SWR2 Aula Wilhelm Schmid : Philosophen am Bett . Der etwas andere Krankenhausseelsorger
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Krankenhausseelsorger - Philosophen
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SWR2 Aula Wilhelm Schmid : Philosophen am Bett . Der etwas andere Krankenhausseelsorger
Sendung: Sonntag, 11. September 2016 Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2016
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ÜBERBLICK
Wer schwer krank ist, befindet sich zumeist in einer existenziellen Grenzsituation: Er wird konfrontiert mit Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Sterben und Tod. Bei der Lösung dieser Fragen können oftmals Philosophen eine große Hilfe sein, weil sie überraschende und lebenspraktische Antworten haben. Wilhelm Schmid, Philosoph und Buchautor, war lange Zeit in einem Krankenhaus als philosophischer Seelsorger unterwegs und schildert seine Erfahrungen.
AUTOR
Wilhelm Schmid, geboren 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt.
Bücher (Auswahl):
· Das Leben verstehen – Von den Erfahrungen eines philosophischen Seelsorgers. Suhrkamp-Verlag. September 2016.
· Vom Nutzen der Feindschaft, Insel Verlag, 2015.
· Vom Glück der Freundschaft, 3. Aufl., Insel Verlag, 2014.
· Gelassenheit – Was wir gewinnen, wenn wir älter werden, Insel Verlag, 2014.
ÜBERBLICK
Wer schwer krank ist, befindet sich zumeist in einer existenziellen Grenzsituation: Er wird konfrontiert mit Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Sterben und Tod. Bei der Lösung dieser Fragen können oftmals Philosophen eine große Hilfe sein, weil sie überraschende und lebenspraktische Antworten haben. Wilhelm Schmid, Philosoph und Buchautor, war lange Zeit in einem Krankenhaus als philosophischer Seelsorger unterwegs und schildert seine Erfahrungen.
INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: "Philosophen am Bett – Der etwas andere Seelsorger im Krankenhaus".
Ja, Sie haben richtig gehört, Philosophen können auch ganz praktisch als Seelsorger arbeiten, sie müssen nicht immer über das Ding an sich oder das Absolute oder das logisch richtige Argument nachdenken, sie können sich auch im Zwischenmenschlichen sehr gut engagieren.
Dabei geht es um Lebenskunst: Philosophie, verstanden als Lebenskunst, hilft anderen dabei, das Leben wieder in den Griff zu bekommen, mit Krisen fertig zu werden.
Wilhelm Schmid, Philosoph und Buchautor, arbeitete lange Zeit in einem Krankenhaus als Seelsorger. In der SWR2 AULA berichtet er über seine Erfahrungen:
Wilhelm Schmid:
Der Philosophie ist alles zuzutrauen, nur eines nicht: Lebenshilfe. Das ist die Überzeugung vieler Menschen, die die Philosophie in einem Turm aus Elfenbein vermuten, aber auch die Überzeugung vieler Philosophen selbst. Dabei ist Philosophie zunächst nichts anderes als ein Innehalten und Nachdenken – das ist eine bescheidene Definition, aber Philosophie beginnt seit jeher mit diesem Moment. Es geht dabei nicht um eine weitere Form von Therapie, sondern um das Nachdenken über Lebensfragen, die Klärung von Bedingungen, dessen also, "was ist", und die Eröffnung von Optionen durch das Denken dessen, "was möglich ist".
Die Philosophie ist eine Hilfestellung auf dem Weg zur Lebenskunst, und diese Hilfestellung findet vor allem auf der Ebene der nüchternen Analyse und des offenen Denkens statt. Nur die moderne akademische Philosophie hat das im 19. und 20. Jahrhundert aus den Augen verloren, und dafür gab es Gründe: In einer Zeit, in der alle Hoffnungen sich darauf richteten, mithilfe von Wissenschaft und Technik sämtliche großen und kleinen Lebensprobleme lösen zu können, bedurfte es keiner philosophischen Lebenskunst mehr. Die Philosophie sah, nicht zuletzt aus Überlebensgründen, ihre Aufgabe nur noch darin, wissenschaftliche Dienstleistung zu betreiben. Heute ändert sich das von Grund auf, denn immer deutlicher wird, dass Wissenschaft und Technik zwar einige Lebensprobleme gelöst, neue aber heraufgeführt haben. So bedarf die Zeit wieder einer Form von Philosophie, die sich den Lebensfragen widmet.
Wie dies unter heutigen Bedingungen aussehen kann, lässt sich am besten in der Praxis erproben. Was meinen eigenen Beitrag dazu angeht, machte ich ein Jahrzehnt lang bei einer Nebentätigkeit in einem Allgemeinkrankenhaus in der Nähe von Zürich einige Erfahrungen. Ich habe an der Seite von Therapeuten und Theologen gearbeitet und im engen Austausch mit ihnen, aber eben mit philosophischem Hintergrund.
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Was soll ein Philosoph im Krankenhaus? Ich selbst war derjenige, der diese Frage stellte, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Philosophie in Situationen, in denen es oft wirklich um Leben und Tod geht, sinnvoll sein könnte.
Den Anfang machte ein Essay "Vom Sinn der Schmerzen", den ich in einer Schweizer Zeitung publizierte. Von der Leitung des Spitals Affoltern am Albis bei Zürich wurde ich gebeten, darüber vorzutragen. Meine Überlegungen bestanden darin, im Schmerz den Stachel zu sehen, der immer aufs Neue zum Nachdenken über das Leben nötigt und damit zur Lebensorientierung beiträgt. Das fand Anklang und zog die Einladung nach sich, auch mal selbst im Haus zu arbeiten.
Die Praxis ist für Philosophen allerdings ein Ärgernis. Die Philosophie kann in der Praxis scheitern, denn die wirkliche Welt entspricht selten den Begriffen, die Philosophen sich von ihr bilden. Sie neigen dazu, die Schuld dafür nicht so sehr bei den Begriffen, sondern bei der wirklichen Welt zu suchen, die selbst daran schuld ist, wenn sie den Begriffen nicht entsprechen will. Und immer bringt die Praxis für das Denken die Gefahr mit sich, die Distanz zur Unmittelbarkeit zu verlieren, die für jedes Denken wesentlich ist. Aber was wäre eine Lebenskunst wert, die sich dem Leben nicht stellt, wenn es schwierig wird? So kam es dazu, mit dem Blick von außen in diese so ganz andere Welt einzutauchen.
An diesem Krankenhaus wurde schon seit längerer Zeit versucht, neue Wege zu gehen. Die dortigen Schulmediziner waren überzeugt, dass sie die volle Wirklichkeit eines Menschen und seiner Krankheit nicht allein erfassen können. Sie wollten nicht nur an Symptomen laborieren, sondern die Gesamtsituation gründlicher verstehen und auf sie antworten. Dieses integrative Konzept wird getragen von einem Menschenbild, das den körperlichen, seelischen und geistigen Dimensionen des Menschseins Rechnung tragen will. Es geht dabei um die Lebensbewältigung derer, die krank sind, aber auch derer, die die Kranken betreuen, unmittelbar im Umgang mit ihnen oder mittelbar aufgrund der Arbeit im Haus.
Um das integrative Konzept umzusetzen, kam es frühzeitig zu einer starken Einbeziehung der Psychotherapie, die das medizinische Angebot ergänzt. Und schließlich fiel die Entscheidung, über die Psychotherapie hinaus und parallel zum bewährten Angebot der Theologie auch die Philosophie zu beteiligen. Wenn der Versuch, den Menschen als körperlich-seelisch-geistige Integrität zu verstehen, das leitende Anliegen ist, kann die Philosophie vielleicht dazu beitragen, dass der geistige Aspekt, die Rolle des Denkens und Nachdenkens, stärker berücksichtigt wird. Die philosophische Arbeit im Krankenhaus entfaltete sich auf dieser Grundlage in vierfacher Hinsicht:
Zum Ersten wurden in Vorträgen einzelne Themen von mir dargestellt, sodann in abendlichen Seminaren von vielen diskutiert und auf die Praxis im Krankenhaus und die jeweils eigene Lebenspraxis bezogen. Beispielsweise das Problem der "Berührung", auf das ich im Laufe der Arbeit aufmerksam wurde, da es im Umgang zwischen Menschen und ganz besonders im Krankenhaus eine große Rolle spielt. So widmeten wir uns zwei Wochen lang allen Aspekten dieses Phänomens der Berührung und des Berührtwerdens.
Zum Zweiten war es möglich, in Gruppengesprächen bestimmten konkreten Problemen, die sich stellen, intensiv nachzugehen. Beispielsweise dem Umgang mit
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Gewohnheiten, den eigenen des Personals wie denjenigen von Patienten, denn die Gewohnheiten der Einen kollidieren des öfteren mit denen der Anderen.
Zum Dritten ging es in Einzelgesprächen mit den Patienten, jedoch auch mit den Pflegenden und den Ärzten um individuelle Lebenssituationen und Gedanken zum Leben überhaupt. Diese Fragen werden drängend, wenn Menschen mit Schmerz, Leid und Tod konfrontiert sind. Vor allem Fragen nach dem Sinn bewegen keineswegs nur Patienten, sondern auch diejenigen, die sich sichtbar in Medizin und Pflege und weniger sichtbar in der Verwaltung und anderen Bereichen um Patienten kümmern und oft große Belastungen aushalten müssen.
Zum Vierten wanderte ich immer auch quer durchs Haus und lernte in transversaler Arbeit die verschiedensten Abteilungen und Arbeitsbereiche im Krankenhaus von der Küche bis zur Leitungsebene kennen. Die wirklich gelebte Praxis wird auf diese Weise fassbarer, und der persönliche Umgang miteinander lässt sich besser pflegen, der die integrativen Kräfte in einer so komplexen Institution stärkt.
Der Philosoph im Krankenhaus ist ein säkularer Seelsorger. Die Seelsorge wird dabei als Anleitung Anderer zu ihrer Sorge für sich selbst verstanden – ganz so, wie das heute auch viele theologische Seelsorger sehen. Damit findet neben der traditionellen, christlichen Auffassung von Seelsorge auch deren vorchristliche philosophische Bedeutung wieder Eingang in die Praxis. Denn das Wort und die Sache gehen auf Sokrates und Platon zurück: epimeleia tes psyches im Griechischen, Sorge um die Seele, Sorge für die Seele, Seele als das Wesentliche des Menschen verstanden, das besonderer Aufmerksamkeit und Pflege bedarf. Es ist mir jedoch klar geworden in der Zeit im Krankenhaus, dass die Funktion des Philosophen nicht mehr, wie in der Antike, die eines "Seelenarztes” sein kann, der völlige Gewissheit darüber hat, wie das Leben zu leben sei. Der Philosoph kann nicht mehr normative, nur noch optative Funktion haben: Optionen eröffnen, Möglichkeiten aufzeigen, das Für und Wider der verschiedenen Möglichkeiten erörtern, auch einen unverbindlichen Ratschlag aus eigener Sicht geben, anhand dessen und in Auseinandersetzung damit sein Gegenüber die eigene Position finden und festlegen kann.
Das geschieht vorzugsweise durch den Sprung auf eine Metaebene, das Herausspringen aus einer unmittelbaren Situation, um einen weiteren Horizont zu gewinnen, zeitlich und räumlich, im Denken und im Fühlen, schließlich auch im Handeln. Es kann dabei um die Begriffe gehen, die für jedes Leben leitend sind, vorweg um den Begriff des "Lebens" selbst: Was versteht ein Mensch darunter, welche Idee hat er davon, welche Vorstellungen verbindet er damit? Oft leiden Menschen darunter, dass ihr Leben nicht so "positiv" verläuft, wie das in moderner Zeit zur Norm geworden ist. Wir überlegen gemeinsam, ob diese Fixierung auf das Positive wirklich eine sinnvolle Auffassung sein kann. Und wenn jemand damit in die Irre gegangen ist: Welche anderen Ideen und Vorstellungen könnte es noch geben? Wir fragen gemeinsam danach, was im gegebenen Leben rein denkerisch noch möglich wäre, über das hinaus, was faktisch wirklich ist: Welche Wahl steht offen oder lässt sich eröffnen, zwischen welchen Alternativen? Welche zwei, drei Möglichkeiten lassen sich ausdenken, und welche dieser Möglichkeiten zieht Faszination oder wenigstens Interesse auf sich?
Dann kommt es darauf an, auf der Basis einer getroffenen Wahl zur Verwirklichung einer Möglichkeit anzuleiten, um ein anderes Denken einzuüben und Gewohnheiten
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zu verändern. Welche Schritte führen zur Verwirklichung einer Möglichkeit? Welche Anstrengungen erfordert das von wem, welche Organisationsarbeit ist zu leisten, welche Gespräche sollte wer mit wem führen? Wie bewerkstellige ich den Übergang vom Leben, wie es ist, zum Leben, wie es sein soll? Seit Menschengedenken ist der Übergang von einer Einsicht, einer Entscheidung, einer Vorstellung vom Künftigen, kurz: vom Denken zum Tun schwierig. Daher erfanden bereits die antiken Philosophen die Übung (griechisch askesis). Askese hilft beim Übergang vom gegenwärtig wirklichen zum künftig möglichen Leben, das den Vorstellungen und Sehnsüchten von einem schönen Leben eher entspricht.
Die asketische Brücke ist das Einüben eines anderen Denkens und Verhaltens, die Schaffung veränderter Gewohnheiten, die geduldige, unverdrossene Anstrengung von Tag zu Tag, über Wochen, Monate und Jahre hinweg, mit viel Geduld und Durchhaltevermögen, bis das Eingeübte zur "zweiten Natur" wird. Niemand kann dies einem Menschen abnehmen. Jede Verwirklichung bedarf einer Gründung in der Zeit, jeder Schritt an jedem Tag hier und jetzt wird zum Instrument der Arbeit an einem künftigen Leben dort und morgen. Was der jeweilige Tag an Tätigkeit zulässt, ist begrenzt und in seiner Begrenztheit ärgerlich, aber die Abfolge der Tage kann zu einer Ansammlung von Tätigkeiten genutzt werden, deren Summe zum Werk wird. Asketik ist die Formel des Erfolgs, wie ein kleines oder großes Ziel zu erreichen ist. In der Gewissheit, mit der alltäglichen Lebensführung etwas für ein anderes Leben und künftiges Werk zu tun, lässt es sich dann besser in den Tag hineinleben.
Und zugleich gestaltet nicht nur der Mensch, indem er Schritte von einer Möglichkeit zur Wirklichkeit hin entwirft und wirklich geht, mehr oder weniger bewusst und planvoll. Auch das Leben gestaltet, indem es Möglichkeiten eröffnet, vermutlich unbewusst und planlos. Manche Möglichkeiten können ergriffen und verwirklicht werden, beispielsweise Chancen, andere werden verwirklicht, ohne ergriffen zu werden, etwa Krisen und Krankheiten, mit denen ein Mensch trotz aller Widrigkeiten Schritt für Schritt leben lernen kann, ausgehend von der Frage: Was steht in meiner Macht, was nicht? Um sich auf das zu konzentrieren, was in der eigenen Macht steht. Ein Mensch kann sich sagen: Ich kann die Situation nicht ändern, ihre Deutung aber sehr wohl. Hadern ist möglich, bringt aber wenig. Entscheidend ist die Haltung, die ich zur Situation einnehme: Mich offen und vielleicht offensiv zu verhalten, statt abweisend und defensiv zu bleiben, ohne damit etwas an der Situation ändern zu können.
Der Philosoph hat zuweilen Ideen, wie einem Engpass des Denkens und Handelns am besten zu entkommen ist. Er kann für vieles Verständnis haben und stellt vielleicht die Frage nach dem Grund eines Geschehens, aber nicht unbedingt die nach der "Schuld". Und in vielen Fällen hat er einfach die Funktion eines geistigen "Nahrungsmittelvertreters", denn Menschen ernähren sich nun mal nicht nur körperlich mit Essen, nicht nur seelisch mit Gefühlen, sondern auch geistig mit Gedanken. Das Medium, in dem sich das Geistige abspielt, ist das Gespräch. Wenn Philosophie ein Innehalten und Nachdenken ist, dann ist das Gespräch das gemeinsame Innehalten und Nachdenken. Was viele suchen, ist das Gespräch über das Leben: Was soll ich tun oder lassen? Was kann Orientierung im Leben geben? Was ist das eigentlich, "mein Leben"? Hat Krankheit, hat das eigene Leben, hat das Leben überhaupt Sinn?
Eigentlich ist Sinn nicht nur ein Thema fürs Philosophieren im Krankenhaus. Meist nehmen Menschen sich jedoch erst dann Zeit dafür, wenn es existenziell ernst wird.
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Bei Kranken bezieht sich die Frage nach dem Sinn naturgemäß auf die Krankheit: Warum ich? Warum dies? Warum jetzt? Wozu soll das gut sein? Was soll nun werden? Hat die Krankheit irgendwelchen Sinn? Ist sie Ausdruck eines Schicksals, das eine Prüfung für mich vorsieht? Aber wer oder was schickt so etwas?
Jeder Mensch befindet sich auf einem Weg, auf dem dies möglicherweise eine wichtige Station ist, und in Gesprächen kann er auf diesem Weg begleitet werden. Die Frage, ob das Geschehen einen Sinn hat, kann nicht zweifelsfrei beantwortet werden. Es ist möglich, dass eine Krankheit ein bloßer Zufall ist. Alle persönliche Vorsorge, alle staatliche Fürsorge kann eine ungute Entwicklung, einen unglücklichen Zufall, einen Unfall nicht ausschließen. Aber auch bei scheinbarer oder wirklicher Sinnlosigkeit kann allem, was geschieht und geschehen ist, ein Sinn gegeben werden.
Selbst das, was im Augenblick grundlos erscheint oder es tatsächlich ist, kann zumindest im Rückblick noch Sinn gewinnen. Grundlegende Einsichten, wertvolle Erfahrungen, wichtige Beziehungen, neue Lebensziele, die ansonsten unbekannt geblieben wären, können daraus hervorgehen. Eine Krankheit nimmt etwas, aber sie gibt vielleicht auch etwas, nichts ist für nichts. Womöglich stellt sie eine Aufgabe und es ist etwas aus ihr zu lernen. Sie katapultiert in ein anderes Leben und hilft, eine andere Sichtweise zu gewinnen, eine bisher unbekannte Perspektive des Lebens kennenzulernen. Sie ermöglicht, intensiver zu erfahren, was Leben ist, das immer nur als pure Selbstverständlichkeit erschien, ohne sich darüber klarer zu werden, was im Leben wichtig ist und dass es etwas Schönes gibt, eine Freundschaft, eine Liebe, eine Familie oder das Leben selbst. Eine Patientin sagt, sie erhoffe sich von ihrer Krankheit eine Verwandlung zum Menschsein: Jetzt werde alles wertvoll, was früher einfach normal war.
Im Gespräch lassen sich Überlegungen dazu anstellen, ausgehend davon, dass es keine Norm ist, Sinn finden zu müssen, nur eine Option, danach suchen zu können. Vorrang hat natürlich die unmittelbare Hilfe, die Behandlung, das Mitgefühl, dann erst wird die Besinnung möglich, sofern sie erwünscht ist. Eine andere Option ist, in der Sinnlosigkeit zu verharren, die wirklich oder nur scheinbar eine solche ist. Ist alles sinnlos, zumindest aber dieses Geschehen, das mein Leben in Frage stellt? Das auf neutrale, objektive Weise entscheiden zu können, bedürfte einer Gottesposition, eines absoluten, universellen Überblicks. Der aber ist Menschen nicht zugänglich, also ist diese Frage nicht zu beantworten. Das Gespräch hat nicht zum Ziel, eine Option zur einzig richtigen zu erklären, sondern einem Menschen dabei zu helfen, diejenige zu finden, die ihm nach eigener Auffassung am besten entspricht.
Diskutiert werden kann die individuelle Vorstellung davon, was "Glück" ist. Denn das, was darunter verstanden wird, versteht sich keineswegs von selbst. Handelt es sich wirklich, wie Philosophen am Beginn der Moderne definierten, um eine "Maximierung von Lust, Eliminierung von Schmerz"? Angenehm zu leben, nur angenehm, und alles, was unangenehm ist, mit immer besseren Mitteln auszuschalten, das wurde in moderner Zeit zum Traum vieler. Kaum einer stellte die Frage, ob ein so definiertes Glück überhaupt Sinn hat. Geht es im Leben um Glück? Kommt darauf an, was darunter verstanden wird. Kann es wirklich das unentwegt lustvolle, großartige Leben sein, an das viele glauben?
Manchen scheint es zuteil zu werden, aber vielleicht wollen sie auch nur mit ihrem Protzglück Neid bei Anderen erregen, nach dem Motto: "Schaut her, wie toll es bei
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mir läuft! Davon könnt Ihr nur träumen – und dass ihr glaubt, bei mir sei es anders, ist mein eigentliches Glück!" In Wahrheit gibt es nur Teilzeitglückliche, ohne Unterlass vollzeitglücklich ist niemand. Wer es dennoch versucht, gerät in einen Glücksstress, der sicher nicht glücklicher macht.
Im Gespräch können Menschen dazu angeregt werden, mit einer Veränderung ihrer Auffassung von Glück den Blick auf das eigene Leben so zu verändern, dass bei unveränderter Lebenssituation mehr Glück wahrnehmbar wird. Die große Rolle des Zufallsglücks kann erörtert werden, um einen Begriff für das zu gewinnen, was im Leben oft nicht zu verstehen und zu beeinflussen ist, womöglich grundlos so oder anders ausfällt. Der Begriff eines Glücks der Fülle kann ins Spiel gebracht werden, das darauf beruht, die Polarität des Lebens anzuerkennen, die sich zwischen positiven und negativen Erfahrungen spannt, zwischen Freude und Ärger, Gelingen und Misslingen, Glücklich- und Unglücklichsein.
Und zwischen Leben und Tod. Es ist der Umgang mit dem Tod, mit dem viele sich schwertun. Niemand kommt umhin, eine Beziehung zum Tod einzugehen, sei sie positiv, negativ oder gleichgültig. Eine positive Beziehung eröffnet die Möglichkeit, keine Kräfte im Kampf gegen ihn zu vergeuden, ihn vielmehr in seinem Recht anzuerkennen und ihm eventuell sogar Sinn zuzubilligen, etwa den, dass er das Leben durch dessen Begrenzung erst wertvoll macht. Was wäre das Leben, wenn es nie enden würde?
Viele Menschen sind gebannt vom Gedanken an den Tod, den sie nicht denken wollen. Eine gedankliche Anregung besteht darin, diese einzige absolute Gewissheit im Leben zum Ausgangspunkt für eine grundsätzliche Überlegung zu machen: Wo möchte ich angekommen sein, wenn die Gewissheit endgültig Wirklichkeit wird? Welche Schritte kann ich vom Tod aus in Gedanken rückwärtsgehen bis zur Gegenwart, um von hier aus nun die Schritte vorwärts zu machen und zu verwirklichen, was ich mir vornehme, damit ich in unbestimmter Zukunft dort ankommen kann, wo ich hinwill?
Und was ist über den Tod hinaus? Gibt es die Seele? Ist sie unsterblich? Das bewegt viele. Mit Seele könnte die Energie gemeint sein, die das Leben trägt. Sie ist räumlich im Körper verankert und kann zugleich, wie die Ausstrahlung eines Menschen zeigt, weit über ihn hinausreichen. Umgekehrt kann sie sich bis zum Erlöschen jeder Ausstrahlung in ihn zurückziehen. Kein Mensch, kein Lebewesen kann ohne diese Energie leben, schwindet die Energie aus dem Körper, schwindet das Leben. Ähnlich scheint die Energie der Seele auch zeitlich nur bedingt an den Körper gebunden zu sein, dem Energieerhaltungssatz zufolge kann sie vor seiner Zeit da sein und danach bestehen bleiben, in welcher Form auch immer. Das ist jedenfalls meine These, ein mögliches Verständnis, keine endgültige Wahrheit.
Der Philosoph ist ein Partner für das Lebensgespräch, in dem es um all das geht, was eine Rolle fürs Leben spielt. Das Gespräch dient dazu, alte Anschauungen zu überprüfen und neue Anregungen aufzunehmen. Es erschließt Zusammenhänge, Möglichkeiten, Perspektiven, um besser zu bewältigen, was problematisch erscheint, auch Auswege zu finden, oder aber ein Problem als solches zu akzeptieren, da ein problemloses Leben wohl unmöglich, ja, nicht einmal wünschbar ist. Beide Seiten kommen zu Einsichten und vielleicht auf neue Gedanken, beide können gleichermaßen lernen in diesem Lebensgespräch.
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Aber was geschieht eigentlich in diesen Gesprächen? Erwartet wird etwas Spektakuläres. Dabei sind es in aller Regel unspektakuläre Gespräche. Sie haben meist die Lebensgeschichte zum Gegenstand. Nichts machen Menschen lieber, als ihre Geschichte zu erzählen: Das ist die beste Grundlage für das Gespräch. Und das hat Gründe, denn in der Erzählung finden Menschen sich selbst: Sie suchen und konstruieren die Zusammenhänge, die ihr Leben durchziehen, und sie entscheiden darüber, was davon ihr "Inneres", ihren Kern bilden, was an der Peripherie bleiben soll. Die dafür erforderliche Hermeneutik der Existenz wird angestoßen durch Fragen. Indem die Arbeit der Deutung und Interpretation in Gang kommt, stellt ein Mensch die Beziehung zu sich selbst her, die vielleicht verloren oder noch nie so recht gefunden worden ist. Er arbeitet damit an der eigenen Integrität, an der Zusammenfügung seiner selbst, seines Lebens und seiner Welt. Diese Zusammenfügung scheint eine entscheidende Ressource der Gesundheit und der Gesundung zu sein, denn sie erzeugt den inneren Sinn, der unentbehrlich fürs Leben ist.
Es ist beinahe unwichtig, was der Inhalt des Gesprächs ist. Die bloße Tatsache des Gesprächs ist wichtig, um zu entlasten, zu ermuntern, anzuregen, etwas zu klären, zu bereinigen, zu befreien: Darin besteht wohl der "Trost der Philosophie". In die Gesprächssituation fließen so wenig Vorgaben wie möglich ein, und es gibt keinen Zwang, nun "helfen zu müssen". Ich selbst bin skeptisch, ob Philosophie in einem direkten Sinne helfen kann, Lebenshilfe ist sie jedenfalls nicht in diesem unmittelbaren Sinn, sondern eher im Sinne sokratischer Geburtshilfe: Das ans Tageslicht zu bringen, was im jeweiligen Menschen selbst bereits verborgen liegt, seine eigenen Gedanken, Einsichten und Überlegungen. Das philosophische Gespräch ist seit der Zeit des Sokrates ein so genanntes maieutisches Verfahren, eine Verfahrensweise der Geburtshilfe: Dem Anderen dazu zu verhelfen, Gedanken zu gebären. Denn nur diese Gedanken wird er als seine eigenen anerkennen, und das ist wesentlich für die Lebenskunst, denn nur den eigenen Einsichten wird er letztlich, wenn überhaupt, auch folgen. Und sie mit dem gesamten eigenen Leben auch verantworten.
Der Philosoph hat keinen genau umrissenen "Auftrag", er ist zu nichts verpflichtet. Vielleicht wird er gerade dadurch als Gesprächspartner interessant. Was zunächst nur meine Verlegenheit war – keinen Plan für die Gesprächsführung zu haben –, erwies sich als Gewinn, um offen zu sein für den Anderen und ihm wirklich zuzuhören, ohne das Gesagte bereits nach bestimmten Erklärungsmustern zu sortieren. "Welchen Plan haben Sie?" eröffnete eine Frau das Gespräch, die bereits sämtliche Formen von Analyse und Therapie durchlaufen hatte und es sich soeben bequem machen wollte, neugierig, mit welchem Muster man ihr dieses Mal beikommen wolle. Sie hatte sich selbst die Rolle der amüsierten Beobachterin zugedacht, "therapieresistent", an der sich eben alle die Zähne ausbeißen, da ihr nicht wirklich zu helfen ist: Auch so kann eine "Identität" aussehen. Es wurde ein packendes, irritierendes Gespräch über die Abgründe menschlicher Existenz.
Das Wichtigste bei der Gesprächsführung ist die Person, die Persönlichkeit, die Erkennbarkeit als Mensch. Nachrangig ist die Profession, die bei einem Philosophen einen umfassenden historischen und systematischen Horizont des Denkens verbürgt, wenngleich der ganz im Hintergrund bleiben kann. Wichtig ist, zuhören zu können, aufmerksam den Anderen wahrzunehmen, achtsam zu sein auf scheinbare Nebensächlichkeiten, die sich als "Knotenpunkte" der Existenz erweisen können. Und den Anderen zur Freimütigkeit zu ermuntern, nicht so sehr durch verbale
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Aufforderungen, sondern durch die Situation und Atmosphäre des Gesprächs. Unerheblich ist, ob Probleme rasch zur Sprache kommen. Will mein Gegenüber seine Probleme verschweigen, dann bleiben sie verschwiegen, denn Schweigen ist ein legitimes Mittel des Umgangs damit. Das Gespräch muss auch nicht "zielführend" sein, denn jede Zielführung würde voraussetzen, dieses Ziel schon zu kennen.
Wie die Erfahrung zeigt, kann das bloße Gespräch schon kleine Wunder bewirken. Der Grund dafür ist die Aufmerksamkeit, die ein Mensch im Gespräch erfährt, und die damit verbundene Energie, die ihm fehlte, die Zuwendung, die er entbehrte. Die Aufmerksamkeit eines Anderen kann die Kräfte eines Menschen in außerordentlichem Maße aktivieren, daher geht es zuweilen darum, nur zuzuhören, stundenlang zuzuhören. Beflügelt durch die Aufmerksamkeit, wird das Gespräch zum Anlass für eine neue Selbstaufmerksamkeit. So wird daraus ein Ereignis, bei dem ein Mensch sich wieder findet. Wie von selbst sorgt das Gespräch dafür, sich über das, was ist und was möglich ist, klarer zu werden und Plausibilität und Lebenswahrheit für sich zu gewinnen.
Anfänglich dachte ich: Was soll ein Philosoph im Krankenhaus? Bald aber fragte ich mich: Wie kommen all die vielen Krankenhäuser ohne Philosophen aus? Hat es etwa für den Heilungsprozess keine Bedeutung, wie ein Mensch mit sich selbst umgeht, was er über sich, seine Situation und sein Leben denkt? Aber um die Besonderheiten dieser philosophischen Seelsorge, auch ihre Grenzen, besser kennen zu lernen, sie zu verstehen und auf den Begriff zu bringen, wird noch einige Arbeit zu leisten sein.
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