Woher weht der Zeitgeist . Was bleibt von der "Postmoderne"? Von Hans-Joachim Lenger
SWR2 Wissen: Aula :Woher weht der Zeitgeist . Was bleibt von der "Postmoderne"? Von Hans-Joachim Lenger
 Autor und Sprecher: Professor Hans-Joachim Lenger *
 Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
 Sendung: Sonntag, 2. Mai 2010, 8.30 Uhr, SWR 2
 Bitte beachten Sie:
 Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
 Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
 Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
 ÜBERBLICK
 Vor kurzem noch war das Schlagwort der "Postmoderne" in aller Munde: Architektur, Kunst, Literatur und Philosophie schienen in eine neue Epoche eingetreten zu sein, modische Begriffe eines "anything goes" machten die Runde. Das Spielerische und Verspielte hatte Konjunktur, eine aller Realität enthobene Leichtigkeit sollte den Zeitgeist färben. Heute aber, in Zeiten der Krise, ist es, als schlüge die Gesellschaft auf harte Realitäten auf. Ist vom jüngsten Zeitgeist mehr geblieben als die Erinnerung an einen "Tanz auf dem Vulkan"? Oder nahm dieser Zeitgeist vorweg, was heute die Szene beherrscht: der ungedeckte Wechsel, die Luftbuchung, die Verschuldung ohne Sicherheiten? Was also bleibt von der "Postmoderne"? Professor Hans-Joachim Lenger, Philosoph und Medientheoretiker, gibt Antworten.
 * Zum Autor:
 Prof. Dr. Hans-Joachim Lenger lehrt Philosophie an der Hochschule für Bildende
 Künste in Hamburg. Homepage von Hans-Joachim Lenger: www.hjlenger.de.
 Bücher (Auswahl):
- Zeichnen. (zus. mit Katrin Sahner und Ludwig Seyfarth. März 2009. Textem.
 - Mnema. Derrida zum Anfassen. Zus. mit Georg Chr. Tholen. Oktober 2007.
 Transcript.
 ___________________________________________________________________
 SWR2 AULA vom 02.05.2010
 Woher weht der Zeitgeist – Was bleibt von der Postmoderne?
 Von Professor Hans-Joachim Lenger
 INHALT
 Ansage:
 Mit dem Thema: „Dem Zeitgeist auf der Spur - Was bleibt eigentlich von der
 Postmoderne?“
Ja, da war doch mal was, da wurde doch vor drei Jahrzehnten eine neue Epoche
 ausgerufen, mit neuen Theorien, neuen Konzepten – man sprach von der
 Postmoderne, also von der Moderne nach der Moderne, man sprach von Spiel, von
 einer neuen Beliebigkeit, vom „anything goes“, von einem neuen Ästhetizismus, man
 sprach vollmundig auch vom Ende der Geschichte. Und viele Intellektuelle fühlten
 sich plötzlich sehr postmodern gestimmt.
 Und heute? Heute scheint die Postmoderne beerdigt worden zu sein, und das hat vor
 allem auch mit neuen ökonomischen Zwängen zu tun, die mit der spielerischen
 Leichtigkeit der Postmoderne kaum zu vereinbaren sind. Warum das so ist, erklärt
 der Philosoph Professor Hans-Joachim Lenger:
 Hans-Joachim Lenger:
 Nicht zufällig machte in diesen Jahren auch eine erschreckende Parole die Runde
 und rief die Gelehrten auf den Plan: die vom „Ende der Geschichte“. Es habe einmal
 eine Geschichte gegeben, so besagte sie, doch nunmehr gebe es keine mehr. Der
 Strom der Zeit sei versiegt, nichts Neues mehr zu erwarten, ein Abschluss erreicht.
 Was immer die Menschheit an kulturellen Formen und Zeichen habe hervorbringen
 können, sei nunmehr hervorgebracht. Jetzt, im Augenblick einer Erschöpfung der
 Geschichte, bleibe nur noch, diese Formen und Zeichen unendlich miteinander zu
 kombinieren, sie in unerwarteten und überraschenden Konstellationen wiederkehren
 zu lassen und zu wiederholen.
 In Bauten einer sogenannten „postmodernen Architektur“ etwa wurde das dann in
 Stein, Zement und Beton gegossen. Unversehens verbanden sich da Stilmerkmale
 des Barock mit denen des Klassizismus, wurde das Bauhaus mit Figuren des
 Surrealismus durchsetzt, hatte das antike Rom seinen Auftritt in Geschäftsvierteln
 oder an Bankgebäuden. All diese Elemente waren schließlich frei verfügbar, konnten
 aus der Tradition abgelöst, aus ihr herausgebrochen und in neue Zusammenhänge
 versetzt werden – spielerisch, ironisch und gebrochen. Was nämlich hätte als
 übergreifendes Formprinzip noch Geltung beanspruchen können? Der Wille zum Stil
 selbst schien erschöpft zu sein. Stattdessen wurden das Zitat und die Montage
 ihrerseits zum Stilmerkmal. Im freien Spiel der Kombinationen und Variationen sollte
 von einer Ära Abschied genommen werden, in der die Form noch der Funktion
 gefolgt war. Tatsächlich schienen die Zeichen nicht mehr an den Dingen, an den
 Funktionen und Wirklichkeiten zu haften. Sie bezeichneten nichts mehr außer sich
 selbst. Sie hatten sich vom Realen gelöst und waren in ein freies, unreglementiertes
 Spiel eingetreten. Und fragte man den Zeitgeist deshalb nach seiner eigenen Parole,
 so fasste er sich in einem stehenden Satz zusammen: „Anything goes – Alles geht.“
Diese Formel stammte zwar von dem Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend
 und hatte bei ihm einen präzisen Platz gehabt: in einer anarchistischen
 Erkenntnistheorie, mit der Feyerabend den wissenschaftlichen Positivismus
 nachhaltig provoziert hatte. Doch weil es ja generell möglich sein sollte, Zitate
 beliebig aus den Zusammenhängen herauszubrechen, ging es dem „Anything goes“
nicht anders. „Postmodern“, das schien sich unter der Parole des „Alles geht“ zu
 versammeln – dem völlig Beliebigen also. Und wo sich die einen deshalb darüber
 empörten, dass diese vollendete Beliebigkeit jeden Realitätssinn und jede
 Verantwortung aufgegeben habe, da feierten die anderen das als Eintritt in ein neues
 Reich der Freiheit. Denn tatsächlich, was sollte gegen eine Welt der Beliebigkeit
 einzuwenden sein? Gegen eine Ordnung, in der jeder alles tun und lassen könne,
 ganz nach Belieben, weil er mit keiner Reglementierung mehr zu rechnen habe?
 Und doch – weit liegen diese Zeiten mittlerweile zurück, wenn es sich auch nur um
 wenige Jahre handelt; so weit, dass sich ihrer kaum mehr jemand erinnern kann. Zu
 hart hat sich das Reale seither Geltung verschafft, zu elementar sind die Kulturen
 des Westens darauf gestoßen worden, wie wenig sich dem Realen entgehen lässt.
 Nicht „alles“ nämlich geht, sondern immer weniger, spätestens seitdem Finanzkrisen
 mit kaum gedämpfter Wucht zuschlagen. Öffentliche und private Verarmung ist kein
 freies Spiel von Zeichen, sondern spürbare Wirklichkeit; Arbeitslosigkeit ein
 Schicksal, das die eigenen Möglichkeiten elementar beschneidet; und die Kriege, die
 geführt werden, sind von ebenso brutaler Wirklichkeit wie jene, die in Vorbereitung
 sind. Auffallend jedenfalls ist, wie sehr der modische Begriff der „Postmoderne“
selbst aus der Mode gekommen ist, seitdem die Diktatur vermeintlicher Sachzwänge
 das „freie Spiel der Zeichen“ einzufrieren scheint. Nicht dieses Spiel, sondern
 Verteilungskämpfe stehen mittlerweile auf der Tagesordnung; nicht die vielfache
 Kombinationsmöglichkeit von Lebensstilen und Perspektiven, sondern der soziale,
 ökonomische und politische Ausschluss; nicht die freie Verfügbarkeit eskalierender
 Zeichen, sondern die drohende Staatspleite, die den Bürgern immer höhere Kosten
 abverlangt und hart in ihre Lebenswirklichkeit einschneidet.
 Was also bleibt von der „Postmoderne“? War sie mehr als ein Modewort, ein
 Maskenspiel des Zeitgeistes, ein Intermezzo oder ein kopfloser Tanz auf dem
 Vulkan? War sie vielleicht so etwas wie eine Orgie, die einen am nächsten Tag mit
 einem Kater aufwachen lässt? Oder war sie nicht viel eher ein Symptom, in dem sich
 bereits abzeichnete, was mittlerweile gesellschaftliche Wirklichkeit wurde?
 Symptome immerhin wollen sorgfältig analysiert werden. Sie zu übersehen hieße,
 den Blick von Realitäten abzuwenden, es an diagnostischer Kraft fehlen zu lassen.
 Selbst wenn die „postmoderne Episode“ also nicht mehr als ein kulturalistisches
 Gekräusel an den Oberflächen gewesen sein sollte, ein bloßes Epiphänomen der
 Lebensstile und Attitüden, der Manierismen und Moden, so bliebe zu fragen, was sie
 uns über die gegenwärtigen Zustände zu sagen hat. Dann wäre zu diskutieren,
 welche Prozesse sich gleichsam unterhalb ihrer abgespielt haben – und weshalb
 diese Prozesse in den Attitüden der „Postmoderne“ ihren Ausdruck hatten finden
 können.
 Unbestreitbar jedenfalls ist, dass die gegenwärtigen Krisen der finanzkapitalistischen
 Systeme nicht über Nacht hereinbrachen. Seit Jahrzehnten häufen deren
 Staatsapparate wachsende Schulden an, verdanken sie ihre relative Stabilität dem
 Kredit. Die Gegenwart kann nur sein, was sie ist, weil sie die Zukunft dazu zwingt, für
 sie zu bürgen. Erkennbar gehorcht dies jedoch einer tiefgreifenden Manipulation der
 Zeit. Die Zukunft wird zur Geisel der Gegenwart. In gewisser Hinsicht hört sie damit
 ebenso auf, offener Horizont einer „Zukunft“ oder „sie selbst“ zu sein. Stattdessen
 wird sie zu einer bad bank, zu einer Deponie, in die „giftige Finanzpapiere“
abgeschoben werden wie Nuklearabfall in ein atomares Endlager.
 Längst nämlich mag niemand mehr daran glauben, dass sich diese Bürgschaft
 tatsächlich einlösen lässt. Und damit nimmt dieses Geld „imaginären Status“ an. Der
 Eintritt in diese trügerische Ordnung der Finanzen lässt sich recht gut datieren. Zu
 Beginn der 70er Jahre hob die amerikanische Regierung die Golddeckung des
 Dollars auf. Dem Dollar wurde der Gegenwert entzogen, mit dem die USA für ihn
 einstanden, für seinen Wert bürgten: das weltweite Finanzsystem, auf das sich die
 Industriestaaten nach dem 2. Weltkrieg geeinigt hatten, zerbrach. Es war dies der
 Zeitpunkt, als referenzlos gewordene, frei flottierende Geldkapitalien den Globus zu
 überschwemmen begannen. Das Geld hört sprunghaft auf, reale Werte anzuzeigen;
 immer weniger bezieht es sich seither noch auf eine reale Referenz. Zusehends
 bezieht es sich auf sich selbst als Zeichen und wird insofern „struktural“.
Der französische Soziologe und Philosoph Jean Baudrillard, angeblicher „Kronzeuge
 der Postmoderne“, hat dies den Übergang zum frei flottierenden Zeichen genannt.
„Von allen Zwecksetzungen und Affekten der Produktion gereinigt“, schrieb er 1976,
„wird das Geld Spekulationsgeld. Auf dem Weg vom Goldstandard (...) zu den
 flottierenden Kapitalien und zum allgemeinen Flottieren überhaupt geht das Geld
 vom Referenzzeichen zu seiner strukturalen Form über.“ (ST, 41) Es wird zum
 Zeichen, das sich auf Zeichen bezieht. Gewiss, mit dem Wort von der „Postmoderne“
wusste Baudrillard umso weniger anzufangen. Danach befragt, antwortete er, das
 einzig „Postmoderne“ sei das Wort „Postmoderne“ selbst. Wie überhaupt keiner der
 Denker, den der Zeitgeist der Feuilletons und Magazine dann als „postmodern“
rubrizieren wollte, diesem Terminus irgendein Gewicht beimaß. Michel Foucault etwa
 erkundigte sich, was dieses Wort denn besagen wolle; er sei nicht auf dem
 laufenden. Jacques Derrida wies die Vorstellung vehement zurück, es könne ein
 solches „Post-“, ein solches „Nach der Moderne“ überhaupt geben, und machte sich
 über entsprechende Wortverbindungen lustig: über den sogenannten Post-
Marxismus etwa, den Post-Feminismus oder den Post-Strukturalismus. Und Jean-
François Lyotard, der den Terminus der Postmoderne als einziger ausdrücklich
 eingeführt hatte, zog ihn zurück, als er bemerkte, welche Verwirrung er damit
 angerichtet hatte.
 Dennoch konnte nichts diese „Postmoderne“ davor bewahren, zum Signum einer
 flüchtigen Ära zu werden. Zwar blieb sie zumeist Stimmung und Affekt; im Habitus
 der Coolness teilte sie sich den Künsten mit, den Literaturen, der Musik, dem Design,
 den Moden, dem Interieur der Bars und Cafés. In den bildenden Künsten etwa löste
 sich auf, was bis dahin „Avantgarde“ genannt werden konnte. Das entsprach
 durchaus dem Geist der Zeiten. Wo mit der Produktion des Realen auch die
 Geschichte als Realität zerfallen zu sein schien, machte eine „Avant-Garde“, eine
„Vorhut“ also, keinen Sinn mehr. Sie zerstreute sich in kleine Partikel, ohne sich noch
 um Fragen zu sammeln, die zu kunsthistorischen Großbegriffen getaugt hätten.
 Impressionismus, Expressionismus oder Surrealismus, Pop-Art oder Informel waren
 in diesem Sinn Kunsthaltungen gewesen, in denen sich eine jüngere Moderne die
 Frage ihrer eigenen Zukunft noch hatte vorlegen wollen. Was bis in die 70er Jahre
 nachwirkte: diese Geschichte künstlerischer Haltungen, diese Disziplin ihrer Fragen,
 zerfiel spätestens in den 80ern. Historische Zitate ersetzten die Frage des Neuen.
 Junge Künstler begannen etwa wieder zu malen, inszenierten den Anachronismus
 künstlerischer Techniken als reißende Neuigkeit. Damit ließ sich für einige Jahre als
 Künstler ebenso schnelles Geld verdienen wie als Yuppie an der Börse; dem
 Publikum immerhin wurde geboten, wonach es verlangte. Der Geniekult etwa
 begann sich selbst zu zitieren, bezog sich aus den Klischees einer Vergangenheit,
 der die Zukunft abhanden gekommen war und Vergangenheit deshalb nicht war.
 Malerfürsten hatten plötzlich ihren Auftritt in öffentlichen Magazinen und
 Fernsehsendungen. Begriffe der „Simulation“, von Jean Baudrillard eingeführt,
 fehlten in keinem Kunstkatalog, in keinem Aufsatz über Ästhetik oder Design. Doch
 im gleichen Maß, in dem sich die Gegenwart als Simulation einer Vergangenheit
 ohne Zukunft darstellte, offenbarte sie auch ihre ambivalenten, nicht zuletzt
 restaurativen Momente.
 Nie war der Terminus der „Postmoderne“ von solchen Ambivalenzen nämlich frei
 gewesen; ebenso wenig war er eine originäre Erfindung der 70er oder 80er Jahre.
 Vielmehr hat er selbst eine Geschichte. Seit Ende des 19. Jahrhunderts tritt er immer
 wieder – oft unter Berufung auf Nietzsche – unter kulturpessimistischen Vorzeichen
 auf. Immer neu zeigt sich in ihm das Unbehagen in einer Moderne an, die sich als
 eine unablässige Zertrümmerung ihrer eigenen Grundlagen erfährt. Aus einer
 Verabschiedung Gottes hervorgegangen, die einst im Namen der Vernunft erfolgt
 war, wird diese Moderne beständig auch an dieser Vernunft irre – handle es sich nun
 um die menschliche Vernunft oder eine der Geschichte. „Postmodern“ ist insofern
 und im Grunde nicht einmal das Versprechen, man könne „nach“ der Moderne in
 eine neue geschichtliche Ära eintreten. „Postmodern“ ist viel eher der Zweifel, in dem
 diese Moderne beständig ihre eigenen Voraussetzungen in Frage stellt;
„postmodern“ ist bereits die Bewegungsform der Moderne selbst. Und dies macht
 den Terminus einer „Post-Moderne“ zugleich hinfällig, suggeriert er doch beharrlich,
 es könne ein „Jenseits“ dieser Moderne geben.
 Ebenso beharrlich aber kehrt dieser Terminus wieder, wann immer diese Moderne
 neuen Erschütterungen ihrer eigenen Grundlagen ausgesetzt ist. Dann treten die
 Vergangenheiten in abgelegten Masken wieder auf – im Malerfürsten oder im Genie,
 im verspielten Narzissmus der Zitate oder in den infantilen Orgien einer
„Spaßgesellschaft“, die eine Regression dann auch popkulturell in Szene setzte. Für
 einen winzigen Auenblick zeigte sich das Leben wie von einem Taumel erfasst, der
 nur seine eigene Leichtigkeit feierte. Bis in die Kulturen des Pop, des Films, des
 Fernsehens hinein schien das „freie Flottieren der Zeichen“ das Öffentliche erfasst zu
 haben. Ebenso teilte es sich den individuellen Lebensstilen mit, den Kulturen der
 Fitness und Wellness, dem freien Spiel mit Zeichen der sexuellen Differenz, die sich
 ebenso sampeln lasse wie der Sound am Computer. Der Yuppie wurde dieser Kultur
 zur Ikone.
 Denn wenn die Welt aus Zeichen modellierbar geworden sein sollte, wenn diese
 Zeichen außerdem frei konvertierbar waren, dann schien die Welt zum Projekt
 individuellen Selbstdesigns zu werden. In den digitalen Spielzeugen der
 Datenverarbeitung, dem Computer etwa, hatten die neuesten technologischen
 Revolutionen mittlerweile auch die Lebenswelten erreicht. Die 70er Jahre nämlich
 hatten nicht nur eröffnet, was man seither die neue Ära des Finanzkapitalismus
 nennt, in der sich das Geld von seinen Bezügen zu einer ökonomischen Realität
 sprunghaft abzukoppeln begann. Forciert wurde der Prozess durch eine
 technologische Innovation – den Computer. Er leitete Revolutionen ein, die alle
 gesellschaftlichen Bereiche erfassten und tiefgreifend veränderten: die Ökonomien
 und die Medien, die Politik und die Kriegsführung, das Soziale und die Kultur, die
 Wahrnehmungsweisen und Denkformen, die Künste und Philosophien. Die Welt
 schien zusehends im Strom der Daten zu verschwinden. Sie schien zum Schatten zu
 werden, der von digitalen Informationssystemen geworfen wurde. Tatsächlich kommt
 diese technologische Entwicklung einer tiefgreifenden Zertrümmerung gleich, in der
 die Moderne begriffen ist und die bis heute nicht abgeschlossen ist.
 Ende der 70er Jahre wurde der französische Philosoph Jean-François Lyotard von
 der kanadischen Regierung beauftragt, einen Bericht vorzulegen, der Auskunft
 geben sollte über den Status des Wissens in den Gesellschaften der Gegenwart.
 Dieser Bericht erschien unter dem folgenreichen Titel „Das postmoderne Wissen“.
Folgenreich – denn mit Lyotards Schrift hatte der Terminus der „Postmoderne“ eine
 Form gefunden, die für die weitere Auseinandersetzung verbindlich blieb bis heute.
 Nicht von ungefähr eröffnete Lyotard seine berühmte Untersuchung mit einem
 Hinweis auf die Kommunikation und die Kybernetik, die Informatik und den
 Computer. Die Folgen der informationstechnologischen Transformationen für das
 Wissen und die Kulturen, so argumentierte er, seien ebenso einschneidend wie
 weitreichend: so tiefgreifend, dass dem Terminus der Moderne der einer
„Postmoderne“ entgegengesetzt werden müsse. Was immer nämlich unter den
 Bedingungen neuer digitaler Wissenstechnologien gesagt werden kann, müsse sich
 deren Bedingungen unterworfen haben. Und dies verändere die Situation
 tiefgreifend. Hatte sich die Moderne im Zeichen einer Schriftkultur entwickelt, in einer
 Ordnung des Buches, die mit Begriffen einer „Bildung“ einherging, so zerfällt sie mit
 dem Einbruch der neuen Informationstechnologien in ein informatisiertes
„Datenbankwissen“.
Damit nicht genug, zertrümmert diese Entwicklung, was Lyotard die „großen
 Erzählungen“ nannte. Die große Erzählung des deutschen Idealismus etwa zielte auf
 den vernunftbegabten Menschen; dessen Inbegriff bestand darin, von seiner
 Vernunft Gebrauch zu machen, sich diese Vernunft anzueignen und so selbst zum
 Vernunftwesen zu werden. Die große Erzählung des Marxismus und der
 emanzipatorischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts bestand darin, den
 Prozess der Befreiung als geschichtlichen zu begreifen; an dessen Ende scheine
 eine endlich vernünftig gewordene Welt auf. Diese „großen Erzählungen“ bürgten
 nicht nur für den Sinn im Ganzen; sie erlaubten es ebenso, den einzelnen
 Wissensformen eine Bedeutung, einen Stellenwert zuzuweisen. Im Zeitalter der
 großen Systemphilosophien ließen sich die Naturwissenschaften ebenso in den
 Begriff eines „absoluten Geistes“ aufheben wie die Künste oder Religionen. Und die
 emanzipatorischen Bewegungen konnten alles Wissen, alles Handeln und alle
 Technik dem Ziel der großen Befreiung unterordnen, von dem die „große Erzählung“
der Revolution sprach.
 Unter den Bedingungen der „Postmoderne“ jedoch, so Lyotard, seien diese „großen
 Erzählungen“ zerfallen. Nicht nur explodiert das Wissen täglich in einem Ausmaß,
 das jede Möglichkeit einer Aneignung übersteigt; zugleich spezialisiert und
 fragmentarisiert es sich in einer Weise, die sich jeder Vereinheitlichung sperrt. Nicht
 anders steht es mit dem Marxismus und den emanzipatorischen Bewegungen. Ihr
 Scheitern ist nicht auf den einen oder anderen Fehler, auf Irrtümer und Verbrechen
 zurückzuführen. Die Möglichkeit der großen geschichtlichen Erzählung selbst ist
 zerbrochen, in der sich diese Bewegungen begründen wollten. Und mit ihr zerfiel der
 Horizont, in dem die Moderne sich ihrer selbst bis ins 20. Jahrhundert hinein zu
 versichern suchte.
 Insofern geht dieser Zerfall aber zugleich mit tiefgreifenden Legitimationsproblemen
 einher. Denn er kommt der Unmöglichkeit oder dem Scheitern von
 Letztbegründungen gleich. Ohne Fundamente, ohne in einer großen Erzählung
 aufgehoben zu sein, zerfallen die vielen Spielarten des Wissens in eine Vielzahl von
„Sprachspielen“, die einander unübersetzbar sind und deshalb die Möglichkeit eines
 Verstehens selbst in Frage stellen. „Postmodern“ Im Sinne Lyotards sollte dieses
 Zerbrechen, diese Partikularisierung sein. Und tatsächlich würde ein solcher Zerfall
 vor weitreichende Probleme stellen. Systeme, in denen solche Unübersetzbarkeiten
 Platz greifen, weisen hohe Instabilitäten auf. In sich vielfach gebrochen, sind sie
 selbst überaus zerbrechlich. Stets könnten sie etwa versucht sein, ihre fehlende
 Legitimation durch offene Gewalt zu ersetzen: in Fundamentalismen der Religion
 oder der Sicherheit, in Formen des Terrors oder des Krieges. Und sind die Kulturen
 mittlerweile nicht in dieses Stadium eingetreten? Finden sie sich nicht in tiefen
 Zerrissenheiten wieder? Und kehrt ihr Widerstreit nicht auf allen Ebenen wieder:
 ökonomisch, politisch oder militärisch, ohne dass es Begriffe gäbe, die ihm
 gewachsen wären?
 Was aber bleibt dann von der sogenannten „Postmoderne“? War sie mehr oder
 anderes als eine kurzfristige Mode, ein infantiler Lebensstil, ein beliebiges Spiel der
 Zeichen? Ging sie über das unschuldige Hantieren mit Zitaten, einen ermüdeten
 Gestus der Beliebigkeit hinaus? Folgt man ihren Figuren, so sind ihre Ästhetizismen
 allerdings nur ein Gekräusel an den Oberflächen geblieben, ein Ausweichen, eine
 Ausflucht oder vielfache Signatur einer Verdrängung. Man wollte sich der Abgründe
 entledigen, die sich im Innern der sogenannt „postmodernen“ Frage ankündigten.
 Man wollte sich, kurz gesagt, entlasten. Tatsächlich nämlich stünde eine Kultur, in
 der das Geld zu einer imaginären Größe wurde, das Wissen
 informationstechnologisch quantifiziert wird, vor gewaltigen Aufgaben. Und diese
 Aufgaben müssten sich ebenso in den Politiken, den Kulturen, den Künsten und den
 Philosophien Ausdruck verschaffen. Die vielen Formen der Erschöpfung jedoch, die
 seither um sich gegriffen haben, legen Zeugnis davon ab, wie wenig die Gegenwart
 dem gewachsen ist. Beredt sprechen davon die Zustände der Apathie und der
 Depression, in der sich diese Gegenwart wiederfindet. In ihnen gesteht sie sich ein,
 dass sie ihrer selbst kaum schon innewurde – oder gar innewerden kann. Als einen
„Postmodernismus der Erschlaffung“ bezeichnete Lyotard diese Affektlage.
 Das Unbehagen in der Moderne nämlich ist ein Charakteristikum dieser Moderne
 selbst. Umso sinnloser aber ist der Terminus einer „Postmoderne“, der dieser
 Moderne den Eintritt in eine neue Ordnung verheißt. Er könnte vielmehr seinerseits
 bloßes Moment der Verdrängung gewesen sein. Wie der Neurotiker seine Konflikte
 in Attitüden verschiebt, um sich zu entlasten, könnte auch die Moderne immer neu
 von Neurosen gequält sein, die sie in Figuren einer wiederkehrenden „Postmoderne“
auslebt. Eine Einsicht befördert dies jedoch ebenso wenig wie eine Lösung der
 Konflikte. Insofern blieb auch die „Postmoderne“ nicht mehr als ein Symptom, das
 allerdings symptomatologisch gelesen werden will.
 Angeblich soll sie sich in den Künsten, den Architekturen, den Literaturen und
 Philosophien zugetragen haben. Aber der Zerfall der künstlerischen Avantgarden
 mündete mittlerweile in eine neue Salonkunst; in den Architekturen hinterließ die
„Postmoderne“ kaum Entwürfe, die mittelfristig noch Aufmerksamkeit beanspruchen
 werden; in den Literaturen wurde sie zum Streitfall, bei dem neulich erst darüber zu
 entscheiden war, ob es sich bei Passagen im Werk einer jungen Autorin um
 postmoderne Inter-Textualität handelte – oder um ein schlichtes Plagiat. Und was die
 sogenannten „postmodernen Philosophen“ anging, so hätten sie nur gelesen werden
 müssen, um verstehen zu lassen, dass es mit der „Postmoderne“ nichts ist.
 Nicht umsonst und zu Recht bleibt von dieser „Postmoderne“ deshalb auch nichts,
 was der Rede wert wäre. In ihren wechselnden Masken wiederholte sich lediglich die
 Erfahrung, die stets schon die Moderne war: dass sie mit sich nicht identisch ist,
 sondern aus einem tiefen Widerstreit hervorgeht, in den sie mit sich selbst begriffen
 ist und der sie ihre eigenen Strukturen beständig neu zertrümmern lässt. Nicht um
 den Entwurf eines „Nach der Moderne“ gehe es, deshalb so Lyotard, als er den
 Terminus der „Postmoderne“ zurückzog. Die Aufgabe bestehe in einer Redaktion der
 Moderne. Diese „Redaktion“ müsste die Voraussetzungen freilegen, aus denen sie
 selbst hervorging. Sie hätte ihren eigenen Text, die Systeme ihrer
 Selbstverständigungen und begrifflichen Architekturen auf das hin zu befragen, was
 in ihnen zwar gesagt wurde, doch nicht zur Sprache kam. Es gäbe dann gar keinen
„privilegierten Moment“, von dem sich sagen ließe, er markiere den Übergang von
 einer „Moderne“ zu einer „Postmoderne“. Jeder Augenblick wäre vielmehr der einer
 solchen Teilung, an der sich Gesagtes und Ungesagtes voneinander abspalten. Und
 was man „Geschichte“ nennt, würde sich als ein Sagen herausstellen, das sich wie
 im Kommandoton über ein Schweigen gesenkt hat.
 Im Horizont dieser Erfahrung jedoch steht deshalb nicht so sehr das „freie Spiel der
 Zeichen“, sondern die Frage der Gerechtigkeit. Zumindest ist sie, wie Jacques
 Derrida erklärt, die letzte, nicht weiter hintergehbare Instanz aller „Dekonstruktion“.
Denn keine übergeordnete Instanz erlaubt mehr, die klaffenden Differenzen in
 Begriffen zu schlichten. Doch damit wird die Frage, was gerecht wäre, nicht nur
 unabweisbar, sondern zur alles enscheidenden. Und auf ihr zu bestehen, zum
 zentralen Problem einer Welt, die in Zerrissenheiten zu zerfallen scheint.
 Nicht mehr und nicht weniger bleibt von dem, was sich im Zerrbild der „Postmoderne“
angekündigt hatte. Und längst sind die Konflikte offen zutage getreten, die sich in ihr
 ebenso ankündigten wie verbargen, als deren Anzeichen wie Maske sie herhielt. Die
 offene Krise der Finanzmärkte, die zerstörerische Gewalt frei flottierenden Geldes,
 die sich seit geraumer Zeit entlädt, vernichtet keineswegs nur imaginäre Werte. Der
 Taumel spekulativen Kapitals aber demonstriert weniger, dass sich die Zeichen vom
 Realen abgelöst hätten und in ein „freies Flottieren“ eingetreten wären. Ganz im
 Gegenteil beweisen sie, mit welcher Gewalt sie Realitäten besetzt halten, um sie
 ihrerseits in diesen Taumel hineinzuziehen. Längst sucht er nicht mehr nur die
 Ökonomien und Systeme des Reichtums heim. Er erfasst die Währungen und
 Staaten, die Arbeitswelten, das öffentliche Leben wie das der Einzelnen. Ebenso
 wenig eröffnen digitale Medien, die telematischen Verbundschaltungen der
 Informations- und Kommunikationssysteme eine schöne neue Welt des
 Selbstdesigns und autonomen Lebens. Längst haben sie das Leben einem
 lückenlosen Zugriff ausgesetzt, einer allgegenwärtigen Adressierbarkeit und
 Verfügbarkeit, die ein geschmeidiges Regime der Kontrolle über ihm errichtete.
 Dies hatte den coolen Tanz auf dem Vulkan vor Jahren schon abrupt beendet; doch
 nicht, ohne die Physiognomie der Beteiligten nachhaltig verändert zu haben. Seither
 gibt es die Propheten und Marktschreier, die Trendforscher und Stichwortgeber,
 deren Durchhalteparolen zum Soundtrack der schönen neuen Welt wurden; oder die
 Melancholiker, die Abschied nicht nehmen können und nicht einmal zur Trauer mehr
 finden; die Studentinnen und Studenten, die ebenso unberührt wie indifferent
 Hausarbeiten verfassen, als ginge es bloß um interessante Varianten von Theorie
 und Ästhetik oder von Lebensstilen.
 Der neueste Kapitalismus trat im Verlauf der 70er Jahre in einen neuen Zyklus ein.
 Freies Flottieren der Währungen und freies Flottieren der Zeichen lösten Schübe
 aus, die seither viele Gestalten annahmen und viele Masken. Eine davon war die
„Postmoderne“, das Spiel der Simulakren, Attitüden und Moden.
 Mittlerweile wurden die Masken in der Requisitenkammer abgelegt, damit sich zu
 erkennen gebe, womit man es zu tun hat.
 *****