SWR2 Wissen: Aula - Harald Welzer: Autonomie gefordert! Über ein schwieriges Prinzip der Demokratie

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Demokratie - Autonomie
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SWR2 Wissen: Aula - Harald Welzer: Autonomie gefordert! Über ein schwieriges Prinzip der Demokratie

Sendung: Sonntag, 24. Januar 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2015
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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:

AUTOR
Professor Harald Welzer, geb. 1958, ist Soziologe und Sozialpsychologe. Von 2007 bis 2011 war er Vorstandsmitglied des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen und dort Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research. Vor kurzem hat er die gemeinnützige Stiftung "Futur zwei" gegründet, die es sich zum Ziel gesetzt hat, zukunftsfähige Lebensformen und Projekte publik zu machen. Seit 2012 ist er Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg und Direktor der Stiftung Futur Zwei in Berlin.
Internetseite:
www.zukunftzwei.org
Bücher (Auswahl):
- Autonomie: Eine Verteidigung (zus. mit Michael Pauen). S. Fischer-Verlag. 2015.
- Der Futur II-Zukunftsalmanach 2015/2016 – Geschichten vom guten Umgang mit der Welt (Hrsg. Harald Welzer, Dana Giesecke, Luise Tremel). Fischer tb. 2014.

ÜBEBLICK
Wir alle wollen doch autonom und selbstbestimmt sein: als Bürger, als Wähler, als Mitglieder einer Informationsgesellschaft, als Konsumenten, als Entscheider. Doch so einfach ist das mit der Autonomie nicht, sie wird immer gefordert, aber ebenso oft unmöglich gemacht. Harald Welzer, Soziologieprofessor und Direktor der Stiftung Zukunftsfähigkeit, beschreibt Geschichte und Gegenwart der Kategorie "Autonomie".

MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: "Autonomie gefordert! Über ein Prinzip der Demokratie".
Wir alle wollen doch autonom und selbstbestimmt sein: als Bürger, als Wähler, als Mitglieder einer Informationsgesellschaft, als Konsumenten, als Entscheider. Doch so einfach ist das mit der Autonomie nicht, sie wird immer gefordert, aber ebenso oft unmöglich gemacht. Harald Welzer, Soziologieprofessor und Direktor der Stiftung Zukunftsfähigkeit, beschreibt Geschichte und Gegenwart der Kategorie "Autonomie".
Harald Welzer:
Autonomie – was ist das eigentlich? Wir alle halten uns für autonome, also selbstbestimmte Persönlichkeiten, aber wissenschaftlich ist Autonomie erstaunlicherweise ziemlich unerforscht. Also: Ist sie eine persönliche Eigenschaft? Ist sie eine Fähigkeit, die man in bestimmten sozialen Situationen abrufen kann? Oder ist sie eine nur unter bestimmten Bedingungen zur Entfaltung kommende menschliche Eigenschaft – also philosophisch gesprochen, eine "dispositionelle Eigenschaft", die als Potential immer vorhanden ist, aber bestimmter Voraussetzungen bedarf, um wirksam zu werden?
Und umgekehrt: Was sind die gesellschaftlichen Umstände, die Autonomie ermöglichen, einschränken oder blockieren? Hat Autonomie immer schon existiert, oder hat sie sich erst unter bestimmten historischen Bedingungen entwickelt? Was ist die Rolle von Kultur und Gesellschaft bei der Entfaltung von Autonomie? Gegenwärtig verzeichnen wir Entwicklungen, die wie die totale Überwachung, Big Data, Shitstorms und andere Hysterien, unseren traditionellen Vorstellungen von einem selbstbestimmten Leben in einer freien Gesellschaft stark widersprechen: Autonomie ist gefährdet.
Das führt zur Zeit aber nur bei den wenigsten zu wirklicher Beunruhigung, was vor allem deshalb irritiert, weil Autonomie die Grundlage unseres Gesellschaftsverständnisses ist: Die parlamentarische Demokratie beruht auf der ganz selbstverständlichen Voraussetzung, dass Menschen zu selbstbestimmten Entscheidungen fähig sind – wäre das nicht so, wären schon Wahlen sinnlos. Aber ein wichtiger Aspekt kommt hinzu: Autonomie ist an Privatheit gebunden. Sie benötigt einen geschützten Raum, in dem sich individuelle Meinungen, Auffassungen und Optionen erst entwickeln können. Wird die Privatsphäre zerstört wie in den totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts, dann verschwindet auch der Raum für Selbstbestimmung. Umgekehrt: Soll Demokratie dagegen gesichert werden, dann muss es auch einen Bereich von Privatheit geben, in dem sich individuelle Besonderheiten überhaupt erst entwickeln können.
Jeder Totalitarismus beginnt mit einer zunächst schleichenden Veränderung sozialer Standards; der Einzelne ist, wie es der Philosoph Günther Anders schon vor einem halben Jahrhundert formuliert hat, immer "das erste besetzte Gebiet". Dafür dringen Geheimpolizeien mit Spitzeln und Schnüffeleien in die sozialen Beziehungen ein,
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sammeln Informationen, die sich gegen vermeintliche und echte Systemgegner verwenden lassen. Das zerstört das zentrale Element, das Gesellschaften zusammenhält: Vertrauen. Es wird durch Kontrolle, vor allem durch wechselseitige Kontrolle ersetzt. Im Nationalsozialismus begann sie so früh wie möglich: Kinder wurden möglichst früh in "Jungvolk" und "Jungschar", "Hitlerjugend" und "Bund Deutscher Mädchen" organisiert und auf diese Weise dem vergleichsweise autonomen Rahmen der Familie entzogen; die Para-Militarisierung der Gesellschaft durch unterschiedlichste Parteigliederungen und –organisationen, vom nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps bis "Kraft durch Freude", überführte auch die Erwachsenen sukzessive von freien in gesteuerte Sozial- und Freizeitgestaltungen.
Die Abschaffung der Pressefreiheit wie auch die gefühlte Allgegenwart geheimpolizeilicher Überwachung transformierten die intimen Sozialbeziehungen in zwei Richtungen: so, dass Konformität gelebt oder in der pausenlosen Existenz unter Beobachtung mindestens demonstriert wurde und so, dass politische Debatten, Ängste, Befürchtungen etc. in den engsten Raum unkontrollierter Intimität verlegt wurden. So wird in verblüffend kurzer Zeit Sozialität ganz neu sortiert und formatiert. Der Stalinismus zerstörte die Sozialität durch die willkürlich wechselnde Definition dessen, wer gerade als "gut" bzw. "schlecht" galt, als konform oder kriminell. Auch hier wird Vertrauen radikal zerstört. Die Wirkungen sind bis heute zu spüren. Im Stalinismus war Unberechenbarkeit das zentrale Herrschaftsmittel – niemand konnte wissen, welcher Verwandte oder Kollege als Nächstes "entfernt" oder getötet oder verbannt wurde. Dementsprechend konnte niemand aus seinem eigenen Verhalten heraus sicher sein, dass er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen. Tatsächlich war es konstitutiv für das System der Schauprozesse, dass sich Menschen für Dinge schuldig sprechen mussten, die sie entweder nie getan hatten oder die noch konform waren, als sie sie taten. Der Historiker Jörg Baberowski fasst diesen Strukturwandel des Sozialen so zusammen: Im Bestreben der Bolschewiki, "die Welt auf den Kopf zu stellen und Feinde aus ihr zu entfernen, wurden die öffentliche und die private Sphäre neu eingerichtet und nach repressiven Prinzipien geordnet. Die Suche nach Feinden, die Erzwingung von blindem Gehorsam und Konformität, die Mobilisierung von Zustimmung und Ressentiments und die Verbreitung von Furcht und Schrecken: das alles wurde zu einem Teil jener politischen Kultur, die stalinistisch genannt werden kann."1
Bei allen Unterschieden: Beide Herrschaftssysteme bauten ihre soziale Macht auf die Destruktion autonomer, unkontrollierter Beziehungen zwischen den Menschen. Man zerstörte den bestehenden sozialen Zusammenhang, setzte die Teile anders wieder zusammen und verwandelte das veränderte soziale Beziehungsgefüge selbst in ein machtvolles Herrschaftsinstrument, in der potentiell jeder zum Verräter des anderen wurde. Dasselbe Prinzip war im China der Kulturrevolution wirksam, ebenso im Kambodscha der Roten Khmer.
Totalitäre Gesellschaften sind geheimnislose Gesellschaften. Freie Gesellschaften sind dagegen ohne Geheimnisse nicht denkbar. Es gibt Geschäftsgeheimnisse, Betriebsgeheimnisse, ärztliche und anwaltliche Schweigepflichten, vertragliche Verschwiegenheitspflichten und vieles mehr, was die notwendige Existenz von sozialen Räumen bezeichnet, die außenstehenden Personen nicht zugänglich sind. Daneben haben Eltern Geheimnisse vor Kindern und Kinder vor Eltern, Ehepartner
1 Baberowski, Verbrannte Erde, S. 19
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vor ihren Partnerinnen, es gibt vielfältige Täuschungen, Camouflagen, Lügen unterschiedlichster Art, Vorspiegelungen, Schauspielerei, Hochstapelei und das Spiel mit Identitäten. Alles das zeigt, dass Menschen in modernen Gesellschaften viele Rollen spielen können und spielen können müssen und dass das Funktionieren sozialer Prozesse davon abhängt, dass diese Rollen auseinandergehalten werden, möglichst wenig interferieren und nicht verwechselt werden.
Auch wenn moderne Gesellschaften an ihrer Oberfläche transparent und überschaubar erscheinen, hängt ihr Funktionieren also immer auch von opaken Vorgängen ab, die gerade darum funktionieren, weil sie "nichtbeachtbar" sind. Das Prinzip der "Nichtbeachtbarkeit", dass also vieles nicht öffentlich sichtbar ist, ist eine zentrale zivilisatorische Errungenschaft: In vormodernen Verhältnissen, in denen Menschen weder Rollenwechsel noch Rollendistanz verfügbar sind, sie direkter Gewalt unterworfen und in unveränderliche Ordnungen eingebunden sind, sind Transparenz und Beachtbarkeit weitaus größer. Geheimnisse beschränken sich in solchen Gesellschaften auf priesterliche oder schamanistische Praktiken, Ehebrüche, Diebstähle und ähnliches, betreffen aber kaum die sozialen Verkehrsformen der Menschen untereinander.
So gesehen gibt es dort, wo es Privatheit in einem modernen Sinn nicht gibt, auch kaum Geheimnisse, und umgekehrt ist das moderne Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit ohne die Sozialtechnik des Geheimnisses nicht vorstellbar. Das wird an einem Gedankenexperiment von Hartmut Böhme schlagend deutlich: "Denken wir uns eine Gesellschaft, in der (wie in vielen Utopien) jedes Geheimnis verbannt wäre; denken wir uns ein wissenschaftliches Universum, in welchem es kein Geheimnis mehr gäbe; denken wir uns eine Liebe, in der die Liebenden sich wechselseitig kein Geheimnis wären; denken wir uns die Künste, die nicht mehr über den Zauber und die Magie des Unerklärlichen verfügten; denken wir uns ein Leben in schattenloser Ausleuchtung; denken wir uns die vielen Kulturen ohne ein Verhältnis der Fremdheit zueinander; es wäre ein Himmelreich aus Licht, schlimmer als der furchtbarste Alptraum. Es wäre der absolute Staat. Es wäre die Wüste der Langeweile. Es wäre der augenblickliche Verlust aller Spannkraft. Es wäre eine Welt ohne Liebe, ohne Eros, ohne den Zauber der Attraktion. Es wäre Terror. Es wäre das Wissen als lückenloses Gefängnis."2
So betrachtet liegt der heutigen medialen Spurensuche, ob es im Leben von Politikern private Geheimnisse oder Verfehlungen gäbe, eine antimoderne und antidemokratische Haltung zugrunde, und wie sehr sich die Dinge in dieser Hinsicht seit einigen Jahren verschoben haben, kann man zum Beispiel daran ablesen, dass es inzwischen als einerseits skandalisierbar und andererseits als politikfähig gelten kann, wenn jemand in einem abgehörten Telefongespräch eine als unpassend empfundene Bemerkung macht. So geschah es der Stellvertreterin des amerikanischen Außenministers, Victoria Nuland im Februar 2014, die in einem Telefongespräch mit dem US-Botschafter in der Ukraine unter anderem "Fuck the EU" gesagt hatte und sich dafür entschuldigen musste. Wohlgemerkt: Die Öffentlichkeit empfand nicht das Abhören und Veröffentlichen des Telefonats als skandalös, sondern die Äußerung der Politikerin, über die sich unter anderem die deutsche Bundeskanzlerin empörte.
2 Hartmut Böhme, Das Geheimnis, NZZ, 20./21.12.1997, S. 65
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Dass Trennlinien zwischen privat und öffentlich auf merkwürdige Weise durchlässig werden, zeigte sich auch im Zusammenhang der Erkenntnis, dass das Mobiltelefon der Bundeskanzlerin durch die amerikanische Heimatschutzbehörde NSA abgehört wurde. Man wird an solchen Spionagepraktiken nur dann etwas überraschend finden, wenn man fälschlicherweise davon ausgeht, dass amerikanische Sicherheitsbehörden die Rechte anderer Nationen anerkennen; interessant war aber der Sprachgebrauch, mit dem das Bundeskanzleramt auf die Abhöraffäre reagierte: "Das Ausspähen von Freunden geht gar nicht", sagte die Bundeskanzlerin vor dem EU-Gipfel am 24.10.20133, als handele es sich dabei nicht um einen gravierenden diplomatischen Zwischenfall auf der Ebene internationaler Politik, sondern um einen privaten Vertrauensbruch.
Die Vorstellung, dass eine Politikerin oder ein Politiker "gläsern" in seinen persönlichen genauso wie in seinen professionellen Verhältnissen sein solle, ist genauso totalitär wie die Vorstellung vom gläsernen Bürger. Politiker haben in einer Demokratie dasselbe Recht auf Privatheit wie andere Bürger auch. In Dave Eggers’ Roman "Der Circle" gibt es die Figur der vollständig transparenten Politikerin, die mit einer ständig mitgeführten und filmenden Kamera jedes ihrer Gespräche der Öffentlichkeit preisgibt. Diese Aufhebung der Trennung von Vorder- und Hinterbühne, die für die Demokratie essentiell ist, erfolgt im Roman gerade im Namen einer Aufklärung, die sich mit Transparenz verwechselt. Transparenz ist aber das vollständige Verschwinden der privaten Person und ihre Transformation in ein ausschließlich öffentliches Wesen, dem keinerlei Rollenwechsel und keine Rollendistanz mehr gestattet ist. Das ist kurz gesagt: das Ende des Politischen und seine Ersetzung durch reine Funktionserfüllung, die von außen diktiert und kontrolliert wird.
Solche Kontrolle übernehmen in der wirklichen Welt bereits eine Reihe sehr mächtiger und sehr datenhungriger Konzerne und sehr mächtige und sehr datenhungrige Geheimdienste, allen voran die amerikanische NSA, die buchstäblich alles sammelt, was Bürgerinnen und Bürger durch ihre Kommunikationen, aber vor allem durch ihren Konsum, ihre sozialen Netzwerke und ihre Bewegung im Raum an Daten liefert.
Die Rhetorik, dass es diesen Unternehmen dabei vor allem um die Erhöhung von Komfort, Klima- und Umweltschutz sowie Gesundheit ginge, trifft auf ein großes gesellschaftliches Bereitschaftspotential. Die Versprechen, dass das "Internet der Dinge" Häuser energieeffizient und klimafreundlich oder die Armbänder und Uhren zur Überwachung von Körperfunktionen die Menschen gesünder machten, scheinen ja zunächst freundlich und harmlos. Zumal sie mit einer Komfortsteigerung einhergehen und den Menschen allerlei lästige Alltagsdinge abnehmen.
Nest etwa, ein Unternehmen, das Thermostate entwickelt und für 3,2 Milliarden Dollar von Google gekauft wurde, arbeitet intensiv an einem Smart Home, in dem die einzelnen technischen Elemente des Hauses miteinander kommunizieren, die Gewohnheiten der Bewohner "lernen" und die Gerätefunktionen daran anpassen. Der Kühlschrank weiß dann, wann die Milch voraussichtlich verbraucht sein wird und gibt automatisch die Bestellung für neue auf, während Heizung und Klimaanlage die Informationen der Wettervorhersage mit den Anwesenheitszeiten der Hausbewohner
3 http://de.reuters.com/article/domesticNews/idDEBEE99N05H20131024
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und ihren Gesundheitsdaten verbinden und die Raumtemperatur entsprechend regulieren. Google Now, ein Programm für Smartphones, überwacht den Aufenthaltsort der Bewohner permanent und übermittelt die Daten ans smarte Zuhause, das die Jalousien also länger geschlossen hält, wenn der Hausherr nach der Arbeit noch auf einen Sprung ins Bordell geht.
Vermeintlich dient der Aufwand vor allem dazu, Strom zu sparen. "Das sei," so ein Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, "schon das Ziel des Thermostats gewesen, das im Netz die Wettervorhersage kontrollieren und die Raumtemperatur nach den Außenbedingungen regeln kann. Mit der Vernetzung der Dinge reiche das 'Bewusstsein' des Temperaturreglers noch weiter. Nest arbeitet jetzt zum Beispiel mit Mercedes zusammen und lässt deren Autos direkt mit der Heizung kommunizieren. So kann der Wagen melden, dass man wegfährt, dass nicht mehr geheizt werden muss, und angeben, wann man sich dem Haus wieder nähert. Die Geräte sind so programmiert, dass sie aufzeichnen und auswerten, wer sie wie, wann und wo benutzt."4
Man könnte sagen: Nachdem sich über die vergangenen Jahrzehnte die Möglichkeiten der Überwachung der öffentlichen Existenz der Menschen mittels Kameras, Telefondaten, Kontobewegungen, Social Networks etc. stetig erweitert haben, greifen Smart Homes, Cars und Watches nun direkt auf die private Existenz zu. Während – ich zitiere nochmals den Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung – "Google mit Google-Earth bereits seit Jahren öffentliche Plätze und Straßen überwachen und somit wissen konnte, wann Menschen Häuser verlassen, kann jetzt zusätzlich geprüft werden, wann welche Menschen welche Häuser verlassen – und was sie in ihnen getan haben".5
Oder nehmen wir das Geld, jenes Abstraktum, das die Beziehungen zwischen den Menschen vor Tausenden von Jahren revolutioniert hat, indem es etwas Gleiches zwischen alle Güter und Dienstleistungen geschoben hat, das sie bei allen Unterschieden verrechenbar macht. Und zugleich für die Handelnden nicht zurechenbar macht: Denn wann, wo, für welchen Zweck jemand sein Geld ausgibt, ist nicht zurückzuverfolgen, solange es sich um Bargeld handelt. Um diesen Missstand zu beseitigen, hat man bei Apple die Bezahlung per Smartphone entwickelt – ein Schritt, dem weitere folgen werden, bis das Bargeld abgeschafft ist und jeder Kaufakt in Echtzeit schon die Rechenschaft erstattet, wo man wann wofür "Geld" ausgegeben hat. Das wird die Anschaffung ethisch fragwürdiger Dienstleistungen und Dinge genauso kontrollieren wie das Gesundheitsverhalten durch die besorgte Frage des smarten Barschranks, warum der Single Malt so schnell ausgetrunken wurde, wo doch die Applewatch ohnehin schon einen erhöhten Leberwert meldet.
Auf der Beschreibungsebene können wir hier von einer technisierten Erhöhung des Selbstzwangniveaus sprechen. Gerade da, wo der "Geist stark, aber das Fleisch schwach" ist, wie etwa bei selbstschädigendem Konsum von Alkohol, unterstützt die digitale Kontrolle die Durchsetzung des Selbstzwangs. Ein besonders bemerkenswertes Moment dieser Erhöhung des Selbstzwangniveaus liegt in der begleitenden Veränderung von Sozialverhältnisses, die als normal und erwartbar
4 FAS, 31.8.2014, S. 35
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betrachtet werden: Wenn die meisten Menschen in Smart Homes leben, ihren Körperstatus kontrollieren und ihre Konsumbedürfnisse befriedigen lassen, bevor sie selbst wissen, dass sie sie schon haben – was ist dann mit denen, die das nicht machen? Gelten "Smartness"-Verweigerer als Klima- und Umweltfeinde und um ihre Gesundheit datenmäßig Unbekümmerte als asozial?
Die verblüffende Bereitschaft, die Unterminierung des Privaten zuzulassen, wird durch ein argumentatives Quartett befördert, das Komfort, Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz ins Feld führt und damit exakt die Bedürfnisse, die auf der Skala der Bewohnerinnen und Bewohner reicher Gesellschaften weit oben rangieren. Dabei nimmt das Maß an Fremdsteuerung zu und Autonomie im selben Umfang ab. Denn es ist ja nicht nur so, dass jede vermeintliche Komforterhöhung durch die allfälligen apps und Kontrollprogramme unablässig Daten liefern, sie entmündigen ja auch diejenigen, die sie so bereitwillig nutzen: Die eigene Urteilsfähigkeit wird durch den Blick auf den Bildschirm ersetzt, Informationen werden nicht mehr gesucht und angeeignet, sondern geliefert, nichts Zufälliges widerfährt dem modern Vernetzten noch. Sogar sein Schlaf wird überwacht und das aufmerksame Tracking-Armband weckt den Träumenden genau in dem Moment, wo es das Programm für richtig hält. Die Autoindustrie arbeitet intensiv am autonomen Automobil, das einen ohne eigenes Zutun an ein vorgegebenes Ziel bringt. Google, Audi, Mercedes Benz – alle haben sie solche Fahrzeuge in der Erprobung, wobei die Voraussetzung für ihr Funktionieren das Monitoring aller Bewegungsdaten aller Verkehrsteilnehmer ist. Wozu das gut sein soll, wo sowohl der öffentliche Verkehr als auch das Taxi bereits erfunden sind, erschließt sich allerdings nicht.
Alles dieses schafft eine Infantilisierung der Lebenswelt, die verblüffend ist: Sind wir denn eigentlich erwachsen geworden, um uns wie von der Mami im Schlaf behüten und wie im Kinderwagen herumfahren zu lassen? Soll die künftige Persönlichkeit der vollversorgte, unterhaltene und ansonsten belanglose und jederzeit ersetzbare digitale Arbeitssklave sein, dessen Welt so abgedämpft ist, dass er nicht einmal sein eigenes Unglück mehr bemerkt?
Der Verlust von Autonomie, der sich fast unbemerkt, aber ungeheuer dynamisch vollzieht, ist also keine Privatangelegenheit, sondern trifft auch die Grundvoraussetzungen der Demokratie unmittelbar: Als Sphäre, in der Menschen tun und lassen können, was sie wollen, ohne dass eine Öffentlichkeit davon auch nur Kenntnis gewinnen könnte, bildet Privatheit jenen Seinsbereich, indem sich Subjektivitäten bilden und entfalten, Persönlichkeiten entwickeln und Standpunkte einnehmen lassen, die es erst erlauben, als freier Bürger zugleich politisches Subjekt zu sein und Einfluss auf den öffentlichen Bereich, die res publica zu nehmen.
Die Existenz einer Privatsphäre bildet in diesem Sinn die Voraussetzung für die Existenz einer demokratischen Öffentlichkeit, die politisch mitgestaltbar ist. "Darüber hinaus ist eine Kategorie des Privaten das Intime, und viele Theoretiker sind zu der Überzeugung gelangt, dass es Formen der Selbstbejahung gibt, die für Menschen notwendig sind und die sie nur dann entwickeln können, wenn sie angemessene Beziehungen der Intimität zu anderen unterhalten; solche Beziehungen sind Grundelemente des guten Lebens für den Menschen."6 So formuliert es der Philosoph Raymond Geuss.
6 Geuss, Privatheit, S. 110.
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Solche privaten und exklusiven Beziehungen sind darüber hinaus die Voraussetzung, dass abweichendes Handeln möglich ist. Ohne die Intimität privater Beziehungen, ohne den unzugänglichen Raum der intimen Konspiration kann es nur schwer Widerstand oder verbotene Hilfe geben, wenn die gesellschaftliche Entwicklung in eine totalitäre Richtung abzudriften droht. Transparenz und Konformität sind nahezu unausweichlich miteinander verschwistert.
Darüber hinaus ist es vollkommener Unfug, Sicherheit und Freiheit gegeneinander auszuspielen. Denn in den entwickelten Demokratien leben wir heute nicht nur in der freiesten, sondern auch in der sichersten Form von Gesellschaft, die die Geschichte kennt. Steven Pinker hat in einer umfangreichen Studie gezeigt, dass in den demokratischen Ländern die Zahlen von Gewaltopfern bei weitem am niedrigsten liegen.7 Selbst im durch die beiden Weltkriege und zahlreiche andere, zum Teil äußerst brutale Gewaltkonflikte geprägten 20. Jahrhundert hat die relative Zahl von Opfern gegenüber früheren Zeiten deutlich abgenommen – sie liegt Pinker zufolge bei etwa drei Prozent aller Todesfälle im selben Zeitraum, für die wenigen Jahre des 21. Jahrhunderts konstatiert er ein weiteres Absinken auf etwa ein Prozent.8
Die damit verbundene Zurückdrängung von Gewalt aus dem öffentlichen Bewusstsein hat weitreichende kulturelle Konsequenzen. Auch wenn die Medien jeden Abend das Gegenteil eines sinkenden Gewaltniveaus suggerieren, zeigt doch die in reichen Demokratien rasant gestiegene Lebenserwartung (die etwa einer Verdoppelung in einem Zeitraum von nur 100 Jahren entspricht), dass Freiheit und Sicherheit keineswegs Gegensätze sind, sondern einander gegenseitig voraussetzen und stärken.
Schon allein deshalb sollte man allen Politikern und Vertretern von Sicherheitsorganen, die Freiheitsrechte zugunsten von angeblich größerer Sicherheit einzuschränken beabsichtigen, entschiedenen Widerstand entgegensetzen.
Werfen wir zur Illustration noch einen Blick zurück in die Geschichte: Europa bestand im 15. Jahrhundert aus etwa 5.000 unabhängigen politischen Einheiten in Form von Fürstentümern und anderen Machtbereichen des Adels9 – und jeder Fürst oder Baron hatte die rechtliche Verfügung über das Wohl und Wehe seiner Landsleute. Welches Maß an direkter Gewalt, also auch an beständiger Gefährdung der eigenen Sicherheit, das bedeutete, lässt sich an vielen Zeitzeugnissen ebenso ablesen wie an der seinerzeit niedrigen durchschnittlichen Lebenserwartung.
Die meisten Bewohner solch kleinräumiger Herrschaftsbereiche waren der Willkür der Herren nicht anders ausgeliefert als es heute noch in nach Herrschaftsclans organisierten Gesellschaften der Fall ist – hier fehlte und fehlt das Prinzip der Gewaltenteilung, das Rechtsstaatsprinzip ebenso wie die parlamentarische Repräsentation des Volkes oder eine unabhängige Presse und Gerichtsbarkeit. Hinzu kam, dass diese Staaten ständig durch äußere Konflikte und – mangels eines auch nur halbwegs funktionierenden Gesundheitssystems – von Seuchen bedroht waren.
7 Pinker, Steven, Gewalt. Eine neue Geschichte der Menscheit. Frankfurt/M. 2011, S. 146.
8 Ebd., S. 95
9 Ebd., S. 125
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Man könnte die Aufzählung existenzieller Bedrohungen früherer Generationen noch eine Weile fortsetzen. Halten wir stattdessen fest, dass unsere Vorfahren verglichen mit uns in einer extremen Lebensunsicherheit mit äußerst geringen individuellen Freiheitsspielräumen lebten. Die Etablierung von Rechtstaaten mit demokratischen und freiheitlichen Verfassungen war aber weder ein historischer Zufall noch eine historische Zwangsläufigkeit, sondern ein mühevoll und unter großen Opfern erkämpfter und immer fragiler Zustand.
Man muss sich diese Hintergründe vergegenwärtigen, um zu erkennen, dass das Maß an Autonomie, Freiheit und Sicherheit, das die Mitglieder moderner demokratischer Rechtsstaaten genießen, historisch nicht nur einzigartig, sondern auch geradezu unwahrscheinlich ist. Von den 200.000 Jahren Geschichte des homo sapiens sind es, die athenische Demokratie eingerechnet, insgesamt bloß 400 bis 500 Jahre, in denen Demokratien geherrscht haben, und auch das jeweils nur in einem kleinen Teil der Welt. Das macht insgesamt 0,25 Prozent der Menschheitsgeschichte aus, in denen Demokratie zumindest für einen kleinen Teil der auf der Erde lebenden Menschen herrschte: Vielleicht kann man sich daran die Kostbarkeit des zivilisatorischen Standards klar machen, den wir in der Gegenwart genießen, bei all den gravierenden Mängeln, die die heutigen Gesellschaften westlichen Zuschnitts immer noch haben. Und dieser Standard bedeutet eben die individuelle Erwartbarkeit von Ausbildung, sozialer Sicherheit, Rechtssicherheit, körperlicher Unversehrtheit und Unverletzlichkeit von Person und Eigentum – solche Güter stehen in Verfassungen, weil sie nicht selbstverständlich sind.
Wenn in Ländern wie Nordamerika, England, Frankreich oder der Schweiz schon viele Generationen nichts anderes als Demokratie erlebt haben, wenn man selbst in Gesellschaften wie der deutschen, die sehr spät auf den Pfad einer demokratischen, rechtsstaatlichen Entwicklung eingeschwenkt sind, inzwischen auf mehrere Jahrzehnte demokratischer Entwicklung zurückblicken kann, dann mag das zu der Annahme verleiten, wir befänden uns in einem halbwegs stabilen Zustand der zivilisatorischen Entwicklung. Langfristig angelegte Betrachtungen von Geschichtsverläufen zeigen jedoch, wie verfehlt diese Annahme ist: Gesellschaften und ihre Ordnungen sind im Allgemeinen nicht stabil. Ein Blick auf die auf YouTube zu findende Animation "Europe in the last 1000 years"10 ist hilfreich, um sich die Fragilität scheinbar fester staatlicher Gefüge vor Augen zu führen. Auch dass weder die weltgeschichtliche Zäsur von 1989 noch die Rückkehr in den Kalten Krieg von 2014 von irgendjemandem vorhergesehen wurden, sollte eine etwas demütigere Form der Geschichtsbetrachtung nahelegen.
Autonomie und Freiheit sind zivilisatorische Errungenschaften, die niemals sicher sind. Was gegenwärtig durch die allgegenwärtigen Datensammlungen und Überwachungstechnologien geschieht, ist eine radikale Infragestellung unserer Autonomie und damit eine antidemokratische, ja, antizivilisatorische Entwicklung. Was man dafür angeboten bekommt, ist ein bisschen Bequemlichkeit, als hätte es gerade daran bislang in den reichen Gesellschaften gefehlt. Diese Dimension des Antizivilisatorischen der gegenwärtigen Entwicklung ist von den politischen Eliten noch gar nicht begriffen: Was sich hier als Umformatierung unserer Sozialverhältnisse, als Verschwinden des Privaten herausbildet, führt zur
10 https://www.youtube.com/watch?v=bt8nEnblShw
10
vollständigen Schutzlosigkeit des Individuums. Mit seiner Autonomie verliert es die Kontrolle über sich selbst. Die haben dann andere.
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