Konstantin Sakkas: Die Krise als Normalfall . Das Drama unserer Gegenwart (Alternativtitel: Das Drama unserer Zeit)
SWR2 AULA –  Autor und Sprecher: Konstantin Sakkas *
 Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
 Sendung: Pfingstsonntag, 12. Juni 2011, 8.30 Uhr, SWR 2
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 * Zum Autor:
 Konstantin Sakkas (*1982) studierte Rechtswissenschaften, Philosophie und
 Geschichte und schloss sein Studium an der Freien Universität Berlin 2009 mit dem
 Magister ab. Gegenwärtig promoviert er bei Professor Bernhard H.F. Taureck (TU
 Braunschweig) über Hannah Arendt. Er arbeitet seit mehreren Jahren als freier Autor
 für Presse und Rundfunk."
 1 F. Grillparzer, Ein Bruderzwist in Habsburg, III. Aufzug, in: Sämtliche Werke. Hrsg. v. P. Frank und K.Pörnbacher, München 1960-65, Bd. 2, S. 362.
 2 K. Sakkas, Sieg der Entsagung Leben und Sterben mit Schopenhauer. Deutschlandfunk, 19.09.2010:
 http://www.dradio.de/dlf/sendungen/essayunddiskurs/1275126/.
 3 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (= Gesammelte Werke, Bd. 3), Frankfurt/Main 1986, S. 435 f..
 4 H. Arendt, Vita activa. Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, S. 284.
 5 Goethe, An Frau von Stein, in: Weimarer Ausgabe, Abt. I, Bd. 4, S. 97.
 6 Vergil, Aeneis I 33, dt. v. J. Götte.
 7 K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: K. Marx, F. Engels, Werke (MEW), Berlin 1956
 ff., Bd. 8, S. 115.
 8 B. H. F. Taureck, Wachstum über alles – Die Karriere einer Metapher. SWR 2, 24.09.2009, S. 3:
 http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/-/id=4737462/property=download/nid=660374/pj46hw/swr2-wissen-20090524.pdf. 
 9 Diesen Grabspruch des Hl. Ignatius von Loyola (1491-1556) stellte F. Hölderlin seinem Hyperion voran. © für die dt. Übersetzung: Konstantin Sakkas.
 10 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Werke in sechs Bänden, hrsg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1957, Bd. 5, S. 242 ff.
 11 Arendt, S. 314.
 12 Vgl. K. Sakkas, Was soll ich tun? Anmerkungen zur menschlichen Existenz. Deutschlandradio Kultur,
 29.4.2011: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesfeuilleton/1445386/
 13 M. Proust, Guermantes (= Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 3), dt. v. E. Rechel-Mertens,Frankfurt/Main 2004, S. 446.
 14 Vgl. K. Sakkas, Zur Besinnung kommen Gedanken zu Hannah Arendts "Vita activa". Deutschlandradio Kultur,
 24.12.2010: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesfeuilleton/1349376/.
 15 Arendt, S. 306.
 16 Vgl. Sakkas, Sieg der Entsagung.
 17 So Scipio d. J. nach dem Zeugnis Ciceros, zit. n. Arendt, S. 317.
 ÜBERBLICK
 Die Naturkatastrophe in Japan und der durch sie bewirkte nukleare Störfall im Kraftwerk Fukushima; die Revolutionen in Nordafrika mitsamt unabsehbaren Folgen für die politische Stabilität in der Region; innenpolitische Skandale wie die Guttenberg-Affäre in Deutschland und die Berlusconi-Affäre in Italien, welche die Lüge und Unaufrichtigkeit an der Spitze der Gesellschaft in ihrer ganzen Primitivität öffentlich werden ließen; und schließlich die desaströse Schuldenkrise in Europa, Japan und Nordamerika, welche die kapitalistische Wirtschaftsordnung fundamental infrage stellt: Das zweite Jahrzehnt im neuen Jahrhundert droht ein ähnlich dramatisches zu werden wie jenes vor einhundert Jahren, als der Erste Weltkrieg ausbrach und die alte Ordnung für immer unterging. Konstantin Sakkas, Journalist und Philosoph aus Berlin, untersucht die Ursachen dieser Krise und zeigt, wie man sie überwinden könnte.
 INHALT
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 Ansage:
 Mit dem Thema: „Die Krise als Normalfall - Das Drama unserer Zeit“.
Auf dem Kirchentag in Dresden hat der Ratsvorsitzende der Evangelisch Kirche
 Deutschland, Nikolaus Schneider, vor dem Fetisch Wachstum gewarnt: Man
 benötige endlich eine neue Definition dieses Begriffs, weil eine endliche Erde kein
 unendliches Wachstum vertrage.
 Genau um diese Kritik geht es heute auch in der SWR2 Aula. Konstantin Sakkas ist
 Journalist und Philosoph aus Berlin. Er fordert angesichts der ökonomischen
 Katastrophe – siehe Börsencrash, siehe Verschuldung von Griechenland, angesichts
 der ökologischen Katastrophe – siehe Fukushima, eine radikale Umkehr: Weg vom
 unendlichen Wachstum, weg von der Expansion, weg vom Aktivismus hin zum …?
Wohin es gehen soll, das erklärt er in seinem Vortrag.
 Konstantin Sakkas:
 Expansion, Aktivismus, Selbstverwirklichung – all diese Werte sind fraglich
 geworden. So stellt uns das Katastrophenjahr 2011, das gerade zur Hälfte um ist,
 nicht nur vor die Aufgabe, des humanitären, materiellen und ökonomischen Unglücks
 Herr zu werden, das mit unglaublicher Rasanz über uns kommt; sondern noch viel
 mehr stellt es uns vor die Frage, mit welcher inneren Haltung wir in Zukunft leben
 sollen, wenn wir nicht das Leben selbst irgendwann aufgeben.
 In seinem Trauerspiel Ein Bruderzwist in Habsburg legt Franz Grillparzer dem
 melancholischen Habsburger-Kaiser Rudolf II. die Verse in den Mund:
„Drum ist in Sternen Wahrheit, im Gestein,
 In Pflanze, Tier und Baum, im Menschen nicht.
 Und wer's verstünde still zu sein wie sie,
 Gelehrig fromm, den eignen Willen meisternd,
 Ein aufgespanntes, demutvolles Ohr,
 Ihm würde leicht ein Wort der Wahrheit kund,
 Die durch die Welten geht aus Gottes Munde.“1
 Die wenigsten Bürger Europas, Nordamerikas oder Japans werden in diesen Zeilen
 etwas finden, was ihrer aktuellen Lebenshaltung verwandt oder auch nur
 sympathisch wäre. Franz Grillparzer gilt als Dichter der österreichischen Reaktion,
 seine politische Haltung als hoffnungslos vormärzlich und altmodisch, verspätetes
 achtzehntes Jahrhundert; und doch verbirgt sich in seinen Versen ein Gedanke von
 geheimnisvoller Aktualität: der Gedanke der Ruhe.
 Wollte man das Kennzeichen unseres Zeitalters in einem Wort bestimmen, so wäre
 es zweifellos die Unruhe. Ein fieberhafter, „hysterisch-destruktiver Aktivismus“2 waltet
 über unserer Zeit wie über keiner Epoche zuvor. Es ist, als wäre Hegels
 prophetisches Wort von der „Furie des Verschwindens“3, das er über die
 Französische Revolution gebrauchte, erst heute wahr geworden. Unser nach außen
 hin so rationales, berechnendes Zeitalter orientiert sich in Wahrheit wie kaum eines
 zuvor an der irrationalen Größe schlechthin: am Gefühl. Das Gefühl ist das
 Unsicherste und Wechselhafteste am Menschen überhaupt. Auch Gefühl und
 Verantwortung – man hört es nicht gerne – sind einander diametral entgegengesetzt:
 denn Verantwortung zielt auf Beständigkeit; Gefühl aber auf den ständigen Wechsel,
 die zur Regel gewordene Unregelmäßigkeit, die dauernde Bereitschaft zur
 Umkehrung der Verhältnisse. Dieses Pragma der Umkehrung bestimmt unser
 Zeitalter. In ihrem Buch Vita activa, das 1960 erschien, hat es die Philosophin
 Hannah Arendt geistesgeschichtlich beschrieben:
„Die περιαγωγή, die Umkehr, die Plato[n] von dem Philosophen verlangt, läuft im
 Grunde auf eine Umstülpung der homerischen Weltordnung hinaus. Nicht das Leben
 körperloser Seelen nach dem Tode, wie in dem homerischen Hades, sondern das
 Leben an einen Körper gebundener Seelen auf der Erde spielt sich in der Höhle
 einer Unterwelt ab, und die Seele ist nicht der Schatten des Körpers, sondern der
 Körper ist der Schatten der Seele; verglichen mit Himmel und Sonne ist die Erde ein
 Hades [, also eine Unterwelt], und das Treiben der in Unwissenheit und Sinnlosigkeit
 gebannten Körper der Menschen auf dieser Erde entspricht genau der
 schattenlosen, substanzlosen, sinnlosen Bewegtheit der homerischen ‚Seelen’, die
 der Tod [...] in die unterirdische Höhle gebannt hat.“4
 Man muss diesen Abschnitt sehr genau lesen: Die Rede von der „schattenlosen,
 substanzlosen, sinnlosen Bewegtheit“ (wobei „schattenlos“ soviel meint wie spurlos
 oder folgenlos) passt nämlich exakt auf die Lebenshaltung der heutigen Gesellschaft
– und zwar im Öffentlichen wie im Privaten, politisch und wirtschaftlich ebenso wie
 emotional und erotisch. Nicht nur, dass wir das Prinzip der Relativität längst zum
 Dogma erhoben haben, das sonderbarerweise nicht hinterfragt wird; viel wichtiger
 noch ist, dass wir unsere politische, wirtschaftliche und biographische Ordnung
 diesem Dogma komplett unterworfen haben. Unter dem Tarnbegriff der
 Selbstverwirklichung pflegen wir in Wahrheit einen Lebensstil, der uns konsequent
 vom eigenen Selbst entfremdet. Wer immer sich den politischen
 Entscheidungsprozess – man denke an die Pirouetten, die derzeit in puncto
 Atomkraft gedreht werden –, die Börsenkurse oder unser Paarungsverhalten in Ruhe
 anschaut, muss den Eindruck haben, dass er es hier nicht mit rationalen,
 erwachsenen Menschen zu tun hat; sondern mit lauter Verrückten. Um wieder
 Goethe zu zitieren:
„Ach, so viele tausend Menschen kennen,
 Dumpf sich treibend, kaum ihr eigen Herz,
 Schweben zwecklos hin und her und rennen
 Hoffnungslos in unversehnem Schmerz;
 Jauchzen wieder, wenn der schnellen Freuden
 Unerwart’te Morgenröte tagt […].“5
„Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“ – eine phlegmatische Sinnlichkeit und eine
 aggressive Emotionalität durchwalten unseren angeblich aufgeklärten Zeitgeist. Das
 Private selbst ist Beruf geworden, und Normen aus der Emotionalsphäre werden
 rücksichtslos dem Berufsleben oktroyiert. Niemals wurde karrieristische
 Selbstentfaltung so sehr als das höchste Lebensziel, als die Erfüllung aller Träume,
 als Garantie der individuellen Glückseligkeit angepriesen wie im so genannten
 weiblichen Zeitalter. Umgekehrt aber hat der Furor des Politikmachens von unserer
 Privatsphäre erbarmungslos Besitz ergriffen: In einer gnadenlosen Verfälschung der
 Idee der Selbstverwirklichung, die eigentlich Selbsterkenntnis, also einen geistigen
 Vorgang, meint, deuten sich Menschen aller Altersstufen die eigene Lebensfrist in
 einer seltsamen Mischung aus Naivität und Rohheit zur erotisch-beruflichen
 Frontbewährung um: von der Schülerin, die Depressionen hat, weil sie vielleicht als
 Sechzehnjährige noch nicht mit einem Jungen geschlafen hat, über den
 dreißigjährigen Hochschulabsolventen, der, zerrissen zwischen großen Plänen und
 Minderwertigkeitskomplexen, als ewiger Praktikant und ständig pleitebedroht durch
 den Arbeitsmarktdschungel irrt, bis zum endlich und unter unsäglichen Mühen
 erfolgreichen Fünfzigjährigen, dessen Lebensbahn sich nun aber nur mehr zwischen
 lauter wild gewachsenen Lebenslügen hinzieht. Man lebt nicht mehr; man wird
 gelebt. Man macht „Politik“, Lebenspolitik.
„Tantae molis erat Romanam condere gentem“, „Also mühevoll war’s, das römische
 Volk zu begründen“6 – diesen pathetischen Leitspruch des Alten Roms, der eine
 blutige, hektische und im Grunde chaotische Gewaltherrschaft mythologisch
 legitimieren sollte, hat die westliche Gesellschaft zweitausend Jahre später als
 Leitspruch von Existenz überhaupt adaptiert: man ist, so scheint es, nachgerade
 vernarrt in die Vorstellung von einem Leben, das sich hinzieht zwischen
 orgasmushaften Aufschwüngen und katastrophalen Abstürzen, ob auf dem
 Börsenparkett oder im Schlafzimmer; zwischen dümmlicher Euphorie und billiger
 Verzweiflung; zwischen naiver Illusion und erwartbarer Enttäuschung. Es ist sicher
 kein Zufall, dass die Volkskrankheit unserer Epoche der Krebs ist; jene Krankheit,
 deren wirres, planloses und gefräßiges Wachstum wie ein grausiges Abbild unserer
 verkrampften, pseudoekstatischen Lebenshaltung wirkt; ein wahrhaftes Ebenbild
 unseres beschädigten Lebens.
 An die Stelle der Terrorisierung durch den Staat ist die Terrorisierung durchs Private
 getreten. Heute bedarf es keiner monströsen Autorität mehr, die junge Männer in den
 Krieg schickt und junge Frauen einer falschen Regulierung ihres emotionalen und
 sexuellen Haushalts unterwirft; nein, die Unterwerfung vollziehen wir selber qua der
 sinnlosen Hetzjagd nach dem so genannten individuellen Glück, hinter dem sich
 tatsächlich meist die Chimäre eines ungesunden und ephemeren Genusses verbirgt.
 Alle paar Augenblicke den Partner, den Beruf, den Aufenthaltsort zu wechseln, gilt
 nicht als anstrengend, krankhaft und psychopathisch, was es eigentlich ist; sondern
 als chic, zeitgemäß und menschengerecht. Es herrscht geradezu ein Kult der
 Labilität.
 Diese Labilität hat ihre Wurzel zum einen in der modernen Wirtschaftsordnung; zum
 anderen aber in den modernen Territorialstrukturen mit ihren Abermillionen von
 Einwohnern, wo der Einzelne nur mehr die Wahl hat: entweder mitzumachen in dem
 hysterischen Kampf um Geld, Anerkennung und „Erfolg“; oder aber unterzugehen in
 der Masse und abgedrängt zu werden an den Rand. Die Möglichkeit, bescheiden
 und trotzdem auskömmlich und „gut“, das heißt ungestört und friedvoll zu leben, fehlt
 in unseren aufgeblähten Flächenstaaten, die wir ausgerechnet vom fürstlichen
 Absolutismus der frühen Neuzeit übernommen haben. Der europäische
 Territorialstaat, an dem sich die USA in ihrem nation building im achtzehnten und
 neunzehnten Jahrhundert ein Beispiel nahmen, ist ein Überbleibsel des dynastischen
 Zentralismus, der im späten Mittelalter seinen Ausgang nahm. Damals verloren
 Regionen, Städte und viele kleine Bauern und Hintersassen unter dem brutalen
 Druck monarchischer Konsolidierungsbemühungen ihre Selbständigkeit und wurden
 zwangsweise in den frühmodernen Staatsverband eingegliedert. Die moderne
 Standes- und Klassengesellschaft, deren traumatisierende Wirkung bis heute anhält,
 nahm hier ihren Anfang; erst damals wurden aus den hunderttausenden kleinen,
 mehr oder weniger selbständigen Bauern mehr oder weniger rechtlose Leibeigene.
 Unsere bürokratische Staatsorganisation, aber auch der Oligopolismus, der die
 heutige kapitalistische Wirtschaft auf vielen Feldern, etwa in der Energiebranche,
 bestimmt, sind Ausläufer dieser Entwicklung, die ein halbes Jahrtausend alt ist. Der
 existenzielle Alpdruck, den Staatsverwaltung und Wirtschaft auf den gewöhnlichen
 Bürger jeder Einkommensklasse ausüben, erklärt sich historisch aus der
 Akkumulation von Territorium unter gleichzeitiger Annullation persönlicher Freiheit
 seit dem vierzehnten Jahrhundert. Von dieser zwanghaften territorialen Enge des
 Absolutismus haben uns auch die Revolution von 1918, die demokratische
 Neuordnung von 1945 und ’49 und schließlich die Umwälzung von 1990 noch nicht
 befreit. So kommt es, dass heute noch Millionen Menschen eingepfercht in ein
 einziges Staatswesen leben, dessen Administration mit dieser Masse an Bewohnern
 natürlich absolut überfordert ist.
 Die Wirkung dieser historischen Bedingung wurde durch formale Neuerungen nicht
 einfach aufgehoben: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf
 dem Gehirne der Lebenden“7, schrieb Karl Marx in seinem Achtzehnten Brumaire.
 Dieser Satz ist so bedeutsam, weil er die Konvergenz von Exoterik und Esoterik so
 eindrücklich aufzeigt: Die gegenständliche, äußere Entwicklung, also der politische
 und wirtschaftliche Prozess, hinterlassen ihren Abdruck in der Seele des Menschen,
 und zwar individuell und kollektiv. Auch wenn der juristische Status sich längst
 geändert hat, bleiben innere Dispositionen nach wie vor bestehen; sie ändern sich
 erst unter therapeutischem Einfluss.
 Doch Bedingung von Therapie ist Einsicht. So haben die Ereignisse in Japan viele
 Menschen zu einer grundlegenden Einsicht über die Risiken der Nutzung von
 Atomenergie geführt; grundsätzliche Zweifel an unserer Wirtschaftsordnung sind
 gleichwohl kaum laut geworden. Dabei gehört aber das Nuklearproblem in einen
 Zusammenhang mit jenen Problemen, die uns ohnehin seit einem Jahrzehnt
 vermehrt zu schaffen machen: die Aufblähung der Finanzmärkte, die gigantische
 Verschuldung aller Industriestaaten – etwa Japan und die USA sind faktisch bankrott
–, die schleichende Inflation, die die wirtschaftliche Basis der Mittelschichten in allen
 entwickelten Ländern sukzessive zerstört sowie infolgedessen das enorme
 Verarmungsrisiko in unserer Gesellschaft überhaupt. Die ökologische Problematik
 steht also nicht allein im Raum; sondern sie gehört in und verweist auf einen
 höheren, größeren Zusammenhang: nämlich die kapitalistische Wirtschaftsordnung
 und ihre wesentlichen Elemente: Überproduktion, Ausbeutung von Ressourcen,
 sowie die Bindung realer Faktoren – nämlich Lebensqualität, Grund und Boden,
 Solidität des Staatshaushalts – an eine irreale Bedingung: nämlich das Geld.
 Es ist gewiss kein Zufall, dass der Wortstamm der beiden wichtigsten Vokabeln
 unserer Zeit, Ökonomie und Ökologie, das griechische οἴκος ist, was übersetzt
„Haus“ bedeutet. Wer also dem Wortsinne nach ökonomisch beziehungsweise
 ökologisch denken wollte, der denkt in den Kategorien von Häuslichkeit und
 Behausung. Häuslichkeit beziehungsweise Behaust-sein ist das Wesen des In-der-
Welt-seins. Das Wesen aber der heutigen Politik und insbesondere der modernen
 Wirtschaft ist zutiefst weltlos, das heißt: unbehaust, unbeheimatet, ungreifbar. Diese
 Unbehaustheit spiegelt sich in der tieferen Ideenlosigkeit, die sich bei jeder
 Nachfrage nach dem höheren Ziel eines Projekts sogleich offenbart: Die
 Vergeblichkeit so genannter großer Entwürfe, ob im Öffentlichen oder im Privaten, ist
 allgegenwärtig; die Hilflosigkeit unserer Politiker in der „Bewältigung“ von Ereignissen
 wie Fukushima, der Mangel an ideologischer Orientierung und die hieraus
 unweigerlich resultierende Entschlussschwäche sind offenkundig. Doch sie sind kein
 individuell vorwerfbares Versagen; sondern die logische Konsequenz aus der
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 SWR2 Aula vom 12.06.2011
 Die Krise als Normalfall – Das Drama unserer Gegenwart
 Von Konstantin Sakkas
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 Bewusstseinslage unseres Zeitalters. Wenn man heute überhaupt etwas vorwerfen
 kann, dann ist es nicht ein Falsch-Handeln; sondern überhaupt das Handeln. Die
 wahre Alternative zum falschen Handeln wäre nämlich nicht das richtige; sondern
 das Nicht-Handeln. Das Nicht-Handeln ist die wahre Ethik des οἴκος.
Nicht-Handeln, wu wei – in diesem Gedanken fand der sagenhafte chinesische
 Denker Laotse Ursprung und Wesen des Seins und zugleich Maxime seiner Ethik.
 Selten war man weiter von diesem Gedanken entfernt als heute; denn der
 aktionistische Wahn des Machens und Wachsens, den einst nur eine schmale
 Oberschicht von Fürsten, Regierenden und Besitzenden auslebte, hält heute ganze
 Bevölkerungen in seinem Bann. Auch die ostasiatischen Völker, einst bekannt für
 ihren Quietismus und ihre Introvertiertheit, tun es uns längst gleich; welch ein Symbol
 für diesen Wandel, dass ausgerechnet in Japan sich die Katastrophe abspielt, die
 zum Fanal für ein energiepolitisches, ja überhaupt ein politisches Umdenken
 geworden ist; dass ausgerechnet in China diktatoriale Repression und
 Turbokapitalismus längst in einer unheiligen Allianz miteinander leben. Die
 unsägliche, primitive und pseudologische Wachstumsgeilheit, das geistes- und
 kulturgeschichtliche Markzeichen der europäischen Geschichte der vergangenen
 fünfhundert Jahre, hat im zwanzigsten Jahrhundert auch von China, dem alten Reich
 der Mitte, der Ruhe und der Introversion, Besitz ergriffen. Und während Europa sich
 vielleicht langsam von seiner alten Besessenheit erholt und heilt, kommen die jungen
 Wachstumstriebe in der Weltmacht China erst so richtig zum Blühen. Doch auch
 diese, nicht ungefährliche, Entwicklung darf Europa in seinem Erkenntnisprozess
 nicht hemmen.
 Unseren pseudologischen, künstlichen Wachstumsbegriff, der eine rationalistische,
 aber nicht rationale Projektion archetypischer menschlicher Allmachts- und
 Befriedigungsphantasien ist, hat der Philosoph Bernhard Taureck kürzlich in dieser
 Sendung einer fundamentalen Kritik unterzogen. Es heißt dort unter anderem:
„Ein Mensch ist etwa mit zwanzig Jahren ausgewachsen. Ein Hund etwa mit einem
 Jahr. Ein Baum braucht länger. Menschen, Pflanzen und Tiere wachsen nur eine
 gewisse Zeit, dann gilt: Sie sind ausgewachsen.“8
 Wachstum ist in seinem Wesen etwas Beschränktes. Es trägt sein Ziel, wie
 Aristoteles sagt: sein τέλος, in sich. Ja, man kann den Gedanken weiterspinnen und
 sagen: Beschränkung selbst ist das Wesen der Ausdehnung. Es ist die Aufgabe des
 Menschen, inmitten der universellen Grenzen- und Bodenlosigkeit, in die er
 hineingestellt ist, sein innerstes Selbst, sein Wesen zu finden und festzuhalten. Der
 Weg dorthin führt aber nicht über die Eroberung des buchstäblichen Welt-Raums,
 also die ideelle, materielle und sexuelle Inbesitznahme der menschlichen und
 natürlichen Umwelt; sondern über die freiwillige, einsichtige Beschränkung des
 Individuums auf das Nötige: auf sich selbst. So erst wird der Einzelne wirklich und
 eigentlich frei: „Non coerceri maximo, contineri tamen a minimo divinum est“ – Nicht
 vom Größten beeindruckt, sondern vom Geringsten getragen werden, ist das
 wahrhaft Göttliche.“9
 Diese Beschränkung hat auch eine politische Dimension. Tatsächlich leben wir ja in
 einer Periode des rasanten Machtverlustes der Staatsorgane, und paradoxerweise
 nehmen diesen Machtverlust gerade kritische Medien und Öffentlichkeit nicht nur als
 selbstverständlich, sondern auch als gerecht hin. Alle Welt empörte sich über die
 Biegsamkeit eines Staatsapparates, der etwa einem AKW-Betreiber seine
 Unzuverlässigkeiten in Sicherheitsfragen geduldig nachsah, bis es zur Katastrophe
 kam und jeder regulierende Eingriff zu spät war; auch in Deutschland regt sich im
 Gefolge des Fukushima-Unfalls gewaltiger Unmut gegenüber dem
 Energielobbyismus und den Risiken, die er unbesonnen eingeht; doch Stimmen, die
 einen stärkeren Staat fordern würden, werden kaum laut.
 Dabei wäre es an der Zeit, dass die Regierungen der mächtigen Staaten gemeinsam
 über ihre Neugestaltung nachdächten: Auflösung der großen Flächenstaaten in
 regionale und lokale Territorien; Gewährleistung von Grund und Boden oder eines
 Grundeinkommens für jeden Einwohner; genossenschaftliche Beteiligung aller
 mündigen Bürger an der Energieversorgung, an der Verkehrsverwaltung sowie an
 allen weiteren wesentlichen öffentlichen Institutionen: das könnten Elemente einer
 künftigen politischen Lebensordnung sein, die sich von den Macht- und
 Wachstumsphantasien der Vergangenheit endgültig verabschiedet hat; die jedem
 Menschen den Anteil am Ganzen gibt, den er braucht; und in der nicht mehr die
 öffentlichen Angelegenheiten Spielwiese menschlicher Triebhaftigkeit sind, sondern
 diese Triebhaftigkeit aufgehoben wird in eine Kultur der Innerlichkeit und der
 Schönheit.
 Alles in unserer Zeit ruft nach einer Besinnung auf die natürlichen und vernünftigen
 Grenzen persönlicher und institutioneller Expansion. Das „Reich der Naturbegriffe“
und das „Reich des Freiheitsbegriffs“10: also die Sphäre der natürlich-tierhaften
 Beschränkung und die der existenziell-menschlichen Überschreitung, stehen
 zueinander nicht so sehr im Gegensatz; tatsächlich liegt die wahre Transzendenz im
 Rückzug, in der bewussten, sich notwendig ergebenden Beschränkung des
 Menschen auf sich selbst, in seiner politischen, wirtschaftlichen und emotionalen
 Introversion. Den aporetischen Punkt, an welchem wir heute mit unserem
 Politikmachen und unserem Wirtschaften angelangt sind, hat Hannah Arendt schon
 vor einem halben Jahrhundert hellsichtig beschrieben:
„Es ist uns gelungen, die dem Lebensprozess innewohnende Mühe und Plage so
 weit auszuschalten, dass man den Moment voraussehen kann, an dem auch die
 Arbeit und die ihr erreichbare Lebenserfahrung aus dem menschlichen
 Erfahrungsbereich ausgeschaltet sein wird. Dies zeichnet sich deutlich in den
 fortgeschrittensten Ländern der Erde bereits ab, in denen das Wort Arbeit für das,
 was man tut oder zu tun glaubt, gleichsam zu hoch gegriffen ist. In ihrem letzten
 Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von
 Jobholders.“11
 Das „Wesen“ dieser blind fluktuierenden Jobholdergesellschaft, die sich in der
 seriellen Monogamie in unserem Privatleben abbildet, ist ihre Unnatürlichkeit.
 Falsche Bedürfnisse, eingebildete Notwendigkeiten regieren unser Dasein, schaffen
 aber echte Not: gegenständliche, wie in Japan, die zugleich aber eine geistige
 Konsequenz hat, nämlich die Ablenkung des menschlichen Intellekts von der Suche
 nach dem Sinn seines Lebens, deren Voraussetzung ja gerade die Befreiung von
 jener urzeitlichen existenziellen Bedrohtheit ist, die ein unverantwortliches Handeln
 wie in Fukushima wiederherstellt.
 Aber nur „die wenigsten Menschen bringen die Kraft auf, jene abstrakte Frage nach
 dem Sinn des Lebens wirklich und ernsthaft zu stellen; statt dessen lassen sie sich
 gehen im fieberhaften Wahn der Expansion und des Wachstums, politisch,
 wirtschaftlich, körperlich. Doch wohin dieser existenzielle Expansionismus führt,
 konnte man in Japan sehen, wo die atomare Katastrophe noch die schrecklichsten
 Wirkungen von Erbeben und Tsunami in den Hintergrund treten ließ. In einer solchen
 existenziellen Grenzsituation aber fragt man nur noch, wie unsere prähistorischen
 Vorfahren, ganz konkret: wie kann ich mich retten, wie kann ich überleben? In
 seinem zivilisatorischen Wahn fällt der Mensch gerade hinter die Zivilisation zurück
 und verspielt so das Privileg, das ihn vom Tier unterscheidet: nämlich nicht ums
 nackte Überleben kämpfen zu müssen, sondern frei nachdenken zu können.“12
 Dieses Frei-nachdenken-können ist die wesentliche Auszeichnung des Menschseins.
 Seine Konsequenz für das praktische Leben sind aber nicht nur Zurückhaltung im
 Konsum und Beschränkung in der gesellschaftlichen Selbstdarstellung; sondern
 auch eine gewisse Untätigkeit, Langeweile und Einsamkeit. Nun ist zwar kein
 Mensch gerne einsam; aber dennoch ist Einsamkeit, entgegen aller Dogmatik des life
 style, sein innerstes Wesen: „Jeder Mensch ist doch völlig allein“13, schreibt Marcel
 Proust an einer berühmten Stelle in seinem Roman Auf der Suche nach der
 verlorenen Zeit. Der Mensch ist – anders, als es unsere vulgärromantische
 Kulturindustrie mit Telenovelas und Partnerbörsen uns weismachen will – kein
 Herdentier, sondern Einzelgänger.
 Der Einzelgänger aber strebt nicht nach der vermeintlich „großen“ Erfüllung; dafür ist
 er zu klug. Die großen Einzelgänger in der Tierwelt, etwa der Wolf, der Tiger, haben
 alle ihr fest umrissenes Revier, ihren Bezirk, ihren οἴκος, den sie benötigen, den sie
 aber auch nicht überschreiten. Nun ragt der Mensch zwar aus der Tierwelt heraus,
 steht aber mit seiner Körperlichkeit tief in ihr verwurzelt. Andererseits ragt er qua
 seines Geistes hinein in die Geisterwelt, das heißt also: die Welt jenseits der
 sichtbaren Welt. Aber auch hier gibt es keine erratische Expansion, kein
 wühlerisches, süchtiges Suchen mehr; sondern nur noch die Unbewegtheit und
 Klarheit, die aus der gelungenen Selbsterkenntnis kommt. Was ihm das Tier
 unbewusst vorlebt, steht dem Menschen als fernes zwar, aber wesentliches Ziel im
 Leben nach dem Tod vor Augen: Gott, dem Göttlichen näher zu kommen, um ihm
 schließlich, am Ende der Zeiten, gleich zu werden:
„Drum ist in Sternen Wahrheit, im Gestein,
 In Pflanze, Tier und Baum, im Menschen nicht.
 Und wer's verstünde still zu sein wie sie,
 Gelehrig fromm, den eignen Willen meisternd,
 Ein aufgespanntes, demutvolles Ohr,
 Ihm würde leicht ein Wort der Wahrheit kund,
 Die durch die Welten geht aus Gottes Munde.“1
 Nur die Furcht vor der vermeintlichen Langweiligkeit eines introvertierten und
 unpathetischen Lebens verleitet uns zu jenen vermeintlich großen Entwürfen, welche
 dann in Katastrophen enden, die uns ernüchtern, weil sie sinnlos und unnötig waren.
 Das war so in der politischen Geschichte, und es ist auch heute so, wo das Private,
 wo Ökonomie und Sexualität die Herrschaft über den öffentlichen Raum an sich
 gerissen haben. Auch unsere moderne Populärkultur, assistiert von Wirtschaft und
 Medien, folgt einer hysterischen, sich „existenzialistisch“ dünkenden Lebensethik;
 aber nicht im Sich-veräußern an die Dinge, im Erobern- und Besitzenwollen, sondern
 in der Ruhe und im Rückzug liegen der wahre Individualismus und die wahre
„Erfüllung der Zeiten“. Die lächerliche Lebensphilosophie des „Ich will alles, und zwar
 sofort“ beweist keinen Fortschritt außer den der äußersten Verkümmerung des
 menschlichen Denkvermögens. Was wir dagegen brauchen, ist eine
 Lebensphilosophie der Ruhe.
 Die Ruhe steht übrigens auch „im Zentrum des Christentums und der Christologie.
 Der Kirchenlehrer Augustinus etwa stellte sich das Leben im Paradies vor wie einen
‚ewigen Sabbat’, also einen ewigen Ruhetag. Heute spricht man zwar lieber von
‚Frieden’ als von ‚Ruhe’; doch die Friedensbotschaft, die etwa zu Weihnachten
 routiniert verkündet wird, meint weniger den äußeren, politischen Frieden […];
sondern vielmehr den inneren Frieden, also die Ruhe, die wir alltäglich durch
 sinnlose, unüberlegte und triebhafte Begehrlichkeiten gefährden und ruinieren. Ein
 nervöses Karrierepathos durchzittert unser berufliches wie privates Leben.“14 Dieses
 Pathos zittert fort in der physikalischen Erschütterung, deren Zeuge wir in diesem
 Frühjahr geworden sind; jedes Naturunglück ist auch ein Warnruf an den
 menschlichen Geist, und entsprechend sollten und müssen wir die Zeichen dieses
 Jahres 2011 deuten.
 Das Zeitalter des Wachstums und der Expansion ist vorbei, öffentlich wie privat. Die
 westliche Menschheit, die dem Rest der Erdkugel zweitausend Jahre lang diese
„Werte“ vorgelebt hat, hat nun die Aufgabe, ihr die neuen Werte der
 Selbstbeschränkung, der Innerlichkeit und der Ruhe vorzuleben. Denn hierin, und
 nirgends sonst, liegt die Zukunft des Menschengeschlechts. Zwei Erblasten sind es,
 die die atlantische Welt mit sich herumträgt: der römische Kult der Gewalt; und die,
 wie Hannah Arendt betonte, götzenhafte christliche Stilisierung des physischen
 Lebens zu „der Güter höchstem“15, die aber ihre Wurzel gerade in der
 ungeheuerlichen, brutalen und ignoranten Vergewaltigung des Menschseins durch
 den römischen Machtstaat hatte; von beidem, von der Idolatrie des Todes und der
 Idolatrie des Lebens und der Liebe, müssen wir uns befreien, vorbehaltlos und
 gründlich. Und: von beidem wussten das antike Judentum und Griechentum übrigens
 nichts; für sie zählte nur das lebendige Wort Gottes und die ewige Schönheit und
 Ordnung des Welt-Alls.
 Die Ethik der Zukunft wird eine „Ethik der Entsagung sein. […] In einer Zeit, der die
 Unwägbarkeit menschlicher Existenz im Zeichen von Terrorismus,
 Umweltkatastrophe und weltweiter Verarmung immer klarer vor Augen steht, führt
 wahre Erkenntnis zurück auf das eigene Leben, die eigene Individualität und die
 Frage, wie sie zu behüten sei. Auch das bestangelegte Kapital wird irgendwann
 wertlos; wahren, absoluten Wert hat nur das Menschsein selbst.“16 Dieses
 Menschsein – es ist eine schwere, aber notwendige Einsicht – lässt sich nicht
 einholen in hektischer Aktivität, in jener aufgeheizten Lebens- und Liebesgeilheit, die
 das Kennzeichen unseres Privatlebens und unserer gesellschaftlichen Ordnung ist
 und die unsere Werbeindustrie in einer fortwährenden, sehr selbstgewissen und
 doch unsäglich dummen Stereotypie proklamiert; das Menschsein erschließt sich je
 nur dem Ruhigen, Besonnenen und Nachdenklichen. Jeder sollte sich fragen, was er
 wirklich in seinem Leben braucht; sei es an Besitz, an Partnerschaft oder an
 Prestige; und schnell wird man sehen, dass man selber sich wirklich genug ist. Die
 Auswirkungen einer solchen Selbstbescheidung wären heilsam nicht nur für den
 Einzelnen; sondern auch für die Gesellschaft und letztlich auch für die internationale
 Politik.
 Hannah Arendt, die ein Leben in höchster, erzwungener Aktivität hinter sich hatte,
 stellte diese Einsicht an den Schluss ihres Buches Vita activa, das noch heute, nach
 fünfzig Jahren, aktueller ist als alle lebensgierige und lebensverherrlichende, aber im
 Grunde flache und uneinsichtige Modephilosophie und Modebelletristik unserer Zeit:
„Numquam se plus agere quam nihil cum ageret, numquam minus solum esse quam
 cum solus esset“ – „Niemals ist man tätiger, als wenn man dem äußeren Anschein
 nach nichts tut, niemals ist man weniger allein, als wenn man in der Einsamkeit mit
 sich allein ist.“