SWR2 Wissen: Aula - Wilhelm Schmid:: Übertriebene Selbstliebe . Der neue Narzissmus
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Narzissmus - Übertriebene Selbstliebe
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SWR2 Wissen: Aula - Wilhelm Schmid:: Übertriebene Selbstliebe . Der neue Narzissmus
Sendung: Sonntag, 25. Februar 2018, 8.30 UhrRedaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2018
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VORBEMERKUNG
Ich, ich, ich – ein neuer Ich-Kult hat sich scheinbar ungebremst in der Gesellschaft ausgebreitet. Woher kommt dieser Narzissmus? Und wie können wir ihn stoppen?
Krankhafte Selbstliebe . Wie man den Narzissmus überwinden kann
Wie man den Narzissmus überwinden kann . Narzissmus führt zu Aggression und Selbsthass
Narzissmus ist die Folge eines aufgeblasenen Ich-Kults, der in unserer Gesellschaft Züge einer Epidemie angenommen hat. Überall begegnen einem aufgeblasene, von sich selbst überzeugte und bornierte Menschen. Wie man diesen falschen Weg verlassen kann, erläutert Lebenskunst-Philosoph Wilhelm Schmid in seinem Essay.
AUTOR
Wilhelm Schmid, geb. 1953, zählt zu den wichtigsten Vertretern einer deutschen Lebenskunstphilosophie.
Prof. Wilhelm Schmid
In seinen zahlreichen Büchern über Liebe, Freundschaft, Seelsorge, Gelassenheit und Glück baut er immer wieder Brücken zwischen Theorie und Praxis und zeigt, wie man mithilfe philosophischer Konzepte ein gelingendes Leben führen kann.
Bücher (Auswahl):
- Selbstfreundschaft – Wie das Leben leichter wird. Insel-Verlag, 2018.
- Vom Glück der Freundschaft. Insel-Verlag, 4. Aufl. 2016.
- Gelassenheit – Was wir gewinnen, wenn wir älter werden. Insel-Verlag, 22. Aufl. 2016.
ÜBERBLICK
"Zerstörerische Ausmaße nimmt der Narzissmus bei jungen Menschen an, die ihr Ich mit Gewalt durchzusetzen bereit sind, sowie bei alternden Präsidenten, die Staaten als Fortsetzung ihrer Ichs mit anderen Mitteln verstehen.
Die übersteigerte Selbstliebe ist ein Irrweg, gleichermaßen kräftezehrend für das Ich, das ein Idealbild seiner selbst realisieren will, wie für Andere, die davon betroffen sind. Der übermäßig Selbstliebende ist auf bewundernde Andere angewiesen, zusätzlich will er bei jeder Gelegenheit die Vollkommenheit seiner selbst im Spiegel sehen, in den er wie einst Narziss am Rande einer spiegelnden Wasserfläche gerne blickt. Da kein Spiegelbild reale Mängel beseitigen kann, unterliegt er ständig der Gefahr, enttäuscht von sich zu sein." (Wilhelm Schmid)
Übertriebene Selbstliebe
Der Ausweg: Die Selbstfreundschaft
"Die Selbstfreundschaft steht für eine Pflege des Selbst, durch die das Leben leichter wird, da sie einem Menschen ermöglicht, besser mit sich umzugehen und damit umgänglicher auch für Andere zu werden.
Die freundliche Beziehung zu sich stellt die Basis der Gelassenheit dar und begründet ein Selbstvertrauen, das von Dauer sein kann. Bei der Selbstfreundschaft verzichtet das Selbst, ähnlich wie bei der Freundschaft mit Anderen, auf eine Idealisierung und ist zu einer realistischen Einschätzung seiner selbst in der Lage." (Wilhelm Schmid)
Der Weg zur Selbstfreundschaft
kann man leichter gehen, wenn man sich eine Integrität aufbauen kann, die einem hilft, sich selbst und anderen wieder nahezukommen.
Einige Regeln sind dabei zu beachten:
•1. Frage Dich: Welche Beziehungen der Liebe, der Freundschaft und Verwandtschaft sind Dir so wichtig, dass Du sie als Teil Deines Selbst betrachten willst? Nur, wer in einem Netz von Beziehungen lebt, verfügt über ein soziales Immunsystem, mit dessen Hilfe sich Stress und übertriebener Ich-Kult abschütteln lassen.
•2. Definiere für Dich genau: Was ist mein Traum, dem ich im Leben folgen will, mein Weg, den ich gehen will? Menschen brauchen Ziele und Zwecke, für die zu leben ihnen sinnvoll erscheint.
•3. Frage Dich: Welche Werte halte ich für wertvoll, welche sollen Vorrang haben, wenn ich mich entscheiden muss, etwa zwischen Freiheit und Bindung? Viele beklagen, die Gesellschaft habe keine Werte mehr, aber es könnte sein, dass zu viele Menschen in ihr keine mehr haben.
•4. Definiere Gewohnheiten: Welche will ich sorgsam pflegen, um mich wohnlich in ihnen einrichten zu können? Natürlich ist es wichtig, offen für Neues zu sein, aber Gewohnheiten erleichtern das Leben, da sie im Unterschied zu Neuem keine Kraft kosten.
•5. Frage Dich: Was ist schön? Wo finde ich es? Das Schöne ist das Bejahenswerte, das eine unverzichtbare Ressource darstellt, um mit Ängsten, Verletzungen und Traumata zurechtzukommen.
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ANSAGE
Am Mikrofon Ralf Caspary.
Mit dem Thema: "Übertriebene Selbstliebe – Der neue Narzissmus".
Narzissmus ist die Folge eines aufgeblasenen Ich-Kults, der in unserer Gesellschaft Züge einer Epidemie angenommen hat. Überall begegnen einem aufgeblasene, von sich selbst überzeugte und bornierte Menschen. Wie man diesen falschen Weg verlassen kann, erläutert Lebenskunst-Philosoph Wilhelm Schmid in seinem Essay.
INHALT
Wilhelm Schmid:
Es war eine Entdeckung, die mich packte und nicht mehr losließ. Die Sätze in diesem Buch elektrisierten mich: Zur Sorge für sich selbst leite die Philosophie an, um mit Überlegung den eigenen Weg zu gehen, sich bei großer Unruhe in sich zurückzuziehen, dann wieder Anderen zuzuwenden, nicht zu hadern mit dem, was geschieht, sondern es zu lieben und den eigenen Fähigkeiten entsprechend tätig zu sein, nicht länger über das Wesen des guten Menschen zu diskutieren, sondern ein solcher zu sein und auf diese Weise „das schönste Leben zu führen“.
Die Sätze halfen mir, Halt zu finden in meinem Leben, das ich bis dahin eher durchirrt hatte, romantisch, idealistisch, introvertiert, melancholisch. Ich hatte nicht so recht gewusst, wohin mit mir, und immer wieder waren hoffnungsvolle Beziehungen
zerbrochen. Das Buch wies mir den Weg: Beginne erst einmal bei dir selbst, dies ist dein Leben, mache etwas daraus, woran du dich erfreuen kannst und womit du Andere erfreust. Dabei waren sie doch ziemlich alt, diese „Wege zu sich selbst“, Ta eis heauton, die Selbstbetrachtungen des Stoikers Marc Aurel aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., die mir glücklicherweise in die Hände fielen.
Dann war es wie so häufig: Was ich für meine individuelle Entdeckung hielt, entdeckten auch Andere, auf ihre je eigene Art. Zwei, drei Jahrzehnte später war die Hinwendung zum Selbst zu einer großen Bewegung angewachsen, immer mehr Menschen schlossen sich ihr an. Erst allmählich wurde klar, dass daraus nicht etwa die erhoffte maßvolle Selbstkultur hervorging, sondern dass viele zu einem maßlosen Selbstkult hin drifteten. Das Projekt einer Stärkung des Selbst lief aus dem Ruder. Da geriet etwas ins Rutschen, was nicht so gemeint war.
Wenn ich über die Gründe dafür nachdenke, komme ich zum Schluss, dass die schiefe Ebene in der immer ungehemmter propagierten „Selbstliebe“ angelegt war, die zum übertriebenen Narzissmus hin offen ist. Hinzu kam die Situation, auf die dies traf: Sinnverlust, zerbrechende Beziehungen und andere Herausforderungen der modernen Welt führen Menschen offenbar dazu, mit einer kräftigen Portion Selbstbehauptung gegenzuhalten. Abgesehen davon dürfte die Übersteigerung der Selbstbeziehung zumindest zum Teil der üblichen Bewegung der Geschichte geschuldet sein: Auf ein Extrem antwortet ein anderes. Auf die Jahrhunderte währende Geringschätzung des Selbst musste also seine Überschätzung folgen. Ebenso ist eine Reaktion auf die starke Betonung der Gesellschaft seit der Studentenbewegung von 1968 denkbar, in deren Schlepptau Menschen zu fragen begannen: „Aber ich – was ist mit mir?“ Jede Rede vom Ich wurde ins Abseits gedrängt – und dies umso mehr, je ungehinderter die Propagandisten der ichlosen Gesellschaft selbst einem eitlen Narzissmus huldigten.
Gegen ein wenig Narzissmus ist nicht viel zu sagen: Von einem Menschen, der sich selbst wenigstens ein bisschen mag, geht mehr Frieden aus als von einem Menschen, der mit sich nichts anzufangen weiß, sich womöglich hasst. Wie sonst sollten Menschen sich gerade in schwieriger Zeit orientieren, wenn nicht dadurch, dass sie sich erst einmal auf sich selbst besinnen? In Zeiten der Digitalisierung kann dies helfen, sich in den neuen Möglichkeiten nicht zu verlieren. Die Schwierigkeiten werden jedoch größer, wenn sich alles nur noch um das eigene Ich dreht, und das ist zu beobachten: Die Schlüsselqualifikation für steile Karrieren in der Wirtschaft scheint ein offen zur Schau gestellter Narzissmus wie im Popgeschäft zu sein. Zerstörerische Ausmaße nimmt er bei jungen Menschen an, die ihr Ich mit Gewalt durchzusetzen bereit sind, sowie bei alternden Präsidenten, die Staaten als Fortsetzung ihrer Ichs mit anderen Mitteln verstehen. Es hat mit dem Fehlen einer Selbstkultur zu tun, wenn irrlichternde Ichs triumphieren und unter dem Vorwand beliebiger Gründe Andere terrorisieren, ganz nach dem Motto: Liebe dich selbst und es ist egal, was du kaputt machst.
Die übersteigerte Selbstliebe ist ein Irrweg, gleichermaßen kräftezehrend für das Ich, das ein Idealbild seiner selbst realisieren will, wie für Andere, die davon betroffen sind. Nach einer Weile des Erschreckens über die Auswüchse des Narzissmus könnte die Zeit reif dafür sein, einen anderen Weg der Selbststärkung offensiver ins Spiel zu bringen. Die Selbstfreundschaft steht für eine Pflege des Selbst, durch die das Leben leichter wird, da sie einem Menschen ermöglicht, besser mit sich umzugehen und damit umgänglicher auch für Andere zu werden. Die freundliche
Beziehung zu sich stellt die Basis der Gelassenheit dar und begründet ein Selbstvertrauen, das von Dauer sein kann. Das haben auch viele im Sinn, die von Selbstliebe sprechen. Aber eine größere begriffliche Klarheit hilft, Missverständnisse zu vermeiden. Schon bei den Beziehungen zwischen zweien sind Liebe und Freundschaft nicht dasselbe, so auch bei der Beziehung zu sich selbst.
Freundschaft ist ein hohes Gut. Das gilt auch für die Freundschaft mit sich selbst, diese freie Form der Selbstbeziehung, die für Beziehungen zu Anderen weit offen bleibt, während bei übermäßiger Selbstliebe das Interesse an Anderen eng an das Eigeninteresse gebunden ist. Die Unruhe über die Form der Selbstbeziehung ist nicht neu. In der abendländischen Kultur stritten bereits Platon und Aristoteles darüber, ob die Zuneigung zum Selbst, die philautia, eine übermäßige Selbstliebe begünstige. Platon befürchtete das, aber Aristoteles sah in ihr eine Freundschaft (philia), die auf das eigene Selbst (autos) bezogen wird. In Marc Aurels Buch steht dieses Befreundetsein mit sich, philein heauton, für eine Selbstbeziehung, die auch zur Relativierung des Selbst in der Lage ist. Als die christlichen Evangelien zur Nächstenliebe aufriefen, setzten sie eine starke Selbstbeziehung voraus: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Gemeint war damit sicher kein Narzissmus, sondern eine Zuwendung zu sich, die die Zuwendung zu Anderen erst ermöglicht. Aus Angst vor Übertreibungen wurde aber bald jede Selbstbeziehung eliminiert, die Nächstenliebe fand sich damit ihrer Basis beraubt. Umso mehr musste sie gepredigt werden, ohne dass sich der erwünschte Erfolg einstellen wollte.
Selbstfreundschaft und Selbstliebe: Im wirklichen Leben sind sie selten in reiner Form zu finden, häufig in Mischformen in ein und derselben Person. Welche Form in einem Menschen überwiegt, hat mit seiner Veranlagung und dem sozialen Umfeld zu tun. Aber er muss diesem Einfluss nicht lebenslang ausgeliefert sein. Er kann selbst entscheiden, in welche Richtung er sich entwickeln will und ob er zu einer Auseinandersetzung mit sich bereit ist, um den Schwerpunkt im eigenen Selbst zu verschieben.
Unterscheidungen könnten weiterführen: Die Selbstliebe neigt zur Übertreibung, wenn das Selbst so sehr idealisiert wird wie in einer übergroßen Liebe der Andere. Die Selbstliebe kann das Selbst ebenso beengen wie eine allzu leidenschaftliche Liebe den Anderen. Bildlich ausgedrückt: Der übermäßig Selbstliebende schlingt gerne die Arme fest um sich, blickt von einer Uferbrüstung aus träumerisch über das Wasser und erdrückt sich schier mit seiner Umarmung, ohne dabei selbst froh zu werden. Bei der Selbstfreundschaft hingegen verzichtet das Selbst, ähnlich wie bei der Freundschaft mit Anderen, auf eine Idealisierung und ist zu einer realistischen Einschätzung seiner selbst in der Lage. Die Nähe erlaubt jederzeit auch eine Distanz. Allenfalls im Zustand heiterer Trunkenheit oder bei einer ernsten Lebenskrise geht der Selbstfreund Arm in Arm mit sich, um sich ganz pragmatisch zu stützen. Vor allem in turbulenten Zeiten genießt er die Rückzugsmöglichkeit auf sich als Freund, auf den Verlass ist. In freudlosen Zeiten schöpft er viel Freude aus dem vertrauten Zusammensein mit sich.
Bewunderung durch Andere ist dem Selbstfreund willkommen, sofern es Anlass dazu gibt, ein wenig davon lässt er sich auch schon selbst zuteil werden. Der übermäßig Selbstliebende hingegen ist auf bewundernde Andere angewiesen, zusätzlich will er bei jeder Gelegenheit die Vollkommenheit seiner selbst im Spiegel sehen, in den er wie einst Narziss am Rande einer spiegelnden Wasserfläche gerne blickt. Da kein Spiegelbild reale Mängel beseitigen kann, unterliegt er ständig der Gefahr,
enttäuscht von sich zu sein. Nach Vollkommenheit zu suchen heißt, Anlässe zur Verzweiflung zu finden.
Selbstfreundschaft zu gewinnen, setzt Selbstaufmerksamkeit voraus. So wie ein Mensch, der die Aufmerksamkeit Anderer entbehrt, sich von ihnen missachtet fühlt, fühlt er sich von sich selbst missachtet bei einem Mangel an Aufmerksamkeit auf sich. Die Aufmerksamkeit gilt allen Aspekten dessen, was als Selbst wahrgenommen wird und offenkundig aus vielen Teilen zusammengesetzt ist. Selbstaufmerksamkeit heißt, achtsamer wahrzunehmen, welche Kräfte im eigenen Selbst wirksam sind, welche Ängste, welcher Mut, welche Stärken, welche Schwächen, welche Wünsche, welche Möglichkeiten. Fragen stellen sich stets aufs Neue: Was ist los mit mir? Welche Stimmen melden sich in mir zu Wort? Was bedeuten sie? Was geschieht um mich herum? Was bedeutet das für mich? Wie kann ich darauf antworten?
Eine Selbstbesinnung dient dazu, mit den Antworten auf solche Fragen Sinn im eigenen Selbst zu finden, also Beziehungen zu begründen zwischen verschiedenen Seiten des Ich, zwischen Eigenheiten und Fremdheiten, Können und Nichtkönnen, Gewissheiten und Ungewissheiten, Hoffnungen und Befürchtungen, Vorlieben und Abneigungen, Gewohnheiten und Visionen. Alles zusammengenommen, bin ich wie jeder Andere ein Mensch, den es in dieser Kombination seiner Teile und mit diesen Erfahrungen, guten und schlechten, nur ein einziges Mal auf diesem Planeten und mutmaßlich im gesamten Universum gibt. Für alle Zeiten ein originelles Unikat, vielleicht ein staunenswertes Unikum, in jedem Fall ein schützenswertes Weltkulturerbe.
Sich immer wieder eingehender mit sich zu befassen, bringt ein größeres Verständnis für sich und mehr Einfühlung in das eigene Selbst, mithin Selbstempathie zustande. Auf dieser Basis wächst die Empathie auch für Andere, das Verständnis für sie und die Fähigkeit zur Einfühlung in sie. Das Verständnis für sich bedarf dabei keiner umfassenden, tiefgründigen oder gar abgründigen Selbsterkenntnis, die das Selbst mit quasi-wissenschaftlicher Objektivität durchdringen würde. Es ist wohl kaum möglich, restlos alles am Selbst zu verstehen, wie ja auch in einer Freundschaft oder Liebe nicht immer alles am Anderen zu verstehen ist. Wenn es möglich ist, das zu akzeptieren, kann das ewig vergebliche Bemühen um Selbsterkenntnis von einer wachsenden Selbstkenntnis abgelöst werden, die das Leben leichter macht, aber nie abgeschlossen ist, da immer wieder neue Kenntnisse hinzukommen.
Eine zentrale Anregung für den Weg zur Selbstfreundschaft sieht vor, dem Selbst klare Konturen zu geben. Gedanklich, rückgekoppelt mit Gefühlen, kann ein Mensch Festlegungen für sich treffen, die seine inneren Auseinandersetzungen befrieden und ihm mehr Selbstgewissheit geben. Über seine Wirklichkeit hinaus kann er sich Möglichkeiten vorstellen, die ihm erstrebenswert erscheinen. Sie können ehrgeizig ausfallen, sollten aber irgendwann realisierbar sein, um nicht allzu großen Enttäuschungen Vorschub zu leisten. Mit diesem Bild von sich muss ein Mensch nicht mehr in mysteriöse Tiefen abtauchen, um sich zu entdecken. Sollte er sich in den Irrungen und Wirrungen des Lebens verlieren, vermag er sich am Leitfaden seiner Festlegungen wiederzufinden. Und kann von Zeit zu Zeit überlegen, ob der eine oder andere Pinselstrich des Bildes einer Korrektur bedarf.
Das Ziel ist nicht, ein immer gleiches Bild seiner selbst, eine gleichbleibende Identität (von lateinisch idem, gleich), wie eine Monstranz vor sich herzutragen. Das Gleichbleiben würde erfordern, jede Veränderung und Entwicklung aus dem Leben
auszuschließen. Auch von jeder Begegnung mit Anderen wird das Gleichbleiben bedroht, daher kann das Beharren auf einer Identität Einsamkeit zur Folge haben. Die Alternative dazu ist, eine Integrität zu definieren, in die Andere und die unterschiedlichsten Aspekte des Selbst, auch Widersprüche einbezogen werden können. Integrität befördert Gemeinsamkeit, zuerst im eigenen Selbst, sodann mit Anderen, die an einem Menschen mit Ecken und Kanten, der für Veränderungen offen bleibt, gut einhaken können. In siebenfacher Hinsicht bedarf es dafür einer Definition, die nur der einzelne Mensch für sich selbst vornehmen kann.
1. Definition der wichtigsten Beziehungen im eigenen Leben: Welche Beziehungen der Liebe, der Freundschaft und Verwandtschaft sind mir so wichtig, dass ich sie als Teil meines Selbst betrachten will? Niemand außer mir kann diese Festlegung treffen, nur ich selbst kann den Menschen, die ich am meisten wertschätze, die Aufmerksamkeit zukommen lassen, die im Gegenzug ihre Zuwendung wahrscheinlicher macht. Dass es sich um mehr als einen handelt, entlastet jeden einzelnen von zu hohen Erwartungen. Dass die Selbstdefinition von vornherein Beziehungen zu Anderen im Blick hat, ergibt sich aus der Freude daran und aus der Einsicht, dass ein Leben für sich allein schwierig ist. Wer in einem Netz von Beziehungen lebt, verfügt über ein soziales Immunsystem, mit dessen Hilfe sich Stress und Ärger, die unweigerlich im Leben entstehen, leicht wieder abschütteln lassen. Ich werde angefeindet? Aber hier ist jemand, der mich mag, vielleicht liebt, was kümmert mich der Rest der Welt!
2. Definition der wichtigsten Erfahrungen im bisherigen Leben, guten und schlechten: Welche sind feste Bestandteile meiner selbst, ohne die ich nicht geworden wäre, was ich bin? Sollte ich zwischendurch im Unklaren über mich sein, kann ich mir mit einer Erinnerung daran wieder mehr Klarheit verschaffen: „Das bin ich, das hat mich geprägt.“ Für mich selbst zählt eine dreimonatige Indienreise dazu, die ich schon als Student unternahm. Es war ein Kulturschock und ich begriff ein für allemal, dass in einer anderen Kultur alles ganz anders gesehen werden kann, das Leben, das Zusammenleben, die Liebe, die Religion, die Politik, die eigene Position in der Welt, der Tod, das Danach. Seither ist für mich gewiss, dass jede Überheblichkeit gegenüber anderen Kulturen fehl am Platz ist und eine erneuerte Lebenskunst nicht nur die eigene Gesellschaft, sondern auch die Weltgesellschaft im Blick haben muss.
3. Definition des Wohin, Wofür, Wozu im persönlichen Leben: Was ist mein Traum, dem ich im Leben folgen will, meine Sehnsucht, auch mein Glaube, mein Weg, den ich gehen will, mit einem bestimmten Ziel oder auch ohne? Sobald für das Allernötigste gesorgt ist, brauchen Menschen Ziele und Zwecke, für die zu leben ihnen sinnvoll erscheint. Sie wollen wissen, wofür sie leben, arbeiten, vielleicht auch leiden, sodass sie sich sagen können: „Das, was ich mache, ist für etwas gut. Dafür bin ich da, das ist meine Aufgabe, die ich übernehme, die Pflicht, der ich nachkomme, das Werk, an dem ich arbeite, die Idee, für die ich kämpfe.“ Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein, um das eigene Leben darauf ausrichten zu können. Der Mut, Mühen auf sich zu nehmen und Schwierigkeiten zu überwinden, wird gefestigt von Zielen und Zwecken, und wo ein solcher Sinn ist, da ist auch Trost in schwieriger Zeit.
4. Definition der Werte, an denen das Verhalten orientiert werden kann: Welche halte ich für wertvoll, welche sollen Vorrang haben, wenn ich mich entscheiden muss, etwa zwischen Freiheit und Bindung, Risiko und Sicherheit, Geiz und Großzügigkeit? Viele beklagen, die Gesellschaft habe keine Werte mehr, aber es könnte sein, dass zu
viele Menschen in ihr keine mehr haben. Oder ihre individuellen Werte umstandslos zu allgemeinen machen wollen. Oder die Festlegung eines Vorrangs bestimmter Werte scheuen, sodass sie keinen Ausweg aus einem Dilemma finden können. Oder allenfalls theoretisch Werte proklamieren, ohne sie praktisch zu realisieren. So bejahenswert Werte auch sein mögen, so abhängig sind sie von ihrer Wertschätzung und Verwirklichung durch Einzelne. Sie sorgen mit dem nebensächlich erscheinenden, tatsächlich aber grundlegenden Wert der Verlässlichkeit für tragfähige Beziehungen, in Institutionen für deren Funktionsfähigkeit. Sie verwirklichen individuelle Werte wie Wahrhaftigkeit, Mut und Treue, soziale Werte wie Solidarität, Gemeinsinn und Respekt, demokratische Werte wie Toleranz, Transparenz und Kompromissbereitschaft.
5. Definition der Gewohnheiten für das eigene Selbst: Welche will ich sorgsam pflegen, um mich wohnlich in ihnen einrichten zu können? Natürlich ist es wichtig, offen für Neues zu sein, aber Gewohnheiten erleichtern das Leben, da sie im Unterschied zu Neuem keine Kraft kosten: Nichts muss überlegt und organisiert werden, alles läuft wie von selbst ab. In den Turbulenzen des modernen Lebens sorgen Gewohnheiten für Rückzugsmöglichkeiten und Rhythmus. Für mehr Aufregung im Leben muss nur die gewohnte Ordnung der Dinge durchbrochen werden, etwa indem der Wohnungsschlüssel an einem ungewohnten Ort abgelegt wird oder täglich ein Frühstück inszeniert wird wie noch nie, immer mit einem neuen Gegenüber. Sollte eine Gewohnheit lebenshinderlich oder beziehungsfeindlich sein, ist ihre Umstellung möglich. Es erfordert allerdings einigen Aufwand an Zeit und Kraft, bis die veränderte Gewohnheit wieder zu einem Eckpunkt des Selbst geworden ist.
6. Definition der Ängste, Verletzungen und Traumata, deren Erfahrung ein Teil des Lebens sein kann. Es liegt nahe, sie loswerden zu wollen, sollte das aber nicht gelingen, bleibt noch, sie in das Selbst zu integrieren, statt sich endlos daran abzuarbeiten: „Auch das gehört zu mir.“ Mit therapeutischer Hilfe lässt sich die Wucht der Erfahrungen abmildern. Mit juristischer Hilfe kann gegen ein widerfahrenes Unrecht vorgegangen werden. Mit einer Umdeutung ist aus unguten Erfahrungen ein Antrieb zur Selbstbehauptung zu gewinnen. Mit der erworbenen Sensibilität wird es möglich, Anderen beizustehen, die ähnlichen Erfahrungen ausgesetzt sind, sowie sich für die Veränderung von Lebensbedingungen einzusetzen, die solche Erfahrungen begünstigen. Zur besseren Bewältigung des Unguten aber trägt in jedem Fall das Gegengewicht bei, das durch Schönes erfahrbar wird.
7. Definition des Schönen für das Selbst, ausgehend von Fragen an sich: Was ist in meinen Augen schön? Wo finde ich es? Was kann ich dafür tun, es zu finden? Was sind für mich schöne Momente, Anblicke, Tätigkeiten, Erfahrungen, Genüsse, Gespräche, Gedanken, die ich bejahe? Was ist das Naturschöne, das menschlich Schöne, das Schöne von Kunst und Kultur, auch von Technik, von realen Dingen und irrealen Phantasien, von stimmungsvollen Situationen und hinreißenden Erlebnissen? Bewusst wahrgenommen, kann das Schöne jeder Art zu einer Quelle von Kraft werden, mit der sich auch größte Schwierigkeiten überstrahlen, übertrumpfen und überwinden lassen. Es ist das Bejahenswerte, das eine unverzichtbare Ressource darstellt, um mit Ängsten, Verletzungen und Traumata zurechtzukommen. Die Bereitschaft, überhaupt etwas zu bejahen, in welcher Situation auch immer, ist eine nie versiegende Quelle für das Leben, aus der immer neue Energien zu schöpfen sind.
Im praktisch gelebten Leben geschieht die Selbstdefinition jedoch nicht durch das Abhaken der genannten Punkte, sondern dadurch, dass ein Mensch sich die eigene Geschichte erzählt. Er wird erkennbar und unverwechselbar durch seine Geschichte: „Das bin ich, das ist meine Geschichte.“ Im Laufe der Erzählung sucht und findet er sich und es wird ihm bewusst, welche Rolle jeder einzelne Punkt der Selbstdefinition für ihn spielt. Noch wirksamer ist es, die Geschichte einem Anderen erzählen zu dürfen, der mit seiner Aufmerksamkeit den Erzählenden zur Selbstaufmerksamkeit anregt. Im Spiel von Frage und Antwort erhält der Erzählende mehr Aufschluss über seine Bedingungen und Möglichkeiten, sein Selbst- und Lebensverständnis. Der Andere bringt Unstimmigkeiten zum Vorschein, die die Integrität des Erzählenden in Frage stellen, und macht ihn darauf aufmerksam, dass manches auch anders gedeutet werden kann oder dass er sich untreu wird, wenn er seinen Traum vergisst und einst hochgehaltene Werte vernachlässigt. Durch die Antworten auf die Fragen gewinnt das Selbst die Klarheit, die ihm ermöglicht, mit neuer Zuversicht durchs Leben zu gehen.
An der Notwendigkeit der Selbstdefinition ändern neue Medien nichts. Auch im Umgang mit technischen Dingen, das Smartphone vorneweg und was da sonst noch kommen mag, muss ein Mensch definieren, auf welche Weise und in welchem Maße er davon Gebrauch machen will. Er kann die Technik als etwas betrachten, das zum Kern seines Selbst gehört, wenn er wesentlich mit elektronischen Medien oder sogar in ihnen leben will. Er kann die Geräte als Instrumente der intensiveren Kommunikation mit Anderen, ihren Gebrauch als eine lieb gewordene Gewohnheit, ihren äußeren Anblick als eine der Schönheiten seines Lebens definieren. Aber er kann sich auch dafür entscheiden, dass eine Technik an der Peripherie seines Selbst bleiben soll, wo sie ihn nicht existenziell betrifft, sondern allenfalls tangiert, etwa als Ergänzung seiner Existenz, als nützliches Hilfsmittel und spielerisches Accessoire. Je bewusster er seine Haltung in solchen Fragen festlegt, desto bejahender kann sein Verhältnis zu sich selbst ausfallen, denn er muss sich nicht ständig neu entscheiden.
Die Selbstfreundschaft trägt zugleich dazu bei, dem Ich eine andere, zeitgemäßere Form zu geben. Das Ich als Form des Menschseins hat eine große Geschichte hinter sich. Lange war es das Herrscher-Ich von Machthabern, deren Untertanen es nicht wagen durften, „Ich“ zu sagen. Auch Marc Aurel, im Hauptberuf Herrscher des Römischen Reiches, schrieb aus dieser Position heraus und versuchte sie doch durch Selbstbesinnung abzumildern, ein Gegenentwurf zum terroristischen Narzissmus Neros hundert Jahre zuvor. Tausend Jahre später räusperte sich im Schatten der Herrscher vernehmlich ein Ich, das zwar den alten Souveränitätsanspruch beibehielt, ihn aber auf subtilere Weise vertrat. Es erhob seine Stimme im Bereich der Kunst und erlebte seinen Aufschwung in der abendländischen Epoche der Renaissance, Namen wie Giotto, Botticelli, Leonardo, Dürer, die beiden Cranachs, Michelangelo, Tizian, Raffael, El Greco stehen dafür.
Das Ich machte sich als Abenteurer auf den Weg und hieß Marco Polo, Kolumbus, Magellan, Vasco da Gama, Cook. Unter weithin geläufigen Namen wie Locke, Hume, Smith, Voltaire, Diderot, Rousseau, Jefferson, Kant, Herder veranstaltete das Ich die Aufklärung gegen alle Verhältnisse, die Menschen zu Untertanen machen. Es beanspruchte eigene Rechte und setzte sie in Kraft mit der englischen Magna Charta, der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Erklärung der Menschenrechte im Gefolge der Französischen Revolution. Zahllose Menschen lernten fortan, „Ich“ zu sagen. Aus dem Subjekt, das dem Wortsinn nach ursprünglich der Untertan war (subiectum im Lateinischen), wurde das stolze Subjekt der Selbstbestimmung, das die Moderne begründete, die ohne Ich in diesem Sinne undenkbar ist.
Nun aber mehren sich die Anzeichen dafür, dass das Ich von der Zeit, die es herbeigeführt hat, überfordert ist. Es beginnt an zu viel Ich zu leiden und zu verzweifeln. Das selbstbestimmte Leben fällt ihm zur Last. Der Möglichkeiten, die es mit enormen Anstrengungen gewonnen hat, wird es überdrüssig. Die große Form, zu der es im Ichismus der fortgeschrittenen Moderne aufgelaufen ist, vermag es nicht mehr auszufüllen. So implodiert es unter der Last seiner überdehnten Form und stürzt in sich zusammen wie eine ausgebrannte Sonne. Im Schatten des aufgeblasenen Narzissmus, der als letztes Aufbäumen des alten Ich verstanden werden kann, kündigt eine Ich-Erschöpfung bereits dessen Untergang an. Was zunächst nur Einzelne betrifft, droht im Laufe des 21. Jahrhunderts zur Epidemie werden. Das Ich hat eine Vergangenheit, aber keine Zukunft mehr, zumindest nicht in der bisherigen Form.
Was kommt nach dem Ich? Ein anderes Ich. Seine kommende Form hat sich längst schon angekündigt, und erneut in der Kunst, insbesondere in den Künstlergruppen, die seit den Frühromantikern die Entwicklung der Moderne begleiten: Präraffaeliten, Impressionisten, Kubisten, Expressionisten, Sezessionisten, Surrealisten, Dadaisten, Blauer Reiter, Brücke, Bauhaus, Fluxus. Sie alle experimentierten mit Möglichkeiten der Kooperation und wechselseitigen Inspiration freier und selbstbewusster Menschen, die außer Kunstwerken auch eine andere Art des Ich-Seins hervorgebracht haben. Im Laufe des 20. Jahrhunderts übernahm eine wachsende Zahl von Musikgruppen diese neue kulturelle Form. Sehr weit gediehen ist sie im improvisierten, direkten Austausch zwischen ausgeprägten Ichs im Jazz, der nicht zufällig von jungen Menschen im 21. Jahrhundert wiederentdeckt wird, hundert Jahre nach seiner Erfindung.
Elemente des Jazz finden sich wieder in der digitalen Vernetzung, in der die Ichs zu Relaisstationen von Gemeinschaften werden, die nicht mehr zu den Zwängen früherer Gemeinschaften in ichlosen Zeiten zurückkehren wollen. Das vernetzte Ich, das Netz-Ich in diesem Sinne, widersteht den Versuchungen eines überbordenenden, selbstherrlichen Narzissmus und kümmert sich um sein Leben und Arbeitsleben mit einer Prise Narzissmus und einer Menge Kooperation. Weiterhin lebt und arbeitet es in Familien, Freundeskreisen, Nachbarschaften, Gruppen, Teams, aber mit einem Denken, Fühlen und Kommunizieren, das mit technischer Unterstützung unmittelbarer als je zuvor mit Anderen geteilt werden kann. Teilen und Tauschen, sinnvolles Tun und faire, nachhaltige Verhältnisse sind diesem Ich wichtig. Sein Leben wird leichter, da es sich nicht mehr damit belasten muss, alles mit sich allein auszumachen.
Es ist das mit sich befreundete Selbst, das mit seiner inneren und äußeren Vernetzung den Übergang zu dieser neuen Form des Ich gelassen gestalten kann. So könnte es möglich werden, in zeitgemäßer Form „das schönste Leben zu führen“, von dem Marc Aurel in seinen Wegen zu sich selbst einst sprach.
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