Hans A. Wüthrich, Dirk Osmetz, Stefan Kaduk: Querdenker gesucht

Aula - – Warum wir neue Unternehmer brauchen
(aus der dreiteiligen Reihe „Reden über Deutschland“)
Buch: - Musterbrecher – Führung neu leben. Gabler-Verlag.
Internetlink: www.musterbrecher.de

Autoren und Sprecher: Prof. Hans A. Wüthrich, Dr. Dirk Osmetz, Dr. Stefan Kaduk *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 15. Oktober 2006, 8.30 Uhr, SWR 2

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

ÜBERBLICK
Deutschland steht vor großen Herausforderungen, das betrifft besonders den Wirtschaftsbereich. Viele Unternehmen müssen sich umorientieren, neuartige Strategien für die Globalisierung entwerfen, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Gefragt sind im Zuge dieser Entwicklung auch andere Formen der Unternehmensführung.
Die Technokraten und Hierarchien haben ausgedient, Deutschland braucht flexible, kreative Manager, die unkonventionell führen und mit ungewöhnlichen Ideen weiterbringen. Stefan Kaduk, Dirk Osmetz und Hans A. Wüthrich porträtieren die neuen Musterbrecher.


INHALT

Ansage:

Heute mit dem Thema: „Querdenker gesucht – Deutschland braucht neue Unternehmer“.

Im letzten und dritten Teil der AULA-Reihe „Reden über Deutschland“ geht es heute um neue Formen der Unternehmensführung. Mittlerweile pfeifen es die sprichwörtlichen Spatzen von den Dächern: Die Technokraten und knallharten Hierarchen haben ausgedient, der flexible, kreative Manager erobert so nach und nach die Chefetage. Dieser neue Typus hält sich nicht an vorgeprägte Muster, an Traditionen, an Routinen, er ist vielmehr in jeder Hinsicht ein Musterbrecher und vor allem: Seine Mitarbeiter werden von ihm nicht als bloße Kosten-Nutzen-Faktoren gesehen, sondern als Ideen- und Impulsgeber.

Musterbrecher - so heißt auch ein neues Buch, das Ergebnisse eines mehrjährigen Forschungsprojektes des Instituts für Internationales Management an der Universität der Bundeswehr in München enthält.

In der SWR2 AULA porträtieren die drei Autoren und Wissenschaftler, Professor Hans A. Wüthrich, Dr. Dirk Osmetz und Dr. Stefan Kaduk, anhand vieler Beispiele aus der Praxis die neuen Musterbrecher.


Hans A. Wüthrich, Dirk Osmetz, Stefan Kaduk:

Stellen Sie sich bitte einmal vor:

- Ein Orchester von Weltrang ohne Dirigent.
- Eine brasilianische Großstadt, in der die Slums die Lösung der Probleme sind.
- Eine Organisation mit 100.000 Mitgliedern an deren Spitze ein Machtloser Chef steht.
- Ein Unternehmen mit 7.000 Mitarbeitern, von denen sich 50 Prozent als Führungskräfte bezeichnen.
- Eine Bank, die bereits 1970 Budgets abgeschafft hat.
- Ein Pharmaunternehmen, in dem das soziale Engagement der Antrieb ist.
- Ein Wirtschaftsmagazin, das ganz bewusst irritiert und keine Lösungen kennt.

Egal, ob Sie aus der Wirtschaft kommen oder nicht, würden Sie das von professioneller Führung erwarten?

Mit faszinierenden Beispielen dieser Art haben wir uns während mehrerer Jahre Managementforschung intensiv beschäftigt. Wenn wir zurückdenken: Was hat uns dazu bewogen? Wir erleben Management, das versucht, die Dinge in den Griff zu bekommen, rational zu entscheiden und mit aller Macht schneller zu sein als die anderen. Schauen wir uns einmal einige dieser Muster an:

Erstes Muster: Führung muss steuern! Der Kapitän gehört auf die Brücke.
Muster zwei: Führung muss kontrollieren! Vertrauen hat seine Grenzen.
Drittes Muster: Führung muss standardisieren! Normierung bringt Größenvorteile.
Viertes Muster: Führung muss rational entscheiden! Gefühle haben keinen Platz.
Fünftes Muster: Führung muss beschleunigen! Zeit ist Geld.

Aber komischerweise scheinen diese Muster immer weniger zu greifen: Selbst Management empfindet ungute Gefühle. So ergaben exemplarisch mehrere Studien Folgendes:

- 82 Prozent der Manager glauben, dass ein radikaler Wechsel im Managementdenken erforderlich sei.
- Nur 15 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland sind wirklich engagiert in ihrem Job.
- Ca. 20 Prozent der Manager leiden unter berufsbedingten Krankheiten an Herz oder Magen – weit häufiger als die restliche Bevölkerung.

Unzufriedenheit, fehlendes Engagement, mangelndes Vertrauen, Angst, Raffgier, Ziellosigkeit, usw. Da läuft etwas schief. In unseren Forschungs- und Beratungsprojekten hören wir immer wieder von Führungskräften:

- Unsere Mitarbeitenden übernehmen keine Verantwortung!
- Es fehlt die Leidenschaft!
- Wir ersticken in Bürokratie!
- Der Zeitdruck macht vernünftige Planung unmöglich!
. Es fehlt an Kreativität und Innovationskraft!

Eines ist uns offenkundig: Wir verspüren immer öfter das Gefühl der Orientierungslosigkeit, wir haben das ungute Gefühl, nicht mehr handlungsfähig zu sein. Unsicherheit prägt den Führungsalltag!

Was sollen wir also tun, wenn die klassischen Führungsmuster ins Leere laufen? Lassen wir uns von einem besonderen Orchester dazu inspirieren:

In einem traditionellen Orchester nehmen die einzelnen Musiker eine eher passive Rolle ein. Der Dirigent ist der eigentliche Star, nach dessen Taktstock gespielt wird. Namen wie Bernstein und Karajan klingen in unseren Köpfen. Und nicht die der Musiker. Der Einzelne muss das tun, was der große Lenker von ihm erwartet. Der Musiker wird nicht zum Virtuosen seines Instruments, sondern zur ausführenden „Maschine“. So belegt eine Studie, dass die Arbeitszufriedenheit von Orchestermusikern einen Rang hinter derjenigen von Strafvollzugsbeamten in amerikanischen Bundesgefängnissen liegt.

Zufällig sind wir auf eines der besten Orchester der Welt gestoßen, das Orpheus Chamber Orchestra. Erstaunlich ist, dass es seine einmaligen Leistungen ohne Dirigent vollbringt. Seine Philosophie ist inzwischen in einer Vielzahl von Publikationen beschrieben worden. Orpheus baut nicht auf eine Ein-Personen-Führung, sondern auf die Talente, das musikalische Können und das leidenschaftliche Engagement eines jedes Mitgliedes. Dabei ist das Orchester alles andere als ein chaotischer, führungsloser „Haufen“. Seit mehr als 30 Jahren floriert das Orpheus-Ensemble als Gruppe mit Selbstverwaltung, basierend auf einem kooperativen Managementstil. Nach dem Prinzip der Rotation übernimmt jeder Musiker einmal Führungsrollen. Für jedes Musikstück wählt das Ensemble eine Kerngruppe, bestehend aus fünf bis sieben Musikern. Diese setzen sich zusammen, entwickeln Interpretationen und unterbreiten dem Orchester einen Vorschlag, wie ein bestimmtes Stück zu spielen sei. Das Stück wird dann unter Einbeziehung weiterer Verbesserungsvorschläge der übrigen Mitglieder einstudiert und optimiert. Das Ergebnis ist eine Aufführung mit einmaligem Engagement, sowohl musikalisch als auch emotional.

Sie sehen also, das klassische Muster „Steuerung“ wird hier in paradoxer Weise umgesetzt. Der Musterbruch ist nicht die delegierte und wechselnde Führungsverantwortung. Es geht nicht darum, einfach das Gegenteil zu tun und nicht zu steuern. Führungsaufgaben werden nicht mechanistisch und zeitweise auf eine Person zentriert; sondern es ist die Bereitschaft aller, Führung kollektiv zu leben, Verantwortung zu übernehmen und gemeinsam um die beste Lösung zu ringen. Der musikalische Erfolg ist nicht steuerbar, aber auch nicht zufällig oder beliebig. Jeder Musiker kann sich in diese(r) Kultur selbststeuernd einbringen, wodurch sehr wohl „gesteuert“ wird.

Im Rahmen unserer Musterbrecher-Initiative haben wir über 40 Beispiele dieser Art analysiert. Diese Musterbrecher schaffen es, mit Paradoxien produktiv umzugehen und aus einer anderen Haltung heraus zu führen. So zum Beispiel die Initiatorin des Münchner Vereins „ghettokids“, der ehemalige Bürgermeister der Zwei-Millionen-Stadt Curitiba in Brasilien, die Chefredakteurin des Wirtschaftsmagazins „brand eins“ oder der Zoologe und ehemalige Chef des Zürcher Zoos; und natürlich haben wir auch mit diversen Unternehmern und Managern gesprochen.

Diese Persönlichkeiten kommen deshalb mit Unsicherheit besser klar, weil sie mit Widersprüchlichkeiten umgehen können. Wir müssen uns von einem „Entweder-oder“ verabschieden, es geht nicht um zentrale Steuerung oder chaotische Anarchie, totale Kontrolle oder blindes Vertrauen. Die Herausforderung besteht darin, neue Möglichkeiten im „Sowohl-als-auch“ zu sehen. Wenn man so will, in der Paradoxie zu führen! Was heißt das nun für uns konkret?

- Nicht Steuerbarkeit steuern.
- Vertrauter Kontrolle misstrauen.
- Vielfalt standardisieren.
- Rational Gefühle zulassen.
- Kurzsichtig weitblicken.
- Im Beschleunigen innehalten.
- Sachzwänge frei wählen.

Das klingt mächtig und wohl ein bisschen abstrakt. Wir werden das an Hand weiterer Bespiele erläutern, die das Ganze ein bisschen greifbarer machen:

Zum Beispiel „der vertrauten Kontrolle misstrauen“: Sind wir doch mal ehrlich, viele Unternehmen sind Misstrauensorganisationen, die eher den Kontrollsystemen vertrauen und weniger den Menschen, die in diesen Unternehmen arbeiten. Die wirkliche Herausforderung besteht darin zu akzeptieren, dass das meiste schlicht und einfach unkontrolliert geschieht und dass Kontrollinstrumente eine trügerische Gewissheit vermitteln. Was heißt nun hier paradoxe Führung, was heißt vertrauter Kontrolle misstrauen?

Klaus Kobjoll ist Inhaber des mehrfach ausgezeichneten Tagungshotels Schindlerhof. Er kontrolliert sein Unternehmen, indem er allen Mitarbeitenden – vom Lehrling bis zum Küchenchef – absolute Transparenz und Einblick gewährt, sogar in seine persönlichen Zahlen. So geht er sogar einmal im Jahr mit all seinen Lehrlingen sämtliche Unternehmenszahlen durch. Was war der Effekt? Dieses „Mitwissen“, nennen wir es mal so, förderte die Selbstverantwortung der einzelnen Angestellten. Denn nur wer Einblick hat, kann Verantwortung übernehmen. Es gilt also der misstrauensorientierten Kontrolle zu misstrauen. Das ist paradox. Aber viel mehr und eine andere Form von Kontrolle erreicht man durch vertrauensvolle Transparenz.

Ein weiteres paradoxes Beispiel:

Vielfalt standardisieren!
Standardisierung ist hochgradig sinnvoll. In Deutschland wird der volkswirtschaftliche Nutzen von Normen auf 15 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. So überrascht es nicht, dass Führung heute großenteils auf Normierung und Standardisierung der Systeme und der Mitarbeiter abzielt. Beherrschbarkeit ist das Ziel, Gleichheit das Mittel. Der paradoxe Ausweg: ständiges Hinterfragen – sowohl der Vielfalt als auch des Standards selbst.

Bei W.L. Gore & Associates besteht der Standard darin, dass man auf Standards verzichtet und vielmehr auf die Vielfalt und die Individualität des Einzelnen setzt. So kennt man weder Assessment-Verfahren noch Stellenbeschreibungen und vorgezeichnete Karrierepfade. Allein der Kreis der Mitarbeitenden entscheidet darüber, ob mit einer Person zusammengearbeitet werden kann.

Ulrich Loth, einer der Europaverantwortlichen, sagte uns in einem persönlichen Gespräch: „Wir lehnen jegliche Art von Assessment-Verfahren ab! Manchmal tun mir unsere Bewerberinnen und Bewerber fast schon leid, wenn ich sehe, wie viele Gespräche sie führen müssen, bevor eine Entscheidung getroffen wird. Die eigentliche Personalauswahl findet durch die verantwortlichen Mitarbeitenden statt, die später auch mit den Kandidaten zusammenarbeiten werden. So kann es durchaus vorkommen, dass jemand mehrere Gespräche führt, bis das Team entscheidet, der dazu passt. Sicherlich haben wir Stellenanzeigen, und wir benötigen auch gewisse Fachkompetenzen, die die Person mitbringen sollte. Aber im Kern geht es darum, dass der Mensch auch ins Team passen muss. In solchen Einstellungsverfahren werde ich auch häufig gefragt: ’Wie kann ich denn hier bei Gore aufsteigen, welche Karriereperspektiven können Sie mir geben?’ Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als zu antworten: ‚Das kann und will ich Ihnen nicht sagen! Wenn Sie einen Karriereplan brauchen, dann kommen wir hier nie zusammen. Ihre Beiträge, Ihre Fähigkeiten und das, was Sie wirklich wollen, entscheiden darüber, wo Sie in zwei Jahren stehen werden. Mehr kann ich heute in diesem Gespräch noch nicht sagen. Sie werden noch viele Möglichkeiten sehen, die ich Ihnen ansonsten verbauen würde, würde ich Ihnen bereits heute einen konkreten Weg aufzeigen.’ Unsere Mitarbeitenden sollen sich in alle Richtungen entwickeln können. Es liegt an der Persönlichkeit!“

Was lernen wir? Der Traum vom Mitarbeiter nach Maß führt zu nichts anderem als zu Mittelmaß. Vielfalt muss zum Standard werden in einer vielfältiger werdenden Welt.

Im Jahr des Papstbesuchs darf auch ein Kirchenbeispiel nicht fehlen:

Im Beschleunigen innehalten!
Wir alle möchten die Zeit durch eine noch bessere Terminplanung in den Griff bekommen. Aber in Wahrheit passiert doch genau das Umgekehrte: Die Zeit drückt uns unerbittlich ihren Rhythmus auf. Der Abtprimas des Benediktiner-Ordens, Dr. Notker Wolf, mit dem wir vor etwa einem Jahr in Rom sprachen und der etwa
100 000 Menschen vorsteht, charakterisiert seine Führung dadurch, dass er sich Zeit für die Menschen und deren Probleme nimmt. Das klingt einfach, aber Notker Wolf akzeptiert tatsächlich die Wichtigkeit des jeweiligen für den Betroffenen Problems und stellt seine eigenen Aufgaben nicht über die der anderen. Er umschreibt sein Führungsverständnis wie folgt:

„Ich muss den Menschen, meinen Mitarbeitern, den mir Anvertrauten mit Emotionen, mit viel Zeit und ohne Distanz begegnen. Dazu nehme ich meine Gesprächspartner auf die gleiche Ebene, mit dem Ziel, ihm oder ihr die Zuwendung zu geben, die mein Gegenüber erwartet, als hätte ich in diesem Moment nichts anderes zu tun.“

Auf diese Weise gelingt es dem Abtprimas, was vielen von uns nicht mehr glückt, obwohl seine Zeitfenster genauso eng getaktet sind: Er ist ganz bei den Menschen, wenn er sie trifft und mit ihnen spricht.

Was lernen wir daraus? Wenn wir genau hinschauen, dann erkennen wir, dass ein Bremsen zur richtigen Zeit beschleunigend wirkt. Paradox, oder? Wer sich in einer Zeit ohne Zeit bewusst Zeit nimmt, ist nicht nur für sein Umfeld angenehmer und präsenter, sondern der handelt vermutlich auch effizienter. Notker Wolf liefert ein Beispiel neu gelebter Führung, von dem ein mittelständischer Unternehmer ebenso profitieren kann wie ein Vorstandsvorsitzender, eine Politikerin oder ein Lehrer.

Möglicherweise fragen Sie jetzt, wie man denn nun Musterbrecher werden kann? Kann man das lernen? Oder hat „man“ es oder nicht – so denken ja viele über Führungskompetenz. Es gibt, und das muss man sehr deutlich sagen, keine Rezepte und kein 10-Punkte-Programm. Wir haben bewusst in unser Buch keine Checklisten aufgenommen und unter jedes Beispiel den kleinen Vermerk gesetzt „Erlebnis ohne Erfolgsgarantie“. Es hat nämlich überhaupt keinen Sinn, andere Musterbrecher kopieren zu wollen. Aber natürlich kann man sich inspirieren und Impulse geben lassen.

Letztendlich geht es ja um eine Veränderung der inneren Haltung. Und die stellt keine einmalig zu erlernende Fähigkeit dar, sie verändert sich im Prozess immer wieder neu. Gleichwohl kann man an der Haltung arbeiten. Wir haben in unserem Projekt drei „Muster des Musterbruchs“ (bewusst in Anführungszeichen, sonst hätten wir ja wieder das Rezepthafte) ausgearbeitet, die den Weg weisen können:

- Erstes „Muster des Musterbruchs“: Verbindliche Reflexion – mehr sehen, sensibler wahrnehmen, achtsam agieren!
- Zweites „Muster des Musterbruchs“: Mut zur Überwindung kollektiv akzeptierter Wahrheiten und Mut zum Durchhalten der eigenen Identität.
- Drittes „Muster des Musterbruchs“: Echte Beziehungen – Bindungskraft zu sich selbst und zu anderen.

Schauen wir uns diese drei „Muster des Musterbruchs“ etwas genauer an:

Erstens: Denkkraft durch verbindliche Reflexion – Wege im Sowohl-als-auch finden!

In einer rasch getakteten Welt fällt es schwer, den Nutzen von Reflexion zu sehen. Operative Hektik und panisches Agieren verzögern die Prozesse des Nachdenkens, Besinnens und der Einsicht. Nur selten gönnen wir uns ohne äußeren Zwang inspirierende Auszeiten. Reflexion macht uns bewusst, dass wir die Konstrukteure unserer eigenen Wirklichkeit und Wahrheit sind. Es ist wichtig, unsere impliziten Glaubenssätze zu erschließen.

Raimund Schöll, ein Führungskräftecoach, fordert eine besondere Art der Reflexion. Er sagte uns Folgendes: „Was heute zu vielen teuren Fehlentscheidungen im Geschäftsleben führt, ist zu schnelles, eruptives und aktionistisches Handeln. Oft fehlt das Einnehmen der Beobachterperspektive. Viele Entscheidungsträger sind getrieben wie kopflose Liebhaber: Sie stürzen sich von Abenteuer zu Abenteuer, statt in der Ruhe Kraft zu suchen, um von da aus die nächste überlegte ‚Partie’ zu spielen. Was zu kurz kommt, ist das Innehalten, die ‚Reflexion zweiter Ordnung’. Dabei geht es um die Frage: Wie beobachte ich, was ich beobachte? Die Reflexion erster Ordnung ist ergebnisfokussiert und objektbezogen. Wir benötigen sie im operativen Geschäft, um zu gestalten und handlungsfähig zu sein. Doch der Blick aus einem gewissen Abstand auf sich selbst, die eigenen Muster und die der anderen kann oft ebenso entscheidend sein und einen Mehrwert bringen.“

Zweites „Muster des Musterbruchs“: Sprungkraft durch leisen Mut – mit leisem Mut normierte Muster brechen!

Reflexion als solche bringt ja noch nicht besonders viel, man muss auch mutig die Dinge angehen, die man als veränderungswürdig erkannt hat. „Musterbrecher“ verfügen über die „Sprungkraft“, Alternativen einfach einmal auszuprobieren, die ganz und gar nicht den klassischen Erwartungen entsprechen. Das hat nichts mit Tollkühnheit zu tun. Wir denken an Mut in einer anderen Art: unspektakulär, zurückhaltend, unaufdringlich. Es geht um Mut, der dazu befähigt, sich von fremden Bezugsgrößen zu lösen und die eigene Identität „durchzuhalten“.

So wie Peter Walter, Gründer und bis 2005 Geschäftsführer der Nummer vier der Generika-Hersteller in Deutschland. Er hat vor einigen Jahren gegen die Überzeugung der Geldgeber den Mut aufgebracht, die strategische Logik der Generika-Branche zu durchbrechen.

Diese Logik bei vollkommen austauschbaren Arzneimitteln lautet: Kostenführerschaft, also an der Kostenschraube drehen und durch einen geringen Produktpreis im Markt bestehen. Diese durchaus naheliegende Strategie der Kostenführerschaft hat Peter Walter zu Beginn verfolgt, doch irgendwann fühlte er sich damit nicht mehr wohl. Trotz vollkommener Austauschbarkeit der Produkte gelang es ihm, eine Differenzierung der besonderen Art zu realisieren. Und zwar nicht im Stil eines oberflächlichen „Andersseins“, sondern durch glaubwürdiges Engagement. Peter Walter etablierte kostenfreie psychosoziale Beratungsdienste. Es ist gelungen, sich durch authentisches Engagement in einem Feld zu positionieren, das gewöhnlich nur vom Denken in Größenvorteilen geprägt ist. Natürlich hat sich der Erfolg auch ökonomisch ausgezahlt. Die paradoxe Einsicht liegt jedoch darin, dass dieser Erfolg sich vermutlich niemals eingestellt hätte, wenn das wirtschaftliche Kalkül die alleinige Triebfeder gewesen wäre.

Drittes „Muster des Musterbruchs“: Bindungskraft durch echte Beziehung – Kraft zur Bindung entwickeln!

Urs Rickenbacher, ein erfolgreicher Unternehmer, sagte uns im persönlichen Gespräch, wie vielschichtig das Thema „Beziehung“ ist:

„Es umfasst die Beziehung zu sich, zu den Menschen, die einen umgeben, und zu dem, was wir tun. Es fasziniert mich, mit Menschen Dinge voranzubringen und sich immer wieder zu fragen: Haben wir wirklich das Beste getan, haben wir alle, die partizipieren können und wollen, in die Prozesse einbezogen? Es geht darum, ein Unternehmen zu erleben und weiterzuentwickeln, in dem es einfach Spaß macht, dabei zu sein, in dem die Lust im Vordergrund steht; ein Unternehmen also, in dem man eine gemeinsame Zukunft verfolgt, in dem verantwortungsvolles Arbeiten möglich ist und in dem ein offenes Klima, Wertschätzung und Achtung herrschen. Das gelingt nur, wenn alle mit einbezogen sind, wenn alle miteinander in Beziehung sind. Davon ist mein Führungsverständnis geprägt. Die Voraussetzung ist einerseits ein ständiges Hinterfragen meiner eigenen Maßstäbe, andererseits bemühe ich mich, offen zu sein, zuzuhören, Ideen aufzusaugen und weiterzuentwickeln, Mitarbeitende zu fördern, sie zu Vorschlägen und Kritik aufzufordern. Nur so weiß ich mich in einem Boot mit ihnen. (…) Einmal pro Woche nehme ich mir Zeit, um durch den Betrieb zu gehen. Ich brauche den Stallgeruch, dieses Erlebnis ist mir heilig. Ich möchte die Probleme spüren, erleben, wie es den Mitarbeitern geht. Ich möchte sie ‚begreifen’. Das heißt, ich versuche, für ihre Schwierigkeiten, Fragen und Nöte da zu sein, denn die sind genauso wichtig wie meine eigenen. Ich muss greifbar sein, denn nur so fassen die Mitarbeitenden Vertrauen und bringen sich ein.“

Wie das Beispiel zeigt, kann man auch auf unspektakuläre Art Bindungskraft entwickeln.

Beziehung muss im Kontext der beiden anderen Begriffe „Reflexion“ und „Mut“ gesehen werden.

Dies möchte ich veranschaulichen am Beispiel Jürgen Klinsmann, den man unseres Erachtens, unabhängig davon, ob man ihn sympathisch findet oder nicht, als Musterbrecher bezeichnen kann. Klinsmann wurde ja wegen seiner unkonventionellen Trainingsmethoden (Stichwort: Gummiband und kalifornische Fitnesstrainer) massiv in Frage gestellt. Doch er ging unbeirrt seinen Weg. Er analysierte zunächst akribisch genau sein Umfeld. Er stellte viele Logiken des Deutschen Fußballbundes in Frage. Hier haben wir die Reflexion. Diese Beobachtungen führten zu einer Strategie, die er stur durchzog. Das verlangte Mut zum Überwinden der kollektiv akzeptierten Wahrheit – zum Beispiel, wie das Team zu trainieren hätte und ob der Mannschaft während des Turniers ein kurzer Heimaturlaub zugestanden werden darf oder nicht. Klinsmann war erfolgreich und schaffte den viel bejubelten dritten Platz bei der WM im eigenen Land. Wohl auch wegen seiner Bindungskraft, mit der er ein perfektes mannschaftliches Kollektiv – vom Zeugwart bis zum Torschützen – formte. Nach der WM flehten alle Klinsmann an, dass er weitermachen solle. Doch er zieht sich, allen Überredungsversuchen zum Trotz, wieder nach Kalifornien zurück. Das beweist in irgendeiner Form auch wieder Mut.

Was sagen wir nun, wenn uns Unternehmer oder Manager fragen, was sie tun sollen?

Zunächst einmal: Hinterfragen Sie die eigene Haltung. Experimentieren Sie und erleben Sie die Mächtigkeit alternativer Führung. Das Erleben ist das A und O. Musterbrüche intellektuell zu begreifen, reicht bei weitem nicht aus. Man muss zum Beispiel erst auf Arbeitszeitregelung verzichten, um zu wissen, ob die Mitarbeitenden dieser neuen Freiheit mit der nötigen Verantwortung begegnen. Man muss erst einmal Budgets abschaffen, um zu erleben, ob im eigenen System genügend unter-nehmerische Verantwortung steckt. Diese Versuche müssen in überschaubarem Rahmen und unter Einbezug der Betroffenen unternommen werden.

Man kann bewusst an seiner eigenen Haltung arbeiten; sie für andere erlebbar machen. Wenn man in Führung und Management nicht pathologisch enden will, muss man lernen, mit Paradoxien umzugehen. Man gewinnt damit eine neue Art von Sicherheit in der Unsicherheit – man bleibt handlungsfähig. Und das ist wohl eine der zentralen Herausforderungen für die Zukunft.

Manager müssen lernen:

1. Mit Unschärfen umzugehen.
2. Paradox zu führen.
3. Sich auf Experimente einzulassen und somit die eigene Exzellenz zu erfinden.

Die Herausforderung liegt nicht in der Präzisierung der Instrumente und Techniken. Davon haben wir genug. Im Kern geht es um eine Veränderung der Haltung gegenüber Führung. Eine Haltung, die hilft, sich innerlich zu festigen, um mit der äußeren Unsicherheit besser umgehen zu können.


*****


* Zu den Autoren:
Hans A. Wüthrich, Jahrgang 1956, Promotion und Habilitation an der Universität St. Gallen auf dem Gebiet des Strategischen Managements, Inhaber des Lehrstuhl für Internationales Management, Universität der Bundeswehr München, Partner der B&RSW AG Management Consultants, Zürich, Coach für Führungskräfte.

Dirk Ostmetz, Jahrgang 1967, Ingenieur und promovierter Wirtschaftswissenschaftler, Lehr- und Forschungstätigkeit am Institut für Internationales Management, Universität der Bundeswehr München, Lehrbeauftragter an Fachhochschulen in Deutschland und der Schweiz, Partner der PhilOs Managementberatung München.

Stefan Kaduk, Jahrgang 1970, promovierter Betriebswirt, sieben Jahre Unternehmensberatung, Lehr- und Forschungstätigkeit am Institut für Personal- und Organisationsforschung und Habilitand am Institut für Internationales Management, Universität der Bundeswehr München, Dozent an Fachhochschulen und im Rahmen von Weiterbildungsprogrammen