SWR 2019 Gefährliches Mitleiden Die negativen Seiten der Empathie : Gespräch Ralf Caspari mit Fritz Breithaupt >< Diskurs Aktuell : 'Enthornung' >< 'Trumpsches Empathiesyndrom'
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Empathie (R.Caspari - F.Breithaupt)
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SWR 2019 Gefährliches Mitleiden Die negativen Seiten der Empathie : Gespräch Ralf Caspari mit Fritz Breithaupt >< Diskurs Aktuell : 'Enthornung' >< 'Trumpsches Empathiesyndrom'
I ENTHORNUNG
SWR 2019 Warum Kühe Hörner brauchen . Von Peter Jaeggi
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II EMPATHIE
SWR2 Wissen: Aula
Gefährliches Mitleiden
Die negativen Seiten der Empathie
Gespräch mit Fritz Breithaupt
Sendung: Sonntag, 20. Januar 2019, 8.30 Uhr
Erst-Sendung: Sonntag, 3. September 2017, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2017
Normalerweise wird Empathie durchweg positiv bewertet, doch sie hat auch Schattenseiten
und kann zu Ich-Verlust oder gar Sadismus führen. Fritz Breithaupt beschreibt diese dunklen
Seiten.
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des
Urhebers bzw. des SWR.
Anmoderation:
Mit dem Thema: „Gefährliches Mitleiden – Die negativen Seiten der Empathie“. Am
Mikrofon: Ralf Caspary.
Der Begriff "Empathie" hat Hochkonjunktur, sieht man den Menschen doch
neuerdings als soziales Wesen, dessen wichtigste Fähigkeit darin besteht, sich in
andere hineinzuversetzen, deren Freude oder Schmerz nachzuempfinden.
Normalerweise wird Empathie deshalb durchweg positiv bewertet, doch sie hat auch
Schattenseiten, sie kann zu Ich-Verlust und im Extremfall zu Sadismus führen.
Darüber habe ich mit Fritz Breithaupt gesprochen, Professor für Germanistik an der
Indiana University Bloomington.
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MANUSKRIPT
Caspary:
Es wird zurzeit aus allen möglichen Perspektiven über Empathie berichtet:
soziologische, perspektive-kognitive, neurowissenschaftliche. Warum liegt Empathie
im Trend?
Breithaupt:
Ich glaube, es gibt zwei Gründe. Empathie macht uns zum Menschen. Über
Empathie erleben wir die Welt. Wir müssen nicht selber auf hohe Berge klettern,
sondern können Berichte von anderen Menschen hören, was sie da erlebt haben.
Und wir erleben das mit. Empathie erweitert unser Erleben in alle möglichen
Bereiche. Es ist wie ein sechster Sinn. Es ist also richtig, dass wir uns jetzt mit
Empathie beschäftigen. Es gibt aber noch einen zweiten Grund, warum wir uns
gerade jetzt mit Empathie auseinandersetzen. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass
unsere Epoche sehr auf den Einzelnen bezogen ist. Wir leben immer mehr in einer
Welt des Narzissmus, in der jeder sich selbst präsentieren muss. Interessanterweise
passt Empathie dazu recht gut. Die meisten Menschen denken, dass wir mit
Empathie auf andere eingehen und im Austausch mit ihnen stehen. Das stimmt. Aber
Empathie fordert uns erst mal auch selber. Empathie ist für den Menschen gut, der
Empathie hat, und nicht unbedingt für den anderen.
Caspary:
Man könnte also nicht sagen, dass Empathie uns sozialer macht? Sonst würde ich
annehmen, Empathie sei ein Gegenmodell zum Individualismus?
Breithaupt:
So denken viele Menschen. Und ich glaube, das ist genau falsch. Ich denke, dass
Empathie wirklich erst mal ein Mittel ist, sich selbst zu vergrößern, an anderen und
deren Leben teilzunehmen. Was interessant ist: Empathie führt uns zu anderen
Menschen, macht uns auch sozialer, führt uns durchaus mal dazu, dass wir anderen
Leuten helfen. Dennoch steht dahinter die Selbsterweiterung. Ich möchte das gar
nicht bewerten. Aber ich finde, das muss man nüchtern sehen: Empathie ist zunächst
für denjenigen gut, der es fühlt.
Natürlich passt Empathie vollständig in unsere Welt. Diese Ansicht teile ich. Mit
Empathie bewegen wir uns über uns hinaus, wir partizipieren, wir wissen, was die
anderen machen und erleben Dinge mit. Wir werden aufgeregt, aufgewühlt von dem,
was um uns herum geschieht. Das ist sehr spannend. So leben wir in der Welt. Wir
leben sozusagen mehr als ein einziges Leben. Das ist großartig. Aber es geht dabei
eben doch um das eigene Erleben. Die vielen Situationen, in denen in uns die
Hoffnung aufkeimt: „Ah, jetzt gehen wir mittels Empathie über unser enges Ich, über
uns selbst hinaus“, die müssen wir uns eigentlich genauer anschauen. Was passiert
dabei wirklich? Ein einfaches Beispiel: Man sieht einen Menschen in Not, er braucht
Hilfe. Dann helfen wir. Das tun wir wirklich und das ist etwas Großartiges. Aber
warum tun wir das? Ich glaube, in vielen Fällen passiert etwas ganz Interessantes:
Wir identifizieren uns mit einem Helfer, ob der nun real anwesend ist oder nicht.
Gegenüber dem Notleidenden agieren wir aus der Rolle dieses Helfers aus und
helfen. Was ja durchaus gut ist. Aber wir tun das gar nicht so sehr, weil wir uns
vollständig in den anderen eingefühlt haben, sondern weil wir uns mit einem Helfer
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identifiziert haben. Das ist eine sehr gefilterte Empathie. Für uns hat das den Vorteil,
dass wir uns nach der Hilfeleistung sofort wieder zurückziehen und uns noch auf die
Schulter klopfen können, dass wir etwas Gutes gemacht haben.
Frage:
Und dieser Helfer ist eine imaginierte Figur oder eine reale Person?
Breithaupt:
Das kann beides sein. Es gibt viele Fälle, wo uns die realen Helfer vor Augen stehen.
Wir denken an Angela Merkel in der Flüchtlingskrise. Großartig. Plötzlich ist da
jemand, der uns vorführt, was wir tun sollen. Genauso die ganzen Helfer an den
Bahnhöfen, die sofort gekommen sind und nachbarschaftliche Hilfe geleistet haben.
Mit diesen Helferfiguren können wir uns zunächst identifizieren. Dadurch gewinnen
wir eine Art gefilterte Empathie. Wir sehen die anderen Menschen, die in Not sind,
nur aus dieser Rolle des Helfers heraus, helfen dann auch, tun also durchaus etwas
Gutes. Aber ansonsten interessieren wir uns gar nicht so sehr. Sie interessieren uns
in dem Moment insofern, als dass wir ihnen helfen können, dann sollen sie sich auch
schnell bessern, und dann kommen wir wieder zu uns zurück. Dann ist das Ganze
auch vorbei. Für echte Empathie bedarf es etwas anderes. Sie haben gefragt, ob das
immer reale Helfer sind. Nein, das kann man sich auch imaginieren. Man kann sich
diesen Helfer vorstellen, auch wenn er nicht da ist.
Frage:
Wenn wir in die Helferfigur hineinschlüpfen, fühlen wir uns dann besser?
Breithaupt:
Ganz genau. Wir klopfen uns auf die Schulter, weil wir in dieser Rolle sind. Auch
wenn wir uns nur vorstellen, in dieser Rolle zu sein. Dann sehen wir schon mal, damit
tun wir etwas Gutes, wir sind die guten Menschen. Wir erwarten dann aber auch von
anderen Menschen Anerkennung.
Frage:
Das ist aber eine fragwürdige Haltung, oder?
Breithaupt:
Ich würde es sagen, dass ich versuche, Empathie von diesem Sockel
herunterzuholen. Empathie ist erst mal etwas sehr Menschliches. Und das heißt
eben auch, dass wir davon etwas haben. Wir haben einen Gewinn davon, das fühlt
sich für uns gut an, wir erweitern uns, können uns auch mal auf die Schulter klopfen.
Und insofern würde ich vorschlagen, ohne dass das zynisch ist, die Empathie auf
den Boden herunterzuholen und zu fragen, was wir eigentlich davon haben.
Frage:
Bleiben wir bei dem Thema Flüchtlingshilfe. Nehmen wir mal die Szene an, ich sitze
vor meinem Fernseher, sehe Flüchtlinge in irgendeinem Flüchtlingslager, kleine
Kinder laufen herum, es ist kalt, sie haben nichts zu essen, sie schreien. Dann
imaginiere ich mir eine Helferfigur und habe mit denen Empathie und sage, ich
spende auf das Konto, das eingeblendet wird. Ich sage mir, super, das hast Du toll
gemacht, und fühle mich für ein, zwei Stunden gut und dann gehe ich in die Küche
und hole mein Bier?
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Breithaupt:
Wir lachen darüber, vielleicht soll man das auch. Ich glaube, dass es tatsächlich ein
bisschen so funktioniert, nur nicht unbedingt so in dem Sinne, dass wir uns für zwei
Stunden gut fühlen, weil wir Geld gespendet haben und das war’s. Aber in ganz
vielen Situationen, in denen wir wirklich einspringen, wo wir uns körperlich einsetzen,
wo wir auch Zeit investieren, kann das durchaus so sein, dass wir gar nicht so sehr
auf die anderen Menschen zugehen, sondern dass wir uns vorstellen, was muss
getan werden. Dann imaginiert man sich diesen Helfer, der etwas tut. Was mich
daran nur stören würde, ist, wenn Sie sagen würden: Jetzt habe ich viel Empathie
bewiesen. Das glaube ich nicht. Um wirklich Empathie zu empfinden, müsste man zu
dem Flüchtlingslager hingehen, um die Menschen und ihre Schicksale überhaupt
kennenzulernen. Das ist natürlich sehr viel anstrengender.
Frage:
Bedingt Empathie Nähe? Wenn ich im Fernseher die Flüchtlinge sehe, wie sie
vielleicht vor Kälte zittern, dann kann ich das trotzdem nicht wirklich fühlen, weil ich ja
nicht dabei bin. Ein richtiges Hineinversetzen in deren Situation ist es ja nicht?
Breithaupt:
Genau. Wir wissen das aus der Ferne nicht. Wir können aber in der Tat auch aus der
Ferne Empathie empfinden, wir tun es sogar lieber, glaube ich, weil man sich
schneller wieder distanzieren kann. Menschen sind vorsichtig mit Empathie.
Empathie kann ausgenutzt werden, man kann sich selbst verlieren in anderen
Menschen. Beispiel: Das sogenannte Stockholm-Syndrom, dieses Geiselnehmer-
Syndrom, in denen sich Geiseln zu sehr identifiziert haben mit den Geiselnehmern
und ihr eigenes Ich dabei verloren gegangen ist, auch noch lange nach der
Geiselsituation hinaus. Auch das ist ein Phänomen von Empathie. Man verliert sich
im anderen. Und davor wollen wir uns natürlich schützen. Und das funktioniert am
besten durch Distanz oder indem man sagt, man hat ein bisschen Empathie, man
hilft vielleicht auch, aber mit dem Wissen, dass es irgendwann zu Ende ist, dass man
dann wieder zu sich zurückkommen kann. Das ist sehr gut für Empathie.
Frage:
Läuft dieser Kontrollmechanismus, von dem Sie gesprochen haben, bewusst oder
unbewusst ab?
Breithaupt:
Die Frage ist sehr richtig. Wenn wir von Empathie reden, müssen wir gleichzeitig von
den Kontrollen und Blockaden der Empathie sprechen. Das heißt, dass wir mit
Empathie umgehen. Wir lernen, sie zu kontrollieren, sie zu steuern und lassen sie
manchmal zu. Wir können uns bewusst sagen: Das ist eine so wichtige Situation,
jetzt kannst Du nicht Dein Bier aufmachen, jetzt musst Du etwas tun. Und das geht
dann. Wir können uns bewusst über Kontrollen und Blockaden hinwegsetzen,
können ihnen aber genauso gut unbewusst ausgeliefert sein. Sehr vieles passiert
natürlich, ohne dass wir darüber nachdenken. Wenn wir zu viele Blockaden haben,
werden wir kaltherzig. Das kann natürlich vorkommen. Dann werden wir durch
spannende Geschichten und geeignete Narration wieder reingeholt.
Frage:
Sie haben anfangs gesagt, wir erweitern uns selbst, wenn wir empathisch sind. Wie
läuft das genau ab?
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Breithaupt:
Wir können durch andere Menschen miterleben, wir können partizipieren an deren
Situationen, in die wir vielleicht selbst nie hineinkommen werden. Aber weil wir einen
anderen Menschen in der Situation sehen, einen Freund vielleicht, der uns etwas
erzählt und wir uns sehr genau vorstellen können, was in seinem Kopf vorgeht,
dadurch ist es so, als würden wir selber in einer Situation sein. Und das heißt, wir
leben viele Leben auf einmal. Wir müssen uns nicht selbst die Hand auf dem Herd
verbrennen, wir können das bei einem anderen Menschen sehen. Das ist sehr gut für
uns. Eigentlich ist das kollektive Intelligenz, auch ein kollektives Gefühlsleben.
Frage:
Kann man vor diesem Hintergrund sagen, wir sind eine Art Simulationsmaschine, die
mögliche Situationen simuliert, die passieren könnten, mittels Empathie?
Breithaupt:
Ja, das ist schön gesagt. Aber eine Maschine?
Frage:
Ich sage das, weil das ein Automatismus ist, der in uns ist.
Breithaupt:
Es muss aber eine Maschine sein, die sehr lernfähig ist. Ich glaube, Empathie ist uns
zwar in die Wiege gelegt, wir sind von Natur aus dazu angelegt, Empathie haben zu
können. Aber man muss Empathie auch entwickeln und entfalten. Junge Menschen
können sehr empathisch reagieren, aber mit dem Alter kommt die Stärke, dass man
immer genauer unterscheiden kann. Man versteht die Situationen anderer Menschen
besser, man reagiert auch auf der Gefühlsebene genauer. Das heißt, wir entwickeln
Empathie das ganze Leben weiter. Wir entwickeln natürlich auch mehr Blockade-
Mechanismen. Es ist nicht so, dass wir mehr Empathie haben, weil wir mehr erlebt
haben, es kann auch genau anders herum laufen. Wer viel erlebt hat, sagt manchmal
auch: Ach, stell Dich nicht so an, diese Situation ist nun wirklich nicht so schlimm.
Das ist eine Blockade. In dem Moment hat man mit dem Menschen in einer
schwierigen Situation keine Empathie.
Frage:
Wenden wir uns nochmal den negativen Seiten der Empathie zu. Sie hatten schon
das Stockholm-Syndrom erwähnt sowie verschiedene Kontroll- und
Blockiermechanismen. Gibt es noch weitere negative Anteile der Empathie? Kann
Empathie soweit gehen, dass ich mich selbst verliere?
Breithaupt:
Ja. Im milderen Fall kann das bedeuten, dass man manipuliert wird, über den Tisch
gezogen wird, im schlimmsten Fall, dass man sich vollständig im anderen verliert wie
beim Stockholm-Syndrom. Wenn wir über die negativen Seiten der Empathie reden,
möchte ich zuerst betonen, dass ich Empathie nicht verteufeln will. Es geht mir um
eine Korrektur eines allzu positiven Bildes. Empathie macht uns zum Menschen, von
Grund auf. Und sie führt uns häufig zu sehr guten Handlungen. Aber sie kann uns
auch zu sehr negativen Handlungen antreiben. Zu diesem Schluss kommen wir,
wenn wir uns überlegen, dass Empathie für denjenigen schön ist, der sie erlebt.
Empathie kann nämlich dann zum Selbstzweck werden: Wir wollen Empathie, wir
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wollen so fühlen, wie andere Menschen fühlen. Wann fühlen wir denn Empathie, in
welchen Situationen können wir uns in andere hineinfühlen? Sehr häufig sind das
negative Situationen. Wir nähern uns jetzt Figuren, die Empathie um der Empathie
willen suchen, aber dadurch das Leiden anderer Menschen in Kauf nehmen. Das
kann zu Sadismus führen. Das ist vielleicht im Theater schön, in einer Tragödie, man
sieht das Leiden eines anderen Menschen, und das ist natürlich sehr bewegend.
Vielleicht sterben sie sogar am Ende, umso besser. Aber dann kommen wir wieder
zu uns zurück. Wenn wir dieses Modell auf unser Leben übertragen, dann landen wir
bei sadistischer Empathie, wo ein Mensch das Leiden eines anderen will, in Kauf
nimmt oder sogar herbeiführt, weil er den anderen in diesen Situationen verstehen
kann. Darunter fallen ganz alltägliche Situationen: das Mobbing oder der Lehrer, der
einen Schüler an die Tafel ruft, um ihn bloß zu stellen. Warum macht er das? Das
können Machtspiele sein. Aber gleichzeitig kann man simulieren, man versteht und
kann nachempfinden, wie schlecht sich dieser Mensch da vorne sich fühlt. Und man
kann das genießen, weil man das mitfühlen kann.
Caspary:
Der Sadist braucht also das Leiden? Worum geht es ihm letztlich?
Breithaupt:
Er will das Gefühl haben, den anderen verstehen zu können. In den meisten Fällen
sind uns andere Menschen irgendwie verschlossen. Alltagssituationen sind konfus,
und manche Menschen sind nicht sehr empathiestark. Die suchen genau die
Situationen auf, in denen sie den anderen doch mal verstehen können. Und dazu
gehört vor allem die Leidenssituation. Nicht nur, aber auch die. Wenn wir diesen
Gedanken weiterspinnen, dann kommen wir zu einem erschreckenden Gedanken:
Manche brutalen Sadisten handeln vielleicht aus Empathie. Nicht weil sie keine
haben, sondern gerade weil sie Empathie fühlen wollen. Sie quälen andere, weil sie
sich in dem Moment vorstellen können, wie die sich fühlen. Dadurch haben sie eine
gewisse Nähe und werden irgendwie aufgerührt.
Caspary:
Steht das irgendwie in Beziehung zu Filmen und Literatur, wo es ja oft um
menschliches Leiden geht?
Breithaupt:
Natürlich. Warum lesen wir solche Literatur? Warum mögen wir Filme, in denen ganz
brutale Dinge passieren?
Caspary:
Warum denn? Warum schauen wir sonntags abends den Tatort?
Breithaupt:
Der Tatort ist häufig etwas klinisch, so dass wir oft nicht so sehr daran beteiligt sind.
Der Tatort hat nochmal einen anderen Status. Ich stelle mir eher Hollywood-
Produktionen vor, wo dieses Leiden richtig zelebriert wird. Warum denn eigentlich?
Weil wir damit aufgerüttelt werden. Die anderen Menschen interessieren uns dabei
nicht, müssen sie auch nicht, das ist ein Film, da dürfen wir unsere
Mitleidensfähigkeit einfach nur auskosten. Aber auf unser Leben übertragen gilt
dieses Modell genau gleich. Wir alle haben durchaus diese sehr unschöne Tendenz,
am Leiden des anderen zu partizipieren. Dass die anderen Menschen uns dabei
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nicht so richtig interessieren, würde ich als eine Figur des Vampirismus beschreiben.
Ein Beispiel sind die sogenannten Helikopter-Eltern. Die partizipieren an ihren
Kindern, denken natürlich, dass sie denen Gutes tun, aber eigentlich wollen sie ihre
eigene Jugend nochmal erleben, nur sicherer, behüteter, erfolgreicher. Und dabei
interessieren sie die Kinder paradoxerweise dann doch nicht. Sie berauben die
Kinder ihres eigenen Lebens. Sie machen die Kinder zu Objekten ihrer eigenen
Suche. Auch hier spielt wieder Empathie um der Empathie willen eine Rolle.
Natürlich unter dem Vorwand, sich für das Kind einzusetzen.
Caspary:
Mir kommt das Phänomen Stalking in den Sinn. Gehört das auch in die Kategorie
des Sadismus?
Breithaupt:
Ich würde das eher dem Vampirismus zuordnen.
Caspary:
Der Stalker findet ja schon eine gewisse Lust daran, wenn er seinem Objekt
nachstellt, wenn er es psychisch quält und ihm Angst macht.
Breithaupt:
Genau. Wenn er merkt, dass er Einfluss hat, und wenn er merkt, dass sein Opfer
reagiert auf den Stalker. Dann kann das für den Stalker eine große Bestätigung sein.
Und er versteht jetzt auch die Gefühle des anderen Menschen.
Caspary:
Aufgrund Ihrer Theorie kann man ein anderes Verständnis von Tätern bekommen,
von Sadisten, vielleicht auch von Mördern. Das sind ja dann vielleicht keine kalten
Menschen, seelenlose Maschinen, sondern eigentlich hochempathische Leute?
Breithaupt:
Diese Idee würde ich zumindest als ein Modell anbieten. Es gibt Täter, die aus zu viel
oder falsch verstandener Empathie handeln. Das heißt natürlich nicht, dass es keine
kaltblütigen Täter gibt. Psychopathen sind höchstwahrscheinlich kaltblütig. Aber im
Alltag gibt es sehr viele Fälle, in denen Menschen aus Empathie dazu getrieben
werden, schreckliche Dinge zu tun. Das entschuldigt diese Menschen überhaupt
nicht. Im Gegenteil, man müsste sagen, das ist ja umso schlimmer. Diese Menschen
sollten keinesfalls mildernde Umstände bekommen.
Caspary:
Machen uns Handys und Computer zu weniger empathischen Menschen?
Breithaupt:
Diese Theorie wird derzeit verhandelt. Es gibt eine groß angelegte Studie dazu, die
zumindest in eine ähnliche Richtung argumentiert. Es wurde über einen langen
Zeitraum untersucht, wie die Empathiefähigkeit unter Jugendlichen sich entwickelt
haben könnte in den letzten 35 Jahren. Der Studie liegt ein Persönlichkeitstest
zugrunde, den Menschen immer wieder über 35 Jahre lang ausgeführt haben. Nach
diesen Studien sieht es so aus, als hätte die Empathie bei derzeitigen Jugendlichen
in Amerika – die Studie bezieht sich nur auf amerikanische Studenten – stark
abgenommen, und zwar ziemlich genau im Gleichschritt mit der Einführung der
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sozialen und der sehr schnelllebigen Medien wie Instagram, Facebook und natürlich
den Handys.
Caspary:
Ist das jetzt ein Ursache-Wirkung-Zusammenhang oder eine Korrelation?
Breithaupt:
Das wird sehr konträr verhandelt. Ich würde dieser Diskussion zwei Dinge
hinzufügen: Erstens müssen wir fragen, ob Empathie immer nur gut ist oder
manchmal auch schlecht. Und wenn man sagt, dass Empathie den Verlust des
Selbst bedeuten kann, könnte man auch argumentieren, dass die neue Generation
der Jugendlichen etwas selbstbewusster ist. Sie verlieren sich nicht mehr ganz so
schnell. Sie haben auch noch Empathie, aber vielleicht können sie sie gezielter
einsetzen. Sie wären dann in der Selbstkontrolle besser, das weiß man nicht ganz
genau. Ich würde dafür plädieren, bevor wir mit einem Aufschrei mehr Empathie
fordern, müssen wir sie uns erst einmal genau angucken. Auch was die positiven
Seiten der Unterbindung von Empathie sind. Zweitens würde ich sagen, dass unsere
Zeit uns Menschen in der Tat sehr viel mehr auf uns selbst zurückführt und ganz
neue Persönlichkeitsstrukturen produziert. Und vielleicht sind für diese neuen
Persönlichkeitsstrukturen unsere Begriffe von Empathie auch falsch. Was junge
Menschen sehr viel deutlicher entwickeln als vorherige Generationen ist eine Art
mobiles Bewusstsein. Das ist nicht vollständig das gleiche wie Empathie, aber die
heutigen Jugendlichen können sich sehr schnell in andere Zustände hineinversetzen.
Über Videospiele, über die sozialen Medien, die ja ungeheuer schnell eine Nachricht
weiterschicken oder ein Bild zeigen, das sofort wieder verschwunden ist. Empathie
ist langsam, die funktioniert nicht so schnell. Aber vielleicht entwickeln gerade diese
Jugendlichen etwas ganz anderes, eine neue Fähigkeit, für die wir gar kein richtiges
Wort haben, die aber ihrer Umwelt viel besser entspricht. Ich nenne das das mobile
dynamische Bewusstsein.
Caspary:
In Ihrem Buch schreiben Sie von Donald Trump. Warum? Hat er zuviel Empathie
oder zu wenig? Warum haben Sie ihn in Ihrem Buch aufgenommen?
Breithaupt:
Ich würde ihn nicht als jemanden bezeichnen, der zuviel Empathie hat. Aber er
scheint durchaus mit Empathie zu regieren. Er hat das Foto gesehen von dem
Gasangriff in Syrien im April 2017, und er hat daraufhin spontan mit einem
Bombenabwurf auf Syrien reagiert. Das war eine empathische Reaktion. Er sieht
durch den Gasangriff schrecklich verbrannte Kinder, ist wütend, aufgebracht und tut
etwas. Also er hat unkontrolliert gehandelt, er hatte keinen Plan, das war eine
empathische Reaktion. Aber mein Argument ist eigentlich ein ganz anderes: Trump
ist ein Meister der Empathie, nicht im Haben von Empathie, sondern darin, Empathie
auf sich zu ziehen. Und zwar in dem Sinne, dass Menschen sich immer wieder für
ihn entscheiden. Er polarisiert, er stellt sich gegen alle anderen, er stellt sich gegen
die Vernunft, gegen andere Politiker, gegen die Intellektuellen, gegen Europäer,
gegen die Nato, gegen Allianzen aller Art, auch gegen die Regierungsstrukturen in
Washington D.C. – einer gegen alle. Dann spitzt er die Situation noch zu, sagt blöde
Dinge. Man fragt sich, was kann er jetzt noch sagen, wie kann er sich jetzt noch
rausreden, wie kann er sich verhalten. Und dann springen Leute in seine Situation
und stellen sich vor, wenn ich jetzt in seiner Haut stecken würde, was würde ich jetzt
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wohl sagen. Mir würde nichts einfallen, und mir fällt meistens etwas ein. Aber Trump
macht uns noch etwas vor.
Caspary:
Ist das schon die halbe Miete für einen Politiker, wenn er die Empathie-Potentiale auf
sich zieht?
Breithaupt:
Das ist genau das, was wir gerade entdecken. Wir wussten das vorher in dem Maße
nicht, dass man durch Polarisierung immer auch gewinnt. Wenn man als einer gegen
alle da steht, zieht man Empathie auf sich. Das ist der Heldencharakter, der Western
im Hollywood-Film. Und das kann Trump sehr gut. Er ist ein Meister darin, Präsenz-
Effekte zu erzeugen.
Caspary:
Das heißt auch, er muss immer präsent sein. Er twittert ja auch ständig und ist in
diesem mobilen Geist, über den Sie vorhin gesprochen haben, unterwegs.
Breithaupt:
Genau. Er lässt sich auch nicht festnageln, er springt hin und her. Er ist zwar nicht
konsistent, aber er ist immer da. Und wechselt fortwährend die Themen.
Caspary:
Gibt es noch andere dunkle Seiten der Empathie, über die wir noch nicht gesprochen
haben?
Breithaupt:
Eine ganz wichtige besteht darin, dass Empathie uns entzweit. Menschen neigen
dazu, sehr schnell Partei zu ergreifen, wenn wir einen Konflikt beobachten. Wir
setzen uns sofort für die eine oder andere Seite ein. Und das ist, glaube ich,
besonders gravierend, weil wir Empathie dabei einsetzen. Wir empfinden die Gefühle
der einen Seite und wir verteufeln die andere Seite und machen sie schlecht. Das
führt dazu, dass Fronten sich verhärten. Die meisten Menschen nehmen an, dass
Empathie Konflikte beizulegen hilft: „Nun versetz dich doch mal in die andere Seite
hinein.“ Aber ich glaube, in den meisten Fällen funktioniert das genau nicht. Es kann
sogar richtig schieflaufen. In der Regel sehen wir immer nur zwei Seiten: eine gute
und eine schlechte. Und Empathie spielt dabei eine ganz große Rolle. Terroristen
sind nicht unbedingt schlechte Menschen in dem Sinne, dass sie keine Empathie
haben. Sie haben vielleicht zuviel Empathie mit ihrer Seite. Sie haben sich sehr
deutlich für ihre Seite entschieden, haben das mit Emotionen aufgeladen und
verteufeln die andere Seite.
Caspary:
Wäre es in dieser Situation möglich, die Seiten zu wechseln? Gibt es in unserem
Kopf einen Kontrollmechanismus, der uns sagt: „Das geht so nicht weiter, du stehst
auf der falschen Seite.“
Breithaupt:
Das wurde häufig gehofft. Und es ist möglich und kommt auch vor. Aber ich glaube,
der Normalfall ist es nicht. Man hat das in Nordirland in einem Versuch in Schulen
probiert. Die katholischen Schüler sollten sich in die protestantischen hineinversetzen
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und sich über Jahre hinweg die Geschichte von beiden Seiten vorstellen können.
Und umgekehrt. Die Hoffnung war, dass dadurch der Konflikt beigelegt würde. Es
sah erst mal sehr gut aus, die Jugendlichen konnten die Geschichten, auch die
Leidensgeschichten von beiden Seiten erzählen. Aber am Ende haben sie
mitgenommen, dass es immer zwei Seiten von allem gibt. Trotzdem wussten sie
ganz genau, wo ihre Seite ist. Diese Jugendlichen waren polarisierter als die
Generation vor ihnen. Man hat dieses Experiment abgeblasen.
Caspary:
Herr Breithaupt, vielen Dank für das Gespräch.
Breithaupt:
Ich danke.
*****
Buch von Fritz Breithaupt:
Die dunklen Seiten der Empathie, Suhrkamp Taschenbuch, 2017
SWR2 können Sie auch im SWR2 Webradio unter www.SWR2.de und auf Mobilgeräten in
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