Ralf Caspary im Gespräch mit Andreas Schleicher: Mehr Autonomie, mehr Motivation, mehr Effizienz . Wie sollen sich die Schulen nach PISA verändern?
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SWR2 Wissen Aula - Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 30. Januar 2011, 8.30 Uhr, SWR 2
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Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
ÜBERBLICK
Die jüngste PISA-Studie stellt Deutschland zum wiederholten Mal eine schlechte Note aus, wir befinden uns im internationalen Vergleich lediglich im Mittelfeld, weit hinter Siegerländern wie Finnland oder Japan. Dabei hat sich in den letzten Jahren schon viel getan, Projekte und Reformen zur Verbesserung der Lern- und Lehrkultur wurden auf den Weg gebracht. Doch es gibt immer noch viele Defizite. Andreas Schleicher, Internationaler Koordinator für die PISA-Studie bei der OECD in Paris, zeigt, wie man die deutsche Schule verbessern kann.
AUTOR
Andreas Schleicher, geb. 1964 in Hamburg, ist Bildungsforscher und gilt als
scharfer Kritiker des deutschen Schulsystems. Nach seinem Studium der Physik,
Mathematik und Statistik wandte er sich der empirischen Bildungsforschung zu. Als
Leiter der Abteilung für Indikatoren und Analysen der OECD in Paris entwickelte er
den Pisa-Test. 2003 erhielt er den Theodor-Heuss-Preis für sein demokratisches
Engagement im Zusammenhang mit den öffentlichen Debatten zu Pisa.
INHALT
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Ansage:
Mit dem Thema: „Mehr Autonomie, mehr Motivation, mehr Effizienz - Wie sollen sich
die Schulen nach PISA verändern?“
Der jüngste PISA-Test ist erst einige Monate alt, er wurde im Dezember 2010
veröffentlicht, und das Ergebnis ist für Deutschland nicht berauschend gewesen.
Nach wie vor rangieren wir im internationalen Vergleich im Mittelfeld, und die Frage
ist, was wir tun können, um die deutschen Schulen zu verbessern.
Aus den Ländern kamen dazu schon viele neue Vorschläge, die konzentrierten sich
vor allem auf eine verbesserte Ausbildung der Lehrer und auf Einführung eines
Zentralabiturs. Wir wollen darüber sprechen, und ich freue mich sehr, dass er Zeit für
uns hat, Andreas Schleicher, er ist Mister PISA, verantwortlich bei der OECD in Paris
für die diese internationale Bildungsstudie. Die für heute angekündigte Sendung über
die Geschichte geflügelter Worte haben wir also aus Aktualitätsgründen verschoben,
sie läuft am 29. Mai.
Nun also zur Schule, zu PISA und nötigen Reformen.
Frage:
Guten Morgen, Herr Schleicher. Die jüngste Pisa-Studie macht wieder einmal
schlaglichtartig deutlich, dass in Sachen Bildung der Föderalismus in Deutschland
seltsame Blüten treibt. Jedenfalls haben alle Länder verschiedene
Verbesserungsvorschläge gemacht zum Thema Lernen und Lehren. Ist diese
Vielstimmigkeit aus Ihrer Sicht ein Nachteil?
Schleicher:
Der Wettbewerb um die besten Ideen muss kein Nachteil sein. Das Bespiel Kanada
zeigt, dass Föderalismus sehr erfolgreich sein kann. Das Entscheidende ist, dass es
wirklich ein Wettbewerb um die besten Ideen ist und kein Wettbewerb auf dem
kleinsten gemeinsamen Nenner. Ich denke, letztendlich sind zwei Dinge
entscheidend: einmal, dass die Ziele klar sind, dass sich alle darüber einig sind,
wohin die Reise geht, dass Bildungsstandards sehr klar definiert sind; und auf der
anderen Seite, dass Verantwortung in den Schulen liegt, dass Schulen
ausreichenden Gestaltungsfreiraum haben, um ihre Lernumgebung selber zu
entwickeln, selber zu gestalten, und auf der anderen Seite aber verantwortlich sind
für die Ergebnisse, die sie dann erreichen.
Frage:
Aber offenbart nicht der Föderalismus doch einen großen Nachteil? Die Qualität der
Schulen in den einzelnen Ländern ist ja höchst heterogen. Ein Kind in Hamburg, das
ein Gymnasium besucht, besucht eine schlechtere Schule als ein Kind, das in ein
Gymnasium in Bayern geht.
Schleicher:
Klar, die Variabilität der Schulleistungen ist in Deutschland das große Problem,
zwischen den einzelnen Schulen, auch zwischen den Schultypen. Das ist eine große
Herausforderung für Deutschland. Dazu kommt die starke Abhängigkeit des
Bildungserfolgs vom sozialen Kontext. Das muss im Föderalismus aber nicht
unbedingt ein Problem sein. Schauen Sie auf das Beispiel Kanada: Auch dort haben
die verschiedenen Provinzen sehr viel Entscheidungsspielräume, können sich aber
dennoch auf ein gemeinsames Bildungssystem einigen. Ihnen geht es wirklich um
den Wettbewerb der besten Ideen. Ich glaube, Kanada ist ein gutes Beispiel, wie es
auch im Föderalismus gelingen kann, ein kohärent gutes Bildungssystem zu
schaffen. Aber das ist, wie gesagt, sicherlich eine große Herausforderung. Einfacher
ist es sicher, wenn man auf der einen Seite mehr zentrale Perspektiven reinbringen
kann. Aber der Erfolg passiert letztendlich an der Basis, an den Schulen vor Ort.
Frage:
Wo wären die zentralen Perspektiven? Was könnte der Bund mehr machen?
Schleicher:
Ich glaube, die Bildungsstandards sind die entscheidenden Voraussetzungen. Es
muss jedem klar sein, jedem Schüler, jedem Lehrer, jeder Schule – egal wo sie sich
befinden –, was gute Bildung und gute Bildungsleistungen sind. Auch die
Rahmenbedingungen, unter denen das überprüft wird, müssen kohärent sein, zum
Beispiel wäre ein einheitliches Zentralabitur sicherlich wünschenswert, so dass man
überall in Deutschland weiß, was ein Bildungsabschluss wert ist, gemessen an der
Qualität der erzielten Bildungsleistung. Nachher bei der Umsetzung der
Bildungsstandards kann man den Schulen viel Freiraum zugestehen. Das ist auch
ein wichtiges Merkmal erfolgreicher Bildungssysteme, dass Schulen selbst
entscheiden, wen sie zum Beispiel einstellen, welchen Lehrplan sie entwickeln,
welchen Lehrplan sie umsetzen, inwieweit sie kreativ mit der Schülerschaft, die sie
vor Ort vorfinden, umgehen.
Frage:
Föderalismus ist gut, aber hauptsächlich dann, wenn der Schule mehr Autonomie
gegönnt wird?
Schleicher:
Absolut. Es ist eben die entscheidende Prämisse eines guten Bildungssystems, dass
auf der einen Seite die Ziele klar sind, auf der anderen Seite bei der Umsetzung den
Schulen entsprechende Freiräume gewährt werden.
Frage:
Sie haben gesagt, eine gute Idee wäre auch ein bundesweit einheitliches Abitur.
Schleicher:
Ja genau, die Ziele müssen klar sein, es muss klar sein, was ein Abitur wert ist.
Frage:
Aber wie geht das, wenn die Qualität von Schulen so variiert?
Schleicher:
Das wird dann eben deutlicher sichtbar. Aber das Problem existiert ja schon heute.
Die Variabilität der Schulleistungen wird ja nur verdeckt durch das Fehlen eines
einheitlichen Bewertungssystems. Ein einheitliches Bewertungssystem macht es
zunächst einmal transparent. Aber nur, was man sehen kann, kann man letztendlich
auch verbessern. Ich denke, erst wenn Transparenz geschaffen ist, kann man sicher
stellen, dass die Ressourcen dort eingesetzt werden, wo sie auch die größte Wirkung
erzielen.
Frage:
Durch ein bundesweit einheitliches Abitur würden also sozusagen die Verlierer sehr
schnell kenntlich gemacht werden, also die schlechten Schulen?
Schleicher:
Das ist der Anfang.
Frage:
Das würde ja auf dem Rücken der Schüler ausgetragen, oder? Die schlechten
Schüler könnte man leicht stigmatisieren?
Schleicher:
Auf dem Rücken der Schüler wird sowieso alles ausgetragen. Wenn die Schüler
keine vernünftige Bildung bekommen, sehen sie das spätestens, wenn sie auf dem
Arbeitsmarkt sind. Denen eine künstlich verbesserte Schulnote zu geben, nützt
niemandem etwas. Wenn wir anfangen, die Schulleistungen transparent zu machen,
kann man überhaupt erst mal sehen, wo gezielte Unterstützung notwendig ist. Man
kann die schwächeren Schulen, die schwächeren Schüler viel besser unterstützen,
wenn man die Fehler und Schwächen deutlich erkennt. Jeder guckt heute auf die
Ergebnisse in Schanghai in China. Was passiert dort, wenn eine Schule schwache
Leistungen hat? Dann bekommt diese Schule entsprechende Unterstützung. Und
wenn Sie dort Schulleiter sind an einer sehr guten Schule und Sie haben große
Leistungen vollbracht, dann können Sie Ihre Karriere nur dann fortsetzen, wenn Sie
auch an eine Schule mit einem sozial ungünstigem Umfeld gehen und diese Schule
eben auch wieder auf Vordermann bringen. Das muss ein gutes Bildungssystem
leisten, dass man die Variabilität von Leistungen nicht einfach hinnimmt,
Fehlleistungen toleriert – das ist in Deutschland leider noch sehr verbreitet –,
sondern dass man Fehlleistungen konsequent angeht und dort die Lehrer und
Schüler entsprechend unterstützt, so dass Leistungsunterschiede verringert werden.
Frage:
Ich finde das sehr interessant, Herr Schleicher, ich habe immer gedacht, Sie sind ein
Gegner des Föderalismus. Sie sind bei der OECD, Sie leben in Paris, Sie sind
vielleicht frankophil, Paris ist ja eher zentralistisch organisiert?
Schleicher:
Gegen den Föderalismus als Prinzip sehe ich keine Einwände. Das Entscheidende
ist wie gesagt: Können sich die Bundesländer auf klare Ziel verständigen? Da sehe
ich das Problem in Deutschland, nicht im Föderalismus als Prinzip. Und zum zweiten:
Wie kann man die Schulen wirklich in die Lage versetzen, Probleme sinnvoll zu
lösen? Sie müssen sich vorstellen, heute kann nicht ein Bildungsminister die
Probleme von Zehntausenden von Lehrern und Millionen von Schülern lösen. Wenn
aber Zehntausende von Lehrern und Millionen von Schülern ihr Wissen einsetzen
können innerhalb eines einheitlichen Bildungssystems, dann können sie sehr wohl
die Probleme lösen.
Frage:
Kommen wir zum jüngsten Pisa-Test: Deutschland hatte ein wenig aufgeholt, steht
aber immer noch im internationalen Vergleich schlecht da, es rangiert im Mittelfeld.
Ist das für Sie enttäuschend gewesen, ein so reiches und eigentlich produktives Land
wie Deutschland ist weniger als Mittelmaß?
Schleicher:
Es ist immer die Frage, ob das Glas halb leer oder halb voll ist. Auf der einen Seite
ist es natürlich sehr erfreulich, dass es große Fortschritte gegeben hat und vor allen
Dingen, dass es auch Fortschritte gegeben hat am unteren Ende des
Leistungsspektrums. Bei den sozial benachteiligten Schülern, bei Schülern mit
Migrationshintergrund kann man deutliche Fortschritte sehen. Das ist die positive
Seite. Dass man insgesamt nur im OECD-Durchschnitt liegt, das ist natürlich noch
nicht hinreichend. Ein Land wie Deutschland muss so viel besser sein.
Frage:
Wir haben im internationalen Vergleich eine eigentlich beschämende Zahl: Wir
bezahlen nur einen ganz geringen Anteil des Bruttosozialprodukts für die Bildung.
Das machen die Pisa-Gewinnerländer ganz anders. Müsste nicht viel mehr Geld in
das System gepumpt werden?
Schleicher:
Einige dieser Länder investieren durchaus mehr Geld, aber ich glaube, die
entscheidende Frage ist auch, wie man die vorhandenen Ressourcen einsetzt. Wie
gewinnt man die besten Lehrer für die schwierigsten Schulen? Wie kann man
überhaupt Leute motivieren, den Lehrerberuf zu ergreifen? Das hat zum einen
vielleicht mit dem Gehalt zu tun, das ist in Deutschland aber gar nicht so schlecht.
Ich glaube aber, viel wichtiger ist, dass man eine Arbeitsumgebung für Lehrer schafft,
die Karriereperspektiven bietet, die im Grunde Motivation bietet, die auch öffentliche
Anerkennung für gut geleistete Arbeit bietet, also dass man ein Arbeitsumfeld schafft,
das Wissensarbeiter und die besten Leute für den Lehrerberuf anzieht. Da liegen die
eigentlichen Herausforderungen, nicht unbedingt darin, mehr vom gleichen zu
schaffen.
Frage:
Das Ansehen der Lehrer muss besser werden?
Schleicher:
Ja, aber das Ansehen eines Berufsstandes spiegelt sich wider in der Art und Weise,
wie dieser Berufsstand definiert ist. Wenn man einen Berufsstand hat, der definiert,
ein Lehrer soll einen vorgefertigten Lehrplan umsetzen, gewinnt man dafür sicherlich
nicht die besten Leute. Das ist eben keine Herausforderung, man würde mehr Leute
motivieren Lehrer zu werden, wenn man sagt, der moderne Lehrer ist ein
Wissensarbeiter, er hat auch selber Perspektiven für die eigene Entwicklung, er steht
vor großen Herausforderungen, weil er sich mit den verschiedensten Schülern aus
verschiedensten sozialen Kontext auseinandersetzen muss. Von solchen
Herausforderungen hängt letztlich das Ansehen eines Berufes ab.
Frage:
Der Wissensarbeiter: Das wäre die zukünftige Rolle des Lehrers?
Schleicher:
Ja. Ich denke, in der Vergangenheit konnten Sie davon ausgehen, dass was Sie in
der Schule lernen, reicht für Ihr Leben. Da brauchten Sie als Lehrer nur Fachwissen
vermitteln. Das ist einfach. Heute müssen Sie Schüler dazu bringen, dass sie das
Interesse haben, ihr Wissen ein Leben lang auszubauen. Das sind ganz andere
Herausforderungen. Heute stehen sie im Wettbewerb. Früher, vor 100 Jahren, war
die Schule der einzige Ort, wo Sie ein Buch bekommen haben. Die Schule hatte das
Wissensmonopol. Heute müssen Sie sich als Lehrer, als Schule durchsetzen
gegenüber konkurrierenden Wissensangeboten. Das sind sehr viel höhere
Ansprüche, vor denen Lehrer heute stehen.
Frage:
Nach dem ersten Pisa-Test sagten viele, wir müssten die Lehrerausbildung
reformieren. Sehen Sie das auch so?
Schleicher:
Sicherlich ist da viel zu tun. Die Lehrerausbildung muss natürlich gänzlich den
grundlegenden geänderten Anforderungen angepasst werden. Aber Menschen
anders auszubilden, das ist nicht der Kern des Problems, sondern die Frage ist doch:
Wie können wir mehr von der Lehrerausbildung in die Schule verlagern? Wie können
wir sicherstellen, dass der Lehrer jeden Tag weiter- und fortgebildet wird im
Arbeitsalltag, in der Schule. Das hat wenig damit zu tun, wie man ausgebildet wird,
sondern wie wirklich Weiter- und Fortbildung zum selbstverständlichen, integralen
Bestandteil des Berufsfeldes wird.
Frage:
Sie setzen mehr auf die innere Arbeit in der Schule?
Schleicher:
Ja. Das hängt auch davon ab, wie ein Schulleiter das Kollegium insgesamt nutzt. Wie
weiß ich als Lehrer, was im Nachbarklassenzimmer passiert? Wie profitiere ich von
den Erfahrungen anderer Lehrer? Wie arbeite ich mit anderen Schulen gemeinsam
an der Lösung von Problemen? Wenn darin weitergearbeitet wird, wenn wirklich eine
Umgebung geschaffen wird, wo die Lehrerschaft wichtiger Bestandteil des
Schulsystems wird, dann ist die Frage des Föderalismus, wer jetzt irgendwelche
Verwaltungsentscheidungen trifft, letztendlich zweitrangig, weil dann Schulen
entstehen, die wirklich Verantwortung übernehmen und kreativ an der Umsetzung
ihrer Herausforderungen arbeiten.
Frage:
Ich gehe mal davon aus, Herr Schleicher, dass Sie auch die etwas deprimierenden
Zahlen kennen, wie viele Lehrer in Deutschland fortbildungsresistent sind. Das sind
über 50 %. Die haben gar keine Lust mehr zur Fortbildung. Das ist ja eine Zahl, die
ihre Vision konterkariert.
Schleicher:
Damit müssen Sie immer leben. Ich denke, da muss man verschiedene Dinge
auseinanderhalten. Wenn ein Lehrer sich nicht für Fortbildung begeistern kann, dann
mag das daran liegen, dass die Fortbildung nicht praxisrelevant ist. Da werden
Lehrer auf irgendwelche Universitätskurse geschickt, die letztendlich mit ihren
täglichen Erfahrungen im Schulleben nichts zu tun haben. Genau da muss man
ansetzen, dass man die Fortbildung praxisrelevant macht. Zum zweiten, dass es
Konsequenzen hat. Wenn Lehrer sich weiterbilden und wenn das keine Auswirkung
auf ihre Karriere hat, auf ihre eigenen Perspektiven, dann kann man auch Menschen
nicht dafür begeistern. Ich glaube, da muss man ansetzen. Wir sehen nämlich im
internationalen Vergleich, in den Ländern, wo dieses Angebot und auch die Anreize
bestehen, an Fort- und Weiterbildung teilzunehmen, da ist die Teilnahme sehr hoch.
Das sind Lehrer in der Regel sogar bereit, selber dafür zu bezahlen.
Frage:
Wir bleiben bei der Lehrerausbildung. Was halten Sie davon, wenn die
Lehramtskandidaten während oder vielleicht vor ihrem Studium Klassenluft
schnuppern und ein Praktikum machen, wo sie sich selbst ausprobieren können, wo
viele vielleicht sagen, nein, der Lehrerberuf ist überhaupt nichts für mich?
Schleicher:
Wenn Sie in die erfolgreichsten Bildungssysteme schauen, da können Sie bei
Finnland anfangen, da ist die Praxiserfahrung ein ganz entscheidender Bestandteil
der Ausbildung. Da werden Sie zunächst einmal natürlich nach kognitiven
Fähigkeiten ausgewählt, um überhaupt die Ausbildung zu bekommen. Aber nach der
ersten Phase kommt der Praxistest. Da werden die Fähigkeiten praktisch evaluiert,
wie Sie mit den Schülern zurecht kommen, wie Ihre pädagogischen Fähigkeiten
aussehen. Und daran entscheidet sich auch für Sie selber, ob das für Sie der
geeignete Berufsweg ist, und auch für die Schule und für das Bildungssystem, ob Sie
aufgenommen werden. Und wie gesagt: Dieses Jahr hatte Finnland 6000 Bewerber
für 660 Plätze. Das müssen Sie sich mal vorstellen, 10 Bewerber kommen auf eine
Lehrerstelle.
Frage:
Da kann man sich wahrscheinlich auch die besten aussuchen.
Schleicher:
Ja, das liegt aber daran, dass der Lehrerberuf attraktiv ist, und das hat wenig mit
Geld zu tun. Die Gehälter in Finnland liegen so im Durchschnitt. Es hat sehr viel
damit zu tun, wie dieses Berufsfeld strukturiert ist, welche Verantwortung Lehrer dort
wahrnehmen können.
Frage:
Ist denn der Erzieherberuf in Finnland generell höher angesehen, egal ob im
schulischen Bereich oder in der vorschulischen Bildung?
Schleicher:
Ja, das ist durchweg so. Außerdem macht man weniger Unterschiede als in
Deutschland. Dort sagt man sich, ein Grundschullehrer macht genau so
anspruchsvolle Arbeit wie ein Gymnasiallehrer, der muss nicht unbedingt schlechter
bezahlt werden oder ein schlechteres Anstellungsverhältnis haben. Dort sagt man
sich, das pädagogische Element ist letztendlich das, was über den Erfolg der Schüler
entscheidet. Darauf setzt man, ob das in der Grundschule ist, in der Vorschule oder
in der weiterführenden Schule.
Frage:
Haben wir in Deutschland eine zu verkopfte Ausbildung? Ich denke an viele
Gymnasiallehrer, die in ihrem Fachgebiet echte Kenner sind, aber pädagogisch sind
sie nicht so toll.
Schleicher:
Es ist sicherlich eine große Herausforderung, dass man Menschen nach ihrer
pädagogischen Qualifikation ausgewählt und sie auch entsprechend fördert.
Natürlich will man sicher sein, dass die Leute fachgerecht ausgebildet werden in dem
Fach, das sie unterrichten werden. Aber ob sie den Stoff rüber bringen, hängt immer
– das weiß jeder aus seiner eigenen Erfahrung – von der pädagogischen
Qualifikation ab. Da muss man sicherlich großen Wert drauf legen.
Frage:
Sie haben mehrmals die Rolle des Schulleiters erwähnt. Ist er in letzter Zeit wichtig
geworden, der Schulleiter, der die Atmosphäre an einer Schule bestimmen kann?
Schleicher:
Schulleiter leiten heute praktisch ein mittelständisches Unternehmen, wenn man mal
die Komplexität und den Verantwortungsbereich einer Schule anschaut. Das fängt
bei der Weiter- und Fortbildung an, bei der Frage, wie man es schafft, ein Kollegium
einzurichten, wo Lehrer voneinander, miteinander und gemeinsam an der Lösung
von Problemen arbeiten, wie man Ressourcen intelligent einsetzen und verteilen
kann, und das geht bis hin zur Evaluation, Bewertung der Schulleistungen – all das
sind wichtige Aufgaben der Schulleitung. Früher konnte ein Schulleiter praktisch ein
Verwalter des Schulgebäudes sein. Heute ist das ein sehr anspruchsvolles
Arbeitsumfeld.
Frage:
Wo liegen für Sie die Defizite, wenn man auf die deutschen Schulen guckt? Eher in
der Lern-Kultur, in der Lehr-Kultur oder in beidem?
Schleicher:
Ich glaube überhaupt, dass man kompetenzorientiertes Lernen stärker in den
Vordergrund stellt.
Frage:
Was heißt kompetenzorientiertes Lernen?
Schleicher:
Dass ich mich nicht mehr nur darum kümmere, ob die Schüler irgendwelches
Fachwissen ansammeln, sondern dass sie in der Lage sind, von dem, was sie
wissen, zu extrapolieren und ihr Wissen konstruktiv und kreativ in neuen
Zusammenhängen anzuwenden. Dass also die Fähigkeit, Wissen zu nutzen, neues
Wissen zu schaffen, im Vordergrund steht und nicht die Reproduktion von
Lernstoffen. Letztendlich zeigt sich der Erfolg im Leben doch nicht daran, ob sie
Schulwissen widergeben können, sondern ob sie neue Herausforderungen
bewältigen können. Dazu zählt Wissen, dazu zählt Können, dazu zählt die
Motivation. Kann ich mein Wissen in einer neuen Situation sinnvoll aktivieren? Kann
ich Verantwortung übernehmen? Kann ich mich in einer sehr schnell sich
verändernden Welt ständig neu positionieren? All das sind wichtige Elemente von
Kompetenz. Und das muss Schule heute leisten. Das ist sehr viel schwieriger, als
Fachwissen zu vermitteln. Das aber steht in Deutschland doch immer noch zu sehr
im Vordergrund, gerade in den höheren Schulstufen. Das führt dann eben auch zu
einer anderen Lern-Kultur, in der der Lehrer weniger im Zentrum ist, sondern der
Schüler ins Zentrum rückt, das Lernen der Schüler, auch das Lernen miteinander.
Frage:
Kann man sagen, Herr Schleicher, und ich meine das jetzt überhaupt nicht
despektierlich, dass Sie als Mann von der OECD schon bestrebt sind, eher
wirtschaftliche Kategorien, ökonomische Faktoren auf die Bildung zu übertragen? Sie
haben von Unternehmen gesprochen, vom Wettbewerb. Ich finde das gar nicht
schlecht, aber ist das der neue Trend auch seitens der OECD?
Schleicher:
Überhaupt nicht. Letztendlich geht es darum, junge Leute für das Leben fit zu
machen. Und das Leben ist nicht nur Arbeit, dazu gehört ja auch das
gesellschaftliche und das familiäre Leben. Die Frage ist nur, welche
Voraussetzungen man dafür schaffen muss. Das verwaltete Bildungssystem, in dem
irgendein Ministerium sagt, was unterrichtet wird, Hunderttausende von Lehrern
führen das dann aus und am Ende lernen die Schüler irgendwelchen Schulstoff, das
hat sich ad absurdum geführt. Man braucht heute ein sehr viel dynamischeres,
flexibleres Bildungssystem, das wesentlich mehr Raum für Kreativität in den Schulen,
in den Klassenzimmern bietet. Darum geht es. Mit Ökonomie hat das nichts zu tun.
Frage:
Fehlende Kompetenzorientierung wäre ein Defizit. Was steht noch auf Ihrer Agenda?
Schleicher:
Deutlich mehr Verantwortung und Freiräume für die Schulen, so dass man mit der
Verschiedenheit der Schüler flexibel umgeht. Es ist falsch Schüler mit verschiedenen
sozialen Kontexten, mit verschiedenen Interessen immer gleich auf verschiedene
Schulformen oder Strukturen zu verteilen und sortieren; ein Lehrer, der sich mit
dieser Verschiedenheit auseinandersetzt und Schüler entsprechend ihrer Stärken
und Schwächen fördert, weiß auch , dass normale Schüler außergewöhnliche
Fähigkeiten haben.
Frage:
Dazu sagen wir gleich, dass man diese Heterogenität nur beachten kann, wenn die
Klassen kleiner werden. Das müssen wir schon mal voraussetzen oder liege ich da
falsch?
Schleicher:
Es gibt durchaus Bildungssysteme, die auch mit sehr großen Klassen sehr individuell
fördern. Das ist natürlich eine schwierige Herausforderung. Aber wichtig ist das
Prinzip, dass ich nicht überlege, wo schicke ich jetzt einen Schüler hin, wenn er nicht
in mein Konzept passt, sondern dass ich mir überlege, wie muss ich mein Konzept
strukturieren, dass ich mit den Schülern, mit denen ich arbeite, sinnvoll umgehen
kann. Die asiatischen Länder fördern sehr individuell, wenn Sie zum Beispiel auf
Japan schauen, obwohl die Klassen groß sind.
Frage:
Wie ist das denn mit dem ewig traurigen Ergebnis, dass die Bildungskarriere des
deutschen Schülers immer noch von sozialen Faktoren im Elternhaus abhängig ist?
Wie kann man diese beiden Sachen entkoppeln?
Schleicher:
Das ist weiterhin die große Herausforderung für Deutschland, die Abhängigkeit des
Bildungserfolgs vom sozialen Kontext zu verringern. Dazu zählt, dass man
universelle, anspruchsvolle Bildungsziele für alle hat und die Standards nicht
herunter nivelliert und etwa sagt, wenn die Schüler aus einem ungünstigen sozialen
Umfeld kommen, dann machen wir das doch etwas leichter für diese Schüler und
schicken sie auf die Hauptschule. Das ist genau der falsche Ansatz, der letztlich
dazu führt, dass diese sozialen Unterschiede nicht nur weitergetragen, sondern in
der Tat noch verstärkt werden. Das ist das, was wir im deutschen Bildungssystem
beobachten. Also wir brauchen universelle Bildungsziele für alle, dadurch kann man
sich dann überlegen, welche Bildungsstrategien muss ich mobilisieren, um die
Schüler, mit denen ich arbeite, entsprechend zu fördern, um diese Ziele zu erreichen.
Das ist ja genau das, was uns die erfolgreichsten Bildungssysteme zeigen, dass man
auch mit Schülern aus sozial schwachen Familien sehr viel erreichen kann.
Frage:
Wie machen die das? Können Sie das an einem Beispiel noch einmal erklären?
Schleicher:
In Kanada wird zum Beispiel in Schüler mit Migrationshintergrund intensiv investiert,
in die Sprachförderung, aber auch in die Einbettung in die kulturellen
Zusammenhänge, der Schüler mit Migrationshintergrund wird integriert in den
Klassenverband, es gibt für den Lehrer, für die Schule keine Möglichkeit, diesen
Schüler abzuschieben in eine Schule mit geringeren Anforderungen, es gibt eben
keine Hauptschule. Die Schule oder der Lehrer muss sich mit diesem Schüler
auseinandersetzen. Dort begreift man die Verschiedenheit der Schüler mehr als
Potenzial, nicht als Barriere für den Bildungserfolg. Sie treffen dort viele Schulleiter,
viele Lehrer, die stolz auf die Verschiedenheit des sozialen Umfelds ihrer Schüler
sind. Und sie bekommen auch entsprechend Ressourcen. Dort wird im Grunde in die
Verschiedenheit investiert.
Frage:
Sind Sie für das dreigliedrige Schulsystem oder dagegen?
Schleicher:
Klar ist: keins der im internationalen Vergleich erfolgreichen Bildungssysteme hat,
wenn man jetzt mal auf Qualität und Chancengerechtigkeit schaut, ein gegliedertes
Bildungssystem. Ich denke, das ist weiterhin eine große Hürde für Deutschland. Man
kann zwei Dinge machen: es abschaffen – und die Tendenz geht ja in einigen
Bundesländern zum zweigliedrigen Bildungssystem. Das zweite, was man machen
kann: Man kann versuchen, die Effekte abzuschwächen durch stärkere Förderung
von Schülern mit Migrationshintergrund, von sozial schwachen Schülern usw. Das ist
die zweite Möglichkeit. Aber letztendlich ist das ein Bildungssystem aus vergangener
Zeit, zumindest findet man das in keinem der erfolgreichen Staaten heute.
Frage:
Umso interessanter ist doch, dass immer noch viele Experten, Politiker, Journalisten
hierzulande sagen, dass wir diese Strukturdebatte endlich mal sein lassen sollten.
Mit Veränderung der Strukturen machen wir die Schüler nicht besser und auch die
Lehrer nicht. Sie sagen genau das Gegenteil.
Schleicher:
Ich weiß nicht, ob das das Gegenteil ist. Strukturen sind nie Selbstzweck. Die Frage
ist, wie man mit der Verschiedenheit der Menschen einfach besser umgehen kann,
und ob man da in Deutschland wahrscheinlich eher schrittweise hinkommt und nicht
wie in den nordischen Staaten oder in Polen durch eine sehr radikale Strukturreform.
Die zentrale Perspektive ist wichtig. Das ist die Perspektive, dass man eigentlich in
einer Gesellschaft lebt, in der man nicht mehr Schüler sortiert, sondern sich überlegt,
wie man das Potenzial jedes einzelnen Schülers nutzen kann. In der
Industriegesellschaft war das alles einfach. Da brauchte man ein paar sehr gut
ausgebildete Leute, die allen anderen gesagt haben, was zu tun ist. In der
Wissensgesellschaft müssen Sie das Potenzial aller Menschen mobilisieren, dafür
brauchen wir ein anderes Schulsystem.
Frage:
Das heißt aber auch, wenn man hier in Deutschland die Grundschüler nach der
vierten Klasse selektiert, und da kommen wirklich die schlechten auf die Hauptschule
und die guten aufs Gymnasium, das ist eine ganz schlechte Entwicklung, weil das
viel zu früh ist?
Schleicher:
Absolut. Das ist völlig uneffektiv, das ist eine Stigmatisierung für die Schüler und
führt letztendlich zu den Resultaten, die wir bei Pisa sehen: eine starke Abhängigkeit
der Bildungsleistungen vom sozialen Hintergrund. Denn das, was Sie als schlecht
bezeichnen, sind nicht unbedingt Schüler mit schwachen kognitiven Leistungen,
sondern oft Schüler, die vielleicht die Sprache nicht vernünftig können oder irgendein
Kriterium nicht erfüllen, so dass der Lehrer oder die Schule meint, die Hauptschule
würde für diese Schüler einfacher werden. Aber ich denke, letztendlich verlieren wir
dadurch sehr viel an Potenzial, und in der Wissensgesellschaft wird wirklich jeder
gebraucht.
Frage:
Wenn Sie auf die Pisa-Liste schauen, was ist denn für Sie eigentlich Ihr Traum-
Schul-Land?
Schleicher:
Das ist schwer zu sagen. Es ist faszinierend zu sehen, wie in Finnland Lernen
individualisiert wird, wie das Lernen wirklich im Zentrum steht, wo Schüler
selbstständig lernen. Auch in den asiatischen Ländern findet spannender Unterricht
statt, zum Beispiel in Japan, wo das kompetenzorientierte Lernen stärker im
Vordergrund steht als in Deutschland. In Kanada dominiert der Umgang mit einer
sehr heterogenen Gesellschaft. Es geht nicht darum, irgendein Bildungssystem zu
kopieren, sondern man muss sich überlegen, was kann man von verschiedenen
Ansätzen, die sich in verschiedenen Bildungssystemen zeigen, lernen. Das ist der
Weg, wie man weiterkommt.
Frage:
Aus Ihrer Anschauung: Pisa hat viel in Bewegung gesetzt in Deutschland. Stimmt
das?
Schleicher:
Ja, das finde ich sehr erfreulich Die erste Pisa-Studie 2001 war ein großer Schock.
Aber dann hat sich auch viel bewegt. Und ich denke, das ist das Wichtige. Und jetzt
zehn Jahre später kann man sehen, das zeigt sich auch mittlerweile in den
Resultaten. Das, was man heute an Verbesserungen umsetzt, wird morgen Früchte
tragen.
Frage:
Die nächste Pisa-Studie kommt bestimmt. Wissen Sie schon, wann?
Schleicher:
Die Studie wird 2012 veröffentlicht, im Dezember.
Frage:
Wir sind gespannt. Herr Schleicher, ich bedanke mich vielmals für das Gespräch.
Schleicher:
Bitte, Herr Caspary.
Die Fragen stellte Ralf Caspary.
Josef Kraus: Der PISA-Schwindel. Eine Polemik gegen die neue Testkultur
SWR2 AULA;
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch; Sendung: Sonntag, 24. Juli 2005, 8.30 Uhr,; Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Ansage: Heute mit dem Thema: „Der PISA-Schwindel - Eine Polemik gegen die neue Testkultur“.
PISA hat uns wieder fest im Griff. Vor ein paar Tagen wurden die Ergebnisse des neuen Tests veröffentlicht, es gab leichtes Aufatmen, die Schüler und Schülerinnen sind etwas besser geworden, aber nach wie vor gibt es Unterschiede zwischen den Bundesländern, erhebliche Unterschiede.
Nach Erscheinen dieser nationalen PISA-Studie gab es in der öffentlichen Diskussion die üblichen Reaktionsmuster: Die einen plädierten für die Ganztagsschule, die anderen dagegen, die einen wollten das dreigliedrige Schulsystem sofort abschaffen, die andern wollten, das alles so bleibt, wie es ist.
PISA hat dazu geführt, dass wir kein Vertrauen mehr haben in unsere Schüler und Schulen. Und das liegt vor allem daran, dass wir Deutschen viel zu unkritisch mit dieser Studie umgehen. Das sagt Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Oberstudiendirektor und ehemaliger Leiter eines Gymnasiums in Bayern. Er hat Zweifel an der Repräsentativität von PISA, er hält nichts von der Testeritis, nichts von Legendenbildung um Ganztagsschulen, nichts vom Mythos der angeblich vorbildlichen Finnen.
In der SWR 2 – AULA erklärt Kraus, warum PISA für ihn sehr viel mit Schwindel zu tun hat.
Josef Kraus:
Mir ist der Kragen geplatzt. Das dürfte ich als Pädagoge eigentlich nicht sagen. Er ist mir dennoch geplatzt, weil die öffentliche bzw. veröffentlichte Debatte um die deutschen PISA-Ergebnisse mittlerweile zur Kampagne geworden ist. Vor allem aber ist mir der Kragen auch geplatzt, weil gewisse PISA-Deuter meinen, mit hochselektiv verbreiteten und ebenso einseitig interpretierten PISA-Ergebnissen das gesamte deutsche Schulsystem und auch die gesamte Schülerschaft Deutschlands in Misskredit bringen zu können.
Deshalb will ich mich anlegen mit unseren PISA-Gouvernanten samt ihren Schauermärchen. Aber PISA hat nicht nur mit Schauermärchen zu tun, sondern noch mehr mit Schwindel - und zwar in zweierlei Hinsicht:
- Schwindel ist zum einen ja das Ergebnis einer Täuschungsabsicht: Da schwindelt einer, weil er seine wahren Absichten verbergen will.
- Schwindel ist aber auch das Ergebnis einer vorübergehenden oder chronischen geistigen Absenz, eine Störung der Orientierung aufgrund von Benommenheit oder gar Trunkenheit.
PISA hat mit beiden Arten von Schwindel zu tun – mit Täuschung und mit Taumel, damit zugleich mit Politik und mit Psychologie:
PISA hat mit Politik zu tun. Wo aber Politik ist, sind Propaganda und Kampagne, zumal in der Bildungspolitik, nicht weit. Wir kennen dies seit Jahrzehnten, nämlich seit der größenwahnsinnigen Reformitis der 68er mit ihrer Vision von der angeblichen Egalität aller Menschen, Strukturen, Werte und Inhalte.
Und PISA hat mehrfach mit Taumel und insofern mit Psychologie zu tun. Wie im Höhenrausch geben manche „Pisaner“ vor, mit einem 120-Minuten-Test untersuchen zu können, „wie gut die jungen Menschen auf Herausforderungen der Wissensgesellschaft vorbereitet sind“. Außerdem (siehe Stichwort „Höhenrausch“): Kaum war irgendeine schulpolitische oder schulpädagogische Schnapsidee mit PISA begründet worden, stand sie schon vor der Heiligsprechung zum Wundermittel.
Aber gläubige „Pisaner“ müssen auch einstecken können. Sie sollten Polemik sogar herbeisehnen, denn „Wahrheit ist eine spottfeste Angelegenheit, die aus jeder Ironisierung um so frischer hervorgeht“ (Peter Sloterdijk). Rund 10.000 Seiten Studien und dergleichen sind seit 2002 allein in Deutschland zu PISA erschienen. Das Internet steht dem nicht nach. Bei einer Google-Suche landet man unter dem Stichwort „PISA“ weltweit 10.700.000, deutschsprachig 2.250.000 Treffer.
Diese Inflation läuft im Endergebnis auf eine Trivialisierung und Banalisierung der Bildungsdebatte hinaus. Seinen Niederschlag findet dieses Niveau nicht zuletzt in einem schnellen Profit, den viele mit PISA meinen machen zu können. Der erste PISA-Ergebnisband war jedenfalls noch nicht trocken, da schossen schon die Verlagsprodukte aus dem Boden mit Titeln wie: „PISA–Powertraining für Anfänger, Fortgeschrittene und Profis“, „15 Gebote des Lernens – Schule nach PISA“, „Wann ist mein Kind PISA-fit?“.
Kurz und gut: Unsere Jugend hat etwas anderes verdient als ein ständiges „Herumgenöle“. Unsere Jugend hat ihre Schwächen, aber sie hat auch ihre guten Seiten. Und nicht wenige Jugendliche sind bodenständiger als so mancher Erwachsener, von denen man ohnehin sagt, es gibt sie nicht mehr, es gibt allenfalls die „Post-Adoleszenten“.
Zurück aber zu PISA. Man kann die Studie natürlich nicht einfach wegwischen. Das Ergebnis ist auch auf den zweiten Blick nicht berauschend, man muss sich mit ihm genau auseinandersetzen. Dies will ich tun.
Dazu zunächst sechs Widersprüche, Zweifel, Diagnosen:
Zum ersten: Ich habe Zweifel an der Repräsentativität. Inwieweit PISA-Aufgaben lehrplanmäßig, also curricular gültig, valide sind, ist nicht unumstritten. Hier kommen Experten zu sehr unterschiedlichen Aussagen. Zwischen 32 und 82 Prozent der Experten sagen, das hat mit Lehrplänen etwas zu tun.
Und inwieweit die Stichproben solcher Studien repräsentativ sind, ist ebenfalls skeptisch zu beurteilen. Vergleicht man die nationalen Ergebnisse verschiedener internationaler Testungen, so ist vieles überhaupt nicht mehr nachvollziehbar.
Tschechien, Neuseeland, Frankreich, Rußland oder Zypern schneiden, je nach Test – PISA oder TIMSS (Third International Mathematics and Science Study) – mal ganz oben, mal ganz unten ab. Und ähnlich gravierende Differenzen ergeben sich, wenn man die nationalen Rangplätze einerseits bei PISA und andererseits bei der Grundschulstudie IGLU vergleicht: Neuseeland, Island und Norwegen liegen bei PISA recht gut, bei IGLU fallen sie zurück. Umgekehrt lagen Ungarn und Lettland bei PISA zurück, positionierten sich aber bei IGLU ganz vorne.
Das heißt: Wir haben es bei Testungen à la PISA, TIMSS oder IGLU mit äußerst instabilen und nicht unbedingt repräsentativen Ergebnissen zu tun.
Ein zweiter Punkt: Die Tatsache, dass im internationalen Vergleich Länder mit Einheitsschulen gut abgeschnitten haben, sagt überhaupt nichts aus über das Leistungsvermögen der Gesamtschule oder Einheitsschule in Deutschland. Gesamtschule in Deutschland ist vielmehr „out“, denn die Empirie hat eindeutig nachgewiesen, dass die deutsche Gesamtschule jedenfalls zu teuer und zu leistungsschwach ist.
Die sogenannte BIJU-Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung („Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter“) weist eindeutig aus: Gesamtschule in Nordrheinwestfalen etwa rangiert leistungsmäßig und auch hinsichtlich sozialen Lernens um zwei Jahre hinter der Realschule.
An diesen Befunden ändert auch die Hofberichterstattung deutscher Agenturen und Tageszeitungen seit November/Dezember 2002 über das angeblich herausragende Abschneiden zweier deutscher Reform-Gesamtschulen nichts. Mit „Musterschulen“ oder „Traumnoten“ ist da nichts. Was die PISA-Ergebnisse der Laborschule Bielefeld und der Helene-Lange-Gesamtschule Wiesbaden nämlich betrifft, so sind deren Ergebnisse schlicht und einfach falsch dargestellt. Beide Schulen sind - gemessen an ihrer Schülerklientel - stinknormal durchschnittlich. Faktum ist: Alle Gymnasien und viele Realschulen haben bessere Werte als diese Schule.
Wenn Gesamtschul-Kräfte zudem von der Gesamtschule schwärmen, weil diese soziale Selektion vermeide, dann verschweigen sie, dass knallharte soziale Selektion nach dem Geldbeutel der Eltern nicht in Deutschland, sondern in Ländern mit Gesamtschulen stattfindet: In England, Frankreich und in den USA laufen die Eltern der Gesamtschule davon, wenn sie es sich leisten können, ihr Kind für Jahresgebühren von 15.000 Euro in eine Privatschule zu schicken. Wie man sieht: In allen Ländern, wo der öffentliche Schulsektor an Akzeptanz verliert – und ich behaupte, das tut er wegen der Gesamtschulen –, wächst der private Sektor.
Ein dritter Punkt: Ich möchte mich auseinandersetzen mit Legendenbildung um die Skandinavier-Ergebnisse. Denn seit Jahrzehnten pilgern progressive deutsche Bildungspolitiker nach Skandinavien. Dort sind angeblich alle Visionen verwirklicht, die man in Deutschland nicht verwirklichen konnte. Dabei rangiert etwa Dänemark bei PISA 2000 und 2003 gerade eben auf Rängen zwischen 12 und 26; in den Naturwissenschaften findet sich Dänemark zuletzt sogar nur noch vor den Schlusslichtern Portugal, Türkei und Mexiko.
Aber widmen wir uns kurz dem „PISA-Sieger“ Finnland. Dieses weite Land mit seinen etwa fünf Millionen Bewohnern wurde geradezu zum Mythos und zum Pilgerland hochstilisiert. Finnland hat eine sehr homogene Bevölkerung, also keine Probleme mit der schulischen Integration von Migrantenkindern: Laut Statistik haben von den finnischen Schülern nur 1,2 Prozent Eltern, die beide im Ausland geboren sind. Zum Vergleich: In Deutschland sind es unter der PISA-Population 15,2 Prozent.
Finnland hat eine ausgeprägte Lesekultur. Womöglich hat dies auch mit den kurzen finnischen Tagen zu tun, an denen es nur für sechs Stunden, von 9 bis 15 Uhr, Tageslicht gibt, und die viel Zeit lassen für lange Leseabende. Vor allem aber dürfte das damit zu tun haben, dass die Finnen sehr stolz auf ihre Sprache und auch auf ihre Literatur sind. Die finnische Nationalliteratur entwickelte sich nicht zuletzt aufgrund langer schwedischer Fremdherrschaft und langer russischer Hegemonie. Die Kinder lernen demzufolge das Lesen, von den Eltern angestiftet und nach elterlichem Vorbild, sehr rasch und intensiv. Das hat übrigens auch mit der Tatsache zu tun, dass die meisten ausländischen Fernsehfilme nicht synchronisiert, sondern mit finnischen Untertiteln ausgestrahlt werden. Welches Kind möchte da nicht bald Englisch verstehen und Finnisch lesen können?
Und dann sollte man nicht übersehen, dass die Rahmenbedingungen für finnische Schulen optimal sind. Die Schulen haben im Schnitt 120 Schüler, und die durchschnittliche Klassenfrequenz liegt bei 18,2 (in Deutschland bei 23,9). Unterrichtsausfall gibt es nahezu nicht, denn es steht eine Vertretungsreserve an Lehrern zur Verfügung. Ein herausragendes Merkmal des finnischen Systems ist sodann sein Fördersystem. Schwächere Schüler werden sehr früh in Spezialkurse aufgenommen. Das betrifft etwa ein Sechstel der Schüler. Flankierend arbeiten an den Schulen viele Psychologen, dazu gibt es Schulschwestern für die vorbeugende Gesundheitserziehung.
Ansonsten ist auch in Finnland nicht alles Gold, was glänzt. Gar nicht vorbildlich stehen die Finnen etwa da, wenn es um die Zufriedenheit ihrer Schüler mit der Schule geht. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat dazu im Sommer 2004 eine Jugendstudie veröffentlicht. In 35 Ländern Europas und Nordamerikas wurde unter anderem die Freude der Schüler an der Schule erfragt. Ergebnis: Unter den Fünfzehnjährigen (also den PISA-Getesteten) rangiert Finnland auf Platz 35, also auf dem letzten.
Und: In keinem anderen PISA-Land liegen die jeweiligen Migranten so weit hinter dem jeweiligen Landeswert wie in Finnland: Während im OECD-Durchschnitt und auch in Deutschland übrigens Migranten ca. 40 Punkte hinter dem jeweiligen Landeswert liegen, fallen sie in Finnland um rund 70 Punkte, also etwa zwei Schuljahre, zurück.
Ein vierter Punkt betrifft auch eine Legende, die Legende von der angeblichen sozialen Disparität des gegliederten Schulwesens.
Verschiedentlich tun Schulpolitiker so, als müssten sie via Abitur und Studium Sozialpolitik betreiben. Dahinter steckt mehr oder weniger unverstellt die Idee, der Staat habe individuell oder familiär bedingte Begabungs- und Leistungsunterschiede zu begradigen. Übrigens: Extrapolierte man diesen Gedanken, so müsste am Ende konsequenterweise die Forderung nach Abschaffung der Familie stehen.
Davon unabhängig: Seit Ende der 60er Jahre jedenfalls geht der Vorwurf durch die Lande, das gegliederte Schulwesen würde soziale Ungleichheiten produzieren. Vor über 30 Jahren mag das der Fall gewesen sein: Die Bildungsreserven waren bei weitem nicht ausgeschöpft, damals erwarben aus einem Geburtsjahrgang in Deutschland rund fünf Prozent das Abitur. Das sprichwörtliche katholische Mädchen vom Lande war früher selten unter den Abiturienten.
Da hat sich viel geändert. Die Gymnasiastenzahlen schnellten in die Höhe. Zudem dominieren heute die jungen Frauen; sie stellen mit 55 Prozent den größten Teil der Abiturienten und erzielen zudem die deutlich besseren Abiturnoten.
Gleichwohl halten manche Parteien, Gewerkschaften und verschiedene Erziehungswissenschaftler unvermindert an ihrer Theorie von der „sozialen Disparität“ des gegliederten Schulwesens fest und fordern eine drastische Steigerung der Abiturientenquote.
Aber: Die Quoten an Studierenden und an Akademikern sind völlig unzureichende Kriterien für die Charakterisierung eines Bildungswesens, denn Studium ist international nicht gleich Studium. Ein solches Quotendenken verwechselt Quantität mit Qualität. Beispiele: In Finnland und in den USA etwa gilt die Ausbildung zur Krankenschwester als Hochschulausbildung. Dieses Beispiel zeigt, dass viele deutsche Schul- und Berufsabschlüsse unterhalb der sogenannten akademischen Schwelle den gleichen Rang haben wie andernorts Hochschulabschlüsse. Die soziale Durchlässigkeit des Bildungswesens vieler anderer Länder ist zudem ein statistisches Artefakt: Wenn in Finnland die Tochter eines Industriearbeiters Krankenschwester oder Erzieherin wird, dann gilt sie als Aufsteigerin in akademische Ränge, in Deutschland trotz gleichwertiger Ausbildung nicht.
Eine fünfte Diagnose, ein fünfter Widerspruch: Ganztagsschule und Ganztagsbetreuung wird ja seit ein, zwei Jahren in Deutschland zum schulpolitischen „Quantensprung“ hochstilisiert – hochstilisiert zur Allzweckwaffe gegen schwache PISA-Ergebnisse. Da tut etwas mehr Realismus Not – in der nationalen wie auch in der internationalen Betrachtung.
Dazu liegt aus dem Jahr 2003 ein interessantes Gutachten des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) vor. Dieses Gutachten leitet aus einschlägigen Forschungsbefunden aus dem In- und Ausland folgende Kernsätze ab: Die Ganztagsorganisation hat demzufolge keine Auswirkungen auf das Leistungsniveau der Schulen. Möglicherweise hat eine Verlängerung aktiver Lernzeit in der Schule einen gewissen positiven Effekt auf die kognitiven, also intellektuellen Fähigkeiten lernschwacher Schüler, während der Wegfall elterlicher Unterstützung bei sozial höhergestellten Familien negativ zu Buche schlägt; beides zusammen kann eine Nivellierung im Leistungsbereich bewirken.
Nun, da viele Ganztagsschulen zugleich Schulen einer privaten Trägerschaft sind, sei angefügt, die angebliche Überlegenheit privater Schulen bei PISA ist ebenfalls eine Legende. In PISA findet sich dafür, jedenfalls was Deutschland betrifft, keinerlei Bestätigung.
Und ich will noch eine sechste Diagnose, einen sechsten Befund, eine Psychodiagnose quasi anschließen: Fast alle anderen PISA-Nationen reagierten auf PISA anders als die Deutschen, nämlich gelassen und unaufgeregt. Fragt man etwa Lehrer aus den USA, Frankreich oder Italien nach PISA, wissen sie zumeist nicht, worum es geht.
Bei uns ist das anders. Wie Narziss hat sich Deutschland in sein masochistisch verzerrtes Selbstbild verliebt. Mit klammheimlicher Freude schaut man auf unsere „schlechten“ Rangplätze in der PISA-Tabelle. Die bildungspolitische Lage der Nation wird mehr und mehr flagellantenhaft zu einer permanenten weinerlichen Klage. Deutschland sollte sich nach meiner Meinung vielmehr mit zwei anderen Entwicklungen befassen:
- mit der fortschreitenden Verblödung zumindest des öffentlichen Lebens bei uns;
- mit der um sich greifenden pseudo-pädagogischen Schwatzhaftigkeit.
Das bedarf der Erläuterung. Stichwort Verblödung: Unsere PISA-Debatte leidet unter und an Demenz – vulgo: Dummheit. Schließlich vermittelt Schule alles, was sie vermittelt, nicht nur gegen so manch natürliche Trägheit so mancher Zöglinge, sondern auch gegen eine Dummheit, die Schule von außen fest im Griff hat. Wieso? Nun, wir haben eine endlose Tyrannei des Dummen und Ordinären um uns und unsere Kinder herum. Zum Beispiel bringt eine Zeitung dann an einem einzigen Tag in jeweils mehrspaltiger Aufmachung und mit Bild, dass die sogenannte Autobiographie eines piepsigen Schlagersängers gerichtlich gestoppt wurde; dass seine silikon-gestylte „Ex“ ihren Manager auf 250.000 Euro verklagt hat; und dass sich ein Fußball-Kaiser (Werbeslogan: „Ja is denn heit scho Weihnachten!?“) nach vier Söhnen von seiner aktuellen LAPin (Lebensabschnittpartnerin) eine Tochter wünscht. Tags darauf wird dann bestimmt im Nachrichtenteil (!) davon berichtet, dass ein wegen eines Mittelfingers berühmt gewordener Balltreter bei einer Party nach soundsovielen Caipirinha-Cocktails „gekotzt“ hat; dass ein in Sachen Besenkammer erfahrener Ex-Tennisspieler eine Autobiographie mit dem faustischen Titel „Augenblick, verweile doch ...“ geschrieben hat usw. Und natürlich hecheln sämtliche Trash-Talkshows hinterher und zerren diese Geistesriesen vor die TV-Kameras, um ihnen auch möglichst noch zu entlocken, welche Farbe ihre Unterhose wo und wann hatte.
Bei so viel Schrott sollte eigentlich gelten: Ein Land, das derartige Medienprodukte produziert, das sich solche Stars kürt, das solche Experten hat, das solche seichten Reformen inszeniert, braucht eigentlichen keinen PISA-Test mehr.
Und ein anderes Stichwort sei aufgegriffen: Die pseudo-pädagogische Schwatzhaftigkeit, denn unsere PISA-Debatte leidet an Logorrhoe. Karl Kraus, der wortgewaltige Wiener Lästerer, hat einmal gesagt: „Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben; man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken.“ Lebte Karl Kraus heute noch, man darf sicher sein, er hätte Entsprechendes über die Sprache der „modernen“ Schulpolitik und Schulpädagogik losgelassen. Denn keine Ideen zu haben, aber trotzdem auf Geschwätzigkeit zu machen, ist zum Markenzeichen der Schuldebatte um PISA herum geworden. Logorrhoe heißt ein solches Erscheinungsbild - medizinisch Bewanderte nennen es krankhafte Geschwätzigkeit, weniger sensible Gemüter „Sprechdurchfall“.
Angesagt sind dementsprechend in quasi moderner Pädagogik: Quality Management, Marketing, Best Practice, Benchmarking, Just-in-time-Knowledge usw. Fehlt eigentlich nur noch ein „Last Minute Learning“, wenn dieses unsere Schüler nicht schon vor Jahrzehnten und Jahrhunderten erfunden hätten. Ansonsten geht nichts mehr ohne Laptop, Beamer und Power Point Presentation, Edutainment, Educ@tion, Learntec, didaktische Hyperlinks. Aber mit solcher sogenannter Bildung ist kein Staat zu machen.
Post PISAM (Nach PISA) sechs Konsequenzen, die ich gezogen wissen möchte:
Erste Konsequenz: Wir brauchen eine Renaissance des Leistungsprinzips in Schule und Erziehung – und in der Gesellschaft insgesamt! Die Kluft zwischen unserer Freizeit- und Spaßgesellschaft und den Anforderungen an Bildung wird immer größer. Wenn die Alten aber auf dem Trip zur 30-Stunden-Woche sind, müssen wir uns nicht wundern, wenn die jungen Leute keine 45-Stunden-Schul-und-Hausaufgabenwoche haben wollen, die sie aber haben müssten, wenn sie anspruchsvollen Standards gerecht werden sollen.
Ich plädiere gleichwohl für eine Leistungsschule und für eine Schule der Anstrengung! Es muss Schluss sein mit der Erleichterungspädagogik. Was dabei herauskommt, zeigt die jüngste orthographische Erleichterungspädagogik. Dabei hätte es einen anderen, effektiveren und preiswerteren Weg als das vorliegende Rechtschreibchaos gegeben, um die Rechtschreibleistungen unserer Jugend zu verbessern. Ganz einfach: Wir hätten die Rechtschreibung in den Schulen wieder ernster nehmen sollen!
Mit anderen Worten: Schule ohne klare Zielsetzungen und ohne Anstrengungsprinzip geht nicht! Alles zu dürfen und nichts zu sollen, das funktioniert nirgends, weder in der Gesellschaft noch in der Erziehung.
Meine zweite Forderung lautet: Wir brauchen eine Offensive für sprachliche Bildung. Das Beherrschen der Sprache ist unter den sogenannten Schlüsselqualifikationen nämlich die zentrale, denn alle Schlüsselqualifikationen haben mit Sprachbeherrschung und Sprachanwendung zu tun.
Ein Bildungssystem, das die sprachliche und literarische Bildung vernachlässigt, verschlechtert für junge Menschen die Entwicklungschancen und leistet damit einer Dekultivierung Vorschub. Das geschieht aber. Zumindest hat sich Beliebigkeit breit gemacht: Nicht wenige Bundesländer beförderten Gebrauchstexte inklusive Bedienungsanleitungen in den Rang wichtiger Textsorten. Immer mehr Bundesländer reduzieren bereits den Grundschulwortschatz; angesagt sind jetzt nur noch 700 Wörter! An vielen Schulen begnügt man sich - anstatt von den Schülern das Durchbeißen durch einen Roman zu verlangen - mit der haarkleinen Analyse von Fluten kopierter Textauszüge. Nein, das ist Lese-Verhinderungspädagogik.
Außerdem geht es nicht an, dass keine andere Kulturnation der Welt ihre Muttersprache als Schulfach so stiefmütterlich behandelt, wie es die Deutschen tun: Ganze 16 Prozent aller Unterrichtsstunden entfallen auf das Fach Deutsch - woanders sind es 23, 26 Prozent -, das man im Abitur in Deutschland zudem abwählen kann. Und noch eines, was zur sprachlichen Bildung gehört: Wir müssen endlich unsere Schulbibliotheken ausbauen. Die Südtiroler machen mit ihrem sehr guten PISA-Ergebnis vor, dass sich dies lohnt.
Ein dritter Punkt betrifft die Migranten. Migrantenkinder sind in Sachen Bildung in Deutschland Risikogruppen. PISA gibt Auskunft darüber. Im Bereich Mathematik erreichte Deutschland mit 503 Punkten einen mittleren Wert. Deutsche Schüler ohne Migrationshintergrund erzielen hier 527 Punkte, also nahe am finnischen Wert, deutsche Schüler mit nur einem im Ausland geborenen Elternteil 508, Kinder zugewanderter Familien 454 und Kinder der ersten Migrantengeneration 432 Punkte. Das entspricht in etwa dem PISA-Ergebnis der Türkei.
Diese Ergebnisse belasten nicht nur die betreffenden Kinder, sondern auch deren Klassen. Laut PISA 2000 führt ein Ausländeranteil von mehr als zwanzig Prozent an einer Schule zu einer „sprunghaften“ Verringerung des Lern- und Leistungsniveaus. In Australien, Kanada und in den USA sieht das anders aus; dort erzielen Migrantenkinder in etwa dieselben PISA-Werte wie die Kinder ohne Migrationsgeschichte. Allerdings ist das in diesen drei Einwanderungsländern wohl weniger eine Leistung der Schulen, sondern Ergebnis einer anderen Migrationspolitik und einer anderen Haltung der Migranten zu Fragen der Integration und zur Landesprache des Einwanderungslandes.
Etwas Allgemeines, ein Viertes, aber sehr wichtig: Abseits inhaltlicher und struktureller Reformen ist die Steigerung des Bildungsniveaus eine Frage der Motivation der Adressaten und Subjekte von Bildung, nämlich der Schüler und ihrer Familien. So wie die PISA-Diskussion aber bislang gelaufen ist, findet diese Motivation nicht statt. Vielmehr wird unseren Schülern und deren Familien immer wieder eingeredet, dass ihre im Durchschnitt schwächeren Leistungen eine Folge des „Systems“ seien. Wenn Schüler und ihre Eltern aber permanent eingeredet bekommen, dass ein Misserfolg am System liegt, dann ist es nicht mehr „mein“ Misserfolg. Und wenn es am System liegt, kann ich es mir in der Welt bequem machen.
Die ständige öffentliche Debatte um die - angebliche oder tatsächliche - Benachteiligung sozial Schwächerer durch das deutsche Bildungssystem ist also absolut kontraproduktiv. Wenn sozial schwächere Elternhäuser und deren Kinder dies ständig eingetrichtert bekommen, dann erschlägt dies einfach den Willen, eigene Lernpotentiale zu nutzen. Recht auf Bildung hin, Recht auf Bildung her: Dieses Recht kann nur dann ausgelebt werden, wenn es von einer Pflicht zur Bildung flankiert wird. Es muss uns also gelingen, auch sogenannte „bildungsferne“ Menschen zu Anstrengungen zu motivieren und an ihre Holschuld in Sachen Bildung zu erinnern.
Damit hängt vielleicht auch der fünfte Punkt zusammen: Es gibt keine Bildungsoffensive ohne Erziehungsoffensive. Da ist etwas überfällig. Die Schule kann aus sich allein heraus jedenfalls keine Steigerung des Bildungsanspruchs erzielen, wenn sich immer mehr Eltern aus ihrer erzieherischen Verantwortung verabschieden. Richtig, nach wie vor nimmt zwar der größte Teil der Elternschaft die erzieherische Verantwortung ernst. Wenn aber die häusliche Vorbereitung der Schüler nicht „klappt“, dann „klappt“ es in der Schule nicht.
Das gilt beispielsweise für das Lesen: Wenn das Lesen zu Hause nicht gefördert wird, z. B. durch Vorbilder, dann klappt es auch später nicht. Denn die Gewohnheiten hinsichtlich Medienkonsum werden im ersten Lebensjahrzehnt gelegt oder eben nicht. Das beginnt mit dem Erzählen und Vorlesen zu Hause. Das Vorlesen und das Erzählen sind nämlich die klugen Mütter und Tanten des Lesens. Und es setzt sich mit dem elterlichen Vorbild fort. Für Eltern aber gilt, etwas heftig formuliert: Wer selbst vorzugsweise erdnussmampfend vor der Glotze sitzt, kann schlecht und wenig glaubwürdig ins Kinderzimmer rufen: „Nun lies doch mal ein gutes Buch!“
Und ein sechster Punkt liegt mir am Herzen: Bildung ist erheblich mehr als das, was PISA misst. Wir brauchen eine Schulleistung und vor allem eine Bildung jenseits von PISA. Wir müssen uns in Sachen Bildung auch wieder auf den Eigenwert des Nicht-Messbaren besinnen. Denn, flapsig veterinär-medizinisch ausgedrückt: Allein vom Wiegen wird die Sau nicht fett!
Warum ich das betone? Weil ich das Gefühl habe, Schulleistung wird nach PISA nur noch rein operationalistisch betrachtet, und weil eine schier epidemische Testeritis durch Deutschlands Schulen geht.
Bildung hat aber einen nicht messbaren Wert. Hier stimme ich dem bildungspolitischen Papier der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vom November 2000 ausdrücklich zu; es trägt den Titel „Tempi – Bildung im Zeitalter der Beschleunigung“. Darin wird erfreuliche Kritik geübt an einem „Totalitarismus neuen Typs“, nämlich dem „subjektlosen Funktionalismus“, der auch die Bildung erobert habe. Es wird gesagt, Technik und Wirtschaft profitierten vom Sabbat.
Eine Reduktion von Bildung aber auf das Marktgängige bedeutete einen Verlust an kulturellen Optionen, an konkreten Denk-Spielräumen und an bereichernden Fremdheits-Erfahrungen.
Bildung kann ansonsten nicht eigentlich zweckgebunden sein. Deshalb: Erhalten wir uns das, was Schule eben neben dem Funktionalen auch ausmacht: Chor, Orchester, Bigband, Theatergruppe, Kleinkunstbühne, Schulsportmannschaft, Weihnachtsbasar, Partnerschaften! Es geht um Muse und um Müßiggang. Im Lande eines Bach und Beethoven, eines Kant und Hegel, eines Goethe und Schiller sollte man das nicht vergessen.
Zum Schluss noch einmal: Es gilt, unsere Jugend zu verteidigen. Mittlerweile ist es nämlich so weit, dass nicht deren vermeintliche Bildungsdefizite unsere Jugend auf dem internationalen Parkett benachteiligen, sondern dass ihre Chancen dadurch geschmälert werden, dass ihr Können in typisch deutscher Manier schon zu Hause schlechtgeredet wird. Wer schließlich nimmt noch einen deutschen Absolventen, wenn dessen eigenes Land nicht von seiner Qualifikation überzeugt ist?
Ansonsten sollten wir uns ganz selbstbewusst trösten: Unsere Schüler werden auch in Zukunft mehr leisten, als es das vereinte PISA-bewegte Experten-(un)wesen aus Schulpolitik und Schulpädagogik überhaupt zulässt.
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* Zum Autor:
Josef Kraus, Dipl.-Psych., Jahrgang 1949, studierte für das Lehramt an Gymnasien Deutsch und Sport. Er war 15 Jahre lang Gymnasiallehrer und Schulpsychologe; heute ist Kraus Oberstudiendirektor. Seit 1987 ist er Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, in dieser Funktion nimmt er regelmäßig im Radio und Tageszeitungen zu schulpolitischen Fragen als Kommentator Stellung.
Buch:
- PISA. Der Schwindel. Signum-Verlag