S. Fuchs Rückzug - Die neue Sehnsucht nach heiler Welt

Rückzug von Welt (S. Fuchs)
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S. Fuchs Rückzug - Die neue Sehnsucht nach heiler Welt
Ich-Kompetenz meditiert vom  Aussenbereich  zum Wisssen vom Innern. > Konformität


ÜBERBLICK
Die Jugend strickt und häkelt wieder. Digital natives suchen beim Gemüseanbau Kontakt zu Mutter Erde. Wohlfühl-Magazine boomen, während die politische Presse Leser verliert. In postindustriellen Gesellschaften zeigen sich Symptome der Erschöpfung und Überforderung: Viele Menschen bemühen sich, Stress abzubauen und positiv zu denken. Die Welt scheint ihnen zu komplex und zu wenig Sicherheit zu bieten. "Generation Maybe" oder "Generation Y": Mit unterschiedlichen Etiketten versuchen Soziologen, die neue Sehnsucht nach Innerlichkeit und heiler Welt auf den Punkt zu bringen. Tatsächlich aber hat sie die ganze Gesellschaft erfasst - als Kehrseite der alle Grenzen sprengenden Herrschaft des Ökonomischen.

Rückzug - Die neue Sehnsucht nach heiler Welt
Von Stefan Fuchs
Sendung: Dienstag, 2.6.2015, 8.30 Uhr
Redaktion: Charlotte Grieser
Regie: Nicole Paulsen
Produktion: SWR 2015
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:

INHALT
MANUSKRIPT
Zitatorin:
„Wir stecken voller Gartenideen - „Weißt Du was“, sagt mein Mann der Ingenieur, „wir wollen auch so ein Hochbeet anlegen – da kann man die Schnecken leichter absammeln.“
OT (Cornelia Koppetsch):
„Dieser Rückzug in den Schrebergarten, in die Landlust, in das Stricken und die Selbstachtsamkeit ist nur die Kehrseite der Aufmerksamkeit, die man im Neoliberalismus der Selbstoptimierung oder Eigenverantwortlichkeit schenkt.“
Ansage:
Rückzug - die neue Sehnsucht nach der heilen Welt.
Eine Sendung von Stefan Fuchs.
Zitatorin:
„Heute ist ein guter Tag, um Eis zu essen, draußen zu sitzen, zu grillen oder einfach die Sonne zu genießen. Habt ihr auch so einen tollen Ausblick?“
Sprecher:
Im Mittelmeer ertrinken die Menschen zu Tausenden, ein paar Flugstunden entfernt toben blutige Kriege, von deren Ursachen man sich nur ein sehr ungefähres Bild machen kann. Das Grönlandeis schmilzt, der Golfstrom schwächelt. Während im Süden Europas die Menschen noch mit den Folgen der letzten Finanzkrise zu kämpfen haben, droht bereits in die nächste.
Sprecherin:
Dennoch oder vielleicht gerade deshalb sind so viele übergelaufen zur Universalkirche des positiven Denkens. Positives Denken nahezu um jeden Preis. Ausblenden einer Welt, die von Tag zu Tag komplexer wird, die irgendwie zu beeinflussen man längst aufgegeben hat.
Sprecher:
Trendforscher sprechen von Biedermeierlichkeit, von einer umsichgreifenden neuen Spießigkeit, einer inneren Emigration großer Teile der Jugend. Am Horizont drohe bereits ein Neokonservativismus, der möglicherweise auch zum politischen Ruck nach rechts führen werde.
Sprecherin:
Nur eines lässt sich mit Sicherheit sagen. Die Zeichen stehen auf Rückzug ins Überschaubare, Lokale, auf Entschleunigung, auf Vereinfachung.
Sprecher:
Für manche ist es ganz pragmatisch eine Frage des Aufräumens.
Sprecherin:
Die Anhänger der Bewegung von „Simplify Your Life“ beispielsweise versuchen sich radikal vom bedrängenden Sperrmüll der Konsumgesellschaft zu befreien. Für sie ist klar, nur ganz wenige Dinge braucht man wirklich zum Leben.
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Sprecher:
Die Achtsamkeitsbewegung dagegen versucht die Stimme des eigenen Selbst wieder freizulegen. Teile der Jugend haben die nervenberuhigende Wirkung von Handarbeiten wie Stricken und Häkeln entdeckt.
Sprecherin:
Andere wollen sich unabhängig machen vom undurchsichtigen Angebot in den Supermärkten und füllen mit großem Enthusiasmus Großmutters Einmachgläser, die so lange vergessen im Keller standen.
Sprecher:
„Urban Gardening“ steht besonders hoch im Kurs.
Sprecherin:
Der Schrebergarten wird von jenen entdeckt, denen das Vereinsleben bisher ein Graus war. Wer gar über einen eigenen Garten verfügt, kann ihn zur Gegenwelt auszubauen, in der das erschöpfte Selbst Ruhe finden kann. Ganz in der Tradition des römischen Dichters Horaz, der schon vor zweitausend Jahren auf dem Land das verlorene Paradies suchte.
Zitatorin:
„Glücklich der Mann, der fern von Geschäften, / wie einst das Menschengeschlecht, / die väterliche Scholle mit seinen Ochsen pflügt, / frei von Schuldenlast; / weder wird er als Soldat vom wilden Signal aufgescheucht / noch vom grollenden Meer verängstigt, / er meidet das Forum und die stolzen Paläste / der Mächtigen.
Sprecher:
Für eingefleischte Pessimisten schließlich hat das Gärtnern einen zusätzlich beruhigenden Aspekt. Bricht die Weltwirtschaft irgendwann zusammen, sichert ein richtig gemanagter Garten möglicherweise das Überleben.
Sprecherin:
Ursprünglich gab sich der Rückzug ins einfachere Leben pointiert politisch. Die Entstehung der grünen Partei zu Beginn der 80er Jahre hatte sich Nachhaltigkeit auf die Fahnen geschrieben. Man suchte einen politischen Kompromiss zwischen dem Turbokapitalismus und dem wachsenden Bedürfnis der Menschen nach Geborgenheit in einer mütterlich vorgestellten Natur.
Sprecher:
Für die Anhänger der Null-Wachstums-Bewegung heute ist auch der angeblich nachhaltige Konsum ein Sündenfall. Nur ein drastisch reduzierter Lebensstil kann nach ihrer Überzeugung die Biosphäre retten und zugleich das Lebensglück steigern. Forderungen nach der 20-Stunden-Woche und einem Rückbau von Autobahnen und Flughäfen wirken wie ein vorsorgliches Trainingsprogramm für eine Gesellschaft nach dem endgültigen Scheitern des Finanzkapitalismus.
OT (Sperling): „Gelassenheit, das Glück im Kleinen. Überall hört man‟s, diese Einfachheit! Genau diese kleinen Dinge wieder zu genießen. Wieder zu riechen, diese Lust einfach
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wieder Luft zu atmen. Durch den Wald zu gehen. Ein Reh, das mir über den Weg läuft – das ist die Sehnsucht der Menschen. Überhaupt, dass man sein Leben noch einmal bewusst in die Hand nimmt.“
Sprecher:
Die Bloggerin Kornelia Sperling kennt dieses Lebensgefühl eines trotzigen Rückzugs. Im Untergrund unserer Gesellschaften hatte es sich in unterschiedlichen Spielarten schon lange vorbereitet. 2007 war sie die Herausgeberin des ersten deutschen Magazins für eine von den Marktstrategen neu entdeckte Zielgruppe, die sogenannten LOHAS.
OT (Sperling):
„Lohas steht für die Zielgruppe Lifestyle of Health and Sustainability. Also Menschen, die einen gesunden und nachhaltigen Lebensstil führen, die laufen nicht mit dem erhobenen Zeigefinger herum, sie leben gerne genüsslich und kaufen auch gern. Aber sie schauen genau hin, wo sie ihr Geld lassen. Das ist ein großer Unterschied zu den Ökos. Menschen, die zurück zur Natur gehen, die ein selbstbestimmtes Leben führen, die nicht mehr abhängig sein wollen von Wirtschaft, vom Job und Sonstigem.“
Sprecherin:
Die Lohas-Lifestyler haben im letzen Jahrzehnt ein in der Medienlandschaft einzigartiges Phänomen möglich gemacht. Während politische Magazine und traditionelle Frauenzeitschriften ihre Auflagen im Sinkflug sehen, gelang es einem kleinen Landwirtschaftsverlag in Münster mit dem Titel „Landlust“ die Schallmauer von einer Million verkaufter Exemplare zu durchbrechen. Jede ihrer im Zweimonats-Rhythmus erscheinenden Ausgaben erreicht zweieinhalb Millionen Leser. Damit hat die „Landlust“ Vorzeige-Illustrierte wie den „Stern“ auf die hinteren Plätze verwiesen.
Sprecher:
Inzwischen gibt es jede Menge Nachahmer, von „Landidee“ über „Mein schönes Land“ und „Landzauber“ bis hin zur „Berglust“, – Untertitel: „Das Magazin für Hochgefühle“.
OT (Sperling):
„In den klassischen Medien spiegelt immer wieder diese Angst, in den Headlines, überall wird mit Angst gearbeitet. Oder man muss diese „gepimpten Celebrities“ auf dem Sterntitel bringen. Die Landlust zeigt, dass es auch mit heißen Kaltblütern geht. Es stimmt nicht mehr, dass „Sex Sells“, diese vollbusigen Frauen und auch die Werbung. Man sieht keine schreienden kreischenden Farben, nimm mich, kauf mich, hasch mich. Ganz weg davon. Das ist der Erfolg von der Landlust und das ist der Zeitgeist.“
Sprecherin:
Was aber steckt hinter diesem Zeitgeist? Tatsächlich genügt schon ein flüchtiger Blick in das von einer rein weiblichen Redaktion gemachte Blatt, dass die „Landlust“ keine „Gartenlaube“ des 21. Jahrhunderts ist. Was die gelernten Agrar- und Gartenbauingenieurinnen ihrer Leserschaft bieten, ist kein bürgerliches Familienidyll des 19. Jahrhunderts.
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Sprecher:
Der Reiz beruht eher auf Askese als auf Paradiesgarten-Kitsch. Die angstmachende Welt wird einfach nur ausgeblendet. Das nicht enden wollende Grün der Fotostrecken wirkt gerade durch Langweile beruhigend. Die kühle Monochromie der Bilder strahlt etwas Meditatives aus.
Sprecherin:
Mit ihrer Lakonie reflektieren das auch die Texte. Lateinische botanische Bezeichnungen werden mit ermüdender Akribie heruntergebetet, sodass man sich manchmal die Frage stellt, ob das alles wirklich fürs Lesen bestimmt ist.
Zitatorin:
„Dicht an dicht sitzen die gefüllten Blüten an den Zweigen des Echten Rotdorns Crataegus Laevigata. Wer an Rotdorn denkt, dem kommt unweigerlich der Gedanke an den Feuerbrand in den Kopf. Ohne Zweifel ist die Bakterienkrankheit Erwinia Amylovora ein ernstzunehmendes Thema, wenn es um die Wahl eines Kleinbaumes geht – trotzdem sollte der Rotdorn nicht von vornherein verworfen werden.“
Sprecher:
Vielleicht ist das Gespräch über Bäume für die glücklichen Gartenbesitzer tatsächlich der beste Weg, die angstmachende Welt auszuknipsen. Selbst für das Landleben typische Probleme wie Massentierhaltung und Bienensterben bleiben ausgespart.
Sprecherin:
Unverzichtbar dagegen die Anleitungen zum Selbermachen. Strickanleitungen für Pullover aus Mohair, handgewebte Trachtenjacken, selbstgebackenes Brot, hausgemachte Grillmarinaden. Wenn die „Landlust“ zu Weihnachten oder Ostern Anleitungen für Tischdekorationen druckt, sind die benötigten Materialien im Handel schon mal wochenlang ausverkauft.
Sprecher:
Genau wie der unmittelbare, taktile Kontakt mit der Erde beim Gärtnern scheint das Selbermachen in einer Welt industrieller Massenprodukte mit einer besonderen emotionalen Qualität aufgeladen. Do-it-yourself in Küche und Garten wirkt als Self Empowerment, nimmt den Menschen das Gefühl des ohnmächtigen Ausgeliefertseins an den Markt mit seinen um den ganzen Globus reichenden Zulieferketten. Das Internet verleiht diesem Lebensgefühl eine Stimme. Einschlägige Videokanäle auf Youtube und unzählige Back-to-the-roots-Blogs machen immer mehr Menschen Mut, sich zum eigenen Rückzug zu bekennen.
Sprecherin:
Im Netz findet man beispielsweise eine „Jenny1980“. Sie gehört zu jenen, die sich vehement gegen den Vorwurf der neuen Spießigkeit zur Wehr setzen. In einem Kommentar erklärt sie, warum die Berichte über die Pariser Mordanschläge gegen „Charlie Hebdo“ bei ihr eher ausweichende Reflexe auslösten. Die Verweigerung einer eindeutigen politischen Stellungnahme funktioniert als eine Art Selbstschutz.
Zitatorin:
„Was alle diese klugen Lifestyle-Schreiber nicht bedenken: Handarbeiten ist keine Ablenkung vom wirklichen Leben. So wie sie früher notwendig waren für die
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Versorgung mit Kleidung, Wärme, ohne Textil-Industrie, so ist es heute vielfach ein vernünftiger Zeitvertreib, der zu Konzentration, zum Nachdenken und Reflektieren führt. In diesem Sinne keine Flucht, sondern Innehalten zum Nachdenken und Ausbrechen aus der Hysterie der schreienden Medien, seien es öffentlich rechtliche oder Mitmach-Medien, wo sich alles noch hysterischer und noch weniger reflektiert überschlägt.“
OT (Falk Mieschendahl):
„Achtsamkeit benutzt oft die Elemente des weichen Fokus auf etwas und die körperliche Entspannung und ein möglicher Fokus ist Klang. So kann man Klang zuhören, und ohne darüber nachzudenken, einfach die Aufmerksamkeit darauf lenken. [Klangschale angeschlagen] und wenn man immer noch hört jetzt, dass was da ist, dann ist es still.“
Sprecher:
Falk Mieschendahl ist Gründer von „Human Flow“. Durchschnittlich 200 Menschen zwischen 20 und 55 besuchen jedes Jahr seine Achtsamkeitskurse in Badenweiler. Allen gemeinsam ist, dass sie das Gefühl umtreibt, sich selbst aus den Augen verloren zu haben. In der Hektik des Alltags, im mörderischen Rhythmus der Anpassungsprozesse scheint der Kontakt zur eigenen Innenwelt irgendwann abgerissen zu sein.
OT (Falk Mieschendahl):
„Das ist das, was ich Ich-Kompetenz nenne. Ich habe mit sehr vielen Menschen gearbeite. Viele von denen wissen sehr viel, die sind sehr erfolgreich in dem, was sie machen. Die kennen sich gut aus mit ihren Bereichen, und das sind Außenbereiche, was die Person aber nicht weiß oder der Allerwenigsten wissen, weil sie sich noch nie damit beschäftigt haben, ist, wer bin ich, wie kann ich bei mir ruhen, wie gehe ich mit Angst um, was für eine Angst ist das überhaupt, die mich da so treibt. Und das ist Wissen über Innen.“
Sprecherin:
Die Achtsamkeits-Bewegung ist das deutsche Pendant zum „Mindful-Movement“, das in den USA gegenwärtig einen ungeheuren Boom erlebt.
Sprecher:
Die Übernahme buddhistischer Meditationstechniken bedeutet ganz und gar nicht, dass es sich um ein religiöses Revival indischer Religiosität handelt, wie es einst die Bhagwan-Jünger im Sinn hatte, als sie gelbgewandet in den 70er und 80er Jahren in den europäischen Großstädten missionierten. Da ist kein Hauch fernöstlicher Mystik mehr. Ganz pragmatisch werden Meditation und Yoga als Psychotechniken eingesetzt. Hauptsache es funktioniert. Hauptsache es gelingt, den Gestressten wieder die Unmittelbarkeit einer physisch-geerdeten Selbsterfahrung zu ermöglichen.
Sprecherin:
Das scheint eine Folge der Reizüberflutung, der Beschleunigung und des Dauerstresses zu sein, immer mehr Menschen leiden an einer Art geistigem Tinnitus. Die hektische Welt hat einen feindlichen Brückenkopf im Ich gebildet.
Sprecher:
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Früher, in den revolutionären 60er Jahren nannte man das Selbstentfremdung und die Jugend reagierte darauf mit dem Slogan „mach kaputt, was dich kaputt macht!“.
OT (Falk Mieschendahl):
„Leute, die entweder ein Dauerstress haben oder Burnout diagnostiziert bekommen haben oder Angststörungen, die klagen über einen inneren Zustand, wo sehr viele Gedanken da sind über sehr wenige Themen. Und das chronisch geworden ist. Das kann in der Nacht auftreten, dass sie sehr früh aufwachen und beginnen zu grübeln. Aber auch tagsüber, wenn sie nicht gerade von Arbeit abgelenkt sind. Ich nenne diese gehäuften Gedanken über wenige Themen Gedankenlärm. Daraus entstehen belastende Gefühle. Und das kostet Kraft.“
Sprecherin:
Der Lebensweg des Achtsamkeits-Coach Falk Mieschendahl ist exemplarisch für die Ruhesuchenden des Jahres 2015. Der Vater hatte in den wilden Sechzigern die indische Mystik entdeckt. Später betrieben die Eltern eine Ayurveda-Praxis. Nach dem Studium aber entschied sich der Sohn für eine radikal entgegengesetzte Lebenswelt und trat in den USA einen 24 Stunden-Sieben-Tage-die Woche Job als Investmentbanker an. Als dann die Dot-Com-Blase platzte, kehrte er desillusioniert und erschöpft nach Europa zurück. Jenseits des Atlantiks zählt die Achtsamkeit inzwischen zur unverzichtbaren Survival-Ausrüstung im Dickicht der Städte.
OT (Falk Mieschendahl):
„Diese Achtsamkeitsbewegung hat viel mit Metropolen zu tun. Die ist nicht in den USA auf dem Land entstanden. Das ist Kalifornien, das ist New York, wo einfach sehr viele Menschen sind, die sehr viel Stress haben, und die eine Kompetenz entwickeln müssen, um damit gut und anders umzugehen. Und da bietet Achtsamkeit einige Möglichkeiten, ne Hilfe um das zu verinnerlichen.“
OT (Koppetsch): „Die Eigenverantwortlichkeit ist eine Überforderung an das Subjekt.“
Sprecher:
Die Soziologin Cornelia Koppetsch spricht von einer Wiederkehr der Konformität. Sie ist überzeugt, dass ein tiefreichender Mentalitätswandel unsere Gesellschaften erfasst hat. Die Ursache erkennt sie in einem Staat, der sich seiner ureigensten Aufgabe entzogen habe, die in der existentielle Grundsicherung seiner Bürger bestehe. Das stecke in Wahrheit hinter der gebetsmühlenartig wiederholten Aufforderung zu mehr Eigenverantwortung.
OT (Cornelia Koppetsch):
„Wenn irgendwas in Deinem Leben schief läuft, dann bist du selber verantwortlich. Wenn du keine Arbeit hast, dann musst du dich so lange darum kümmern, dich weiterzubilden und dich für den Arbeitsmarkt fit zu halten. Du musst Dich permanent selbst fragen, was ist schief gelaufen, in deinem Leben. Das Subjekt ist aufgefordert aus sich selbst das Beste zu machen, sich selbst zu optimieren. Aber aufgrund der Zufälligkeiten, die mein Leben durchwalten, kann diese Anforderung überhaupt nicht mehr erfüllt werden. Ich kann in einer Situation, in der permanent sich etwas verändert, in der Beschleunigung und Wandel auf Dauer gestellt worden sind und in der meine Biographie partout nicht mehr vorhersehbar ist, weil es zum Beispiel
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mittlerweile an der Tagesordnung ist, dass wir permanent lebenslanges Lernen betreiben, dass wir umschulen müssen, dass wir befristete Stellen haben und uns permanent auf neue Situationen einstellen. Die Lebensbedingungen unter denen wir diese Eigenverantwortung zugeschrieben bekommen sind überhaupt nicht mehr beherrschbar.“
Sprecherin:
Die umfassendste Beschreibung einer Subjektivität, die gnadenlos dem Primat wirtschaftlicher Effizienz ausgesetzt wurde, verdanken wir dem polnisch-britischen Soziologen Zygmunt Bauman. Er nennt die daraus entstehenden Lebensbedingungen die „Flüssige Moderne“. In ihr sei für den Einzelnen auch der letzte Rest Hoffnung verflogen, die Politik könne ihm beim einsamen Kampf ums Überleben noch irgendwie hilfreich sein.
OT (Zygmunt Bauman):
„Social state was important not only as a matter of equality, distribution of wealth, but it was important as a very crucial preventive medicine against fear.
Übersetzer:
Der Sozialstaat ist von entscheidender Bedeutung, nicht nur für die Herstellung von Chancengleichheit und für die Umverteilung von Reichtum. Zuallererst war der Sozialstaat ein lebenswichtiges Gegenmittel gegen die Existenzangst. Eine Art Versicherung auf Gegenseitigkeit gegen Schicksalsschläge, die jeden treffen können. Eine Versicherungspolice, die von der Regierung als Vertreterin der Gesellschaft ausgestellt wurde. Den Hochseilakt des Lebens können nur wenige wagen, wenn es kein Sicherheitsnetz gibt. Selbstvertrauen ist nur ganz wenigen möglich, wenn diese kollektive Sicherheitsgarantie gekündigt wird.
OT (Zygmunt Bauman):
…. It is like being engaged in (..) equilibristics without safety net and very few people dare to be self-confident if this guarantee this collective guarantee (..) is withdrawn.”
OT (Heinz Bude):
„Das scheint eine allgemeine Stimmung nicht nur in Deutschland sondern in allen westlichen Gesellschaften zu sein, dass irgendeine Art von Uhr abgelaufen ist, es gibt neue globale Aufteilungen und es gibt auch Gefahren, von denen man nicht weiß, wie man sie eigentlich bezeichnen soll, die aber vor einem liegen.“
Sprecherin:
Auch der Soziologe Heinz Bude sieht in einer überall spürbaren subkutanen Angst das wichtigste Charakteristikum unserer Gesellschaften. Die Politik habe ihre Aufgabe aufgegeben, die sich wie ein Flächenbrand ausbreitenden Abstiegspanik der Mittelklasse zu bekämpfen.
Sprecher:
Für den Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung hat Deutschland die neoliberale Doktrin am intensivsten verinnerlicht. Deutschland sei zu der am stärksten amerikanisierten Gesellschaft außerhalb der angelsächsischen Welt geworden. Nach 12 Jahren „Agenda 2010“ sei das Land kaum wiederzuerkennen. Es
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habe sich in dieser Zeit zum ökonomischen und politischen Schwergewicht Europas gemausert.
Sprecherin:
Aber zu welchem Preis? Selbst eine Zugehörigkeit zur oberen Mittelschicht schütze gegenwärtig nicht mehr vor dem Absturz. Alles hänge von Entscheidungen ab, die man blind treffen müsse.
OT (Bude):
„Bei Karriereentscheidungen können Sie sehr viel falsch machen. Sie können an einem falschen Ort Ihr Abitur machen, Sie können ein falsches Studium beginnen, Sie können einen falschen Partner wählen, und Sie können einen falschen Ort als Lebensmittelpunkt sich aussuchen. Und plötzlich sieht die Bilanz ziemlich düster für Sie aus. Diese Logik der Entscheidungen, die Sie an zentralen Punkten Ihres Lebenslaufs fällen müssen, diese Tatsache ist für die Jüngeren Generationen reflexiv geworden. (..) das heißt man weiß mittlerweile, dass das so ist.“
OT (Julia Engelmann):
„Unser Leben ist ein Wartzimmer. Niemand ruft uns auf. Unser Dopamin, das sparen wir immer, falls wir„s noch mal brauchen. Und wir sind jung und haben viel Zeit. Warum sollen wir was riskieren? Wir wollen keine Fehler machen, wollen doch nichts verlieren. Und es bleibt so viel zu tun. Unsere Listen bleiben lang und so geht Tag für Tag ganz still ins unbekannte Land. Und eines Tages, Baby, werden wir alt sein, oh Baby, werden wir alt sein, und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können. Und die Geschichten, die wir dann stattdessen erzählen, werden traurige Konjunktive sein. Und eines Tages, Baby, werden wir alt sein, oh Baby, werden wir alt sein und an all die Geschichten denken, die ich hätte erzählen können.“
(Asaf Avidan „Reckoning Song”):
„One day baby, we‟ll be old, oh baby, we‟ll be old and think about the stories that we could have told. So one day, baby, we‟ll be old, oh baby we‟ll be old and think about the stories that we could have told.”
Sprecherin:
Eine Generation der traurigen Konjunktive, so präsentiert die Bielefelder Psychologie-Studentin Julia Engelmann ihre eigene Generation der nach 1975 Geborenen. Ihr Rap wurde in den sozialen Netzwerken zum viralen Video mit nahezu acht Millionen Zugriffen. Die Zeile aus dem „Reckoning Song“ des Folk-Rock-Sängers Asaf Avidan trifft das Lebensgefühl eines Teils der Bachelor-Master-Generation: man lebt mit angezogener Handbremse, versucht Emotionen auf Sparflamme zu halten. Aus Angst vor der falschen trifft man gar keine Entscheidung.
Sprecher:
Nie darf man sich zu sehr auf einen Partner einlassen. Liebe macht abhängig und kann ganz schnell zu gefährlichem Ballast in der geforderten Anpassung an die Erfordernisse der Märkte werden. Lichtjahre entfernt vom Selbstverwirklichungs-Enthusiasmus der Babyboomer geht es heutigen Jugendlichen vor allem darum, Exzesse zu meiden, den schmalen Mittelweg über den überall drohenden Abgrund zu finden.
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Sprecherin:
Bausparvertrag statt sexuelle Revolution, heißt die Devise.
(Song Peter Fox „Das Haus am Meer): „Und am Ende der Straße steht ein Haus am See, Orangenbaumblätter liegen auf dem Weg. Ich hab zwanzig Kinder, meine Frau ist schön, alle kommen vorbei, ich brauch nie rauszugehen. Das Haus am See.“
OT (Stephan Grünwald):
„Dieses Lied von Peter Fox „das Haus am See“, das ist die heimliche Hymne der Jugend, weil sie genau diesen Zustand besingt. Der Weg ist bereits zu Ende gegangen, man ist angekommen, man ist im beschaulichen Treiben seiner Familie und guckt sich das an, ohne noch groß an der Wirklichkeit drehen zu müssen.“
Sprecherin:
Stephan Grünwald ist Gründer des Kölner Marktforschungsinstituts Rheingold. 2011 erschien dort eine Jugendstudie, die zum ersten Mal die „Generation Biedermeier“ thematisierte. Die soziale Deklassierung der Hartz IV Empfänger hänge wie ein Damoklesschwert über diesen Jugendlichen, berichtet der Psychologe. Sie wüchsen in Patchwork-Familien auf und sehnten sich nach emotionaler Stabilität. Viele von ihnen kennen durchaus Drogen- und Alkoholexzesse vor allem an den Wochenenden. Aber irgendwann mit 16 oder 17 setze ein Moment der Selbstdisziplinierung ein ausgelöst durch die panische Angst vor der drohenden sozialen Exklusion.
OT (Stephan Grünwald):
„Von daher werden auf einmal ganz andere Werte wichtig. Verlässlichkeit, Vertrauen, Transparenz, die deutschen Sekundärtugenden. Also wenn wir junge Leute in der Studie gefragt haben, was ist so Deine Zukunftsutopie, da kam kein politisches Manifest zum Vorschein, sondern die jungen Leute beschrieben uns so eine fast kleinbürgerliche Idealvorstellung: ein kleines Häuschen, vielleicht eine Eigentumswohnung, einen treuen Partner, zwei Kinder, vielleicht noch ein Haustier.“
OT (Cornelia Koppetsch):
„Es mag auch ein Grund für den Konservativismus sein der jungen Generation, dass sie sehr lange von ihren Eltern faktisch abhängig sind, und das vielleicht manchmal auch gar nichts anders wollen, weil diese Generation länger zuhause wohnen bleibt, als die Generation davor.“
Sprecher:
Die Soziologin Cornelia Koppetsch macht die neoliberale Globalisierung für diese radikale Veränderung des Lebensgefühls der nach 1975 Geborenen verantwortlich. Verflogen sei die Hoffnung, ihnen werde es einmal besser gehen als ihren Eltern. Letztlich bedeute das die Rückkehr einer Klassengesellschaft mit harten Konturen.
OT (Cornelia Koppetsch):
„Sie möchten den Lebensstandard, der Eltern halten. Und das tun sie, indem sie beispielsweise nicht ausziehen. Was damit auch deutlich wird ist, dass Klassenunterschiede dadurch deutlicher zum Tragen kommen. Das heißt die Frage der sozialen Herkunft nimmt einen ganz anderen Raum ein, wenn ich bis 25 oder
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länger von meinen Eltern unterstützt werde, als wenn ich mit 19, 20 auf eigenen Füßen stehe. Meine Herkunftsressourcen entscheiden über meinen sozialen Werdegang viel stärker als bei den Generationen davor.“
Sprecher:
Die Sehnsucht nach Sicherheit und Überschaubarkeit erweist sich aus der Nähe betrachtet als etwas anderes als ein rückwärtsgewandter Traum von einer heilen Welt. Sie ist schlicht, die Sehnsucht nach einer Gesellschaft, in der es Demokratie auch in der Sphäre des Wirtschaftlichen gibt, in der das individuelle Lebensglück über den Erfordernissen des Marktes steht.
Sprecherin:
Die damit verbundene Entpolitisierung erweist sich als das eigentliche Problem der Rückzugsbewegungen. Kampflos überlässt sie dem schlechten Lauf der Dinge das Feld und sucht ausschließlich nach biographischen Lösungen für existentielle Katastrophen, die von einer fahnenflüchtigen Politik erzeugt wurden.
Sprecher:
Gleichzeitig wachsen Verbitterung und Ressentiment bei denen, die im permanenten Wettbewerb nur die hinteren Plätze belegen. Die Leere des politischen Raums kann sich mit regressiven Ideologien füllen. In der Analyse von Cornelia Koppetsch könnte darin der Zusammenhang der Flucht- und Ausweichbewegungen mit einem spürbaren Rechtsruck in der Gesellschaft bestehen. Dieser aber bediene sich nur allzu gern rekonstruierter Identitäten. Und die definierten sich vor allem durch den Ausschluss der jeweils Anderen.
OT (Cornelia Koppetsch):
„Was man sicherlich sagen kann, ist, dass eine Re-Kulturalisierung des politischen Raums stattfindet und dass Pegida sicherlich ein Ausdruck dessen ist. Dass in den Augen derjenigen, die sich jetzt gegen den Islam aussprechen, plötzlich das christlich-abendländische Europa herbeizitiert wird, ohne zu wissen, was überhaupt der Kern sein soll. Oder eine Art „wir sind das Volk“, also eine fast schon völkische Identität. Anstelle einer politischen Diskussion von Fragen, die das Zusammenleben der Menschen hier betreffen als Einwanderungsland oder anstelle der Diskussion von Fragen, die wirklich für uns bedrohlich sind, wie die Klimakatastrophe, die Regulierung der Finanzmärkte oder die Globalisierung, wird ein Feindbild entworfen, das angeblich im Islam besteht. Das zeigt, dass anstelle politischer Fragen kulturelle Identitäten debattiert werden. Und das ist eine Regression in ein Szenario, vor dem schon lange gewarnt wird und dass uns möglicherweise wieder zu einem autoritären Kapitalismus führen könnte, ein Autoritarismus.“
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