SWR2 AULA - Prof. Michael Hartmann: Wir da oben, ihr da unten - Eliten in Europa

http://www.swr.de/swr2/wissen/-/id=661224/1muyzmy/index.html


 Autor und Sprecher: Prof. Michael Hartmann *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 9. Dezember 2007, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.http://www.swr.de/swr2/wissen/-/id=661224/1muyzmy/index.html
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

ÜBERBLICK
Man mag es kaum glauben, weil die Diagnose einfach nicht zu einer fortschrittlichen transparenten Demokratie passt, aber viele Zahlen und Studien belegen es: Eliten sind nach wie vor elitäre Zirkel, hermetische homogene Gesellschaften, die ihren Nachwuchs aus den eigenen Reihen rekrutieren und sich gegenüber anderen sozial schwächeren Schichten abschotten. In diesem Zusammenhang ist die Rede von sozialer Gerechtigkeit eine wohlfeile Sonntagsrede. Und das gilt nicht nur für Deutschland.
Michael Hartmann, Professor für Soziologie an der TU Darmstadt, ist einer der profiliertesten Eliteforscher Deutschlands. Er beschreibt das Phänomen im europäischen Kontext.

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Zum Autor
Michael Hartmann
Michael Hartmann wurde 1952 geboren, ab 1971 Studium der Politikwissenschaften, Germanistik, Soziologie, Philosophie, Psychologie und Geschichte, 1979 Promotion zum Dr. phil.; 1983 Habilitation. Seit 1999 ist Hartmann Professor für Soziologie an der TU Darmstadt. Arbeitsschwerpunkte: Eliteforschung, Industrie- und Organisationssoziologie, Managementsoziologie, Globalisierung und nationale Wirtschaftsstrukturen.

Auswahl der Bücher:
Eliten und Macht in Europa. Campus
Elitesoziologie. Eine Einführung. Campus
Der Mythos von den Leistungseliten. Campus
Topmanager - die Rekrutierung einer Elite. Campus

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INHALT
Ansage:

Heute mit dem Thema: „Wir da oben, ihr da unten – Eliten in Europa“.

Man mag es kaum glauben, weil die Diagnose einfach nicht zu fortschrittlichen transparenten Demokratien passt, aber viele Zahlen und Studien belegen es: Eliten sind nach wie vor elitäre homogene Zirkel, die den Nachwuchs mit Vorliebe aus den eigenen Reihe rekrutieren und sich gegenüber anderen, sozial schwächeren Schichten abschotten. Nicht zuletzt der neue PISA-Test weist in genau diese Richtung: Wenn wieder einmal von der OECD kritisiert wird, dass in Deutschland Kinder aus sozial schwachen Familien im Bildungssystem benachteiligt werden, dass sie schlechtere Chancen haben, dann zeigt das, wie und warum Eliten unter sich bleiben können.

Michal Hartmann ist Professor für Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt und er gehört zu den wichtigen Eliteforschern in Deutschland. Seit Jahren kritisiert er anhand überzeugender Studien die eben erwähnte soziale Schieflage. Sein neues Buch mit dem Titel: „Eliten und Macht in Europa“ analysiert das Phänomen im europäischen Kontext: Hartmann fragt, wie Eliten funktionieren und ob sie in Deutschland, Frankreich, Spanien oder Portugal nach dem gleichen Muster funktionieren.

In der SWR2 AULA gibt Michal Hartmann Antworten auf diese Fragen.


Michael Hartmann:

Im August gingen binnen zwei Wochen zwei Meldungen durch die deutschen Medien, die bezeichnend sind für den Zustand der deutschen Gesellschaft. Meldung 1: „Die Anzahl der armen Kinder in unserer Gesellschaft ist auf fast zwei Millionen gestiegen.“ Meldung 2: „Der nach knapp vier Jahren aus dem Amt scheidende EnBW-Vorstandsvorsitzende Utz Claassen bezieht für die Jahre bis zu seinem 63. Geburtstag ein Übergangsgeld von 400.000 Euro jährlich.“ Er ist jetzt 46 Jahre alt, das bedeutet also, er bekommt noch 17 Jahre lang jedes Jahr 400.000 Euro.

Diese zwei Meldungen sind symptomatisch für die Entwicklung in Deutschland. Das zeigen statistische Zahlen. Der Anteil der Armen in der bundesdeutschen Bevölkerung ist zwischen 1998 und 2007 von 12 auf 17 Prozent gestiegen; gleichzeitig gibt es immer mehr Multimillionäre und Milliardäre.

Wenn man sich die Einkommens- und Vermögensaufteilung anschaut, so kann man feststellen, dass ganze 3000 Personen, das heißt weniger als 0,1 Promille der Bevölkerung, inzwischen acht Prozent des Vermögens, was sich in Deutschland befindet, besitzen. Sie besitzen damit doppelt soviel wie die gesamte untere Hälfte der Bevölkerung.

Nimmt man die oberen 10 Prozent der Bevölkerung, so entfallen auf sie 50 Prozent des Vermögens und ein Drittel des Einkommens. Umgekehrt hat sich die Verschuldung der unteren 10 Prozent in den letzten 10 Jahren verfünffacht.

Diese Entwicklung ist nicht nur für Deutschland typisch, sie gilt in ganz Europa. Es gibt inzwischen über 70 Millionen Arme in Europa, gleichzeitig steigt von Jahr zu Jahr die Anzahl der Multimillionäre und Milliardäre.

Dennoch kann man feststellen, dass die einzelnen europäischen Länder sich gravierend unterscheiden, sowohl was die Einkommensverteilung angeht, als auch, was die sonstigen Strukturen der Gesellschaft betrifft. Es ist deswegen lohnend, einen Blick darauf zu werfen, warum diese Unterschiede existieren und wer dafür verantwortlich ist.

Zunächst einige Zahlen: Der Anteil der armen Bevölkerung beträgt zum Beispiel in skandinavischen Ländern nur 11 Prozent. In Großbritannien, Spanien und Portugal liegt er mit gut 20 Prozent doppelt so hoch. Deutschland befindet sich mit einem Anteil von 17 Prozent im oberen Mittelfeld. Betrachtet man umgekehrt die Verteilung der Einkommen und Vermögen, so stellt man fest, dass die Länder mit den geringsten Armutsquoten - nicht überraschend - auch die vergleichsweise gerechteste Einkommensverteilung haben. In Skandinavien beziehen die oberen 20 Prozent der Bevölkerung dreieinhalb Mal soviel Einkommen wie die unteren 20 Prozent, in Großbritannien und Spanien beziehen sie mehr als fünf Mal soviel, in Portugal sogar mehr als sieben Mal soviel.

Das bedeutet, es gibt in Europa eine große Spannbreite zwischen Ländern wie zum Beispiel den skandinavischen, in denen die Einkommensverhältnisse relativ ausgeglichen sind und Armut einen vergleichsweise geringen Teil der Bevölkerung trifft, und Ländern wie zum Beispiel die iberische Halbinsel oder Großbritannien, wo es genau umgekehrt ist.

Wenn man sich nun fragt, woher rühren die großen Unterschiede, so stößt man vor allem auf einen Faktor: die Struktur der jeweiligen nationalen Eliten. Grob zusammengefasst kann man sagen, dass die Einkommensverhältnisse sich umso ungleicher entwickeln, je mächtiger die nationalen Eliten sind. Die Macht der nationalen Eliten wiederum hängt von zwei Faktoren ab: erstens der sozialen Exklusivität und der Homogenität der jeweiligen Eliten; zweitens den existierenden Gegenkräften innerhalb einer Gesellschaft und den Traditionen und Einstellungen.

Die Länder, die im Moment die größten Ungleichheiten in den Einkommensverhältnissen aufweisen, fallen durch die Bank auf durch sehr exklusive und sehr homogene Eliten. So gibt es zum Beispiel in Großbritannien, Spanien, Portugal, aber auch in Frankreich eine soziale Zusammensetzung der wichtigsten Eliten, die, grob ausgedrückt, darauf hinausläuft, dass zwischen zwei Dritteln und vier Fünfteln aller wesentlichen Eliten aus den oberen drei Prozent der Bevölkerung stammen. In der Wirtschaft zeigt sich das am deutlichsten: Jeder zweite Spitzenmanager -in Frankreich sogar drei von fünf- entstammt den oberen fünf Promille, das heißt, den Familien von Großunternehmern, den Geschäftsführern oder Vorstandsmitgliedern großer Unternehmen, von hohen Beamten und Richtern, von hohen Generälen oder Admirälen. Ein weiteres Drittel entstammt den Familien des gehobenen Bürgertums, das heißt den Familien von akademischen Freiberuflern, vor allem Ärzten und Anwälten, den Familien von leitenden Angestellten und so weiter.

In der Politik ist die Exklusivität nicht ganz so ausgeprägt, dennoch stammen immerhin ungefähr zwei Drittel der Spitzenpolitiker aus einem ähnlichen sozialen Milieu. In Spanien, Portugal, Frankreich und Großbritannien variieren die Zahlen zwischen gut 60 Prozent und über 75 Prozent, im Durchschnitt sind es aber immer die zwei Drittel, wenn man sich die Regierungschefs und Regierungsmitglieder anschaut. Das ist schon – mit kleinen Schwankungen – seit Jahrzehnten so.

Verwaltungs- und Justizeliten sind zwei weitere wichtige Eliten. Dort sind die Rekrutierungen nicht ganz so exklusiv, aber doch im Kern vergleichbar mit Prozentsätzen zwischen 60 und gut 70 Prozent.

Die Exklusivität der Eliten ist also ausgesprochen hoch. Dazu kommt, dass diese Eliten sich durch ein hohes Maß an Homogenität auszeichnen, die natürlich erstens auf dem ähnlichen sozialen Hintergrund basiert. Sie beruht aber auch auf spezifischen Ausbildungswegen und auf der Zugehörigkeit zu bestimmten Institutionen innerhalb der staatlichen Verwaltung. Die höchste Homogenität finden wir sicherlich in Frankreich. In Großbritannien und Spanien gibt es zwei besondere Abweichungen von dem französischen Modell. Das französische Modell zeichnet sich dadurch aus, dass die Eliten zum großen Teil dieselben Elite-Hochschulen, die berühmten „Grandes Ecoles“, besucht haben, sei es die auch in Deutschland bekannte ENA, die Ecole Polytechnique, die HEC oder die Sciences Po. Aus der Wirtschaft und der Politik kommen jeweils zwei Drittel, wobei es je nach der Zusammensetzung der Regierung größere Abweichungen gibt, von den Spitzen der Verwaltung über drei Viertel und von den hohen Richtern ebenfalls ein enormer Prozentsatz, vor allem in bestimmten Gerichtstypen. Der Zugang zu den Grandes Ecoles ist sozial außerordentlich eingeengt. Beispielsweise muss in der ENA ein Aufnahmetest bestanden werden, der im wesentlichen helfen soll zu erkennen, ob der jeweilige Bewerber aus einem bestimmten sozialen Milieu kommt. Natürlich wird das soziale Milieu nicht direkt abgefragt, aber man versucht herauszufinden, ob jemand die französische Sprache so beherrscht, wie sie in den entsprechenden hohen Kreisen Frankreichs gesprochen wird, vor allem in der Hauptstadt Paris, ob jemand über die Codes verfügt und ähnliche Dinge.

Zum Beispiel wurde vor einigen Jahren in einem Prüfungsjahrgang gefragt: „Wie tief ist die Donau in Wien?“ Für Franzosen, die sich mit Gegebenheiten außerhalb Frankreichs nicht so gerne beschäftigen, ist das eine außerordentlich komplizierte Frage. Nun hat die Mehrzahl der Prüflinge verzweifelt versucht zu ergründen, wie tief die Donau dort sein könnte. Die brillanteste Antwort kam von einem Bewerber, dessen Vater schon in der ENA war, das heißt von jemandem, der die Selektionsmechanismen, die dort herrschten, kannte. Der wusste, worauf es ankommt. Er hat nicht geantwortet, sondern zurückgefragt: „Unter welcher Brücke meinen Sie?“ Damit hat er erstens signalisiert, dass er das System kennt, er weiß, dass man gar nicht wissen will, ob das nun 10, 15 oder 20 Meter sind; und er hat zweitens den Spieß umgedreht und diejenigen, die ihn verunsichern wollten, seinerseits verunsichert. Das ist das, worauf es bei diesen Prüfungen ankommt: erkennen zu lassen, dass man die Spielregeln kennt und dass man in der Lage ist, das Spiel zu spielen.

Ähnlich verhält es sich auch in anderen Ländern. In Oxford war eine der berühmtesten Fragen: „Was ist Mut?“. Eine legendäre Antwort, von der man zwar nicht weiß, ob sie wirklich stimmt, aber sie geistert seit vielen Jahren als Legende durch Oxford, diese Antwortet war: Jemand hat ein Blatt abgegeben, auf dem stand: „Das ist Mut.“ Nicht mehr und nicht weniger. Das bedeutet auch, in den Elitebildungsinstitutionen Großbritanniens wird weniger Faktenwissen abgefragt, was man sich ja durch Erlernen aneignen kann, es wird abgefragt, ob man fähig ist, auf bestimmte Situationen zu reagieren. Und natürlich kann man in solchen Momenten immer dann am souveränsten handeln, wenn man weiß, worum es geht, wenn man das Milieu kennt, wenn man weiß, wer einem gegenüber sitzt und ähnliches.

Das heißt, diese Elitebildungsinstitutionen sorgen dafür, dass der Großteil der Bevölkerung im Grunde keine Chance hat, egal wie fleißig er auch vorher lernt. Die Zahlen belegen das: An den führenden Grandes Ecoles Frankreichs kommen nicht einmal 10 Prozent der erfolgreichen Bewerber aus der breiten Bevölkerung. Zu 90 Prozent stammen sie aus den Familien höherer Beamter, aus den Familien akademischer Freiberufler, aus den Familien von Generälen und so weiter.

Diese Entwicklung hat sich in den letzten 30 Jahren sogar noch etwas verschärft. Letztendlich sorgt sie dafür, und das kann man auch in Großbritannien feststellen, dass das entscheidende Nadelöhr, das in diesen Ländern den Weg in Elite-Positionen öffnet, schon im Bildungssystem, und zwar vor allem in Frankreich beim Übergang zu den Hochschulen, in Großbritannien schon früher bei der Aufnahme in die berühmten Public Schools vorhanden ist. In Großbritannien zählt - im Gegensatz zu Frankreich - zusätzlich noch der finanzielle Aspekt. Eine gute Public School wie zum Beispiel Eaton kostet inzwischen pro Jahr 25.000 Pfund. Das ist mehr als ein durchschnittliches Jahreseinkommen, so dass die soziale Selektivität schon alleine dadurch gewährleistet ist.

Dieser Mechanismus wird in Frankreich durch ein zweites ergänzt: Ein erheblicher Teil der besten Absolventen der Elite-Hochschulen wird nach dem Examen von Spitzeneinrichtungen der staatlichen Verwaltung, den sogenannten „Grands Corps“, rekrutiert. Unter die „Grands Corps“ fallen zum Beispiel die „Inspection de Finance“ oder das „Corps des Mines“. Man zählt ungefähr fünf zentrale Corps, nimmt man das „Corps Diplomatique“ und noch ein weiteres, kommt man auf sieben. Der beste Absolvent der ENA kann also zwischen verschiedenen Grands Corps wählen, in der Regel fällt seine Wahl auf die Inspection de Finance, die für die Überwachung aller staatlichen Unternehmen und aller Finanzunternehmen des Landes zuständig ist. Jedes Jahr werden ungefähr zehn bis zwölf der besten ENA-Absolventen in die Inspection de Finance aufgenommen. Dort sind sie dann über einige Jahre in kleinen Gruppen zusammen, um im ganzen Land die entsprechenden Unternehmen zu kontrollieren. Welche Konzentration von Macht sich dabei ergeben kann, zeigen zwei Beispiele:

Der frühere sozialistische Ministerpräsident und Parteivorsitzende Jospin hat drei Jahre mit dem langjährigen Chef des Arbeitgeberverbandes und dem Erbe des Wendel-Konzerns, Ernest-Antoine Seillière, in einem Zimmer im Außenministerium gesessen. Die beiden kennen sich bestens und können entsprechend viele Probleme unter vier Augen oder am Telefon klären.

Als zweites Beispiel möchte ich die Abschluss-Jahrgänge der ENA in den Blick nehmen. Die ENA-Abschluss-Jahrgänge werden immer nach berühmten Personen benannt, 1980 nannte er sich nach Voltaire. Ihm gehörten unter anderem an: Der vormalige französische Ministerpräsident de Villepin, einer seiner Minister, der sozialistische Parteichef Hollande, die unterlegene sozialistische Präsidentschaftskandidatin Royal und der Chef der größten französischen Versicherung Axa de Castries.

Solche Beispiele kann man durch die Jahre hindurch mehrere finden. Alle diese Personen gehen zu einem großen Teil in die Grands Corps und bekleiden danach oft wichtige Positionen in Politik und Wirtschaft. Jeder dritte Spitzenmanager und jedes dritte bis fünfte Regierungsmitglied hat eines der wenigen Grand Corps durchlaufen. Diese Grands Corps sorgen zusammen mit den Elite-Hochschulen für eine ungeheure Homogenität der französischen Eliten.

In Großbritannien ist die Homogenität nicht ganz so hoch. Dort gibt es zwar auch Elite-Schulen und -Hochschulen, danach jedoch trennen sich die Karrierewege in die einzelnen Sektoren.

In Spanien wiederum gibt es die Grands Corps. Jedes dritte Regierungsmitglied der aktuellen Regierung Zapatero und jeder fünfte Spitzenmanager der größten spanischen Unternehmen war in einem solche Grand Corps, so dass die Homogenität der spanischen Eliten zwar auch nicht vergleichbar ist mit den französischen, in der Tendenz verhält sie sich aber ähnlich.

Der größte Teil der europäischen Länder zeigt eine geringere Homogenität und Exklusivität. Man kann im großen und ganzen sagen, dass die Wirtschaftseliten in den meisten Ländern ähnlich zusammengesetzt sind wie in Frankreich, Spanien oder Großbritannien. Deutschland ist ein typisches Beispiel. Auch in Deutschland stammt jeder zweite Spitzenmanager aus den oberen fünf Promille der Bevölkerung, dem Großbürgertum, und ein weiteres Drittel aus dem restlichen Bürgertum. Dasselbe könnte man für Holland sagen und mit leichten Abstrichen auch für Italien.

In der Politik findet man allerdings erhebliche Differenzen. Die politische Elite in Deutschland, Italien oder in den Beneluxländern ist traditionell deutlich stärker von den Arbeiter- und den Mittelschichten geprägt. In Deutschland galt bis vor wenigen Jahren eine Grundregel, die besagte, knapp zwei Drittel der Regierungsmitglieder wie der Bundeskanzler kommen aus der Arbeiterschaft oder der Mittelschicht und nur ein gutes Drittel aus bürgerlichen, großbürgerlichen Kreisen. Dasselbe galt für Italien, die Niederlande, Belgien wie auch für die meisten europäischen Länder. Das hat sich in Deutschland, Italien und in den Beneluxländern in den letzten 15 Jahren gravierend verändert. Die schnellste und wohl auch die einschneidendste hat sich in Deutschland abgespielt. Wies die Regierung Schröder Ende der 90er Jahre noch die klassische Verteilung auf - von 16 Ministern und Ministerinnen kamen fünf aus dem Bürgertum -, so verhält es sich in der aktuellen Regierung Merkel genau umgekehrt: Von 16 Ministern und Ministerinnen kommen nur noch sechs nicht aus dem Großbürgertum. Eine ähnliche Veränderung stellen wir auch in Italien oder den Beneluxländern fest. Das heißt, es hat eine gravierende Verbürgerlichung der politischen Elite stattgefunden und damit eine Angleichung an die wirtschaftliche Elite.

Die Verwaltungs- und Justizelite in Deutschland war immer schon deutlicher bürgerlich geprägt, sie lag näher an der Wirtschaft, so dass die Homogenität in Deutschland insgesamt entscheidend zugenommen hat in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren.

Es gibt aber auch einige europäische Länder, die diesem Muster nicht entsprechen. In Skandinavien sind die Eliten deutlich zugänglicher oder sozial durchlässiger als im Rest Europas. In den Wirtschaftseliten zum Beispiel in Schweden stammt nur ein Viertel der Spitzenmanager aus dem Bürger- oder Großbürgertum, die Hälfte stammt aus der breiten Bevölkerung. Das ist in der politischen Elite nicht anders, wo traditionell bis heute zwei Drittel aus der breiten Bevölkerung kommt, ein relativ großer Anteil aus der Arbeiterschaft. Das vorletzte dänische Kabinett zum Beispiel enthielt über ein Drittel der Minister und Ministerinnen aus der Arbeiterschaft. Die skandinavischen Gesellschaften zeichnen sich darüber hinaus dadurch aus, dass vom Bildungssystem angefangen alle gesellschaftlichen Strukturen Durchlässigkeit in sehr viel höherem Maße gewährleistet ist als in Deutschland oder gar in Frankreich, Großbritannien und Spanien.

Das bedeutet, dass in Skandinavien relativ ausgeglichene Einkommens- und Vermögensverhältnisse herrschen durch sozial relativ durchlässige Eliten. Umgekehrt weisen Länder mit einer hohen Homogenität in den Eliten eine relativ hohe soziale Ungleichheit auf, siehe Frankreich oder Portugal. Diese Regel gilt für ganz Europa. Man kann feststellen, dass zunehmend Länder wie Deutschland, Italien oder die Beneluxländer sich dem Muster von Großbritannien, Spanien und Frankreich annähern. Es gibt allerdings einen Faktor, der zusätzlich zu berücksichtigen ist, nämlich: welche Gegenkräfte existieren in einer Bevölkerung.

Frankreich zeichnet sich -verglichen mit seiner Elitenstruktur- durch eine relativ ausgeglichene Einkommens- und Vermögensstruktur aus, das heißt, Frankreich müsste, wenn allein die Homogenität und Exklusivität der Eliten entscheidend wäre, eine deutlich stärkere Spreizung der Einkommen und Vermögen aufweisen, als es real der Fall ist. Der Grund dafür liegt vor allem an einem wesentlichen Punkt: In der französischen Bevölkerung gibt es eine Tradition von Widerstand gegen Maßnahmen von Eliten, die in regelmäßigen Abständen zu größeren Aktionen auf den Straßen führt, organisierte und nichtorganisierte. Es kann ein großer Streik sein wie 1995 oder wie die Studentenstreiks vor einem Jahr, die verhindert haben, dass ein Gesetz, was den rechtlichen Schutz von jungen Erwerbstätigen drastisch eingeschränkt hätte, durchgesetzt werden konnte. In Frankreich gibt es zwar auf der einen Seite sehr exklusive und homogene Eliten, auf der anderen Seite signalisiert aber die Bevölkerung regelmäßig, im Gegensatz zum Beispiel zur britischen oder zur deutschen, wo die Grenzen sind. Sie gibt den Eliten dadurch einen gewissen Handlungsspielraum vor, den diese nicht ohne weiteres durchbrechen kann. Ob die neue Regierung Sarkozy in der Lage ist, dieses Muster zu verändern, lässt sich noch nicht absehen. Jedenfalls hat Sarkozy unter dem Titel „Rupture“ (Bruch, Wandel) seine Absicht dazu angekündigt und öffentlich signalisiert, dass es vor allem um die Macht der Absolventen der Elite-Hochschulen geht. In seiner Regierung ist davon allerdings noch wenig zu spüren. Allerdings ist der Kontakt zwischen der Spitze der Politik, vor allem in seiner Person, und den reichen Großunternehmern des Landes so eng wie noch nie zuvor. Das lässt vermuten, dass unter dem Wort „Rupture“ im wesentlichen verstanden werden kann, dass die Bevölkerung in den nächsten Jahren einem politischen Wandel unterworfen wird, bei dem die bisherigen Möglichkeiten, staatlichen Maßnahmen Widerstand entgegenzusetzen, eingeengt werden sollen. Ob das gelingt oder nicht, wird man abwarten müssen. Einzelne Maßnahmen, die die Regierung bisher ergriffen hat, zielen jedoch schon in diese Richtung. Es ist also möglich, dass Frankreich sich in Bezug auf die Einkommensverhältnisse und deren Ungleichheit sehr viel stärker an die Spitze Europas stellen wird.

In Deutschland wird die Annäherung zwischen der politischen und wirtschaftlichen Elite gravierende Konsequenzen nach sich ziehen insofern, dass die Maßstäbe der Beurteilungen von politischen Entwicklungen sich verändern. Ein typisches Beispiel sind die letzten Bundestagswahlen. Angela Merkel hatte ein Kompetenzteam, bestehend aus Politikern der CDU/CSU, die durch die Bank aus bürgerlichen und großbürgerlichen Verhältnissen stammten. Dieses Kompetenzteam hat nicht begriffen, was die berühmte Bierdeckel-Reform des Herrn Kirchhof für Reaktionen in Teilen der Bevölkerung hervorrufen wird. In ihrem Denken und in dem Umfeld des Teams wurde die „Bierdeckel-Reform“ zur Vereinfachung des Steuersystems und zur gleichzeitigen Entlastung der hohen Einkommen einhellig begrüßt. Das bedeutete aber, dass Fakten wie zum Beispiel die Tatsache, dass Krankenschwestern, die im Schichtbetrieb arbeiten, eine deutlich höhere Steuerbelastung haben würden, in den Überlegungen überhaupt keine Rolle mehr spielte. Das hat zu tun mit der sozialen Homogenisierung der Eliten und diese soziale Homogenisierung schlägt sich eben auch nieder in der Betrachtung der Gesellschaft. Wirtschaftliche und politische Elite, Verwaltungselite wie auch Justizelite sind sich einig in einer Analyse, die darauf hinausläuft, dass die Bevölkerung der Bundesrepublik „den Gürtel enger zu schnallen hat“.

Typisch in diesem Punkt: Utz Claassen. Ein Jahr, bevor er ausgestiegen ist, ein Jahr, bevor diese großzügigen Regelungen für seinen Ruhestand bekannt geworden sind, hat er ein Buch veröffentlicht mit dem Titel: „Mut zur Wahrheit“. In diesem Buch schreibt er einmal, wie schon viele seiner Kollegen und viele Politiker vor ihm, dass Deutschland seit Jahren über seine Verhältnisse lebt. Erstaunlich ist dabei immer wieder, dass die Personen, die das konstatieren, immer in bezug auf Konsequenzen die Bevölkerung im Auge haben, nie sich selbst.

Ein weiteres Beispiel: Die Auseinandersetzung bei der Bahn. Wenn der Bahnvorstand in seinen öffentlichen Stellungnahmen immer wieder kundtut, dass eine Forderung von 31 Prozent Lohnerhöhung jenseits aller realistischen Möglichkeiten liegt, mutet es völlig unverständlich an, dass derselbe Vorstand sich im letzten Jahr eine Erhöhung um 62 Prozent genehmigt hat. Solches Verhalten zeigt, dass zwischen der Wahrnehmung der eigenen Wirklichkeit und der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit bei den Eliten in Deutschland inzwischen eine extrem große Kluft aufgerissen ist, die aber damit zusammenhängt, dass diese Eliten in sehr hohem Umfang, um nicht zu sagen: fast nur miteinander kommunizieren und untereinander die Analyse für die Gesamtgesellschaft und die Wahrnehmung der eigenen Situation recht einheitlich ausfällt.

Das heißt, man stellt fest, in einer Spitzenposition hat man bestimmte Rechte; umgekehrt ist auch klar, dass die Bevölkerung angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten selbstverständlich akzeptieren muss, dass der Gürtel enger zu schnallen ist, dass man Abstriche machen muss, und zwischen diesen beiden Wahrnehmungen besteht überhaupt keine Verbindung mehr.

Das ist für Deutschland symptomatisch, das ist schon länger für Länder wie Großbritannien, Spanien oder Frankreich symptomatisch. In Skandinavien herrschen noch andere Strukturen.

Zum Schluss ein Beispiel was beleuchtet, wie sehr sich die Situation in Skandinavien unterscheidet von der in Zentraleuropa oder West- oder Südeuropa: Die letzte, vor einem Jahr gewählte schwedische Regierung verlor gleich in der ersten Woche zwei Mitglieder des Kabinetts. Diese beiden Ministerinnen mussten zurücktreten, weil offenkundig geworden war, dass sie über einen längeren Zeitraum keine Fernsehgebühren bezahlt hatten und dass sie über einen kurzen Zeitraum illegal Haushaltshilfen beschäftigt hatten. Diese Tatsache hätte in Frankreich nicht einmal ein Achselzucken hervorgerufen. In Frankreich ist die Begünstigung und Bereicherung in öffentlichen Ämtern so verbreitet, dass man sich schlicht und ergreifend daran gewöhnt hat. Das ist in Spanien, zum Teil in Italien nicht anders. In Großbritannien gilt es im öffentlichen Dienst weniger, dafür umso stärker in der Wirtschaft. Das heißt, in Skandinavien hat sich in der Bevölkerung eine Vorstellung erhalten von Gerechtigkeit, von Ausgeglichenheit, von dem, was man tut oder was man nicht tut. Diese Haltung ist in vielen anderen Ländern verloren gegangen, und was noch wichtiger ist: In Skandinavien ist sie bei der Struktur und der Einstellung der Eliten ein Stück weit geblieben.

Wenn Eliten in einzelnen Ländern ihre Spielräume und ihre Macht nur zu ihrem eigenen Vorteil nutzen, so wird das dazu führen - und dafür ist Deutschland ein gutes Beispiel-, dass die soziale Ungleichheit einer Gesellschaft massiv anwachsen wird. Die einzige Chance, das zu verhindern, ist nicht die Hoffnung auf Einsicht der Eliten, sondern der Versuch, diesen Bestrebungen der herrschenden Eliten etwas entgegenzusetzen.

Bassam Tibi : Ein Weg nach Europa oder weg aus Europa - Soll die Türkei der EU beitreten?

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 Islamische Demokratie, demokratischer Islam – Die Türkei auf dem Weg nach Europa
SWR2 Aula
Autor und Sprecher: Professor Bassam Tibi *
Redaktion: Ralf Caspary; Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 1. Oktober 2006, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

ÜBERBLICK
Seit Jahren wird über einen eventuellen Beitritt der Türkei zur europäischen Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft kontrovers diskutiert. Die Gegner sagen, das Land sei wegen der Mentalität, der Kultur, der antidemokratischen Tendenzen noch lange Zeit nicht dazu in der Lage, in den Kanon der demokratischen Staaten mit einzustimmen.

Die Befürworter wiederum sagen, erst durch einen Beitritt werde die Türkei zu Veränderungen in Richtung mehr Demokratie quasi gezwungen. Bassam Tibi, Professor für internationale Beziehungen an der Universität Göttingen, gehört zu den Gegnern. Er weist besonders auf die Gefahr hin, dass durch einen Beitritt Islamisten auch die europäische Wertegemeinschaft unterwandern könnten.


INHALT

Ansage:

Heute mit dem Thema :“Islamische Demokratie, demokratischer Islam – Die Türkei auf dem Weg nach Europa“.

Bundeskanzlerin Merkel wird sich kommende Woche auf den Weg in die Türkei machen, es wird in Gesprächen mit führenden türkischen Politikern natürlich um die Beitrittsverhandlungen gehen. Im Vorfeld signalisierte Merkel, dass man grundsätzlich offen sei, die Beitrittsverhandlungen sollen auf jeden Fall weitergeführt werden, die Türkei spiele eine wichtige Rolle als Brücke zur islamischen Welt. Damit setzte sich die Kanzlerin eindeutig vom CSU-Vorsitzenden Stoiber ab, der vor kurzem noch den Stopp der Verhandlungen gefordert hatte.

Also: Europa nähert sich der Türkei an, die Türkei wiederum ist auf dem Weg nach Europa. Und die entscheidende Frage ist, ob die Türkei den Willen hat, Reformen in Angriff zu nehmen, die das Land EU-kompatibel machen.

Bassam Tibi, Professor für internationale Beziehungen an der Universität Göttingen, verfügt als Nahost-Experte und Politikwissenschaftler, der in Deutschland und Ankara lehrt, über Erfahrungen und das nötige Insiderwissen. In der SWR2 AULA zeigt er, warum er skeptisch ist, warum sich in Bezug auf Demokratisierung in der Türkei noch viel ändern muss.



Bassam Tibi:

Das Thema Türkei und Europa bzw. Türkei und die Europäische Union ist ein sehr „heißes“ Eisen. Es geht nicht nur um eine Beziehung zwischen den beiden, sondern darum, dass die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden will, obwohl sie eigentlich kein europäisches Land ist. Damit meine ich, die Türkei ist nicht christlich. Und hier beginnen schon die Polemiken auf beiden Seiten. Deswegen wird das Thema sehr kontrovers diskutiert.

Hinzu kommen die geographische Lage – die Türkei gehört zum größten Teil dem asiatischen Kontinent an -, und ihre Bevölkerungsstärke von zur Zeit ca. 72 Millionen Menschen. Bis zu einem möglichen Beitritt der Türkei in die EU in frühestens 10 Jahren - die Beitrittsverhandlungen sind auf ungefähr 10 Jahre angesetzt - wird die Bevölkerung schon auf 85 bis 90 Millionen Menschen angewachsen sein. Das sind mehr als in jedem anderen europäischen Land. Mit anderen Worten: Wäre die Türkei nicht ein so großes bevölkerungsreiches Land, wäre ihr Beitritt in die EU sicher auch nicht so umstritten.

Beginnen möchte ich mit einem Bekenntnis: Ich stamme aus Syrien und ich bin Moslem, komme also nicht aus einem „europäischen Land“ mit einer christlichen Religion, sondern aus einem islamischen Land, südlich der Türkei in Asien. Mein Großvater war General in der osmanischen Armee. Ich bin deutscher Staatsbürger und beanspruche für mich, deutscher Bürger zu sein, denn deutscher Bürger zu sein bedeutet in meinen Augen mehr als nur einen deutschen Pass zu haben. Viele Leute meinen zwar, ich sei eigentlich Syrer mit einem deutschen Pass. Aber ich verstehe mich als europäischen Bürger, d. h. als Mitglied des europäischen Gemeinwesens, und als solcher stelle ich Anforderungen an die Türkei, wenn sie der EU beitreten will. Außerdem bin ich Wissenschaftler, d. h. ich befasse mich mit rein sachlichen Kriterien und Fundamenten, die ich im folgenden zu erläutern versuche. Beginnen möchte ich mit zwei verschiedenen Sichtweisen auf das Thema:

Zunächst möchte ich über die Sichtweise der USA sprechen, obwohl die USA ja streng betrachtet nichts mit der Problematik Türkei und EU zu tun haben. Aber sowohl die Europäer als auch die Türken tanzen nach der Pfeife der USA, weil das die einzige Supermacht auf der Welt ist. Die USA reden kräftig mit bei dem Thema, denn sie brauchen die Türkei als geopolitische Schachfigur. Der wichtigste amerikanische Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „The Grand Chess-Board“ („Das große Schachspiel“). Darin bezeichnet er die Türkei als wichtige Schachfigur für die amerikanische Außenpolitik, es sei im Interesse der USA, dass die Türkei in die Europäische Union aufgenommen werde. Aber was im amerikanischen Interesse ist, muss nicht unbedingt im europäischen Interesse sein.

Ich bin kein Anti-Amerikanist, ich habe einen Lehrstuhl in den USA und lebe zeitweise auch dort. Trotzdem bin ich der Meinung, eine europäische Kooperation mit Amerika heißt nicht Unterordnung. Leider verwechselt die amerikanische Politik manchmal das Wort „Koordination“ mit dem Wort „Subordination“. Aber das ist nicht dasselbe!

Der Krieg im Libanon ist zu einem Ende gekommen mit der Resolution des Weltsicherheitsrates 1701. Diese Resolution sieht die Stationierung von UN-Truppen an der libanesisch-israelischen Grenze vor. Die Amerikaner wollten keine Soldaten dorthin schicken aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen im Jahr 1983: Damals wurden bei einem Angriff der Hisbollah auf eine Kaserne der amerikanischen Marines 283 Soldaten ermordet. Amerika möchte, dass europäische und islamische Truppen dorthin geschickt werden. In den letzten Wochen waren in amerikanischen Zeitungen regelmäßig Leitartikel zu lesen, alle mit dem gleichen Tenor: Die Türkei müsse die dominierende Militärmacht im Südlibanon sein, weil das im westlichen Interesse sei. Und weiter: Wenn die Türkei ihre Aufgabe gut erledige, dann solle sie belohnt werden durch ihre Aufnahme in die EU – so die amerikanischen Kommentatoren. Mit anderen Worten: Die Amerikaner bestimmen über Europa und legen fest, welcher Weg zu gehen ist. Aber den Lohn für die Türkei zahlen nicht die Amerikaner, den Lohn zahlt Europa.

Amerika setzt Europa unter Druck, die Türkei aufzunehmen. Ein weiteres Beispiel zeigt das: Als vor ca. 2 Jahren der europäische Gipfel in Kopenhagen stattfand, telefonierte US-Präsident Bush fast täglich mit dem dänischen Ministerpräsidenten Anders Fogh Rasmussen und drängte: „You must let them in!“ – Sie müssen die Türkei in die EU aufnehmen.

Nun ein innereuropäischer Blick: Dieser Tage hat die Europäische Union einen Bericht des Erweiterungskommissars veröffentlicht, der für die Türkei nicht sehr positiv ausfällt. Die Türkei wird in zwei Bereichen kritisiert: Voraussetzung für die Aufnahme in die EU sind politische, wirtschaftliche und soziale Reformen. Je schneller die Reformen vorangetrieben werden, desto schneller schreitet der Prozess der Aufnahme voran. Aber der EU-Bericht konstatiert: Die Reformen stagnieren, und wenn das so weitergeht, können die Aufnahmeverhandlungen eingestellt werden, weil dann die Grundlage fehlt. Der zweite Kritikpunkt betrifft die Grundfreiheiten. In der Türkei herrscht zwar Demokratie, trotzdem entsprechen die Grundfreiheiten nicht dem europäischen Standard. Angesprochen werden hier die Frauenrechte. Und die Redefreiheit: In der Türkei werden Schriftsteller dauernd angeklagt und vor Gericht gebracht wegen ihrer Romane und Veröffentlichungen. Außerdem ist noch die Religion zu nennen, ein Thema, das in der EU sehr kritisch beobachtet wird. In der Türkei herrscht die Säkularisierung, also die Trennung zwischen Kirche und Staat. Trotzdem werden andere Religionen immer noch unterdrückt. Das zeigt sich z. B. daran, dass in Ankara keine einzige christliche Kirche steht, obwohl dort 800 Christen leben. Diese Menschen müssen in die päpstliche Kirche, also quasi die diplomatische Vertretung, gehen, eine eigene Kirche zu bauen wird ihnen versagt. Die einzigen christlichen Kirchen in der Türkei befinden sich in Istanbul. Diese stammen noch aus alten Zeiten und unterliegen heute strengen Restriktionen.

Soweit die Sicht von außen, von Europa. Ich möchte nun auf das Innere der Türkei blicken.

Mir liegt eine Studie von zwei türkischen Professoren, die an Elite-Universitäten in der Türkei lehren, vor. Diese beiden Wissenschaftler haben mehrere Tausend Menschen in der gesamten Türkei befragt mit folgenden Ergebnissen: Die Islamisierung, also die Zusammenführung von Staat und Religion, auf Kosten der Säkularisierung ist in der Türkei auf dem Vormarsch. 60 Prozent aller türkischen Männer wären nicht bereit, ihre Tochter einem „Ungläubigen“, also einem Nicht-Muslim, zur Ehe zu geben. Dazu muss man wissen, dass für Muslime eine Eheschließung ohne Genehmigung des Vaters unmöglich ist, der Vater gibt seine Tochter zur Ehe frei.

Die zunehmende Islamisierung deutet sich für mich auch noch auf andere Weise an: Ich besuche die Türkei regelmäßig, dieses Jahr war ich schon drei Mal dort. Dabei fällt mir auf, dass von Jahr zu Jahr immer mehr Frauen Kopftuch tragen. Noch vor 10 Jahren fand man auf der Hauptstraße von Istanbul, sie ist etwa vergleichbar mit dem Kurfürstendamm in Berlin, kaum eine verschleierte Frau. Heute dagegen trägt jede zweite Kopftuch. Kopftuchtragen ist ein Zeichen für Islamismus. Außerdem nimmt die religiöse Erziehung zu. Und es ist eine Schwächung der säkularen Eliten zu beobachten. Das sind die Befunde der beiden türkischen Wissenschaftler.

Die Türkei ist ein demokratisches Land. Unter den 57 islamischen Ländern gibt es nur zwei demokratische Länder im eigentlich Sinn, die Türkei und Indonesien in Südostasien. Den Irak würde ich nicht dazu zählen.

Indonesien ist sehr weit und betrifft Europa nur wenig. Deshalb interessiert uns hier nur die Türkei. Dort wird die Frage gestellt, ist Islam mit Demokratie vereinbar. Die Türkei ist zwar islamisch, aber sie hat eine säkulare Verfassung, die meiner Meinung nach sogar viel säkularer als die deutsche oder schwedische Verfassung ist. Sie trennt sehr streng zwischen Religion und Politik. Dieses Verständnis beruht auf den Ideen von Kemal Atatürk, dem Begründer der Türkei (Kemalismus). Kemal Atatürk, sein ursprünglicher Name war Mustafa Kemal, war General der türkischen Armee. Mit seiner Revolution von 1919 hatte er die alte osmanisch Ordnung aufgelöst, er verbot die islamische Scharia und islamische Kleidung sowohl für Männer als auch für Frauen. Statt dessen führte er quasi „von oben“ die Säkularisierung ein. Und das ist das Problem in der Türkei: Die Säkularisierung hat sich nicht von unten, aus der Gesellschaft heraus entwickelt, sondern sie ist vom Staat von oben verordnet worden. Deshalb konnte sie keine Wurzeln fassen.

Seit ihrer Gründung wurde die Türkei fast nur von kemalistischen säkularen Parteien regiert. Jetzt kommen zum zweiten Mal Islamisten an die Macht, und zwar mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. Es gab mehrere islamistische Parteien in der Türkei, die sich als demokratisch ausgaben und an der Demokratie teilhaben wollten, obwohl sie eine nicht-demokratische Ideologie vertreten. Diese Parteien sind immer verboten worden. Die letzte dieser Parteien war die Fazilet Partisi, (Tugendpartei) und einer ihrer wichtigsten Politiker war Erdogan, der jetzige türkische Ministerpräsident. Erdogan hatte in einer hitzigen Rede einmal gesagt: „Unsere Moscheen sind die Kasernen, die Kuppeln unserer Moscheen sind unsere Helme und unsere Bajonette sind unsere Waffen im Jihad.“ So sprechen islamische Fundamentalisten. Er saß vier Monate im Gefängnis. Und in diesen vier Monaten, so behauptet Erdogan, habe er sich geläutert und herausgefunden, dass die beste Lösung für die Türkei der Weg nach Europa sei. Er hat die neue Partei AKP gegründet. Das war zu einer Zeit, als sich die kemalistischen Parteien in einer Krise befanden. Ihre Politiker ließen sich bestechen und so konnte die AKP die Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament erreichen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Türkei ist so etwas passiert. Mit demokratischen Mitteln hat die AKP das Land in ihren Griff bekommen. Ihre einzige Hürde ist jetzt noch Präsident Ahmet Necdet Sezer. Sezer gilt als Vollblut-Kemalist. Er verweigert seine Unterschrift unter vielen Beschlüssen des Parlaments. Aber in einem Jahr geht seine Amtszeit zu Ende, und dann wählt das Parlament einen neuen Saatspräsidenten. Erdogan liebäugelt mit dem Amt, und er wird es auch bekommen, wenn er das will. Denn seine Partei, die AKP (Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung), bildet ja die Mehrheit im Parlament.

In ihrer Public Relation gegenüber Europa behaupten die AKP-Politiker, sie seien keine Islamisten mehr, sie seien jetzt islamisch-konservativ. Sie sagen, sie seien so islamisch-konservativ wie die CDU christlich-konservativ ist. Aber die CDU will keinen christlichen Staat etablieren. Ich meine, wir haben jetzt eine CDU-Bundeskanzlerin, aber ich habe noch keine Bewegung in der CDU gesehen, die säkulares Recht durch ein christliches Recht ersetzen will. Ganz im Gegensatz zur AKP: Dort ist die Scharia-Orientierung sehr deutlich. Auch die Verbindungen der AKP zu islamistischen Parteien in der Region des Nahen Ostens sind auffällig. Ein Beispiel: Als die Hamas, eine islamistische terroristische Bewegung, im Januar d. J. die Wahl in Palästina gewonnen hatte, führte die erste Reise einer Hamas-Delegation nach Ankara, wo sie offiziell empfangen wurde.

Schauen wir noch einmal auf den Libanon: Meiner Ansicht nach ist die USA blind, wenn sie fordert, dass die Türkei in militärischer Hinsicht im Südlibanon dominieren solle. Der türkische Ministerpräsident Erdogan sagte, die Türkei sei bereit, Truppen in den Libanon zu schicken. Aber wenn türkische Truppen die Hisbollah entwaffnen sollen, werden sie sofort abgezogen und in die Türkei zurückkehren. Diese Aussage zeugt nicht gerade von einer Distanz der AKP zur Hisbollah, und das ist ein Problem.

Wie schon gesagt, reise ich seit Jahren regelmäßig in die Türkei. Seit vier Jahren, seit die AKP an der Macht ist, beobachte ich, wie die AKP das demokratische System unterwandert. Sie hat mehrere tausend Beamte und Richter ausgetauscht, um damit eine schleichende Islamisierung in den politischen Institutionen durchzusetzen. Nur in eine Institution können sie nicht eindringen, und das ist die Armee. Die türkische Armee umfasst etwa 1 Million Soldaten. Sie ist auch eine soziale Institution, denn Offiziere, die in die Kadettenschule aufgenommen werden wollen, werden zuerst aufs Genaueste überprüft auf mögliche Verbindungen zu Islamisten. Ausgebildet wird nicht nur in militärischer Hinsicht, sondern die Ausbildung beinhaltet auch eine kemalistisch Indoktrination hinsichtlich des Säkularismus. Auch im Sicherheitsrat ist die türkische Armee vertreten. Die Islamisten wiederum benutzen die Europäische Union, um den Sicherheitsrat zu neutralisieren, und sie waren ziemlich erfolgreich damit. Die Armee hat heute nicht mehr den gleichen Einfluss wie früher, und trotzdem hält sie still. Denn sie bekommt Druck von den USA: Seid still, stürzt Erdogan nicht, Ihr dürft Euch nicht in die Politik einmischen!

Zur Zeit ist die Situation in der Türkei höchst angespannt. Die Atmosphäre ist vergiftet durch den Konflikt zwischen Islamisten und Kemalisten. Die Kemalisten werden immer schwächer, während die Islamisten erstarken und sehr an Einfluss gewonnen haben. Wenn man in der Türkei gelebt und nicht nur als Tourist das Land besucht hat, erkennt man zwei Gesichter der Türkei: Das eine ist das städtische säkulare Gesicht, z. B. in Ankara, Instanbul und Izmir. Die andere Seite ist die ländliche islamistische Türkei, die Osttürkei, vor allem Anatolien. Von dort stammen auch die Hauptwähler der AKP. Und im rahmen dieses Unterschiedes wird in der Türkei die Identitäts-Debatte geführt: Wer sind wir? Gehören wir zu Europa oder gehören wir zum Nahen Osten, zur islamischen Welt? Trotz der vergifteten Atmosphäre war es nach meiner Erfahrung leichter, in Istanbul über diese Fragen zu reden als in Deutschland. Eine türkische Zeitung hat mich gebeten, einen Artikel zum Thema: Gehört die Türkei zu Europa? zu verfassen. Ich habe geschrieben, dass die Eintrittskarte der Türkei für Europa die Integration der Türken in Europa ist. 4 Millionen Türken leben in Europa, 2,5 Millionen in Deutschland, der Rest ist in ganz Europa zerstreut. Die Türkei gehört erst dann zu Europa, wenn die sie europäisiert wird. Auf islamischer Grundlage wäre das nicht möglich.

Dieser Artikel wurde in Istanbul veröffentlich. Ich war dort und habe mit den Menschen darüber gesprochen, sachlich diskutiert, manchmal wurde geschrieen, aber wir sind eben Orientalen, wir meinen das nicht so. In Deutschland aber gibt es Tabus. Ich merke das auch an meinem Buch „Mit dem Kopftuch nach Europa“, ich werde deswegen angefeindet. Mir wird unterstellt, ich hätte ein Feindbild Islam, dabei bin ich selber Moslem. Ich bin dafür, dass die Türkei in die EU aufgenommen wird, aber auf Grundlage europäischer Werteorientierung.

Ich weiß als Nahost-Experte, dass die Araber eine türkische Führung nie akzeptieren würden. Anders sieht das in Zentralasien aus. In fünf Staaten Zentralasiens, den ehemalige Republiken der Sowjetunion, leben türkische Völker. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass nur wenige Türken folgende Tatsache kennen: Anfang des 9. Jahrhunderts gab es überhaupt keine Türken in dem Gebiet, das heute Türkei heißt. Dieses Gebiet gehörte früher zu Byzanz. Die Türken beginnen ab dem 8. Jahrhundert, von Zentralasien in den Vorderen Orient zu wandern. Das waren richtige Völkerwanderungen. Sie haben sich den arabischen Armeen angeschlossen und sich später verselbständigt. Aber das alles begann erst im späten 8. und Anfang des 9. Jahrhunderts.

Der Ursprung der Türken ist also Zentralasien, Usbekistan, Turkmenistan. 1993 war ich zum ersten Mal in Taschkent und mehreren anderen usbekischen Städten. Damals habe ich die große Begeisterung der Menschen für die Türkei erlebt. Sie glaubten, die Türkei werde sie in die Zukunft führen. Bestätigt wurde das durch den damaligen türkischen Präsident im gleichen Jahr, der bei einem Besuch in Taschkent sagte: „Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Türken. Die Türken werden sich vereinigen von Südostasien bis zum Balkan, und wir – die Türken – werden die nächste Weltmacht sein.“ Daraus wurde bekanntermaßen nichts. Acht Jahre später im Jahr 2001 habe ich Usbekistan nochmals besucht. Da war nichts mehr von der früheren Begeisterung zu spüren, im Gegenteil: Die Menschen lehnten die Türkei total ab.

Eine Erklärung dafür ist, dass früher viele tausend junge Usbeken in die Türkei gehen sollten, um dort zu studieren, gleichzeitig sollten sie den Kemalismus verinnerlichen und dann in ihre Heimat zurückkehren und dort helfen, eine Art türkisch-orientierte Renaissance in Zentralasien zu initiieren.

Zu dieser Zeit, 1995, hatte ich gerade eine Professur in Ankara und hatte Gelegenheit, viele dieser usbekischen Studenten kennen zu lernen. Dabei habe ich beobachtet, wie sie unter den Einfluss von Islamisten gerieten, und viele von ihnen sind nicht etwa als Kemalisten in ihre Heimat zurückgekehrt, sondern als Islamisten mit der Idee eines islamischen Staates im Kopf. In der Folge hat der usbekische Präsident Islam Karimow dann verordnet, keine Studenten mehr in die Türkei zu schicken, er sagte sinngemäß: „Wir wollen keine Islamisten. Wir haben die jungen Leute in die Türkei geschickt, damit sie unsere Trennung zwischen Religion unterstützen, und nun kommen sie als Islamisten zurück.“

Ich fasse zusammen: Der Einfluss der Türkei heute im Nahen Osten, Zentralasien und im Balkan ist minimal. Die Rechnung der Amerikaner, die Türkei als Schachfigur in dieser Region zu verwenden, geht nicht auf. Natürlich darf man der Türkei aber nicht den Rücken zuwenden. Das wäre mörderisch für Europa! Aber das andere Extrem ist auch falsch. Beitrittsverhandlungen müssen sachlich geführt werden und als Orientierung müssen europäische Werte gelten. Europa darf sich nicht erpressen lassen. Die türkische Regierung beschimpft die EU gerne als „Christenclub“ nach dem Motto: Wenn Ihr uns nicht aufnehmt, seid Ihr als „Christenclub“ Feinde des Islam. Das ist Erpressung, das darf sich die EU nicht gefallen lassen! Die Europäische Union ist ein säkularer Staatenverband und kein Christenclub.

Umgekehrt lässt sich aber auch sagen: Die EU mischt sich immer wieder in die türkische Innenpolitik ein und verhält sich dabei leider wie ein „Elefant im Porzellanladen“. Das erzeugt bei den Türken natürlich eher eine anti-europäische Haltung. Tatsächlich zeigen die letzten Umfragen auch, dass die Zustimmung unter den Türken zum Beitritt in die EU innerhalb von nur einem halben Jahr auf 15 Prozent zurückgegangen ist. Deshalb ist es wichtig, dass die Europäer darüber nachdenken, wie sie die Türkei unterstützen können. Bisher passiert das zu wenig. Europa arbeitet leider eng mit der AKP, zusammen. Eine Diskussion, ob die AKP islamisch-konservativ oder islamistisch ist, ist in Brüssel unerwünscht.

Dabei gibt es Hoffnung. Ich würde sagen, ungefähr 20 Prozent der Türken denken europäisch und sind europäisch sozialisiert. Diese Menschen darf Europa nicht verlieren! Sie müssen gefördert und angesprochen werden.

Und es gibt noch ein Problem: Die türkischen Islamisten betreiben sogenannte Welfare Institutions (Wohlfahrtinstitutionen). Wir kennen das von der Hisbollah im Libanon oder den Hamas, deren Stärke sind eben ihre Wohlfahrtsorganisationen, mit denen sie die Gesellschaft von innen erobern. Die Hisbollah hat jetzt jedem, der im Krieg sein Haus verloren hat, 12.000 Dollar gegeben als erste Zahlung. Die libanesische Regierung kann das nicht bezahlen, deshalb ist Europa aufgerufen, die libanesische Regierung finanziell zu unterstützen, um den Einfluss der Hisbollah zurückzuschrauben.

In der Türkei ist es ähnlich: Ich habe gesehen, wie massiv präsent die zivilgesellschaftlichen Organisationen der AKP in der Türkei sind, sie erobern die Herzen und Seelen der Türken – zu Ungunsten der 20 Prozent, die europäisch denken. Wenn die Türkei verloren ginge für Europa, wäre das ein Riesenschaden, nicht nur in geopolitischer Hinsicht.

Ein weiteres Argument will ich aufführen: Einige türkische Politiker sagen, die Türkei müsse in die EU aufgenommen werden, weil immerhin 4 Millionen Türken in Europa leben. Die Türkei sei demnach ein Stück von Europa. Meiner Meinung nach ist das kein Argument. Schauen Sie nach Frankreich, wo 8 Millionen Muslime beheimatet sind, 95 Prozent davon stammen aus Nordafrika – Algerien, Tunesien und Marokko. Algerien und Marokko verlangen deswegen aber noch lange nicht die Aufnahme in die EU. Oder die Niederlande: Die Niederlande hat insgesamt rund 14 Millionen Einwohner, 1 Million davon sind Nordafrikaner, fast 10 Prozent. Also dieses Argument trägt nicht!

Summa sumarum meine ich: Die Türkei muss drei Kriterien erfüllen, um der EU beitreten zu können. Erstens muss sie den europäischen Standard in Sachen Demokratie aufweisen. Zweitens: Europäische Werte, zu denen z. B. auch gehört, dass Religionen gleich sind, müssen auch in der Türkei gelten. Die Türkei diskriminiert aber nicht nur Christen und Kurden, sondern auch innerhalb der Islamgemeinde herrscht Diskriminierung. Ein Beispiel: Mindestens 25 Prozent der Türken gehören den Aleviten an. Aleviten haben in der Türkei nichts zu melden, sie werden diskriminiert, denn der Islam in der Türkei in seiner Mehrheit ist sunnitisch. Die Türkei sagt zwar, sie sei säkular, aber was bedeutet schon säkular, wenn sie im Namen eines sunnitischen Islam Aleviten diskriminiert? Nach europäischen Maßstäben darf das nicht sein.

Und der dritte Bereich betrifft die türkische Wirtschaft, in meinen Augen ist das ein Fass ohne Boden. Als Tansu Ciller Ministerpräsidentin war, habe ich gerade in der Türkei gelebt. Damals hatte die Weltbank der Türkei eine Geldspritze von mehreren Milliarden, ich glaube, es waren 16 Milliarden Dollar, verpasst, um die Ökonomie zu sanieren. Dieses Geld ist einfach verschwunden. Man weiß nicht, wo es ist. Einen Teil, soviel ist klar, hat Tansu Ciller bekommen. Sie hatte deswegen auch ein Verfahren im Parlament, nachdem aber eine Koalition mit den regierenden Islamisten gebildet hatte, wurde das Verfahren eingestellt. So was darf einfach nicht passieren. Wenn ein Politiker in Deutschland oder Europa auch nur in den geringsten Verdacht der Korruption gerät, muss er am nächsten Tag seinen Hut nehmen. In der Türkei sieht das leider anders aus.


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* Zum Autor:
Bassam Tibi wurde 1944 in Damaskus geboren, wo er bis zum Abitur die Schule besuchte. Er kam 1962 nach Frankfurt am Main und studierte bei Horkheimer und Adorno Sozialwissenschaften, Geschichte und Philosophie. Es folgten die Promotion in Frankfurt und die Habilitation in Hamburg. Seit 1973 ist Tibi Professor für Internationale Beziehung an der Universität Göttingen, seit 1988 leitet er diesen Fachbereich. Tibi gilt als Begründer der „Islamologie“ und ist einer der Exponenten des islamisch-jüdisch-christlichen Trialogs.

Bücher:
- Die Krise des modernen Islams. Suhrkamp-Verlag.
- Mit dem Kopftuch nach Europa. Die Türkei auf dem Weg in die Europ. Union. Primus-Verlag.
- Kreuzzug und Djihad. Goldmann-Verlag.
- Der neue Totalitarismus. Primus-Verlag.
- Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte. Ullstein-Verlag.
- Krieg der Zivilisationen. Verlag Hoffman & Campe.
- Europa ohne Identität? Bertelsmann-Verlag.
- Mit dem Kopftuch nach Europa. Die Türkei auf dem Weg in die Europäische Union. Wissenschaftliche Buchgesellschaft