Bernhard H. F. Taureck: Rousseau und Fukushima - eine bemerkenswerte Parallele
SWR2 Wissen - Aula
Autor: Professor Bernhard H. F. Taureck *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 11. März 2012, 8.30 Uhr, SWR 2
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ÜBERBLICK
Rousseau unser Zeitgenosse, so könnte er bemerken, dass ihn die Katastrophe in Fukushima in einer Hinsicht nicht erstaunt: Es zählt ja – so Rousseau - lediglich Privateigentum. Das Privateigentum bedroht das Wohl und die Freiheit aller. Genau das führt in Situationen der Bedrohung.
Doch Rousseaus Kritik reicht noch weiter: Die Existenz von Atomkraftwerken, die privaten Gewinn abwerfen, aber maßlosen öffentlichen Schaden anrichten können, erfüllt grundsätzlich alle Beschreibungen, die der Philosoph einst für die gesellschaftlich destruktive Macht des Privateigentums lieferte. Fukushima ist daher eigentlich eine schreckliche Probe aufs Exempel für die schonungslose Zivilisationskritik von Rousseau, dessen 300. Geburtstag 2012 begangen wird.
Der Philosoph Bernhard H. F. Taureck denkt zusammen, was scheinbar nicht zusammen gehört: Fukushima und Rousseau.
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Quintessenz, vorangestellt von w.p.12-3
"DER GESELLSCHAFTSVERTRAG - von den Reichen beherrscht - BETRÜGT = UNVERWIRKLICHBAR"
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Zum Autor:
Professor Bernhard H. F. Taureck *: Philosoph, ist emeritierter Professor der Technischen Universität Braunschweig.
Bücher (Auswahl):
– Rousseau-Brevier. Schlüsseltexte und Erläuterungen. Verlag Wilhelm Fink. 2011.
– Gleichheit für Fortgeschrittene. Jenseits von „Gier“ und „Neid“. Verlag Wilhelm Fink. 2010.
– Die Antwort der Philosophen: ein Lexikon. Verlag Wilhelm Fink. 2009.
INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: „Rousseau und Fukushima – eine Parallele?“
Es gibt Jahrestage, Gedenktage, Jubiläen, die zwar in einem Jahr stattfinden, die aber sonst nicht viel gemeinsam haben – jedenfalls oberflächlich betrachtet. Wir haben heute den ersten Jahrestag der Reaktorkatastrophe in Japan, und im Juni feiern wir den 300. Geburtstag des Philosophen Jean-Jacques Rousseau. Gibt es eine Verbindung zwischen beiden Themen? Oberflächlich betrachtet nein, aber hinter der Oberfläche gibt es viele unterirdische Verbindungen zwischen beiden Themen. Wie die genauer aussehen, das erläutert nun Bernhard H. F. Taureck, emeritierter Philosophie-Professor der Technischen Universität Braunschweig.
Bernhard H. F. Taureck:
Japan, eigentlich eine Erfolgsgeschichte auf der Schnellstraße des Fortschritts. Seit 1966 baut dieser Staat Atomkraftwerke. 2011 sind es 54. Sie stellen 30 % der Elektrizität. Die technische Zivilisation des Inselstaates hat gegen die Herausforderung der Natur offenkundig gesiegt. Zu diesen Herausforderungen gehört nämlich auch, dass sich die Pazifische Platte unter die asiatische Kontinentalplatte schiebt mit der Folge, dass die Inseln 40 intakte Vulkane aufweisen und dass dort täglich die Erde bebt. Vier Zeilen aus Goethes „Faust“ sind geeignet, Japans Leistungen zusammenzufassen:
Im Innern hier ein paradiesisch Land,
Da rase draußen Flut bis auf zum Rand,
Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschließen,
Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen.
Das AKW in Fukushima war durch eine immerhin sechs Meter hohe Mauer gegen die Wellen, die ein Seebeben auslöst, gesichert. Es gab keine Lücke. Die internationale Atomlobby hatte und hat noch immer ein Wort, das alle Bedenken zerstreuen soll und noch immer erfolgreich zerstört. Es ist ein zweisilbiges, leicht eingängiges Wort, das bereits einsilbig klingt. Es ist das Adjektiv sicher. Atomkraftwerke sind sicher. Jedenfalls unsere. Ein Zauberwort war gefunden. Täuschung war erfolgreich, vielleicht sogar Selbsttäuschung. Man meint abgesichert und sagt sicher. Man verwechselt planvoll das Sichere mit dem bloß Abgesicherten. Auch das AKW Fukushima war selbstverständlich abgesichert. 6 Meter Mauer standen gegen Wellen, die allerdings am Tag des Unheils, dem 11. März 2011, 10 oder gar 14 Meter erreichten. Abgesichert, doch leider vier oder acht Meter zu wenig.
Absichern kann man sich gegen genau bezifferungsfähige Risiken, zum Beispiel eine Seebebenwelle von 8,893 m Höhe. Ein AKW gegen den Absturz von Flugzeugen der und der Größe. Eine Reaktorhülle gegen Überhitzung von so und so viel Temperatur. Sicher ist man genau so weit, wie man sich jeweils abgesichert hat. Doch die Risiken sind stets größer als die Absicherung reicht. Um sicher zu sein, müsste man die Absicherung absichern. Dies gelingt jedoch nur, wenn man auch die abgesicherte Absicherung
ihrerseits absichert. Hier jedoch spielen die Versicherungen nicht mehr mit. Deutsche Atomkraftwerke zum Beispiel können nicht höher als für 2,5 Milliarden € versichert werden. Der Schaden im Fall eines Größten anzunehmenden Unfalls in maximaler Größe wird dagegen mit 5 Billionen € beziffert.
Eine Billion ist 1.000 Milliarden. Die Kosten für ein geborstenes AKW belaufen sich demnach auf 5.000 Milliarden €. So entsteht eine geschätzte nicht gedeckte Schadenssumme von 5.000 minus 2,5 Milliarden €.
Daraus folgt zweierlei. Erstens, die Kosten der Unsicherheit zahlt die Bevölkerung. Im Fall einer Einbeziehung der Unsicherheit in die Kosten-Nutzen-Rechnung für ein AKW würde sich der Strompreis einer Kilowattstunde erhöhen und zwar mindestens auf 2,50 €. Die Atomdemokratien preisen den atomaren Billigstrom. Wenn irgendwo etwas wackelt, wankt, einstürzt oder birst, dann wird das Billige extrem teuer. Die Atomdemokratien machen also eine Ausnahme in der Haftungsregelung und lassen dieses Unsichere zu. Sie behaupten sogar, die Förderung erneuerbarer Energien sei verhältnismäßig zu teuer. Diese Behauptung ist falsch und die Ausnahme sozial ungerecht. Über beides wird das Staatsvolk meiner Meinung nach getäuscht. Geht es um nuklear gewonnene Energie, so scheint Staatstäuschung ebenso selbstverständlich wie der sichere, saubere und preisgünstige Atomstrom.
Alles Abgesicherte ist winzig, alle Unsicherheit ist übermächtig.In Deutschland versucht die Gesellschaft für Reaktorsicherheit alle Gefahren auszublenden, die beispielsweise von extremen Wetterbedingungen wie Sturm, Gewitter, Vereisung, Hagel für die Stromversorgung eines AKW ausgehen. Die Internationale Vereinigung der Ärzte für Verhütung des Atomkriegs hält dieser Verharmlosung entgegen, dass die mit Notstrom gegebene Sicherheit wegen rascher Entladungszeiten keineswegs gegeben ist. Je übermächtiger das Unsichere wirkt, desto mehr Illusionen benötigen wir, um seine bloße Vorstellung zu verscheuchen. Seine Eintrittswahrscheinlichkeit sei unwahrscheinlich und man solle doch bitte nicht die Angst zu seinen Ratgebern zählen.
Johannes Hano, Fernsehjournalist für das ZDF, befand sich zur Zeit der Kernschmelze in Tokio, hörte in den japanischen Medien, Plutonium könne man problemlos über Urin und Kot wieder ausscheiden. Dass es bereits in kleinsten Mengen extrem krebserregend ist, erfuhr man dagegen nur am Rande. Man hörte gleichfalls: Auch die derzeitige Strahlenbelastung entspreche lediglich der während einer Röntgenaufnahme. Die Röntgenaufnahme dauert allerdings nur einen Sekundenbruchteil, die japanische Strahlenbelastung dagegen hört nicht auf. Auch davon redet man in den Medien nicht.
Geht es um Kernkraft, dann täuscht der Staat sein Volk und teilt ihm mit, es sei ein Feigling. Man beziehe billigen und sauberen Strom und man habe keinen Grund in feiger Angst zu erstarren. In Japan hielten Japaner die besorgten Europäer vor Ort nach dem Reaktorriss für ängstlich. Japan ist noch immer eine heroische Kultur in einer Zeit, die längst postheroisch geworden ist. Der Klage, ein Land ohne Helden sei elend, hielt Brecht entgegen: Weh dem Land, das Helden nötig hat!
Der erste Jahrestag von Fukushima ist zugleich der 300. Geburtstag eines Autors, der das Fortschrittsdenken der Aufklärung infrage stellte. Es ist Jean-Jacques Rousseau.
Er hat nicht beansprucht, Ereignisse wie Fukushima vorauszusehen. Er las in der
frühesten Vergangenheit der Menschheit, vermutete begründet, dass man in jener staatenlosen Vorzeit gleichartig, friedfertig und glücklich nebeneinander lebte, ein langes Goldenes Zeitalter, das keinen Mangel und keinen Überfluss kannte. Nur eines fehlte: Man wusste nicht, dass man glücklich war. Erst, als man entdeckt hatte, dass man aus der Erde Eisen fördern, schmelzen und unter anderem zu Waffen verarbeiten kann, erst, als wenige Besitzer von Eisen und Eisenöfen die restlichen Erdbewohner für sie arbeiten ließen, entdeckte man das eigene Unglück. Der lange Zustand des gemeinsamen glücklich-genügsamen Daseins war dahin. Das Glück war verloren, der Fortschritt hatte die Herrschaft übernommen. Dieser Fortschritt war zugleich an etwas gebunden, das wir wie selbstverständlich mit unserem Dasein zusammengewachsen betrachten. Es ist das Eigentum an Boden und es ist jenes Eigentum, welches Eigentum produziert, das heißt am Anfang jenes Eisen und die Öfen, die es zum Schmelzen bringen. Dieses private Eigentum, so Rousseau, sei der Anfang des Unglücks der Menschengeschichte gewesen. Denn die Erde gehörte und gehöre niemandem und ihre Früchte allen. Sobald Mein und Dein beansprucht werden, wird eine Macht nötig, es zu sichern und Gewalt und Krieg, um es zu vergrößern.
Die japanische Regierung verstand die erforderliche Schadensbegrenzung des havarierten AKW nicht als öffentliches Gut, das es zu befördern gilt. Vielmehr überließ diese Regierung die alle Einwohner betreffende Begrenzung des Schadens und Risikos derjenigen Privatfirma, der das Kernkraftwerk gehört. Diese versuchte – obwohl das Kraftwerk bereits havariert war – die Anlage wieder in Gang zu setzen, was ein gefährlicher Fehler war. Dass sich auch in den Blöcken 2 und 3 Kernschmelzvorgänge ereigneten, erfuhr die Öffentlichkeit zweieinhalb Monate später. Noch später hörte man Nachrichten, dass nicht erst die Flutwelle, sondern dass bereits das Erdbeben die Anlage hatte bersten lassen.
Die Kernschmelze von Fukushima Daiichi zeigt, auf Rousseau bezogen, zwei grundsätzliche Probleme. Das eine betrifft den Sinn und die Möglichkeiten des Fortschritts. Das andere betrifft Zusammenhänge von politischer Herrschaft und privatem Eigentum. Für Rousseau hängen beide Probleme zusammen.
Beginnen wir mit dem Fortschritt. Rousseaus Zeitgenossen waren der Ansicht, dass wissenschaftlich-technischer Fortschritt ebenso ein politisch-sozialer Fortschritt im Mündigwerden der Menschen sei. Aufklärung war für Kant die Selbstbefreiung des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt galt als ein Motor des Fortschritts zu mehr Freiheit. Was Fortschritt meint, können wir heute abschätzen. Fortschritt kann als eine Erwartung von Gesamtnutzen gelten. Man ist in der Gegenwart weiter als die Vergangenheit und man wird in der Zukunft weiter sein als in der Vergangenheit. Fortschritt liegt dann vor, wenn ein aktueller Gesamtnutzen einer Zivilisation größer ist als alle vergangenen Gesamtnutzen und wenn begründet erwartet werden kann, dass der Gesamtnutzen in Zukunft größer als der gegenwärtige Gesamtnutzen.
So haben wir heute zum Beispiel mehr Gesamtnutzen in der direkten kommunikativen Vernetzung der Menschen mittels Internet und Mobiltelefonen als vor einer Generation, als diese Techniken noch gar nicht zur Verfügung standen. Empirische Untersuchungen zeigen jedoch, dass dieser Nutzen nicht etwa positiv mit dem Glückserleben der Menschen korreliert. Der Fortschritt als Steigerung des Gesamtnutzens bedeutet daher
keine Erhöhung unserer Glücksgefühle. Es mag sein, dass uns ein neues Handy oder einer neuer Laptop sehr erfreut. Doch wenn mich auf meinem Mobiltelefon mehrheitlich Leute anrufen, die nicht meine Freunde sind oder wenn ich meist nur Mails erhalte, die mich persönlich nichts angehen, dann verbinde ich mit diesen Geräten kein Glück. Die derzeitige Glücksforschung zeigt, dass Glück mehrheitlich aus Freundschaften und sozialen Beziehungen gespeist wird und nicht aus Geld oder der Teilhabe am wissenschaftlich-technischen Fortschritt.
Auch an dieser Stelle lohnt sich eine Erinnerung an Rousseau. Sein gesamtes Denken kann nämlich als Antwort auf die Frage verstanden werden: Wie kommt es, dass die Menschen einen Zustand des Glücks verloren haben, in welchem sie die längste Zeit der Geschichte gelebt haben? Wie erklärt es sich, dass die Menschen derartig unglücklich geworden sind? Seine berühmte Antwort lautet: „Der erste, als er ein Terrain eingezäunt hatte und auf den Gedanken kam zu sagen Dies gehört mir und Menschen fand, die simpel genug waren es zu glauben, war der tatsächliche Begründer der Bürgergesellschaft. Welche Verbrechen, Kriege, Ermordungen, welches Elend, welche Not, welche Schrecken hätte jemand dem Menschengeschlecht erspart, der, die Pfähle herausreißend oder den Graben zuschüttend, seinesgleichen zugerufen hätte: 'Hört nicht auf diesen Betrüger! Ihr seid verloren, wenn Ihr vergesst, dass die Früchte allen gehören und die Erde niemandem!' “ Mit dem Privateigentum zerriss, so Rousseau, die selbstverständliche Gleichartigkeit unter den Menschen. Eigentum war am Anfang Grund und Boden. Später wurden Menschen Eigentum von Menschen. Eigentum wurde auch das Eigentum produzierende Eigentum jener Öfen, mit denen man Eisen schmolz und Waffen produzierte.
In seiner preisgekrönten Schrift von 1750 über die Frage, ob die Wissenschaften und Künste uns moralisch zu besseren Menschen machen, stellte Rousseau zwei begründete Behauptungen auf: Erstens, die Wissenschaften und Künste besitzen von sich aus keinerlei politische und moralische Kraft und stellen keine moralische Instanz dar. Das Gegenteil jedoch glaubt man bis heute bzw. wird uns glauben gemacht. Wissenschaftlich-technischer Fortschritt gilt bis heute als ein Gradmesser auch für moralische Qualitäten. Zweitens behauptete Rousseau: Wenn man den wissenschaftlich-technischen Fortschritt als moralische Kraft zulässt, dann führt er zur Zerrüttung der Bindekräfte zwischen den Menschen. Solidarität und Mitempfinden werden durch das Interesse ersetzt, den Anderen „auszuschalten“. Man beansprucht das Monopol auf Erfindungen und ihre Vermarktung. Die alles bestimmende Neigung besteht darin, allen übrigen Schaden zuzufügen.
Rousseau stellte dem gängigen Fortschrittsdenken – dem beständigen Wachstum von Gesamtnutzen einschließlich der Erwartung auf künftigen Zuwachs – ein anderes Fortschrittsbild entgegen: Der jeweils gewonnene Nutzen fällt letztlich geringer aus als der mit dem Nutzen verbundene Schaden. Wir bezahlen, so Rousseau, den Fortschritt mit einer zunehmenden Verringerung sozialer Integration.
Es gibt bekanntlich durchaus Bedenken gegenüber dem technischen Fortschritt. Dass wir alle bereits Plastik in unserem Blut haben, welches die Fruchtbarkeit senkt und das Krebsrisiko erhöht, dass Wasser, Luft und Nahrung zu viel Gifte enthalten, dass die Erderwärmung gigantische wirtschaftliche Verluste zu erbringen droht, ist als Bedrohung bekannt. Daher erscheint es manchen nahezu als eine Rettung, dass es eine Energiegewinnung gibt, die keine Nachteile der Verfeuerung besitzt. Man erzeuge zu
diesem Zweck Wasserdampf, umgewandelt in Rotationsenergie, wiederum umgewandelt in Elektrizität. Um den Wasserdampf zu erzeugen, muss man die elementaren Bindekräfte der Materie lockern. Dies geschieht in den Kernkraftwerken. Doch es geschieht leicht auch außerhalb ihrer. Es gibt kein Konzept, es gibt keine Möglichkeit der ungefährlichen Endlagerung des strahlenden Abfalls. Es gibt keine Möglichkeit, die Absicherung gegen Erdbeben, Flugzeuge oder Terrorangriffe bis hin zu einer echten Sicherheit zu steigern. Die gelockerten Bindekräfte der Natur spielen nicht mit, menschliche Fehlbarkeit spielt nicht mit. Selbst wenn die Absicherung durch neue Erfindungen sicherer wird, selbst wenn für die Lagerung größere Absicherungen erfunden würden, so bliebe die menschliche Bösartigkeit. Atomkraftwerke können im Zuge von immer aggressiver ausgetragenen Konflikten Objekte destruktiver Begierden werden.
Jetzt werden sich viele fragen: Hat Rousseau nicht den Menschen als ein natürlich gutartiges Wesen betrachtet, voller Mitempfindung für seinesgleichen? In der Tat. Rousseau – und dies wird zumeist vergessen und kommt auch in den Unterrichtsplänen nicht vor – ist zugleich derjenige, der den Menschen als das Bösartigste beschreibt, was auf Erden lebt. Der Wechsel zu der Neigung, anderen Schaden zuzufügen, entsteht mit der Vergesellschaftung der Menschen. „Man bewundere“, schreibt Rousseau, “die menschliche Gemeinschaft wie es beliebt. Es wird gleichwohl nicht weniger zutreffend sein, dass sie die Menschen dazu bringt, sich gegenseitig zu hassen, sofern sich ihre Interessen überschneiden, sie sich wechselseitig scheinbare Dienste leisten und sich tatsächlich alle nur denkbaren Übel zufügen.“
Es gibt derzeit Tendenzen, vieles vergessen zu lassen. Japan habe doch die global strengsten Grenzwerte für Strahlenbelastung. Es seien lediglich deutsche Medien gewesen, die das Krisenmanagement als bösartig bezeichnet hätten. Es hätten sich keine nennenswerten Plünderungen ereignet. Spendengelder internationaler Konzerne seien nachhaltig geflossen.
Das ohnehin kurze Gedächtnis sei angesichts dieser Ablenkungsmanöver daran erinnert: Dass die Betreiberfirma Tepco, der größte Energieversorger des Globus, jahrelang Reaktorunfälle vertuscht und Daten gefälscht hat. Dass Leiharbeiter nach der Kernschmelze teilweise ohne Gummistiefel in das mit hochkontaminiertem Wasser überschwemmte Kernkraftwerk zwangsweise geschickt wurden. Dass man, wie bemerkt, die dauerhafte Plutoniumbelastung mit der Sekundenbestrahlung mit Röntgenstrahlen verglich. Dass die Toleranz der Strahlenwerte ausgerechnet für Kinder um das Zwanzigfache erhöht wurde. Dass man bei keiner Krisenbesprechung zwischen Staat und Tepco ein Protokoll führen ließ. Dass in Europa schon während der kritischen Tage Begehrlichkeiten auf Profite bei der Sanierung Japans im Fernsehen artikuliert wurden. Bereits diese Aufzählung ergibt sieben Beispiele als Fortsetzung und grundsätzliche Bestätigung der Aufzählung menschlicher Bösartigkeiten, die uns Rousseau vor 260 Jahren ins Stammbuch schrieb.
Wie steht es nun mit dem Verhältnis von Staat und privatem Eigentum im Fall Fukushima? Hier sind die Tatsachen so offensichtlich, dass eine knappe Aufzählung genügt: Alle Behörden, die in Japan für Kernenergie zuständig sind, haben die Verantwortung für die Sicherheit der Atomkraftwerke. Tepco-Berater sitzen in diesen Behörden. Als Tepco Unfälle vertuschte, musste die Firma keine Bußgelder zahlen. Nach ihrer Pensionierung werden einflussreiche Staatsbeamte bei entsprechendem Wohlverhalten hochbezahlte Mitarbeiter bei Tepco. Tepco ist zudem der größte Spender in Parteienkassen und der größte Geldgeber für die Forschung. Fukushima hat Tepco indes bankrott werden lassen. Doch die Firma, die für den Raum Tokio den Strom liefert, ist zu groß, um unterzugehen. Man spricht in Japan derzeit davon, dass Tepco im Grunde ein Staatsunternehmen war. Etwas deutlicher prononciert, läuft das hinaus auf: Der Staat war eine Einrichtung von Tepco.
Bedauerlicherweise lässt sich der japanische Umgang mit der nicht beherrschbaren nuklearen Energiegewinnung verallgemeinern. Weder die Kernschmelze von Fukushima Daiichi noch der fahrlässige Umgang mit ihr haben in der Regierung desjenigen Landes Lernprozesse ausgelöst, das derzeit die größte Dichte von Atomkraftwerken besitzt, in dem Land, in dessen Sprache Rousseau einst seine den Fortschritt in Frage stellenden Texte schrieb: in unserem westlichen Nachbarland Frankreich.
Die französische Atompolitik bildet die dunkle Seite einer Demokratie, die ihre nationale Identität auf revolutionäre Quellen gründet und vermutlich längst von einer Atomlobby gesponsort wird. Diese verhindert offenbar, dass es überhaupt eine öffentlich-kritische Berichterstattung über das französische Nukleargeschehen gibt. Fukushima ist somit keine lediglich japanische Spezialität. Rousseaus Zivilisationskritik wird in noch größeren Dimensionen von der démocracie nucléaire Frankreich bestätigt als von Japan. Von der großen Zahl riskanter Störunfälle der vergangenen Jahrzehnte erfährt man erst in letzter Zeit. Falls ein AKW an einem GAU um Haaresbreite vorbei schrammt, wird dort ein solcher Unfall auf die untersten Stufe eine siebenstufigen Skala gesetzt. Der Grad der Absicherung in zu Deutschland grenznahen Nuklearwerken wie Cattenom oder Fessenheim entspricht in keiner Weise den deutschen Standards, die ihrerseits mangelhaft sind.
Neuerdings erreichen uns Nachrichten, die auf offenbar schwer lösbare Probleme im sensibelsten Bereich, dem der Kühlung der Brennstäbe, hinweisen. Das Risiko einer plötzlich bewirkten Verstrahlung Gesamteuropas nimmt mit diesem Verhalten zu. Den bisherigen Höhepunkt bedingungsloser Verantwortungslosigkeit hat der bisherige Präsident des Landes mit einer Verlängerung der Laufzeit der bereits überalterten Werke wie Fessenheim und Cattenom gesetzt.
Die Katastrophe von Fukushima, die Rousseau natürlich nicht voraussehen konnte, hätte er einem Staatstypus zugeordnet, welcher jenem Betrug der Armen durch die Reichen entspricht. Hier werden die Gewinne privatisiert, doch die knapp 5000 Milliarden Euro für ein geborstenes AKW muss letztlich die Bevölkerung zahlen.
Nehmen wir einmal an, das Vertrauen in die Atomdemokratien sei mit Fukushima nicht gewachsen, sondern gesunken. Wie viel Hoffnung dürfen wird dann haben, dass auch die Fundamente der bezeichneten Betrugspolitik instabil werden?
Die französische Bevölkerung, sonst bei jeder Gelegenheit zu landesweiten Protesten bereit, hat sich bisher mehrheitlich den Täuschungen der Atomdemokratie hingegeben. Ebenso wurde die dortige Bevölkerung an erhöhten Energieverbrauch gewöhnt, der zu 80 % aus Atomstrom kommt. Frankreich mit seiner Bevölkerung von cirka 15 Millionen weniger als Deutschland weist inzwischen einen Energieverbrauch auf, der mehr als doppelt so hoch ist wie der deutsche.
Am ersten Jahrestag der Kernschmelze von Fukushima Daiichi bildet sich jedoch eine Menschenkette von 235 km zwischen Lyon und Avignon , um die Pariser Regierung zum Atomausstieg zu mahnen. Rousseau wusste nicht zu sagen, mit welcher Geschwindigkeit die gesamte Entwicklung bergab läuft. Nun kommt es zu einer Protestkette von einer bisher nicht gesehenen Länge. Sie richtet sich gegen eine Lobbykratie einer vollständig überflüssigen und tödlich riskanten Technik, die uns alle mit nachhaltig irreparablen Unfällen bedroht. Hätte sie das Zeug, ein Fatalgeschehen zu verlangsamen? Aus allem, was wir wissen, folgt: Rousseau hätte diese Frage bejahen können