicht nur ein Einführungs- und Lehrbuch für die politische Bildung sondern vor allem für die Gesprächskultur in einer sich zwiegespaltenden Gesellschaft, in der die neoliberale Herrschaftssprache und -gewalt bereits im National-Staat Einzug gehalten hat: " Wohlfahrt wird Wettbewerb, Sozialstaat wird Minimalstaat (Schlanke Braut, die an die Globalplayer reihum zur Ausbeutung freigelassen wird Anm.d. Rez.), Residales wird Kriminelles, aktiv Soziales verkommt zu fordernd-aktivierender Hilfsbedürftigkeit, Sozialverantwortung wird zur Eigenverantwortung/Privatinitiative, Gemeinwesen verkommt zur karikativen Tätigkeit, Sozialpolitisches verkommt zum Feudalismus/MA, bzw. der Staat rückverlagert Risiken an die Familie."
Dagegen hält Butterwege abschliessend und wir stimmen aktiv statt konjunktiv zu:" Nötig ist ein sozialer Umschwung...und eine gleichmässige Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zum Ziel hat. Eine neue Kultur der Solidarität kann das Wettbewerbsdenken durch eine Wiederbelebung der Wohlfahrtsstaatlichkeit ersetzen". w.p.
Christoph Butterwegge, Bettina Lösch, Ralf Ptak; unter Mitarbeit von Tim Engartner: Kritik des Neoliberalismus
Online-Publikation: August 2008 im Internet-Journal <<kultur-punkt.ch>>
Ereignis-, Ausstellungs-, AV- und Buchbesprechung
2., verb. Aufl. 298 S. Br., ISBN: 978-3-531-15809-9; EUR: 12,90
VS Verlag, Wiesbaden 2008; www.gwv-fachverlage.de
Vertiefende Hinweise zum Neoliberismus aus französischer Sicht:
http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/leben/-/id=3665386/property=download/nid=660174/4d9kvs/swr2-leben-20080815.rtf; http://www.homme-moderne.org/societe/socio/bourdieu/entrevue/vernetzD.html;
Inhalt
Neoliberalismus: Grundzüge und Kritik auf einen Blick
Keine andere Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie beherrscht die Tagespolitik, aber auch die Medienöffentlichkeit und das Alltagsbewusstsein von Millionen Menschen fast auf der ganzen Welt so stark wie die neoliberale. Die Publikation versteht sich als kritische Einführung in den Neoliberalismus, skizziert seine ökonomischen Grundlagen und stellt verschiedene Denkschulen vor. Anschließend werden die Folgen neoliberaler Politik für Sozialstaat und Demokratie behandelt, etwa im Hinblick auf Maßnahmen zur Privatisierung öffentlicher Unternehmen, staatlicher Aufgaben und persönlicher Lebensrisiken. Das Buch richtet sich an Leser/innen, die nach Informationen über den Neoliberalismus, guten Argumenten für die Debatte darüber und gesellschaftspolitischen Alternativen suchen.
Inhaltsgliederung
Historische Wurzeln und theoretische Grundlagen des Neoliberalismus - Die Strategie der Privatisierung: Selbstentmachtung des öffentlichen Sektors - Soziale und politische Destabilisierung als Folgen der neoliberalen Politik - Neoliberale Hegemonie: eine Gefahr für die Demokratie - Auswahlbibliografie zum Neoliberalismus .
Zielgruppen
- politisch und gesellschaftlich Interessierte
- Studierende und Dozierende aller Sozialwissenschaften
Autorenteam
Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Dr. Bettina Lösch und Dr. Ralf Ptak sind als Sozial-, Politik- bzw. Wirtschaftswissenschaftler an der Universität zu Köln tätig.
Fazit
Das aufklärende Buch von Butterwegge, Lösch, Ptak und Engartner zur "Kritik des Neoliberalismus" zeichnet sich durch seine nüchterne, ja gelassene Analysen, Hintergründigkeit und Beweisführungen aus.
Einführend werden die Grundlagen des Neoliberalismus und seiner Ausfransungen geklärt, zu seinem Praxis- und Durchsetzungsstrategien , anschliessend werden Alternativen und Gegenmassnahmen für einen gesellschaftlichen Wandel angeboten
Das Autorenteam zeichnet sich durch eine klare Schreibe aus. Es ist ein ausgezeichnetes Lehr- und Studienbuch für alle am gesellschaftlichen Wandel Interessierten und für die Optimierung des öffentlichen Bewusstseins sowie des politisch-ökonomischen Diskurses inbezug zu den ausufernden Tendenzen des Neoliberalismus. Das Autorenteam kommt mit Gewissheit, trotz allem, zum Schluss:" Eine andere, demokratische Politik ist möglich" gegen die scheinheilige, ja hinterlistige Alternativlosigkeit neoliberaler Praktiker. w.p.
Ralf Caspary im Gespräch mit Christoph Butterwegge: Arm im reichen Land . Die Ursachen eines sozialen Problems
SWR2 Wissen: Aula -
Autor/Interviewpartner: Prof. Christoph Butterwegge *
Redaktion/Interviewer: Ralf Caspary
Sendung am Sonntag, 15.11.2009, 08.30 bis 9.00 Uhr
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR2.
ÜBERBLICK
Armut in Deutschland hat sich von einem Tabu- zu einem Topthema gewandelt, das in Talkshows, im Radio und in Zeitungen debattiert wird. Man spricht zwar jetzt viel mehr darüber, aber gleichzeitig nimmt man Armut nicht als Kardinalproblem wahr, das gilt vor allem für Politiker. Armut wird deshalb in der Bundesrepublik nicht konsequent bekämpft, sie wird stattdessen geleugnet, verharmlost oder ideologisch entsorgt. Professor Christoph Butterwegge, Armutsexperte von der Universität in Köln, zeigt, wie unsere Gesellschaft mit Armut umgeht.
AUTOR
Christoph Butterwegge ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Köln und
Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien. In seinen zahlreichen
Veröffentlichungen widmet sich Butterwegge den Themen Friedenspolitik,
Rechtsextremismus, demografischer Wandel und Armut. Besonders Kinderarmut ist ein
Schwerpunktthema Christoph Butterwegges.
Bücher (Auswahl):
- Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird.
Campus Verlag 2009.
- zus. mit Hentges, Gudrun (Hrsg.): Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung.
Migrations-, Integrations- und Minderheitenpolitik, 4. Aufl. Wiesbaden 2009 (1. Aufl.
Opladen 2000, 2. Aufl. Opladen 2003, 3. Aufl. Wiesbaden 2006)
- zus. mit Michael Klundt / Matthias Belke-Zeng: Kinderarmut in Ost- und
Westdeutschland. 2. Aufl. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften 2008 (1.
Aufl. 2005)
- zus. mit Gudrun Hentges (Hrsg.): Rechtspopulismus, Arbeitswelt und Armut. Befunde
aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Leverkusen: Budrich 2008
- zus. mit Lösch, Bettina / Ptak, Ralf (Hrsg.): Neoliberalismus. Analysen und
Alternativen, Wiesbaden 2008
- Krise und Zukunft des Sozialstaates, 3., erweiterte Aufl. Wiesbaden 2006
INHALT
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Armut in Deutschland hat sich längst von einem Tabu- zu einem Top-Thema gewandelt,
das in den Medien kontrovers diskutiert wird. Es geht da zum einen um Arbeitslose, die
sich angeblich vom Staat einen schönen neuen Fernseher bezahlen lassen, die
angeblich ihre Stütze eher versaufen und ihre Kinder verwahrlosen lassen, zum anderen
geht es um eine größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich, um Niedriglöhne, von
denen kein Mensch mehr leben kann, um die Hilflosigkeit der Politik.
Wir wollen in der AULA über diese Probleme und Wahrnehmungen reden, und zwar mit
Christoph Butterwegge, den ich ganz herzlich begrüße, er ist Professor für
Politikwissenschaften an der Universität Köln und einer der führenden Experten für
Armut in Deutschland, er hat vor kurzem ein neues Buch dazu vorgelegt.
Gespräch:
Ralf Caspary:
Herr Butterwegge, wie kann man Armut definieren, welche Rolle spielen materielle
Aspekte
Christoph Butterwegge:
Armut ist ein sehr vielschichtiges Phänomen, das sicherlich mit materiellem Mangel zu
tun hat, aber sich nicht darauf beschränkt. Sondern daraus entstehen
Benachteiligungen in unterschiedlichen Lebenslagen: Wenn man wenig Geld hat, dann
hat man auch eher Probleme mit der Gesundheit, dann wohnt man eher schlecht, dann
wird es einem auch schwerlich gelingen, eine gute Bildung zu bekommen, und dann
kann man auch im Bereich von Freizeit, Kultur und in all den Lebensbereichen, in denen
wir uns bewegen, nicht recht mit den anderen mithalten. Insofern ist Armut mehr, als
wenig Geld zu haben. Aber was in der Öffentlichkeit häufig passiert, ist, so zu tun, als
hätte das Ganze gar nichts mehr mit Geldmangel zu tun und als ginge es nur noch um
Teilhabegerechtigkeit und nicht mehr um Verteilungsgerechtigkeit.
Ralf Caspary:
Die Fokussierung auf das Einkommen ist falsch, sagen Sie, es geht eher um die
Mangelsituation, um die Benachteiligung. Wie sieht die denn ganz konkret aus?
Christoph Butterwegge:
Machen wir das mal an Kindern fest: Ein Kind, das in einer Hartz IV-Familie aufwächst,
wird kaum die Gelegenheit haben, viele Kinder zu sich zum Kindergeburtstag
einzuladen, einfach weil die Wohnverhältnisse viel zu eng sind. Das führt wiederum
dazu, dass es von den anderen Kindern nicht eingeladen wird. Auch wenn es nicht in
der Lage ist, Geschenke mitzubringen, wird das möglicherweise dazu führen, dass es
isoliert wird in der Clique. So erwachsen aus diesen materiellen Lagen Probleme bis hin
in den psychosozialen und gesundheitlichen Bereich. Besonders Kinder leiden sehr
darunter. Wenngleich sie das häufig gar nicht so sehr artikulieren, ist ihnen doch sehr
wohl bewusst, sie leben in einer wohlständigen, wenn nicht reichen Gesellschaft, und
selber sind sie eigentlich kaum in der Lage, das zu zeigen, was üblich ist in unserer
Gesellschaft, nämlich per Konsum sich einen Status zu erringen, mitzuhalten mit
anderen, womöglich auch dadurch Überlegenheit auszudrücken. All das ist ihnen nicht
so leicht möglich oder wird ihnen sogar verwehrt.
Ralf Caspary:
Es kommt Ihnen also eher auf die psychosozialen Dinge an. Wie kann man denn jetzt
diesen Armutsbegriff abgrenzen z. B. von der Tatsache, dass es ja auch in der
Mittelschicht eine psychosoziale Armut gibt, Leute mit Geld, die ihre Kinder dennoch
geistig, sozial verwahrlosen lassen?
Christoph Butterwegge:
Ja, das gibt es auch. Aber ganz überwiegend hat auch diese Form der Verwahrlosung
mit solch materiellem Mangel zu tun. Also das Risiko, verwahrlost zu sein, ist sehr viel
größer, wenn man in einer Familie aufwächst, die am Zwanzigsten des Monats kein
Essen mehr auf den Tisch zu bringen vermag, als in einer Arzt- oder Professoren-
Familie, wo es so etwas auch geben mag, dass man sich nicht richtig um die Kinder
kümmert.
Ralf Caspary:
Armut ist nach meiner Einschätzung ein wichtiges Thema seit vielleicht ein, zwei Jahren
in der deutschen Medienlandschaft. Wie wird Ihrer Ansicht nach darüber berichtet?
Welche Fokussierung wird gesetzt, welche Perspektiven gibt es, die Sie stören?
Christoph Butterwegge:
Ich habe mich besonders damit beschäftigt, wie Armut in der Öffentlichkeit
wahrgenommen oder häufig auch nicht wahrgenommen wird. Wenn man sich die
Geschichte der Bundesrepublik vor Augen führt, dann stellt man fest, Armut war ganz
lange ein Tabu-Thema, an dem man nicht rühren wollte. 1948, nach der
Währungsreform, bekam jeder Bürger 40 DM für seine Reichsmark, alle Menschen
konnten also vom selben Ausgangspunkt aus ihr Leben gestalten. Es entstand der
Mythos: „Wer das nicht schafft, der ist selber schuld, jeder hat die Chance
aufzusteigen“. Zur Zeit des Wirtschaftswunders mag das ja auch für viele so gewesen
sein. Anschließend, als Vollbeschäftigung herrschte, gab es eigentlich keinen Grund,
sich mit dem Thema Armut auseinander zu setzen. Das tat man auch deswegen nicht
gerne, weil der Kalte Krieg – die Differenzen zwischen Kapitalismus und Sozialismus,
zwischen Sowjetunion und USA, NATO und Warschauer Pakt – natürlich dazu führte,
dass Armut ein Reizwort wurde. Wer von Armut sprach, gab ja zu erkennen, dass er
Kritik an unserem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem übte. Das wurde nicht gerne
gesehen, es wurde gesagt: „Geh doch nach drüben!“ Aber in den letzten Jahren, muss
man sagen, durch Wirtschaftskrise, durch Massenarbeitslosigkeit ist das Thema Armut
fast zu einem Topthema geworden, in den Medien, in der Öffentlichkeit, in der Politik –
nur man tut sehr wenig dagegen. Man redet darüber, etwa in Talkshows, aber auf eine
Art und Weise, die die Armen häufig verletzt, die ihnen selbst die Schuld in die Schuhe
schiebt, die sagt: „Ihr hängt faul in der Hängematte des Sozialstaates“; dabei ist hier die
Rede von massenhaftem Sozialmissbrauch. Die massenhafte Armut, die es gibt, wird
weniger thematisiert. Dabei ist gerade Armut in den allermeisten Fällen nicht selbst
verschuldet, sondern sie hat mit unserem kapitalistischen Wirtschafts- und
Gesellschaftssystem zu tun und sie hat zu tun mit der Art und Weise, wie man jetzt im
Neoliberalismus den Markt statt den Sozialstaat in den Vordergrund rückt. Konkurrenz
und Leistung werden betont. Und manche Menschen können da nicht mithalten. Denen
sagt man aber: Ihr habt euch nicht genügend bemüht.
Ralf Caspary:
Diese Selbstverschuldungsideologie ist doch nur eine Seite der Medaille. Ich kann mich
an viele Talkshows oder auch Dokumentationen erinnern, die relativ sachlich dargestellt
haben, wie Armut entsteht und welche ökonomisch-strukturellen Ursachen sie hat.
Christoph Butterwegge:
Ich würde das für einen positiven Aspekt halten, wenn das passiert. In Einzelfällen
kommt das auch vor. Aber meistens ist doch der Tenor, das sei Jammern auf hohem
Niveau – ich denke jetzt insbesondere an Boulevard-Medien, und man darf nicht
unterschätzen, dass dort Meinungsmache und Stimmung gemacht wird. Das geht bis in
die etablierte Politik hinein. Unser Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt wird nicht müde, in
Talkshows und in Zeitungsinterviews zu betonen, dass ein Facharbeiter in seiner
Jugend weniger hatte als ein Hartz- IV-Empfänger heute. Dadurch relativiert man ja die
Armut. Natürlich vergleicht sich kein Jugendlicher heute auf dem Schulhof mit einem
Jugendlichen, der das Kind eines Facharbeiters von vor 50 Jahren war, sondern er
vergleicht sich mit den Jugendlichen, die heute leben und das bunteste Handy, die
modernste Unterhaltungselektronik und die tollsten Markenklamotten haben. So wird auf
mancherlei Art und Weise das Problem beschönigt und so letztlich doch wieder
verdrängt.
Ralf Caspary:
Ich verstehe. Das sind die Berichte über Hartz IV-Empfänger mit Plasma-Bildschirm?
Christoph Butterwegge:
Richtig. Diese Fälle gibt es vereinzelt durchaus. Was aber dann aber wieder nicht
nachvollzogen wird, ist die Tatsache, dass Arme eben auf solche Weise kompensieren,
dass sie sich manches andere nicht leisten können. Dann stellen sie sich vielleicht
tatsächlich den Plasma-Bildschirm ins Wohnzimmer, um zu dokumentieren: Ich gelte
auch etwas, ich bin auch etwas wert, ich bin Teil der Konsumgesellschaft. Doch letztlich
ist das doch nur ein kurioser Ausdruck für die Tatsache, dass man strukturell
benachteiligt ist.
Ralf Caspary:
Ist Armut eine Konsequenz aus einer gewissen ökonomischen sozialen Struktur unserer
Gesellschaft?
Christoph Butterwegge:
Das würde ich bejahen. Denn wenn man in einer solchen Hochleistungs- und
Konkurrenzgesellschaft lebt, in der der Markt auch darüber entscheidet, welche sozialen
Positionen der Einzelne einnimmt, dann ist ganz klar, dass die Starken sich eher auf
dem Markt behaupten können und möglicherweise immer reicher werden. Ich
thematisiere ja auch immer wieder, dass man, wenn man über die Armut spricht, man
auch über den Reichtum sprechen muss. Wer über Reichtum nicht reden möchte, sollte
auch über Armut schweigen. Wenn man überlegt, dass die beiden reichsten Männer der
Bundesrepublik, die Gebrüder Albrecht, Eigentümer der Aldi-Kette Nord und Süd, ein
Privatvermögen von ungefähr 40 Milliarden US-Dollar besitzen, was vielleicht in der
Krise noch anwächst, weil die Discounter mehr Zulauf haben und Aldi im Ausland
expandiert, dann sieht man eine Kluft, die sich auftut in unserer Gesellschaft. Und das
scheint mir ein Problem zu sein. Nicht die Armut allein, denn die stellt sich in Kalkutta
natürlich viel dramatischer dar als in Karlsruhe, aber damit beruhigt man sich gleichzeitig
auch wieder und man tut so, als wäre die Armut in Karlsruhe eigentlich keine echte
Armut, obwohl sie in unserem Land für ein Kind oder einen Jugendlichen sogar
demütigender sein kann, weil man sieht, andere haben viel mehr und man wird
ausgegrenzt, möglicherweise sogar ausgelacht, was für ein Kind vielleicht viel
schrecklicher ist als abends ohne Essen ins Bett gehen zu müssen, man wird aus der
Clique herausgehalten und man wird ganz deutlich an den Rand gedrängt. Es findet
eine Ent-Solidarisierung in unserer Gesellschaft statt. Das ist in Afrika, Südamerika, in
weiten Teilen Asiens nicht so. Da schließen sich die Armen zum Teil zusammen, sie
solidarisieren sich, sie gründen Gewerkschaften wie die Straßenkinder in Südamerika.
Das heißt, die Art der Armut hier ist eine andere. In der Armutsforschung spricht man
eher von relativer Armut – also relativ im Vergleich zum Wohlstand, der die Menschen
umgibt. Absolute Armut bedeutet, man lebt am oder sogar unter dem physischen
Existenzminimum, man verhungert, man erfriert. Auch bei uns gibt es absolute Armut:
Obdachlose, die in kalten Wintern erfrieren. Das zeigt deutlich, dass auch in einem so
reichen Land wie dem unseren Armut existiert. Daran gibt es nichts zu beschönigen, es
gibt nichts zu verharmlosen, es gibt nichts zu relativieren.
Ralf Caspary:
Warum lässt der Staat Armut zu?
Christoph Butterwegge:
Das ist eine schwierige Frage. Armut ist ein merkwürdiges Phänomen: Niemand möchte
arm sein, niemand wünscht einem anderen offen Armut, jeder denkt, Armut ist eher
systemgefährdend, weil dadurch Kriminalität, Drogenmissbrauch, Gewalt, Brutalität
gefördert wird. Und obwohl die Einschätzung allgemein negativ ist, akzeptiert man im
Grunde – auch politisch – dieses Phänomen. Ich denke, weil Armut in einem
Wirtschaftssystem, das sich so stark über den Markt orientiert, funktional ist. Armut gibt
Zeugnis davon, wo man landet, wenn man sich den Gesetzen dieser kapitalistischen
Wettbewerbsgesellschaft nicht unterwirft.
Ralf Caspary:
Die Hochleistungsgesellschaft, die Sie kritisieren, ist das eine, aber man könnte
natürlich auch sagen, dass der Kapitalismus auch deshalb Armut produziert, weil er
Vollbeschäftigung nicht herstellen kann?
Christoph Butterwegge:
Ja, das ist sicher vor allem in der Wirtschaftskrise der Fall, die Arbeitslosigkeit wird in
nächster Zeit steigen und damit auch die Armut, weil Arbeitslose in den meisten Fällen
arm sind.
Ralf Caspary:
Ist für Sie der Zusammenhang Armut und Arbeitslosigkeit okay?
Christoph Butterwegge:
Ja, den gibt es. Aber das ist nicht das alleinige Problem. Der Kapitalismus ist sicher
nicht in der Lage, auf Dauer Vollbeschäftigung zu sichern. Es ist aber auch für
Kapitalanleger gar nicht nützlich.
Ralf Caspary:
Das meinte ich ja: Der Kapitalismus fordert die Arbeitslosigkeit strukturell heraus oder er
produziert sie?
Christoph Butterwegge:
Und er braucht sie, er produziert sie zum Teil ganz bewusst, weil man in der Krise und
bei hoher Arbeitslosigkeit die Löhne drücken kann. Ein Grund, warum bei uns die Armut
wächst, sind die niedrigen Löhne. Es wird eine Niedriglohnstrategie gefahren, die darauf
setzt, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland dadurch noch wettbewerbsfähiger wird,
wenn er niedrigere Löhne hätte. Das heißt, man weitet den Niedriglohnsektor immer
weiter aus. Niedrige Löhne, auch Kombilöhne, bei den der Staat Unternehmen
subventioniert, indem er zu niedrige Löhne aufstockt - dieser ganze Bereich von Miniund
Midi-Jobs, von Leiharbeit und Zeitarbeit lässt die Armut wachsen.
Ralf Caspary:
Kommen wir kurz zum Stichwort Bildung, weil mir das in diesem Zusammenhang ganz
interessant zu sein scheint: Kann man denn nicht auch sagen, dass Armut damit
zusammen hängt, dass wir die Kinder einer gewissen Gesellschaftsschicht – die untere
Mittelschicht oder die Unterschicht – an die Hauptschule schicken, das ist die
Verliererschule, und dass wir dieser Schicht eine Bildung zukommen lassen, die keinen
Aufstieg ermöglicht?
Christoph Butterwegge:
Das ist für mich zum Teil richtig. Klar ist: Ein hoch sozial-selektives Schulsystem wie
unseres, das besonders in den südwestdeutschen Bundesländern mit Klauen und
Zähnen verteidigt wird, ein solches gegliedertes Schulsystem, das kaum noch ein Land
auf der Welt hat, sortiert natürlich die Kinder schon ein, je nach ihrer sozialen Herkunft,
und führt damit auch zu einer Zementierung von Armut. Wenn man, egal wie gut man
ist, auf der Hauptschule bleibt oder sogar absteigt auf die Förder- oder Sonderschule,
dann wird man aus dem Teufelskreis der Armut nicht herauskommen. Auf der anderen
Seite wird Bildung zu leicht als eine Art Wunderwaffe im Kampf gegen die Armut
betrachtet. Heute wird so getan, als brauche man nur noch Zugang zu
Bildungsinstitutionen zu schaffen und auch zum Arbeitsmarkt, und damit sei das soziale
Problem schon gelöst. In Einzelfällen mag das so sein. Ich selber bin in meiner Biografie
ein Beispiel dafür, wie man aufgrund von immer höherer, besserer Bildung sich
hinaufarbeiten kann, wie man eine gute Berufsposition erringen kann und wie man
übrigens auch aus prekären Lebenslagen aufsteigen kann. Aber als
gesamtgesellschaftliches Instrument hilft Bildung nicht. Denn wenn alle besser gebildet
sind, dann konkurrieren sie womöglich auf einem höheren Bildungsniveau, um die
immer noch zu wenigen Arbeitsplätze und Lehrstellen. Und deswegen muss außer
Bildung für alle außerdem noch eine Umverteilung von oben nach unten stattfinden.
Ralf Caspary:
Was war denn Ihr Vater von Beruf, wenn ich fragen darf?
Christoph Butterwegge:
Mein Problem war, dass der Vater gar nicht existent war in meinem Leben, sondern ich
war das Kind einer alleinerziehenden Mutter, nichtehelich geboren. Insofern war der
Besuch des Gymnasiums ganz wichtig, auf dem man aber auch übrigens diskriminiert
wurde. Schon in der ersten Stunde, als der Klassenlehrer das Klassenbuch aufschlug
und nach dem Beruf des Vaters fragte, kam ich groß ins Schleudern, und die Söhne des
ersten Teppichhauses am Platze wurden natürlich sofort von dem Klassenlehrer für
höhere Aufgaben vorgesehen, andere Kinder wie ich wurden von vorneherein
abgewertet. Man kann sich vorstellen, wer dann die besseren Schulergebnisse und
Noten zu verzeichnen hatte. Damals ist mir sehr bewusst geworden, dass Bildung, wenn
sie so vermittelt wird wie bei uns, von sozialer Schichtzugehörigkeit abhängt. Und dort
anzusetzen hielte ich für richtig. Aber es darf nicht die Bildung das Pflästerchen sein,
das man auf die Wunde klebt, um damit abzulenken von den ungerechten
Verteilungsverhältnissen. Von Geld nicht mehr zu reden und den Armen zu predigen,
bildet euch, bildet euch, bildet euch, aber gleichzeitig beim Hart IV-Regelsatz 0 Euro für
Bildung und 1,57 im Monat für Schulmaterialien eines Kindes vorzusehen, zeigt doch
deutlich, dass man die materiellen Mittel und Ressourcen für die Bildung vorenthält.
Ralf Caspary:
Haben wir nach Ihrer Ansicht immer noch eine Schichten-Architektur, die an die
Industriegesellschaft erinnert? Haben wir nicht ganz feste, abgeschlossene soziale
Milieus mit geringer Durchlässigkeit?
Christoph Butterwegge:
Ich sehe viele Belege dafür, dass dem so ist. Das fängt oben an: Die Manager-Elite
stammt aus dem Großbürgertum, zum Teil sogar aus dem Adel. Im Grunde werden da
ganz alte Strukturen reproduziert. Auf der anderen Seite existiert unten der Teufelskreis
der Armut: Menschen, die in Hartz IV-Familien aufgewachsen sind, haben, wenn sie
selbst erwachsen sind, arme Kinder. Sie sind meist nicht in der Lage, aus diesem Milieu
herauszukommen. Sicher ist die Klassengesellschaft in Deutschland nicht so
ausgeprägt wie in Großbritannien …
Ralf Caspary:
… oder in Frankreich.
Christoph Butterwegge:
Ja, in Frankreich ist das auch noch deutlich vorhanden. Aber der Tendenz nach gibt es
das bei uns auch, und ich wundere mich immer darüber, dass viele Soziologen in der
Bundesrepublik gar nicht mehr bereit sind, von Klassen und Schichten zu sprechen, und
auch Politiker plötzlich das Wort Unterschicht als etwas ansehen, was von einem
anderen Planeten stammen müsste, obwohl es in Wirklichkeit mehr denn je die Spaltung
in Arm und Reich in unserer Gesellschaft gibt und damit auch Klassen und Schichten.
Derjenige, der aus der Unterschicht oder der Arbeiterklasse kommt, hat es sehr viel
schwerer aufzusteigen, sehr häufig wird es ihm gar nicht gelingen, sondern er wird sich
in den sozialen Bahnen bewegen, in denen sich auch seine Eltern und Großeltern
bewegt haben.
Ralf Caspary:
Wir haben also verharmlosende Etiketten entworfen, wir sprechen ja auch plötzlich vom
Prekariat?
Christoph Butterwegge:
Ja, auch das ist ein Modebegriff, von dem ich relativ wenig halte. Wenn man ihn benutzt,
zum Beispiel um auszudrücken, dass es einen wachsenden Niedriglohnsektor gibt,
Generation Praktikum, Leiharbeit, Zeitarbeit usw., der sich ausbreitet, dann sollte man
klar machen, dass dieses Prekariat Teil des Proletariats ist, das es immer noch gibt,
wovon aber in der Öffentlichkeit immer weniger gesprochen wird. Mir scheint, man
verschließt die Augen, verdrängt die Armut und entsorgt dieses Problem möglichst
ideologisch, indem man es auf unterschiedliche Art und Weise verharmlost und
relativiert.
Ralf Caspary:
Wir brauchen deshalb Politiker, die das Problem nicht tabuisieren und ideologisch
entsorgen. Wir kommen aber nicht weg vom Kapitalismus, wir kommen auch nicht weg
von der Leistungsgesellschaft. Deshalb die Frage: Wie kann man Armut bekämpfen?
Oder ist dieser Begriff schon zu hart?
Christoph Butterwegge:
Nein, man muss einen Kampf gegen die Armut führen. In den USA war sich sogar ein
US-Präsident nicht zu schade, vom „Krieg“ gegen die Armut zu sprechen. Ich denke,
das müsste bei uns auch so sein: Wir müssten uns zunächst einmal dazu bekennen,
dass es dieses Problem überhaupt gibt, dass es auch strukturelle Ursachen hat, und
dann muss man an den Strukturen etwas verändern. Ich denke jetzt nicht sofort an die
Abschaffung des Kapitalismus, sondern einfach an eine andere Steuerpolitik. Wenn man
eine Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip betreibt, die durch Erbschafts- und
Körperschaftssteuer und den Spitzensteuersatz die Wohlhabenden immer weiter
entlastet und durch Mehrwertsteuererhöhung und dem Gerede darüber die Armen und
sozial Benachteiligten immer stärker belastet, dann darf man sich nicht wundern, wenn
sich die Gesellschaft immer weiter spaltet. Das Umgekehrte müsste passieren: Die
Vermögenssteuer müsste wieder erhoben werden; eine Vermögensabgabe wäre
sinnvoll, um zum Beispiel Bildungseinrichtungen und auch individuelle
Fördermöglichkeiten für eher sozial Benachteiligte zu finanzieren. Es wäre unbedingt
notwendig, eine Grundsicherung zu schaffen, die den Namen wirklich verdient, also
nicht auf Hartz -IV -Niveau, auch nicht unter diesen entwürdigenden
Rahmenbedingungen, dass der Sozialdetektiv kommt und in die Betten guckt, wie es um
die Partnerschaft steht und die entsprechenden Unterhaltspflichten. In einer so reichen
Gesellschaft wie der unseren müssten alle Bürger über ein soziales Auskommen
verfügen auf einem Niveau, das deutlich höher als Hartz IV sein müsste, insbesondere
für Kinder. Hartz IV bedeutet 359 Euro plus Heiz- und Mietkosten. Jeder weiß, dass man
in unserer Gesellschaft davon nicht leben kann. Jeder weiß aber vor allen Dingen auch,
dass man von den Hartz IV-Kinderregelsätzen nicht ein Kind großziehen, gut bilden und
dafür sorgen kann, dass es seine Möglichkeiten nutzt, seine Talente entwickelt. Um
solche Kinder besser stellen zu können, wäre ein anderes Schulsystem nötig. Mir
schwebt eine Gemeinschaftsschule nach skandinavischem Vorbild vor. So gibt es ganz
unterschiedliche Felder, auf denen die Politik handeln müsste. Mir scheint aber, dass sie
bisher dieses Problem entweder nicht wahrgenommen hat oder aber die Augen
zumacht. Jedenfalls kann ich nicht erkennen, dass eine Politik für die Armen gemacht
wird.
Ralf Caspary:
Hartz IV wurde eingeführt mit der Maxime, man müsste die Armen, die Arbeitslosen
nicht nur fördern, man müsse sie auch fordern. Was halten Sie denn prinzipiell von
diesem Gedanken?
Christoph Butterwegge:
Das ist das Marktprinzip. Das Tauschprinzip wird in dem Sozialstaat implementiert.
Zunächst ist dieser Ansatz durchaus zu verstehen, denn warum soll der Arbeitslose, der
vom Staat Mittel erhält, nicht zum Beispiel Parks fegen oder Mittagessen austeilen in
einer Schule. Aber gleichzeitig hat das mit dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes
nicht mehr viel zu tun. Denn da steht eben nicht: Die Bundesrepublik Deutschland ist
dann ein Sozialstaat und sozialer Rechtsstaat, wenn der Arbeitslose eine Gegenleistung
erbringt oder wenn er nicht nur gefördert, sondern auch gefordert wird. Sondern da steht
schlicht und ergreifend: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer Rechtsstaat
bzw. ein sozialer Bundesstaat, was in der Sprache der Juristen heißt, sie soll es sein.
Und das bedeutet für mich, man müsste mehr Vertrauen in die sozial Benachteiligten
setzen, anstatt zu glauben, nur wenn man Druck ausübt, sind sie bereit, eine
Arbeitsstelle anzunehmen. Ich glaube, Angebote zu machen und Anreize zu setzen, ist
sehr viel erfolgreicher. Jeder, der gefragt wird, was er ist, antwortet nicht mit
„Briefmarkensammler“ oder „Angler“, sondern er nennt seinen Beruf. Und das zeigt
deutlich, jeder identifiziert sich damit, was er tut, und jeder wird auch im Grunde darüber
identifiziert. Das heißt, wenn man mehr Arbeitsplätze und ich meine
sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze schaffen würde, würde es auch mehr
Menschen geben, die solche besetzen. Wenn sie aber fehlen, dann denjenigen, die
keinen haben, vorzuwerfen, sie hingen in der sozialen Hängematte, das ist billige
Polemik, finde ich – aber auch eine Art und Weise, die Armut zu entsorgen.
Ralf Caspary:
Meinen Sie mit der Grundsicherung eine Art Grundeinkommen, das ja immer wieder
diskutiert wird: Also jeder, egal ob er arbeitet oder nicht, bekommt vom Staat ein
garantiertes Grundeinkommen – über die Höhe kann man natürlich streiten –, was aber
auf jeden Fall höher als Hartz IV ist?
Christoph Butterwegge:
Jetzt machen Sie aber ein Fass auf, Herr Caspary! Das ist eine absolut berechtigte
Frage. Über das Grundeinkommen wird ja in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen
Kreisen seit einiger Zeit debattiert, insbesondere seitdem es Hartz IV gibt.
Ralf Caspary:
Nehmen wir einmal an, so etwas könne man finanzieren und so etwas wäre wirklich
möglich, wäre das sinnvoll?
Christoph Butterwegge:
Ich bin ein Kritiker des bedingungslosen Grundeinkommens aus dem einfachen Grunde,
weil ich glaube, das führt in eine falsche Richtung. Das Prinzip eines funktionierenden
Sozialstaates ist Bedarfsgerechtigkeit. Derjenige, der etwas braucht, soll etwas
bekommen. Wer zum Beispiel behindert ist, muss sehr viel höhere Leistungen
bekommen. Auch Christoph Butterwegge als Professor muss nichts bekommen. Bei
einem bedingungslosen Grundeinkommen wird aber jeder über einen Kamm geschoren.
Viel sinnvoller scheint mir zu sein, sich um diejenigen zu kümmern, die es nötig haben.
Es ist Unsinn mit der Gießkanne riesige Summen auszugießen und sie dann
möglicherweise über Steuern wieder einzusammeln, was sehr mühselig werden kann
und übrigens auch dazu führt, dass das Finanzamt sehr viel stärker Repressionen
ausübt, die jetzt die Agentur für Arbeit ausübt, indem nämlich das Finanzamt sehr viel
stärker prüfen muss, ob Schwarzarbeit geleistet wird oder irgendwo anders finanzielle
Quellen sind, die das Grundeinkommen aufstocken. Letztlich würde so etwas den
Sozialstaat zerschlagen, denn die meisten Befürworters eines solchen
Grundeinkommens wollen gleichzeitig zum Beispiel die Sozialversicherung,
Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung abschaffen. Das
würde aber bedeuten, dass die Zeche gerade diejenigen zahlen, die zum Beispiel viele
Kinder haben, die bedürftig sind oder diejenigen, die von einer Mehrwertsteuer, also
einer Konsumsteuer sehr viel stärker getroffen werden als ein Milliardär, der nämlich im
Verhältnis zu seinem Vermögen und Einkommen relativ wenig ausgibt. Der Hartz IVEmpfänger
oder dann der Grundeinkommen-Bezieher, der 1500 Euro bekommt, wird
das ganze Geld brauchen, um die teureren Waren zu bezahlen. Und indem er die 1500
Euro sofort in die Läden trägt, wird er natürlich von der erhöhten Mehrwertsteuer sehr
hart getroffen. Insofern ist das für mich eine Milchmädchenrechnung. Ich kann
verstehen, dass Menschen mit dem bedingungslosen Grundeinkommen sympathisieren.
Wenn sie aber länger darüber nachdenken, finde ich, sollten sie zu dem Schluss
kommen, wenn man die Finanzmassen, die ein Grundeinkommen braucht, bewegen
kann, dann kann man den Sozialstaat statt abzubauen um- und ausbauen und ihn so
großzügig machen, dass es Armut in einem so reichen Land wie dem unseren nicht in
dem Maße mehr geben muss wie jetzt.
*****
Prof. Christoph Butterwegge: Abschaffen oder umbauen? – Die Zukunft des Sozialstaats
SWR2 Aula -
Redaktion: Ralf Caspar. Sendung: Sonntag, 7. März 2004, 8.30 Uhr, SWR 2
Bestellungen an das LMZ: Telefon (07 21) 88 08 – 20, Fax 88 08 – 69, e-mail: hschneider@lmz-bw.de
Prof. Christoph Butterwegge:
Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit der Entwicklung des Sozialstaates, bin aber auch politisch auf diesem Felde sehr engagiert, und zwar vor allen Dingen deshalb, weil ich glaube, dass es um eine gesellschaftspolitische Richtungsentscheidung geht. In welcher Art der Sozialstaat um- bzw. abgebaut wird, dürfte mit darüber entscheiden, wie die Gesellschaft der Bundesrepublik in einigen Jahren und Jahrzehnten aussieht, ob wir es mit einer solidarischen Gesellschaft zu tun haben oder mit einer Gesellschaft, in der Solidarität und soziales Verantwortungsbewusstsein keine Rolle mehr spielen. Das heißt, der Sozialstaat ist ein wesentliches Bindeglied zwischen den auf dem Markt agierenden Individuen einerseits und deren gesellschaftlichem Zusammenhalt. Deshalb ist es so wichtig zu gucken, in welche Richtung sich der Sozialstaat entwickelt, genauer gesagt: In welche Richtung wird er entwickelt?
Der Sozialstaat in Deutschland, denke ich, ist ein Vorbild gewesen, ein Modellfall, der prägend war für die ganze Welt. Er besteht letztlich seit ungefähr 120 Jahren. In den 80-er Jahren des 19. Jahrhunderts hat Bismarck die ersten Sozialversicherungen geschaffen: 1883 die Krankenversicherung, 1884 die Unfallversicherung und 1889 die Invaliditäts- bzw. Altersversicherung. Dieses Sozialversicherungsmodell, das eigentlich für die ganze Welt von Bedeutung war, steht gegenwärtig, denke ich, zur Disposition. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat gesagt: Was im kulturellen Bereich für Europa Beethoven, Mozart und Goethe sind, das stellt im Grunde im Sozialen der Wohlfahrtsstaat in Europa dar. Ich glaube deshalb, dass man um seine Erhaltung kämpfen muss, dass man dafür eintreten muss, dass er nicht demontiert wird, dass er nicht in einer Art und Weise umgebaut wird, die letztlich einen Abbau darstellt.
Ich will im Folgenden vier Argumentationsmuster darstellen und kritisieren, die benutzt werden, um zu vermitteln, warum ein Um- bzw. Abbau des Sozialstaates unvermeidlich sei:
Erstens wird gesagt, der Sozialstaat sei in der Bundesrepublik Deutschland so hoch entwickelt, dass er im Grunde nicht länger finanzierbar sei auf die Art und Weise, wie das gegenwärtig geschieht. Das zweite Argument, welches vorgebracht wird, um zu begründen, warum ein Sachzwang bestehe, den Sozialstaat grundlegend zu verändern, ist sein angeblich massenhafter Missbrauch. Das dritte – wie ich finde – schon ernster zu nehmende Argument besteht in dem demografischen Wandel und in der mangelnden Generationengerechtigkeit. Und das vierte Argumentationsmuster, mit dem ich mich beschäftigen möchte, besteht in dem Schlagwort Globalisierung. Wenn die verschiedenen Länder als Wirtschaftsstandorte mit- bzw. gegeneinander konkurrieren, so wird gesagt, dann könne ein Sozialstaat wie die Bundesrepublik Deutschland auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig sein, wenn andere Länder einen weniger hoch entwickelten Sozialstaat hätten. Daraus wird ebenfalls der Zwang abgeleitet, Sozialstaatlichkeit zu beschneiden.
Das erste Argument, der Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland sei sehr hoch entwickelt, beruht auf der Vorstellung, dass kein anderer Sozialstaat eigentlich so großzügig mit seinen Mitteln verfahre wie der deutsche. Wenn man Menschen in der Bundesrepublik Deutschland – Passanten auf einem Marktplatz beispielsweise – fragen würde, welches der entwickeltste Sozialstaat auf der Welt oder zumindest in Europa sei, würden fast alle Befragten antworten: der deutsche. Und dasselbe würde auch passieren, wenn man Norwegerinnen und Norweger befragen würde oder Italienerinnen und Italiener oder Kanadierinnen und Kanadier. Da aber natürlich nicht alle Recht haben können, wenn sie annehmen, dass der eigene Sozialstaat der entwickeltste, der großzügigste sei, muss man fragen: Wie verhält es sich tatsächlich mit den unterschiedlichen Sozialstaaten?
Nun gibt es eine Wissenschaftsrichtung, die empirische vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung, die das untersucht. Und sie gelangt, wahrscheinlich auch für viele Hörerinnen und Hörer überraschenderweise, zu dem Ergebnis, dass die Bundesrepublik Deutschland keineswegs auf Platz 1 der Weltrangliste liegt in Bezug auf den entwickelten Sozialstaat, sondern unter den 15 EU-Mitgliedstaaten nur einen Rang im Mittelfeld, Platz 8 oder 9, einnimmt. Und eine andere Möglichkeit, um die Frage zu beantworten, ob denn der deutsche Sozialstaat wirklich so entwickelt ist, dass er zurückgestutzt werden müsste, besteht darin, nicht international vergleichend zu gucken, sondern einen historischen Vergleich anzustellen: also zu vergleichen: Wie entwickelt ist der Sozialstaat in der Bundesrepublik Deutschland heute, und wie verhielt es sich vor einigen Jahrzehnten? Ist er in der letzten Zeit wirklich, wie seine neoliberalen Kritiker behaupten, so weit entwickelt worden, dass er sich wie ein Krake über die ganze Gesellschaft legt, dass er die wirtschaftlichen Aktivitäten seiner Bürger unterdrückt, dass die Sozialbürokratie alles andere an Dynamik erstickt? Wenn man diese Frage historisch untersucht, dann braucht man ein Kriterium, das angelegt wird an den Sozialstaat, und dieses Kriterium ist normalerweise die Sozialleistungsquote, das heißt, der Anteil dessen am Bruttoinlandsprodukt, also an dem, was gesamtwirtschaftlich an Produkten und an Dienstleistungen erwirtschaftet wird pro Jahr, jener Anteil, der davon für Soziales ausgegeben wird - und dieser Anteil, die Sozialleistungsquote, betrug im Jahr 2003 über den Daumen gepeilt 33 Prozent. Also ein knappes Drittel all dessen, was erwirtschaftet worden ist, wurde für Soziales ausgegeben: für Medizin, für Krankengeld, für Renten, für Bafög, für all die sozialen Leistungen, die im Wohlfahrtsstaat Bundesrepublik Deutschland gesetzlich festgeschrieben und vorgesehen sind.
1 Guckt man nun zurück auf das Jahr 1975 und fragt, wie das vor 28/29 Jahren aussah, stellt man fest: Damals lag die Sozialleistungsquote ebenfalls bei ungefähr 33 Prozent, d. h., auch damals wurde ein knappes Drittel all dessen, was erwirtschaftet wurde, ausgegeben für soziale Leistungen. Allerdings – das ist der wesentliche Unterschied -, die Arbeitslosigkeit betrug im Jahre 1975 knapp über eine Million Arbeitslose, heute jedoch 4,5 Millionen. 1989/90 sind durch die Vereinigung von DDR und Bundesrepublik soziale Leistungen und soziale Lasten hinzugekommen, und obwohl die Arbeitslosigkeit gestiegen ist und obwohl, besonders in manchen Regionen Ostdeutschlands, ein enormer Sozialaufwand nötig ist, trotzdem ist die Sozialleistungsquote in dieser Zeit über mehrere Jahrzehnte hinweg ungefähr konstant geblieben. Das heißt, der Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland ist heute nicht entwickelter, als er dies 1975 war. Daraus ziehe ich den Schluss, dass die Behauptungen, der Sozialstaat sei in letzter Zeit zu großzügig, zu weit entwickelt worden, falsch sind.
2 Das zweite Argument, das vorgetragen wird, um den Umbau des Sozialstaates zu rechtfertigen, geht in die Richtung zu sagen, es finde ein massenhafter Missbrauch von Sozialleistungen statt, und weil dies so sei, müssten strengere Kontrollen angelegt werden, es müsse auch die Struktur des Sozialstaates in die Richtung verändert werden, dass ein solcher Missbrauch in dem Maße nicht mehr möglich sei.
Ein solcher Missbrauch besteht ganz sicherlich, wie alle Rechte und alle Leistungen, die es gibt, auch missbraucht werden. Aber niemand würde ein Grundrecht, wie z. B. das Post- und Fernmeldegeheimnis deshalb in Frage stellen, weil über Telefone auch Verbrechen verabredet werden. Genauso, denke ich, ist bei Sozialleistungen zu fragen: In welchem Maße werden sie missbraucht? Wenn dies in einem minimalen Ausmaß der Fall ist, dann – denke ich – muss man einen solchen Missbrauch hinnehmen. Missbrauch von Sozialleistungen, den es gibt, wird aber in der Öffentlichkeit und in den Medien häufig dramatisiert. Es wurde im Jahre 2003 über viele Wochen hinweg in großen Boulevardzeitungen berichtet über den sog. Florida-Rolf, einen Sozialleistungsempfänger in Miami/Florida, der angeblich auf Kosten der deutschen Steuerzahler mit Sozialhilfeleistungen eine Luxuswohnung unter Palmen unterhielt. Ich bin allerdings der festen Überzeugung, dass dies nicht nur ein hochgespielter Einzelfall war, sondern dass es auch eine absolute Ausnahme war, ja dass es sich eigentlich auch nicht um Missbrauch handelte. Denn es gibt das Urteil eines niedersächsischen Gerichtes, das feststellte, diesem Sozialhilfebezieher könne wegen Selbstmordgefahr nicht zugemutet werden, zumindest in den nächsten Monaten in die Bundesrepublik Deutschland umzuziehen. Die meisten derjenigen unter Tausend von fast drei Millionen Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern, die im Ausland leben - knapp Tausend unter ungefähr drei Millionen sind es überhaupt nur - die meisten sind Jüdinnen und Juden, denen man nach 1945 die Rückkehr nach Deutschland nicht zumuten mochte.
3 Die nächste Argumentation, die ich thematisieren möchte, ist schon sehr viel ernster zu nehmen. Es wird behauptet, der demographische Wandel unterhöhle die Grundlagen des Sozialstaates. Dadurch, dass die Gesellschaft kollektiv altere und dann auch ein Bevölkerungsschwund längerfristig feststellbar sei, dadurch sei es nicht mehr möglich, wie bisher die Renten zu finanzieren, sondern es müssten immer weniger Erwerbstätige immer mehr Rentnerinnen und Rentner aushalten und dies – so wird gesagt – sei im Grunde auf Dauer in den nächsten Jahrzehnten so nicht mehr möglich.
Diese Argumentation bauscht ebenfalls eine Entwicklung, die ich nicht leugnen will, auf. Ich bezweifle, dass dies so entscheidend ist für den Sozialstaat. Denn so plausibel es auf den ersten Blick erscheint, dass wenn es mehr Rentnerinnen und Rentner gibt, und Menschen, auch weil sie eine höhere Lebenserwartung haben, über einen längeren Zeitraum hinweg Rentenzahlungen bekommen, so plausibel es erscheint, dass dann entweder die Renten gekürzt werden müssen oder aber die Beiträge erhöht, so unvollständig ist eigentlich diese Alternative. Denn es gäbe natürlich dritte Möglichkeiten: Man könnte weitere Bevölkerungsgruppen in die gesetzliche Rentenversicherung aufnehmen, z. B. Beamte, Selbstständige, Abgeordnete, Minister. Man könnte auch den Bundeszuschuss erhöhen, also mehr Steuergelder in das System hinein nehmen. Man könnte aber auch die Beitragsbemessungsgrenze erhöhen, das heißt, die Solidarität derjenigen, die einzahlen in die Gesetzliche Rentenversicherung, nicht enden lassen bei einem monatlichen Einkommen von 5.150 Euro, sondern sie auch für das Rentenversicherungsbeiträge zahlen lassen, was sie darüber hinaus verdienen. Denn ich glaube, gerade über das, was jemand über 5.150 Euro im Monat verdient, kann er solidarisch mit anderen sein und in die Gesetzliche Rentenversicherung, zusammen mit seinem Arbeitgeber, einzahlen. Also Rente ist keine Frage der Biologie, sondern eine Frage der Politik. Diese entscheidet darüber, wie der wachsende gesellschaftliche Reichtum auf die verschiedenen Altersgruppen verteilt wird.
Hier, denke ich, liegt das Problem. Nicht dass die Gesellschaft altert, ist das Problem, sondern dass eine Gesellschaft, die insgesamt immer reicher wird, diesen Reichtum immer ungerechter verteilt. Würde das wachsende Bruttoinlandsprodukt, das trotz einer sinkenden Bevölkerungszahl erwirtschaftet wird, auf diese sinkende Bevölkerungszahl gerechter verteilt werden, dann müsste keine einzige Rente gekürzt werden, ja ganz im Gegenteil: Ich denke, alle Menschen in der Bundesrepublik Deutschland, in einem so wohlständigen, so reichen Land hätten die Möglichkeit, ohne Angst vor sozialem Abstieg, vor Armut ihr Leben zu gestalten.
Das Schlagwort, das in dem Zusammenhang immer vorgebracht wird, nämlich mangelnder Generationengerechtigkeit, diese Feststellung, denke ich, lenkt von einem anderen Problem ab: Nicht zwischen den Generationen ist der Reichtum falsch verteilt, sondern innerhalb einer jeden Generation gibt es auf der einen Seite wachsenden Reichtum, auf der anderen Seite zunehmende Armut. Also nicht zwischen Alt und Jung verläuft eine soziale Scheidewand, sondern zwischen Arm und Reich.
Es gibt auf der einen Seite zwar, so wie das in der Öffentlichkeit zu Recht, aber manchmal auch demagogisch thematisiert wird, immer mehr wohlhabende Renterinnen und Rentner, auch solche, die ihren Winter auf Teneriffa verleben. Auf der anderen Seite gibt es aber immer noch viele hunderttausend, vor allen Dingen arme Frauen, die mit einer Minirente auskommen müssen. Dasselbe auch im Bereich der jungen Menschen. Es gibt auf der einen Seite zunehmend Armut bei Kindern, über eine Million Kinder in der Bundesrepublik Deutschland leben in Sozialhilfe-Haushalten, 2 bis 2,8 Millionen Kinder sind arm, wenn man andere Kriterien zugrunde legt, entweder, dass ihre Familien weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens zur Verfügung haben, oder das Kriterium, dass jemand in unterschiedlichen Lebensbereichen Defizite aufweist, im Bereich von Bildung, Gesundheit, Wohnen oder Freizeit. Auf der anderen Seite gab es aber auch noch nie so viele reiche Kinder in der Bundesrepublik wie heute: Wohlhabende, reiche Eltern verschenken kurz nach der Geburt ihrer Kinder aus steuerlichen Gründen einen Teil ihres Vermögens, ihres Wertpapierdepots, an ihre Kinder, und insofern polarisiert sich die Bevölkerung.
Wer sich für Generationengerechtigkeit verwendet, der muss gerade künftigen Generationen einen ausgebauten Sozialstaat hinterlassen. Denn nur dieser schafft eigentlich die Möglichkeit, dass künftige Generationen ohne Angst vor Armut, vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg leben.
4 Das vierte Argumentationsmuster, das den Umbau des Sozialstaates rechtfertigt, ist die Globalisierung. Es handelt sich hier um einen Prozess, den ich lieber als neoliberale Modernisierung bezeichne, weil alle gesellschaftlichen Bereiche nach dem Vorbild des Marktes, neoliberalen Konzepten folgend, umstrukturiert werden. Diese Globalisierung wird als Argument benutzt, um zu sagen: Wenn unterschiedliche Wirtschaftsstandorte auf dem Weltmarkt miteinander konkurrieren, dann ist letztlich das Soziale ein Klotz am Bein der Wirtschaft. Dann ist dieser Sozialstaat, so wie wir ihn kennen, nicht mehr finanzierbar, zumindest dann nicht, wenn die Bundesrepublik auf den Weltmärkten erfolgreich sein will als Wirtschaftsstandort.
Guckt man sich nun aber an, welche Wirtschaftsstandorte denn nach dieser neoliberalen Logik auf den Weltmärkten besonders erfolgreich sind, dann stellt man fest, dass unter den Hauptkonkurrenten der Bundesrepublik Deutschland eigentlich nur mehr oder weniger entwickelte Wohlfahrtsstaaten sind. Das heißt, ein Sozialstaat ist kein Hindernis auf dem Weg zur Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt, sondern ganz im Gegenteil: Er bildet die Voraussetzung dafür, dass Menschen so beruflich flexibel und geographisch mobil sein können, wie es gerade im Zeichen der Globalisierung von ihnen gefordert wird. Nur wenn ein ausgebautes Netz sozialer Sicherung besteht, können sie eben heute in Kiel und wenige Monate später in Konstanz arbeiten. Nur dann ist es möglich, dass sie flexibel auf Veränderungen reagieren, dass sie anpassungsfähig sind. Das heißt, der Sozialstaat ist im Grunde kein Hindernis für Konkurrenzfähigkeit, sondern auch in dieser neoliberalen Logik sogar eine Bedingung dafür.
5 Die Mechanismen Nachdem ich die Argumentationsmuster dargestellt und kritisiert habe, die benutzt werden, um den Um- und Abbau des Sozialstaates zu legitimieren, will ich jetzt die verschiedenen Mechanismen beschreiben, nach denen der Sozialstaat umgebaut wird, und anschließend darauf kommen, welche Alternativen denkbar sind.
.1 Die Mechanismen, nach denen der Sozialstaat umgebaut wird, sind in dieser neoliberalen Standortlogik zu finden. Es wird versucht, den Bereich des Sozialen sowie andere gesellschaftliche Bereiche auch betriebswirtschaftlicher Effizienz zu unterwerfen; was auch im Bereich des Sozialen stattfindet, ist eine Privatisierung. Privatisiert werden nicht nur öffentliche Unternehmungen, sondern auch soziale Dienstleistungen, privatisiert werden aber auch soziale Risiken. Das heißt, dafür, wofür vormals die Solidargemeinschaft einstand, wird jetzt wieder jeder Einzelne verantwortlich gemacht. Wenn es darum geht, etwa für den Zahnersatz zu sorgen, dann muss jeder Einzelne wieder eine Extraversicherung abschließen, wenn man mal dieses Beispiel aus der Gesundheitsreform nimmt.
Ich sehe im wesentlichen vier Tendenzen, wie der Sozialstaat ab- und umgebaut wird. Erstens wird der Sozialstaat zum Minimalstaat. Dort, wo früher, besonders im sozialen Bereich, ein ausgebauter Staat war, wird jetzt ein schlanker Staat erwartet. Dieser schlanke Staat ist aber sehr häufig eher ein magersüchtiger Staat, der soziale Leistungen nicht mehr bereit hält, die lange Zeit eigentlich eine Selbstverständlichkeit waren.
.2 Zweitens wird der Wohlfahrtsstaat zu einem „nationalen Wettbewerbsstaat“ gemacht. Das Soziale wird nicht mehr als Eigenwert betrachtet, so wie das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Artikel 20 und in Artikel 28 es fordern, sondern das Soziale wird dem Wirtschaftlichen untergeordnet. Der Sozialstaat soll dafür sorgen, dass der Wirtschaftsstandort Deutschland konkurrenzfähiger wird. Dies soll beispielsweise erreicht werden dadurch, dass der Kündigungsschutz gelockert wird.
.3 Drittens wird aus dem Sozialstaat zumindest der Tendenz nach ein Kriminalstaat. Während der Bereich des Sozialen dereguliert und verschlankt wird, werden andere Bereiche des Staates, der Teil, den man als Sicherheitsstaat, auch als Repressionsapparat des Staates bezeichnen kann, eher weiter verstärkt. Denn ein Staat, der Sozialleistungen abbaut, muss sich gerade gegen Proteste wappnen und womöglich gar in anderen Bereichen ein sehr starker Staat sein. Die Videoüberwachung öffentlicher Plätze, die Einschränkung demokratischer Rechte, der Platzverweis für Gruppen, die wie Bettler, wie Obdachlose, wie Punks nicht in das Bild von luxuriösen Innenstädten hinein passen - all diese Maßnahmen bedeuten eher, dass der Sicherheitsstaat ausgebaut wird, während der Sozialstaat verschlankt wird. Ein Staat, der am Sozialen spart, der wird wahrscheinlich auf der anderen Seite die Sicherheitsapparate ausbauen, und er wird auch ein Mehr an Kriminalität, ein Mehr an Drogensucht, ein Mehr von Verelendung und Verwahrlosung der Jugend beobachten und natürlich dann auch mit entsprechenden polizeilichen Mitteln bekämpfen müssen.
4. Viertens schließlich wird aus dem aktiven Sozialstaat, so wie wir ihn in den letzten Jahrzehnten in der Bundesrepublik Deutschland gekannt haben, ein „aktivierender Sozialstaat“. Es wird mit dieser Formel an sich etwas Positives beschworen, nämlich dass Sozialleistungsempfänger nicht nur Geld erhalten, sondern auch motiviert werden sollen, sich selber z. B. als Arbeitslose um eine Stelle zu bemühen. Aber gerade dann, wenn Menschen privat vorgesorgt und sich so verhalten haben, wie das in diesem neoliberalen Diskurs des Umbaus des Sozialstaates von ihnen gefordert wird, wenn sie z. B. in jungen Jahren eine Kapitallebensversicherung für ihr Alter abgeschlossen haben, wenn sie dann mit 50 oder noch mehr Jahren arbeitslos, langzeitarbeitslos werden, dann wird ihnen gerade dieses sogenannte Schonvermögen verringert, das bisher dafür gesorgt hat, dass Kapitallebensversicherung und anderes, womit sie für das Alter vorgesorgt haben, nicht angetastet wurde. Also gerade in der Reform des Sozialstaates, gerade bei der Agenda 2010, wird die Möglichkeit, sich selber zu beteiligen, Eigenvorsorge zu betreiben, letztlich vom Staat auch wieder bestraft.
5. Es müsste ein Sozialstaat entstehen, der auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen der Individualisierung, der Modernisierung, der Globalisierung antwortet, der aber gleichzeitig vermeidet, dass manche Menschen eher in Armut gedrängt werden, wohingegen es anderen immer besser geht, ohne dass sie in die soziale Verantwortung für die Gesellschaft in dem bisherigen Maße einbezogen werden. Das heißt, eine Steuerreform wäre nötig, die gerade bei den Wohlhabenden das soziale Verantwortungsbewusstsein einfordert für die sich stark verändernde Gesellschaft.
.01 Eine Form, mit der ein solidarischer Umbau des Sozialstaates möglich wäre, ist die Bürgerversicherung. Darunter verstehe ich die Einbeziehung aller Wohnbürgerinnen und Wohnbürger in die Sozialversicherung, nicht nur der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der abhängig Beschäftigten, sondern auch die Einbeziehung von Beamten, von Selbstständigen, von Freiberuflern, von Abgeordneten und Ministern.
.02 Zweitens müsste gewährleistet sein, dass in einer solchen Bürgerversicherung alle Einkommensarten berücksichtigt werden, also nicht nur wie bisher auf Arbeitseinkommen Sozialversicherungsbeiträge erhoben werden, sondern auch z. B. auf Miet- und Pachterlöse, auf Dividenden, auf Kapitaleinkünfte.
.03 Schließlich wäre unbedingt erforderlich in einer Bürgerversicherung, dass man die Beitragsbemessungsgrenzen und auch die Krankenversicherungsflucht- bzw. -pflichtgrenze aufhebt, das heißt, die Solidarität nicht beschränkt auf eine bestimmte Einkommenshöhe, sondern auch wenn jemand mehr verdient, ihn verpflichtet, für dieses Mehr an Einkommen auch Beiträge in die gesetzliche Sozialversicherung zu zahlen.
.04 Was mir sehr wichtig erscheint, ist, dass das von Bismarck zwar widerwillig, aber doch schon im 19. Jahrhundert eingeführte Sozialversicherungsprinzip beibehalten wird, dass nicht soziale Sicherung stärker steuerfinanziert wird, so wie das in der Diskussion gegenwärtig sehr häufig gefordert wird. Ich glaube, das Versicherungsprinzip hat gegenüber der Steuerfinanzierung mehrere Vorteile:
.001 Erstens würde eine Steuerfinanzierung von Sozialleistungen bedeuten, dass bei jeder Haushaltsberatung der Finanzminister an die Sozialleistungen herangehen würde, sobald die öffentlichen Kassen und weil die öffentlichen Kassen leer sind. Das heißt, Sozialleistungen wären nicht in dem Maße sicher, wie gegenwärtig. Das zweite Argument, welches für eine Versicherungslösung spricht, ist, dass Versicherungsleistungen weniger demütigend sind für diejenigen, die sie bekommen, als steuerfinanzierte Sozialleistungen. Es handelt sich eben nicht um ein Almosen, sondern um etwas, das bezahlt wird im Risikofall, nachdem vorher entsprechende Beiträge eingezahlt wurden in die Sozialversicherung.
.002 Der Bismarcksche Sozialstaat darf in keiner Weise idealisiert werden. Er hat autoritäre, patriarchale Züge. Er muss ganz bestimmt modernisiert werden. Aber dieser Umbau des Sozialstaates sollte eher ein Ausbau, sollte eher der Versuch sein, sozialstaatliche Regelungen anzupassen an eine sich verändernde Erwerbsgesellschaft. Es müsste beispielsweise eine eigenständige Sicherung der Frauen geben; es müsste reagiert werden auf die Veränderung der Lebensformen, dass beispielsweise nicht mehr die Alleinernährer-Ehe das Modell ist, nach dem Menschen heute zusammen leben.
.003 Das Ziel eines Umbaus des Sozialstaates muss sein, dass die Menschen ohne Angst vor Armut, Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg zusammen leben, dass sie gegen elementare Lebensrisiken gesichert werden durch eine solidarische Gemeinschaft, an deren Finanzierung alle diejenigen beteiligt werden, die dazu in der Lage sind, und zwar nach dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit, je nachdem, wie viel sie selbst beitragen können