SWR2 Aula - Paul Nolte : Welche soziale Spaltung? Perspektiven für eine produktive Ungleichheitsdebatte
Diskurs SWR2
P. Nolte : Produktive Ungleichheitsdebatte
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Sendung: Sonntag, 22. Februar 2015, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2015
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Zum Autor:
Paul Nolte, geb. 1963, studierte Geschichtswissenschaft und Soziologie in Düsseldorf, Bielefeld und den USA. Mehrere Jahre arbeitete er in Bielefeld und an der Harvard University, bis er sich 1999 für Neuere Geschichte habilitierte. 2001 – 2005 hatte Paul Nolte eine Professur für Geschichte an der International University Bremen inne, seit Mitte 2005 ist er Professor für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte in ihren internationalen Verflechtungen an der Freien Universität Berlin.
Bücher (Auswahl):
- Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, Verlag C.H.Beck, München 2012.
- Religion und Bürgergesellschaft. Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat?, Berlin University Press, 2. Aufl. 2010
ÜBERBLICK
Die sSoziale Ungleichheit in Deutschland ist gewachsen, die soziale Spaltung hat sich weiter verfestigt: An solche Meldungen haben wir uns allzu sehr gewöhnt und denken dabei an Einkommen und Vermögen der Superreichen im Vergleich zur Friseurin oder zum Facharbeiter. Aber die Realität ist viel komplizierter. An manchen Stellen wächst Ungleichheit, an anderen hat sie abgenommen: zum Beispiel zwischen West und Ost. Und ist die soziale Spaltung zwischen Spitzenmanagern und der großen Menge der Normalverdiener für Alltag und Lebenspraxis so entscheidend? Seit wann sitzen der Arzt und seine Putzfrau im selben Boot? Paul Nolte, Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der FU Berlin, zeigt, warum wir dem Riss in der Mitte der Gesellschaft mehr Aufmerksamkeit widmen sollten, der eine materiell bestsituierte Oberschicht von den Geringverdienern trennt, die kaum Chancen auf sozialen Aufstieg haben.
INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: "Welche soziale Spaltung? Perspektiven für eine produktive Ungleichheitsdebatte".
Die soziale Ungleichheit in Deutschland ist gewachsen, die soziale Spaltung hat sich weiter verfestigt: An solche Meldungen haben wir uns allzu sehr gewöhnt und denken dabei an Einkommen und Vermögen der Superreichen im Vergleich zur Friseurin oder zum Facharbeiter. Aber die Realität ist viel komplizierter. Paul Nolte, Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der FU Berlin, zeigt, warum wir dem Riss in der Mitte der Gesellschaft mehr Aufmerksamkeit widmen sollten, der eine materiell bestsituierte Oberschicht von den Geringverdienern trennt, die kaum Chancen auf sozialen Aufstieg haben.
Paul Nolte:
Das Problem sozialer Ungleichheit, lange Zeit verdrängt oder vergessen, ist mit Macht ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Kein Wunder: Seit langem schon mehren sich die Anzeichen, dass westliche Gesellschaften, was ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse betrifft, nicht mehr wie in den Nachkriegsjahrzehnten enger zusammenrücken, sondern auseinanderdriften. Was in den 80er-Jahren in den USA und Großbritannien begann, setzt sich, wenn auch langsamer, inzwischen in Deutschland fort. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 hat erst recht sehr grundsätzliche Fragen an das kapitalistische Wirtschaftssystem aufgeworfen: Hat der Kapitalismus sich von der Demokratie entkoppelt; schnürt die Finanzmacht der Volksherrschaft gar die Luft ab? Und führt der Kapitalismus geradezu natur-notwendig zu einer Vermehrung der Kapitalvermögen, während die Löhne und Gehälter der Beschäftigten stagnieren müssen?
Thomas Pikettys Buch über das „Kapital im 21. Jahrhundert“ hat diese Debatte in den letzten Monaten befeuert und bei vielen einen Eindruck verstärkt, den vor Jahren schon die „Occupy“-Bewegung auf eine einprägsame Formel brachte: Da ist das „eine Prozent“ der Reichen, die immer reicher werden (und die zudem die Fäden der Macht in den Händen halten); und hier sind die „99 Prozent“, also im Grunde: wir alle außer einer ganz schmalen Elite der Milliardäre, Topmanager und Spitzenbanker, der Konzernherren und der globalen Manager mit ihren Jahreseinkommen und Zusatzleistungen im zweistelligen Millionenbereich. Ein Riss geht demnach durch die Gesellschaft, aber nicht durch ihre Mitte, sondern viel weiter oben, als eine unüberbrückbare Kluft zwischen den Normalbürgern und den Superreichen. Tatsächlich sind deren Einkommen und Vermögen stark angestiegen und haben sich häufig von allen einigermaßen nachvollziehbaren Maßstäben entfernt, was wiederum als Gerechtigkeitsproblem diskutiert wird. Die Armen und die Mittelschicht sind nicht absolut ärmer geworden (jedenfalls nicht in der Bundesrepublik), wohl aber relativ, im Verhältnis zu den davon geeilten Spitzen.
Stellt man sich die Gesellschaft mit ihren sozialen Lagen als ein Haus mit verschiedenen Stockwerken vor, dann repräsentieren die „Reichen“, die im Fokus der Kritik stehen, weniger die oberste Etage als vielmehr die Dachantenne, die ganz schmal ist, aber immer höher in den Himmel aufragt. Die Aufmerksamkeit für die Antenne ist so groß, dass wir uns viel zu wenig fragen, was eigentlich in den verschiedenen Stockwerken los ist. Die Rede von den „99 Prozent“ kann sogar den Eindruck erwecken, als handele es sich bei dem Gebäude um einen Bungalow, in dem das gesamte Volk in einheitlichen Verhältnissen und mit gleichen Lebenschancen einträchtig zusammenlebt. Aber wie realitätsnah ist eine solche Vorstellung, in der Hartz-IV-Empfänger und akademische Spitzenverdiener den Schulterschluss gegen „die Reichen“ üben? Vielleicht sagt das mehr über die Ängste in der Mitte der Gesellschaft als über die tatsächlichen Unterschiede von Lebenslagen und Chancen. Soziale Ungleichheit ist zurück – aber fokussieren wir das Problem richtig? Soziale Spaltung ist eine brennende Frage der Gegenwart – aber von welcher sozialen Spaltung reden wir eigentlich? Macht es sich die bessere Hälfte der Gesellschaft nicht sehr bequem, wenn sie mit dem Finger auf die Anderen zeigt, die noch mehr haben, statt ihre eigenen Privilegien wahrzunehmen? Siehe da, der Bungalow hat auch einen Keller.
So fühlen sich oft weniger die wirklich Armen, die am unteren Rand von Einkommen und Chancen Stehenden von den in die Höhe geschossenen Spitzeneinkommen, den Managergehältern und den Bankerboni herausgefordert, sondern die relativ gut situierten Angehörigen der Mittelschicht. Mit der wachsenden Ungleichheit ist der vermeintlich drohende soziale Abstieg der Mittelschichten zu einem viel diskutierten Thema geworden. In der Realität findet man das allerdings kaum bestätigt, auch wenn Zeitungsreportagen die Abstiegsthese immer wieder mit fraglos existierenden Einzelfällen belegen. Der Ingenieur oder der selbständige Handwerksmeister, der in „Hartz IV“ landet, sind aber große Ausnahmen. Richtig ist, dass die große historische Expansionsphase der Mittelschicht zu Ende ist, die ein Merkmal der Prosperitätsjahrzehnte der Nachkriegszeit war. Immerhin hat Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung in dieser Hinsicht ein ganzes Stück aufgeholt, auch wenn der Weg von der „arbeiterlichen Gesellschaft“, als die der Soziologe Wolfgang Engler die DDR beschrieben hat, zur westlichen Mittelschichtgesellschaft weit und noch nicht abgeschlossen ist.
Im Westen dagegen wächst die Mittelschicht nicht mehr, sondern hat bei einem Umfang von etwa 50 Prozent der Bevölkerung, je nach Definition, eine Art Plateau erreicht. Das aber bedeutet im Lauf der Jahre und vor allem im generationellen Übergang einen verschärften Wettbewerb um soziale Positionen. Wenn alle Mittelschichteltern ihre Kinder gut im Leben unterbringen wollen, bleibt für soziale Aufsteiger aus Arbeiter- oder Migrantenfamilien weniger Platz. Und umgekehrt spüren die Mittelschichtfamilien, dass ihre Söhne und Töchter noch mehr leisten müssen, wenn sie Beruf, Einkommen und Status der Eltern übernehmen wollen, was deshalb nicht selten erst in einer späteren Lebensphase gelingt. Gleichwohl: Manchem anderen Anschein zum Trotz steigen die beruflichen und sozialen Chancen mit der Qualifikation, und die Arbeitslosigkeit von Akademikern ist deutlich niedriger als die von Geringqualifizierten.
Zudem konnte, soweit man das bisher übersehen kann, die große Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008 den Mittelschichten in Deutschland kaum etwas anhaben, weder in Beruf und Arbeitsmarkt noch „auf der hohen Kante“, auch wenn hier ein kleines Aktiendepot zwischendurch weniger wert war oder dort die Ausschüttung der Kapital-Lebensversicherung geringer sein wird als geplant. Es gibt genug andere, die weder ein Aktiendepot noch eine Lebensversicherung haben und auch keine selbstgenutzte Immobilie. In anderen europäischen Ländern, vor allem in Südeuropa, sind Teile der Mittelschicht dagegen tatsächlich in eine prekäre Lage geraten: Angehörige des öffentlichen Dienstes in Griechenland oder junge Akademiker in Spanien. Auch in den USA, wo sich gerne bis zu 80 Prozent der Bevölkerung zur „middle class“ rechnen, ist die Lage heikler, wenn die Hausfinanzierung geplatzt ist oder der Verlust des Arbeitsplatzes nicht sozialstaatlich so gut abgepuffert ist wie vielerorts in Europa. Alles in allem gilt: Die Stärke der deutschen Mittelschicht wird häufig unterschätzt, nicht zuletzt von ihr selber, aber alles in allem steht sie wie ein Fels in der Brandung ökonomischer Turbulenzen.
Die Vorstellung von einer dramatischen sozialen Polarisierung führt also in die Irre. Wenn die Reichen reicher werden, müssen die Ärmeren deshalb nicht ärmer werden – und vor allem lagen alle Prognosen falsch, die in der Geschichte des Kapitalismus, seit Karl Marx, ein Hinabsinken der Mittelschichten in das Proletariat – heute würde man vielleicht eher Prekariat sagen – prophezeit haben. Welchen Zusammenhang es zwischen wachsenden Vermögen und Managergehältern einerseits, den stagnierenden Realeinkommen in großen Teilen der Arbeitnehmerschaft, einschließlich gut verdienender Mittelschichten, andererseits gibt, ist umstritten. Haben die Reichen das Geld auf ihren Konten gelagert, in ihre Villen und Segelyachten gesteckt, das der Normalfamilie im Portmonee fehlt? Ein einfaches System kommunizierender Röhren – hier steigt an, was dort im selben Umfang fällt – ist das jedenfalls nicht, und das Gesamtvermögen einer Gesellschaft ist kein „Nullsummenspiel“. Martin Winterkorn, der Vorstandsvorsitzende von Volkswagen, stand wegen seiner extrem hohen Vergütung in den letzten Jahren besonders häufig im Fokus der Kritik. Aber die Beschäftigten bei VW genießen zugleich überdurchschnittlich hohe Löhne, geringe Arbeitszeiten und gute Sozialleistungen. Niedriglöhne in Servicebranchen, für Wachpersonal oder für Friseurinnen, haben die Chefs der entsprechenden Firmen kaum reich gemacht, schon gar nicht die Friseurmeisterin mit zwei Angestellten. Und umgekehrt ist durchaus unklar, welchen Effekt eine höhere Besteuerung von Spitzeneinkommen, von Vermögen oder von Erbschaften für den Wohlstand breiterer Schichten haben kann.
Überhaupt ist es erstaunlich, wie stark sich die Ungleichheitsdebatte, gerade in Deutschland, auf die materielle Verteilung, auf die „nackten Zahlen“ von Einkommen und Vermögen reduziert. Gewiss ist es ganz schön wichtig, wieviel Geld jeden Monat aufs Konto kommt, woher es stammt und was man dafür tun muss. Aber erstaunlich ist diese Fixierung, weil wir sehr gut wissen, dass soziale Ungleichheit sich nicht nur darin ausdrückt; dass Geld den sozialen Status und die Lebenschancen von Menschen zwar gehörig beeinflusst, aber nicht determiniert. Vor etwa zehn Jahren waren wir in den Debatten schon einmal weiter. Lasst uns in der Sozialpolitik nicht nur versorgen und Geld ausschütten, sondern Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg, zur Teilhabe schaffen: an guter Arbeit, an Bildung, am sozialen und politischen Leben, gewiss auch an Freizeit und Konsum. Dieser Impuls zur „Teilhabegerechtigkeit“, der ein durchaus sozialdemokratisches Grundmotiv war, ist in letzter Zeit wieder etwas in Vergessenheit geraten. Dabei hat sich an Diagnose und Aufgaben kaum etwas geändert: Langzeitarbeitslosigkeit hat viel mit fehlendem Schulabschluss oder nicht abgeschlossener Ausbildung zu tun. Frauen wollen keine „Herdprämie“ dafür, dass sie die Kinder zuhause hüten, sondern bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Ohnehin übersetzt sich „Geld“ nicht unmittelbar in eine bestimmte, privilegierte Lebensführung. Neben dem ökonomischen Kapital gibt es das „soziale“ und das „kulturelle Kapital“. Die Währung ist dabei nicht Geld, sondern zum Beispiel Bildung und sprachliche Kompetenzen; oder die Integration in soziale Netzwerke von Familie, Freunden, Vereinen, die den Einzelnen abstützen und ihn vor sozialem Abstieg schützen. Gewiss, noch so viele Freunde oder ein Abitur vom altsprachlichen Gymnasium füllen nicht automatisch den Kühlschrank. Aber sie können eine Art Sicherheitsnetz bilden. Und Kinder, die in einem vergleichsweise armen Haushalt aufwachsen, in dem viele Bücher gelesen und soziale Kompetenzen eingeübt werden, haben nachweislich größere Chancen in ihrem späteren Leben. Man muss genau hinschauen, wie sich sozialökonomische Lagen und konkrete Alltagspraktiken des Zusammen- oder eben des Auseinanderlebens zueinander verhalten.
Wohnen und wiederum Bildung sind dafür zwei der wichtigsten Indikatoren. Ziehen sich die Besserverdienenden in eigene Wohnviertel, gar in abgeschlossene „gated communities“ zurück, vor denen ein Wachmann postiert ist und das schöne Leben der Privilegierten mit Swimming-Pool und Tennisplatz schützt? Oder leben verschiedene Berufe und Einkommensschichten halbwegs gemischt nebeneinander, begegnen sich auf der Straße, kaufen in denselben Geschäften ein, schicken ihre Kinder in dieselben Schulen? Privatschulen bzw. Schulen, die nicht in staatlicher Trägerschaft sind, erleben seit einiger Zeit einen Boom in vielen Teilen Deutschlands, der sich aus einem Interesse der gehobenen, bürgerlichen Mittelschichten speist, ihren Kindern das entscheidende Quäntchen mehr mit auf den Lebensweg zu geben – sei es in Form einer zusätzlichen Fremdsprache oder bilingualen Unterrichts, sei es, vielleicht eher unbewusst, in der Vermeidung allzu vieler Migrantenkinder in der Klasse. Da muss man aufpassen. Aber insgesamt gibt es im deutschen Bildungssystem, verglichen mit anderen westlichen Ländern wie England, Frankreich oder den USA, weiterhin nur moderate Tendenzen zur elitären Verselbständigung von Institutionen und Karrierewegen.
Und natürlich finden wir bürgerliche Wohnviertel, oft in den Westlagen der Städte, und davon entfernt die früheren Arbeiterviertel oder auch die Wohnblocks der 70er-Jahre, in denen der Anteil von Migranten, Arbeitslosen, Alleinerziehenden oder armen Rentnerinnen besonders hoch ist. An diesem Gefüge hat sich in den letzten drei, vier Jahrzehnten insgesamt wenig verändert. Vergleichsweise ist die soziale Integration des Wohnens in Deutschland sogar besonders groß, weil aus historischen Gründen sowohl Innenstädte als auch Randbezirke für „Oben“ und „Unten“ attraktiv geblieben sind. In den USA dagegen ein anderes Bild: Die Armen, oft zugleich die Schwarzen und die Hispanics, konzentrieren sich in den Innenstädten, die weiße Mittelklasse und Oberschicht ist in die „Suburbs“ geflüchtet. – Oder genau umgekehrt in vielen west- und südeuropäischen Ländern, besonders in Frankreich: Das Bürgertum bewohnt die Stadtzentren; in den tristen Wohnblocks der „banlieue“, weit weg und schlecht angebunden, leben die Arbeiter, Sozialhilfeempfänger und Migranten. Solche alltäglichen Lebensformen der Integration oder Separation sagen mehr über soziale Ungleichheit aus als ein Millioneneinkommen oder Milliardenvermögen.
Auch in anderer Hinsicht zeigt sich, dass Einkommen und Vermögen nicht die einzigen Dimensionen sozialer Ungleichheit sind, oder dass sie jedenfalls auf ihren Effekt in unterschiedlichen konkreten Lebenssituationen überprüft werden müssen. So verlor etwa der Stadt-Land-Unterschied in der „alten“ Bundesrepublik zunehmend seine historische Bedeutung: Man lebte auf dem Land, sei es in der Lüneburger Heide oder in Niederbayern, nicht mehr schlechter als in den großen Städten, seit ein Autobahnanschluss in der Nähe war und sich ein Gymnasium, ein Schwimmbad, ein Einkaufszentrum mindestens in der nächsten Kreisstadt fanden. In jüngster Zeit jedoch nehmen solche regionalen Disparitäten wieder zu, und es gibt Anzeichen, dass sich dieser Trend in der Zukunft verstärken wird. Im Osten Deutschlands ist das besonders deutlich: Die Jüngeren und die gut Gebildeten haben die ländlichen Räume verlassen; zurück bleiben die Älteren und die Ärmeren, mitsamt einer ausgedünnten Infrastruktur: weite Wege zum Einkauf, zum Arzt oder gar zum Krankenhaus, zu kulturellen Angeboten. Die Großstädte haben einen jahrzehntelangen Trend gedreht und wachsen wieder: Berlin ebenso wie Hamburg, München, Köln und Frankfurt. Von einer Stadt-Land-Spaltung zu reden wäre übertrieben, aber wer in der Stadt wohnt, führt im 21. Jahrhundert ein besseres, chancenreicheres Leben.
Einkommen werden meist dem Verdiener, also in der Regel dem Arbeitnehmer oder der Arbeitnehmerin zugeordnet. Aber oft, besonders in Familien mit Kindern, müssen davon mehrere Menschen leben. Was also ist, zum Beispiel, ein monatliches Nettoeinkommen von 3.000 Euro wert? Wer in Deutschland als Single so viel verdient, gehört bereits zum einkommensstärksten Zehntel der Bevölkerung. Eine vierköpfige Familie mit zwei Kindern dagegen ist mit 3.000 Euro zwar beileibe nicht arm, muss aber schon sehr genau rechnen und kann keine „großen Sprünge machen“. Kaum etwas beeinflusst die soziale Lage so wie das Verhältnis von Einkommen und Familiensituation; und vor allem deshalb lässt sich „Geld“ nicht unmittelbar in „Lebensstandard“ übertragen. Den Facharbeiter mit zwei Kindern, dessen Ehefrau nicht erwerbstätig ist, trennen insofern Welten von dem kinderlosen Arbeitskollegen, dessen Partnerin als Büroangestellte noch einmal genauso viel nach Hause bringt. Das kann (und will) auch der Sozialstaat durch Steuerklassen, Kindergeld und andere Ausgleichsmechanismen nur zum Teil korrigieren. Man könnte also sagen: Kinder machen das Leben reicher, aber gerade nicht im ökonomischen Sinne, in dem vielmehr Kinderlosigkeit „reicher“ macht. Zugleich geht ein starker Effekt, egal ob mit Kindern oder ohne, von der Ressourcenbündelung in Lebenspartnerschaften aus. Hier gilt: Wer sich dauerhaft bindet (und zusammenzieht), kann den eigenen Lebensstandard erhöhen, also gewissermaßen sozial aufsteigen. Am schlechtesten in diesem komplizierten Spiel von Lebensformen und materiellen Ressourcen stehen sich Alleinerziehende, und das sind ganz überwiegend Frauen.
Man könnte fortfahren und noch vieles sagen zur Ungleichheit der Geschlechter, die einerseits längst geläufig ist und kein Spezialthema von Feministinnen mehr, andererseits immer noch ganz schnell wieder unter den Tisch fällt, wenn von „der“ sozialen Ungleichheit, „der“ sozialen Spaltung im Lande die Rede ist. Die Marxisten nannten das früher den „Hauptwiderspruch“, nämlich den Gegensatz der sozialen Klassen, gegenüber dem die Geschlechterfrage nur „Nebenwiderspruch“ war. Irgendwie sind wir bei einer trivialisierten, natürlich ideologisch ganz weichgespülten Variante der marxistischen Sichtweise angekommen. Reich und Arm, Oben und Unten – in anderen Kategorien kommt soziale Ungleichheit in unserer Wahrnehmung, in unseren öffentlichen Debatten oft gar nicht mehr vor. Wiederum scheint es so, als pflegten die Deutschen, die in vergleichsweise egalitärer Gesellschaft leben, dieses Bild sogar besonders stark. Das liegt wohl weniger daran, dass sie Landsleute von Karl Marx und Friedrich Engels sind. Der Grund ist eher, und paradoxerweise, dass die deutsche Gesellschaft, trotz zunehmender
Zuwanderung, trotz „Multikulturalität“ und manchen Differenzen zwischen „Wessis“ und „Ossis“, in kultureller Hinsicht ziemlich homogen ist.
In England und in Italien sind die regionalen Disparitäten zwischen Nord und Süd viel schärfer; Frankreich trennt sich nicht nur politisch in ein bürgerliches und ein sozialistisches Lager und hat darüber hinaus seine Zuwanderer aus Afrika, obwohl sie fast durchweg französische Staatsbürger sind, so an den Rand gedrängt, dass Premierminister Valls im Gefolge der islamistischen Terroranschläge eine „territoriale, soziale, ethnische Apartheid“ im Lande kritisiert hat. Mit allem Recht wird dieses Problem unser Nachbarland mehr beschäftigen als die Einkommen und Vermögen weniger Superreicher. In den USA wird ohnehin ein größeres Maß an sozialökonomischer, an materieller Ungleichheit hingenommen, ja für selbstverständlich und positiv gehalten. Über soziale Ungerechtigkeit empört man sich dort nicht wie in Deutschland, wenn die Einkommensschere auseinandergeht, sondern wenn Polizisten die Bürger nach ihrer Hautfarbe sortieren, wenn junge schwarze Männer unter Generalverdacht stehen und den Nachkommen der Sklaven die Bürgerrechte wieder streitig gemacht werden sollen. Ohne die Situation von Migranten zu beschönigen, ohne alten oder neuen Rassismus unter den Teppich zu kehren: Solche kulturellen und ethnischen Konflikte sind in Deutschland viel milder ausgeprägt, und umso mehr kaprizieren wir uns auf die Unterschiede in der Geldbörse. Aber kritischer könnte man auch sagen: Unser Selbstbild einer „deutschen Gesellschaft“ blendet die kulturellen und ethnischen Unterschiede einfach aus, als gäbe es nur eine weiße, abstammungsdeutsche Nation, in der beklagenswerterweise wenige reich und viele arm seien.
Also ist alles so kompliziert, dass man lieber überhaupt keine allgemeinen Aussagen über soziale Ungleichheit treffen sollte? Löst sich alles in den Einzelfällen von individuellen Biographien oder Familiensituationen auf? Ist unsere Gesellschaft ein bunter Blumenstrauß, so dass Spannungslinien zwischen „Oben“ und „Unten“ gar nicht mehr sinnvoll identifiziert werden können? Nein – das ist natürlich nicht so. Bei allen Zerklüftungen, Grautönen und Übergangszonen lassen sich sehr wohl Unterschiede zwischen mehr und weniger Privilegierten erkennen, zwischen sozialen Schichten und Klassen. Eine solche Spannungslinie prägt unsere Gesellschaft besonders markant und einflussreich und wirkt oft als eine sichtbare oder unsichtbare Grenze. Das ist nicht der gewachsene Abstand einer sehr kleinen Gruppe absoluter Spitzenverdiener, von Einkommensmillionären oder Besitzern großer Vermögen, aus deren Zinserträgen sich ein luxuriöses Leben gestalten lässt. Darauf zu verweisen ist übrigens sehr bequem, weil man sich dann der Zustimmung aller sofort gewiss sein kann, sich selber als Opfer und Minderbemittelter fühlt und lästige Fragen nach der eigenen Verstrickung ins Ungleichheitssystem, nicht zuletzt nach den eigenen Privilegien, vermeidet. Denn die deutlichste und folgenreichste geht mitten durch unsere Gesellschaft hindurch. Sie trennt die gut situierten, gut gebildeten Mittelschichten von den Arbeiter- und Unterschichten, die Gut- und Besserverdiener von den Geringverdienern, den prekär Beschäftigten und den Transferempfängern. Sie trennt also immer noch, um es einmal konkret zu sagen, den Arzt von der Altenpflegerin, den Gymnasiallehrer vom Schulhausmeister, den IT-Ingenieur vom Malergesellen. Erst recht gilt das, und verstärkt sich oft sehr wirkungsvoll, wenn man nicht auf einzelne berufliche Positionen und Einkommen, sondern auf Konstellationen von Paaren und Familien blickt: Dann steht das Studienratsehepaar mit zwei höheren Einkommen, dazu noch in doppelt verbeamteter Position, dem Malergesellen gegenüber, dessen Frau halbtags als Friseurin arbeitet oder im Minijob an der Supermarktkasse aushilft. Oder der alleinerziehenden Krankenschwester.
Diese Grenze hat sehr wenig mit jener zwischen „Kapital“ und „Arbeit“ zu tun, auf die sich in den letzten Jahren viel, manchmal allzu viel öffentliche Aufmerksamkeit gerichtet hat. Denn von ihrer Erwerbsarbeit leben alle in den gerade genannten Beispielen; in der Regel sind sie sogar als Arbeitnehmer „abhängig beschäftigt“, sei es in der Privatwirtschaft oder im Öffentlichen Dienst, also nicht selbstständig tätig. Wir leben nun mal in einer Erwerbsarbeits- und Arbeitnehmergesellschaft – deshalb wäre es aber unsinnig, die Bedeutung dieser formalen Kategorie zu überschätzen und so zu tun, als habe man damit eine prinzipielle Einheit von Lebenslagen und Interessen vor sich. Der IT-Ingenieur und die Lehrerin, erst recht die Professorin und der Arzt können ein ganz anderes Leben führen als der Möbelpacker und die Minijobberin – ja, es wäre geradezu obszön, sie in derselben sozialen Kategorie zu führen, weil ihre Einkommen, verglichen mit denen von DAX-Vorständen, ja doch wieder näher zusammenliegen. In Lebensführung und Lebenschancen steht zumal die gehobene akademische Mittelschicht viel näher an den vermeintlich so weit entfernten Spitzen der Gesellschaft, als sie sich selber klarzumachen bereit ist. Denn auf eine Yacht mehr oder weniger kommt es nicht an. Entscheidend ist die materielle Möglichkeit ebenso wie die kulturelle Fähigkeit, sein Leben in großzügiger Freiheit zu disponieren, in einem hohen Maße von Eigenverantwortung zu arbeiten, den Kindern eine privilegierte Bildung zu ermöglichen und dabei eine erhebliche Sicherheit der Zukunftsplanung zu besitzen.
Diese Scheidelinie unserer Gesellschaft lässt sich, von „Kapital und Arbeit“ mal abgesehen, nicht so leicht durch eine bestimmte Einkommensziffer festlegen. Denn sie ist ganz wesentlich durch „weichere“ Faktoren geprägt, die in der Arbeitssituation liegen und vor allem in den Bildungsvoraussetzungen. Mit der Ausdehnung der gymnasialen Bildung und des Abiturs, das längst nicht mehr das Privileg einer kleinen Elite ist, bezeichnet die Gymnasiums- bzw. Abiturgrenze ziemlich deutlich die Unterscheidung zwischen der privilegierten und der weniger privilegierten Gesellschaft. Und weiterhin sollte man, auch nach dem Ende der klassischen industriellen Produktionsära, die Trennung zwischen Handarbeit und Büroschreibtisch nicht unterschätzen. Sicher gibt es gut verdienende Facharbeiter, bei Bosch oder Daimler oder VW, die mühelos einen mittelständischen Lebensstandard erreichen – und umgekehrt ein Heer von Büroangestellten in den niedrigsten Tarifstufen, die sich nicht nach ihrem Einkommen, sondern nur nach ihrer Arbeitssituation den Handarbeitern überlegen fühlen können. Aber mehr als man denkt, prägen die Art der Tätigkeit und der Arbeitsplatz die soziale Position bzw. sind mit ihr auf das Engste verknüpft. Das wiederum hat Konsequenzen für die Gesundheit und damit für die Lebenserwartung. Rückenprobleme vom langen Sitzen hin oder her: Wer am Schreibtisch arbeitet statt an der Werkbank oder auf der Straße, ist weniger Risiken ausgesetzt, lebt im Durchschnitt gesünder und auch länger.
Erst recht gelten diese Privilegien für eine soziale Schicht, die man in den USA als „upper middle class“ bezeichnet: eine obere Mittelschicht also, die sich gegenüber dem reichen Unternehmer oder dem vielzitierten Hedgefondsmanager wie arme Proletarier vorkommen mag, in Wirklichkeit jedoch ein besonders bequem ausgestattetes Leben an der Spitze der Gesellschaft führt. Diese Schicht, zu der viele Selbstständige, Freiberufler wie Anwälte und Ärzte, aber auch beamtete Akademiker in Spitzenpositionen gehören, entspricht etwa dem einkommensstärksten Zehntel der Bevölkerung und verfügt damit im Haushalt über ein monatliches Bruttoeinkommen von etwa 10.000 Euro. Hausbesitz und vielleicht eine Ferienwohnung in den Bergen oder an der See, hart arbeiten, aber auch viel reisen, große Aufmerksamkeit für die (am besten internationale) Bildungskarriere der Kinder, das sind einige ihrer typischen Merkmale. Sie selber fühlen sich als ganz normale Mittelschicht, und in der Tat: Gerade in Deutschland hat sich diese „upper middle class“ in ihrer alltäglichen Lebensführung nicht so stark wie in anderen Ländern vom Hauptstrom der Gesellschaft abgekoppelt – wie gesagt: keine „gated communities“, kein englisches Oxford, keine französische Elitehochschule. Aber um Eliten mindestens in einem weiteren Sinne handelt es sich doch, auch wenn manche Elitenforscher, die nur auf unmittelbare ökonomische Macht, auf Kapitalvermögen und Kapitaleinfluss schauen, sie gerne übersehen. Übrigens gehört zu dieser oberen Mittelschicht auch ein großer Teil der Meinungseliten, der Intellektuellen, der Kritiker der Superreichen und des Kapitalismus. Denn auch hier gilt: Reich sind immer erst die anderen, die unverschämterweise noch mehr haben als man selber.
Wenn die soziale Spaltung, die wichtigste und entscheidende Trennlinie in unserer Gesellschaft, gar nicht da verläuft, wo sie in den letzten Jahren zumeist vermutet wurde, und wenn diese Spaltung nicht nur einen Unterschied der Lebenschancen markiert, sondern sich zu einer schwer zu übersteigenden Kluft verfestigt: Dann müssen auch politische Ziele und Handlungsstrategien anders formuliert werden. Man kann Spitzeneinkommen und Vermögen schärfer besteuern – Frankreich hat das vorgemacht und muss feststellen, dass damit keinem arbeitslosen Jugendlichen aus einer Migrantenfamilien in den tristen Vorstadtwohnblocks geholfen ist, denn die Grenze der „Apartheid“, vor der Premierminister Valls warnt, verläuft eben nicht zwischen der Mittelschicht und den Superreichen. Man kann auf den Kapitalismus einschlagen, ihn für gescheitert erklären – aber so lange es allen real erprobten Alternativen viel weniger gut gelungen ist, Massenwohlstand und Freiheit miteinander zu verbinden, klingt das hohl. Wichtiger, als die Reichen oder den Kapitalismus vom Thron zu stoßen, müsste etwas anderes sein. Drei Ziele könnte man ungefähr so formulieren:
Zusammenfassung
SWR2 Aula - Paul Nolte : Welche soziale Spaltung?Perspektiven für eine produktive Ungleichheitsdebatte
Sendung: Sonntag, 22. Februar 2015, 8.30 Uhr
1 Erstens, die Sicherung eines auskömmlichen, materiell gut gesicherten, in die Zukunft einigermaßen planbaren Lebens. Von seinem Lohn muss man gut leben können.
2 Zweitens, die Chance auf Mobilität, auf Veränderung, auf Karrierewege. Wer mit dem Hauptschulabschluss abgegangen ist, darf nicht das ganze Leben lang an eine Decke stoßen.
3 Drittens, Teilhabe und Inklusion: Dafür ist wiederum Bildung zentral, aber auch, soweit das im Rahmen des politisch Gestaltbaren liegt, die Offenheit von Lebenswelten statt ihrer Abschottung in sozial segmentierte Bezirke. Menschen aus unterschiedlichen Schichten müssen sich begegnen – und nicht nur dann, wenn der eine dem andern die Haare schneidet oder das Auto repariert, sondern in Schulen, Vereinen, im sozialen und politischen Engagement.
Quintessenz
Deshalb ist gute Ungleichheitspolitik viel mehr als Steuerpolitik, wahrscheinlich sogar in erster Linie etwas anderes. Sie ist Bildungspolitik der Offenheit und der nachdrücklichen Förderung von Bildung für Schwächere. Sie ist Arbeitsmarktpolitik, zum Beispiel gegen Minijob-Karrieren, die sich, vor allem bei Frauen, zum Dauerzustand verfestigen und in die Sackgasse führen. Sie ist kluge Politik der Alterssicherung, um zu vermeiden, dass die Kluft der erwerbstätigen Gesellschaft sich im Ruhestand noch vergrößert, wie das heute teilweise schon der Fall ist, wenn die Mittelschichten ihre Immobilie abbezahlt haben und ihre Lebensversicherung ausbezahlt bekommen. Mobilitätspolitik – das wird ein großes Thema der Zukunft in den westlichen Ländern, wie die Rassen- und Kulturkonflikte der letzten Monate in den USA und in Frankreich gezeigt haben. Auch in Deutschland ist es an der Zeit, die unproduktive, schrecklich bequeme Debatte über die Superreichen und ihren wachsenden Abstand vom vermeintlichen „Rest der Gesellschaft“ ein ganzes Stück tiefer zu hängen. Denn der gefährlichere Riss geht mitten durch den „Rest der Gesellschaft“, durch die „99 Prozent“ hindurch.
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