Dr. Rainer Hagencord: Ein neues Eden? Über das Verhältnis von Menschen und Tieren>>

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SWR2 AULA.

Anmoderation & Redaktion: Ralf Caspary; Susanne Paluch. Sendung: Sonntag, 17. April 2005, 8.30 Uhr, SWR 2. Bitte beachten Sie:Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

 

Anmoderation:

Heute mit dem Theologen und Biologen Rainer Hagencord und dem Thema: „Ein neues Eden – Über das Verhältnis von Tier und Mensch“.

 

In unserer modernen Gesellschaft gehen wir mit Tieren auf mindestens vierfache Weise um: Wir lassen sie in Fernseh-Serien auftreten, in denen sie Unterhosen tragen und sich wie Menschen verhalten müssen; wir sperren sie in den Zoo ein, damit wir Sonntag nachmittags nicht nur die Affen angaffen; wir verarbeiten sie zu Tierfutter, um sie wiederum an unsere lieben Haustiere zu verfüttern; und wir halten sie in den Labors, um Medikamente gegen Kopfschmerzen an ihnen zu testen. Ja, gewiss, Sie werden sagen, das ist überzogen, das ist polemisch! Was ist denn mit den unzähligen Haustierbesitzern, die ihre Lieblinge hätscheln und tätscheln?

 

Der Einwand ist begründet, ändert aber nichts an der Tatsache, dass Tiere als minderwertige Geschöpfe gelten. Was erstaunlich ist, denn erstens basiert unsere Kultur nun mal auf dem Christentum, und in der Bibel kommen Tiere auf fast jeder Seite vor und werden als Geschöpfe begriffen, für die der Mensch Verantwortung trägt. Und zweitens zeigt uns die moderne Verhaltensbiologie, dass Tiere in emotionaler Hinsicht äußerst differenziert sind. Sie können leiden, sie können sich freuen, sich ärgern. Beide Aspekte werden allerdings in der heutigen Gesellschaft ausgeblendet, das sagt Rainer Hagencord aus Münster. Er hat Theologie und Biologie studiert, er arbeitet als Krankenhausseelsorger und am Institut für Neuro- und Verhaltensbiologie an der Universität Münster. Und er ist einer der wenigen, die Brücken bauen können zwischen Theologie und Naturwissenschaft. In seiner Doktorarbeit zeigt er, dass Tiere in der modernen Theologie fast völlig vergessen worden sind.

 

In der SWR2 Aula plädiert Hagencord für eine Rückbesinnung auf eine theologische Tradition, die das Tier als Mitgeschöpf begreift, und er bezieht sich dabei vor allem auf die neuesten Forschungsarbeiten der Verhaltensbiologen.

 

Vortrag von Rainer Hagencord:

Die theologische Wertschätzung der Tiere ist im Laufe der westlichen Denk– und Glaubensgeschichte verloren gegangen. Schauen wir in moderne theologische Literatur, die sich mit Schöpfung und Anthropologie beschäftigt, sehen wir, dass die Welt der Tiere nicht mehr vorkommt – ein weißer Fleck auf der theologischen Landkarte, und das, obwohl Tiere auf fast jeder Seite der Bibel vorkommen. Doch bevor wir uns diesem in der Denkgeschichte begründetem Skandal zuwenden, möchte ich Ihnen einen Theologen vorstellen, der die Tiere nicht vergessen hat. Es handelt sich um Nikolaus von Kues, auch Cusanus genannt, der im 15. Jahrhundert lebte. Nikolaus sagt, der Mensch gleicht einer Stadt mit fünf Toren und durch diese fünf Tore bringen die Boten der Sinne ständig neue Informationen in diese Stadt hinein. Darin ordnet dann das Denken, die Ratio, diese Eindrücke. Das übrigens tun die Tiere auch, sagt Nikolaus. Beim Menschen kommt jetzt allerdings die Vernunft ins Spiel, die die Eindrücke mit dem Gesamt des Lebens, mit dem Urgrund des Lebens, mit Gott in Verbindung bringen und somit Sinn stiften. Das tun die Tiere nicht mehr. Darin ist Nikolaus von Kues hochmodern; denn die moderne Verhaltensbiologie spricht den Tieren Denkleistungen, Gefühle und Ansätze eines Ichbewusstsein zu – doch dazu später mehr.

 

Ein weiteres Wort des Cusaners: „Auch der Gattung nach ist der Mensch nicht hoch zu schätzen, außer in der Einheit und Ordnung der Lebewesen.“ Das klingt wie eine Interpretation des ersten Schöpfungsberichtes: Mensch und Tier gehen gemeinsam aus der Hand des Schöpfers hervor, und in diesem Gesamtkunstwerk hat der Mensch als Ebenbild Gottes eine besondere Verantwortung.

 

Und ein drittes Wort: „Ich bin, weil Du mich anschaust, und das gilt für jedes Geschöpf.“ Das Denken, die Philosophie, die Theologie sind leider nicht einem Denker wie Nikolaus von Kues gefolgt, sondern haben in der Renaissance auf andere Denker gesetzt. Einer der großen ist René Descartes. Ein Wort zu ihm und seiner Situation: Das 16. Jahrhundert war geprägt von großer Unsicherheit: Die kopernikanische Wende, die Reformation, Religionskriege. Prägend für diese Zeit war die Frage, was denn trägt, woher wir Halt bekommen, wenn alle Sicherheiten verloren gehen. Und in dieser großen Unsicherheit prägt Descartes jenen Satz: „Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich.“ Das Denken verschafft mir Sicherheit, gibt mir einen Boden, auf dem ich stehen kann. Doch dieser descartsche Satz hat einen enormen Schatten. In diesem Schatten befinden sich unter anderem die Tiere, die laut Auskunft Descartes nur noch seelenlose Automaten sind, denn sie verfügen über keinen Verstand.

 

Der Kontrast zwischen Descartes und Nikolaus von Kues kann nicht größer sein! Der Mensch gleicht einer Stadt mit fünf Toren, durch die die Sinne ständig neue Informationen hineinbringen. Diese sinnliche Wahrnehmung ist die Grundlage des Denkens. Was geschieht gut 150 Jahre später? Descartes empfiehlt, die Tore zu verschließen; die Sinne sind zu gefährlich, als dass man ihnen vertrauen kann. Vertraut nur eurem Denken!

 

Der Irrtum über die Geschöpfe nahm hier seinen Anfang. Und mit dem Ausschluss der Tiere aus der Theologie und aus der Philosophie ist auch der Ausschluss der Geschöpflichkeit insgesamt verbunden. Welche Rolle spielen seitdem Emotionen, Gefühle für den Glauben, für die Theologie einerseits und für unser Denken andererseits?

 

Bis in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein hat der Behaviorismus, eine bestimmte Form der Biologie und Psychologie, das Feld beherrscht. Einer der prominentesten Vertreter, Burrhus Frederic Skinner, sagt über die Tiere: Was sich in ihrem Innersten abspielt, hat keinerlei Bedeutung für ihr Verhalten, es braucht uns nicht zu interessieren. Tiere sind Reiz-Auslöser-Automaten. Viele Behavioristen beziehen sich ausdrücklich auf Descartes, als ihren gedanklichen Vater.

 

Wie hätte sich die westliche Philosophie und Theologie entwickelt, wenn Descartes einerseits die Erkenntnisse der modernen Verhaltensbiologie gekannt hätte, die Ergebnisse über das Denken, Fühlen und Handeln nicht nur der großen Primaten und Delfine, sondern all der Mitgeschöpfe, die uns umgeben? Und was wäre aus unserem Denken und unserem Glauben geworden, wenn er darüber hinaus das biblische Bild eines Gottes beibehalten hätte, der nicht höchste Vernunft ist, sondern die Liebe? Die Bibel spricht von Gott als Liebhaber des Lebens, als Schöpfer all dessen, was lebt, und aus dessen Händen nichts verloren geht.

 

Das Denken, Fühlen und Handeln der Tiere soll uns nun beschäftigen. Wie würden Sie denken definieren? Eine kurze Definition abliefern über das, was Sie meinen, wenn Sie sagen: Ich denke. Für Karl Popper ist das Denken eine Fähigkeit, bestimmte Hypothesen im Kopf zu erstellen und sie kritisch zu sichten und stellt für ihn den einzig wirklich bedeutenden Unterschied zwischen den Lösungsmethoden eines Albert Einstein und einer Amöbe dar. Einstein lasse seine Hypothesen sterben, wenn sie sich als falsch erweisen. Er sondert sie aus. Die Amöbe hingegen stirbt selbst. Sie wird ausgesondert, wenn sie sich falsch verhält. Denken, so Konrad Lorenz, ist das Durchspielen einer Situation im Kopf. Und tun Tiere das? Haustierbesitzer können jetzt wahrscheinlich Lieder von den Denkleistungen ihrer Hunde, Katzen und Wellensittiche singen.

 

Konrad Lorenz erzählt eine Geschichte, die überrascht, weil sie nicht von deutlich intelligenten Lebewesen, wie Schimpansen und Delfinen erzählt, sondern von einem Juwelenfisch. Er schreibt: „Wenn ich je einen Fisch nachdenken gesehen habe, so war es damals.“ So sein Kommentar zu einem Ereignis, das er zufällig bei einem Maulbrüter beobachten konnte. Diese Fische zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Jungen im Maul der Mutter zur Welt kommen und sich dorthin auch bei Gefahr zurückziehen. Die Fürsorge geht danach noch so weit, dass die Jungen per Maul eingesammelt werden, dann allerdings vom Vater. Bei einer solchen Aktion beobachtet Lorenz eine Konfliktsituation. Ein männlicher Fisch hatte gerade ein Stück Wurm im Maul, als er ein Junges entdeckt, das ins Nest zu holen war. Auch das nimmt er instinktiv in sein Maul. Der Fisch hatte zwei Dinge im Maul, von denen eines in den Magen, das andere in die Nestgrube sollte. Was würde geschehen? Ich muss sagen, dass ich in diesem Augenblick keine fünf Kreuzer für das Leben jenes Juwelenfischchens gegeben hätte. Großartig aber, was wirklich geschah. Der Fisch stand starr, mit vollen Backen aber ohne zu Kauen. Ermisst man, wie merkwürdig es ist, dass ein Fisch in eine echte Konfliktsituation geraten kann und dass sich das Tier darin genau wie ein Mensch verhält, nämlich nach allen Richtungen blockiert stehen bleibt und weder vor noch zurück kann. Viele Sekunden stand der Juwelenfischvater wie angemauert, aber man konnte ordentlich sehen, wie es in ihm arbeitete. Dann löste er den Konflikt in einer Weise, dass man einfach Hochachtung finden musste. Er spie den ganzen Inhalt des Mundes aus, der Wurm fiel zu Boden, das kleine Juwelenfischchen tat das gleiche. Dann wandte sich der alte Juwelenfisch entschlossen dem Wurm zu und fraß ihn ohne Hast auf, aber mit einem Auge auf das gehorsam am Boden liegende Kind. Als er fertig war, inhalierte er es und trug es heim zur Mutter. Einige Studenten, die das ganze mit angesehen hatten, begannen wie ein Mann zu applaudieren. Denken als Durchspielen einer Situation im Kopf, diese Definition legt nahe, dass schon bei Fischen Denkvermögen zumindest in Ansätzen vorhanden ist.

 

Wie ist es mit dem Fühlen? Auch hier könnten die Haustierbesitzer unter Ihnen Lieder singen von der Freude oder Niedergeschlagenheit ihrer Gefährten. Harte Fakten kommen in neueren verhaltensbiologischen Untersuchungen ins Spiel, nicht mehr zu leugnende Aussagen über das Gefühlsleben von Tieren, mehr als nur romantische Geschichten. Harte Fakten sind der Hormonstatus im Blut eines Tieres und Aussagen über die Hirnstrukturen und über Monate erfolgte Verhaltensbeobachtungen. All diese Fakten machen deutlich, dass Tiere über reiches emotionales Leben verfügen. Angst, Zufriedenheit sind Charaktereigenschaften, die auch ihnen zukommen.

 

Der Verhaltensbiologe Dietrich von Holst hat sich ausführlich mit dem Phänomen Stress und den dafür verantwortlichen endokrinen Systemen, also der hormonellen Situation in einem Organismus beschäftigt. In seinen Untersuchungen an Tupajas, einer Hörnchen-Art, die in der Natur paarweise in festen Territorien leben, kann er zeigen, was soziale Interaktionen im Körper eines Tieres auslösen. So kann er zeigen, dass aus Kämpfen hervorgehende unterlegene Männchen aufgrund einer permanenten Stresssituation innerhalb weniger Tage sterben. Der Tod tritt tatsächlich nicht wegen direkter physischer Auswirkungen der Auseinandersetzung ein. Von Holst sagt, anthropomorph gesprochen „der Unterlegene stirbt an der andauernden Angst“. Zudem gibt der Hormonstatus davon Kenntnis, ob Paare in harmonischen oder unharmonischen Beziehungen leben. Er kommt zu dem Schluss, dass intakte Beziehungen und soziale Stabilität maßgeblich für die Fitness eines Tieres sind.

 

Auch die Arbeit von Norbert Sachser und seiner Arbeitsgruppe am Institut für Verhaltensbiologie in Münster sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Ihr Untersuchungsobjekte sind sowohl domestizierte als auch wildlebende Meerschweinchen. Ihr Verhalten steht exemplarisch für das Leben von in Gruppen lebenden Säugetieren und die folgenden generellen Aussagen lassen sich aus den Untersuchungen ableiten:

 

1. Ist das soziale System innerhalb einer Gruppe intakt, wirkt sich das nicht nur auf die Anzahl und Gesundheit des Nachwuchses aus, sondern das gesamte Wohlergehen der Tiere ist davon betroffen.

 

2. Die Art und Weise, in der Tiere miteinander umgehen, wird nicht nur von der aktuellen Umweltsituation beeinflusst, sondern in hohem Maße auch von den sozialen Erfahrungen, die sie während ihrer bisherigen Entwicklung gemacht haben.

 

3. Auch Meerschweinchen kommen in die Pubertät. Und diese besonders prägende Phase hat im Leben der Tiere eine immense Bedeutung. Diese Zeit entscheidet mit über die Fitness eines Tieres, über den Stand in der Gruppe, seinen Reproduktionserfolg usw. Sogar pränatale, also vorgeburtliche Bedingungen haben eine nicht zu unterschätzende Relevanz. So verhalten sich etwa Töchter einer Mutter, die während ihrer Trächtigkeit in einer stabilen sozialen Situation gelebt hat, völlig anders als solche, deren Mutter sozialem Stress ausgesetzt war. Erstere verfügen über eine wesentlich größere Fitness als letztere.

 

Kommen wir zu dem, was die moderne Hirnphysiologie zum Thema Gefühl zu sagen hat. Das limbische System im Gehirn ist das Areal, in dem Erkenntnisse, Erfahrungen, das was wir erleben, mit Emotionen in Verbindung gebracht werden. Dieser Gehirnteil sorgt dafür, dass ich beim Anblick eines Bildes von Marilyn Monroe anders reagiere und fühle, als beim Anblick des Bildes meiner Großmutter. Dieses limbische System wird auch Reptiliengehirn genannt und ist somit Grundbestand der meisten Wirbeltiere. „Ich fühle, also bin ich“ lautet der Buchtitel des Hirnforschers Antonio Damasio. Er stützt seine Aussagen auf langjährige Untersuchungen an hirngeschädigten Menschen und kommt zu dem Schluss: „Wenn das Bewusstsein aufgrund gravierender Hirnverletzungen aufgehoben ist, ist gewöhnlich auch die Emotion aufgehoben. Dasjenige, was seit Jahrhunderten nicht nur Philosophen von ihren Mitmenschen gefordert haben, nämlich die Vernunft walten zu lassen und die Gefühle zu unterdrücken, endete bei vielen von Damasio untersuchten Patientinnen und Patienten in absolut unvernünftigem Verhalten. Er schreibt: „Ich vermute, dass das Bewusstsein von der Evolution hervorgebracht wurde, weil die Erkenntnis der durch Emotionen hervorgerufenen Gefühle so unentbehrlich für die Kunst des Lebens ist und weil die Kunst des Lebens einen Erfolg für die Naturgeschichte darstellt. Die Emotion wurde im Lauf der Evolution wahrscheinlich in der Morgendämmerung des Bewusstseins angelegt.“ Die Aussage, dass Tiere über Gefühle verfügen, aber anders damit umgehen als Menschen, ist somit mehr als plausibel.

 

Und wie ist es mit dem, was wir unsere eigene besondere Bastion beschreiben, nämlich dem Selbstbewusstsein? Spiegeltests mit Menschenaffen machen deutlich, dass Schimpansen über ein solches Selbstbewusstsein verfügen. Beim Spiegeltest wird einem Tier, ohne dass es es merkt, mit Mehl ein Punkt oder ein Strich auf die Stirn gemacht. Dann setzt man den Schimpansen oder die Schimpansin vor einen Spiegel und beobachtet bei den meisten Tieren, dass sie nach dem Blick in den Spiegel, sich selbst an die Stirn fassen, d. h. sie haben sich in dem Spiegel erkannt. Wir Menschen erlernen diese Fähigkeit, uns selber zu erkennen, im Alter von 1 ½ Jahren. Was ist aber, so möchte ich kritisch fragen, mit all den Tieren, die nicht primär über die Augen sich und ihre Mitwelt erleben und erkennen, sondern vielleicht eher mit den Ohren oder der Nase. Ich schlage ein kleines Experiment vor. Sie verlassen, wenn Sie zu mehreren in ihrem Raum sind, das Zimmer, einer bleibt zurück und stellt die Stühle anders und lädt Sie ein Ihren Stuhl, auf dem Sie vorher gesessen haben, am Geruch wieder zu erkennen. Ich möchte hoffen und wetten, dass keiner von ihnen den eigenen Stuhl wieder erkennt. Ein Hund hätte damit keine Probleme. Seine Nase sagt sehr deutlich, wer er ist und wo er war.

 

„Jeder Irrtum über die Geschöpfe mündet in ein falsches Wissen über den Schöpfer und führt den Geist des Menschen von Gott fort“ so schreibt der Kirchenlehrer Thomas von Aquin in seiner „Summa contra gentiles“. Kann es sein, dass wir Menschen in den westlichen Industrienationen über unsere Mitgeschöpfe, die Tiere, irren, dass wir von daher einen falschen Glauben entwickelt haben und eine Lebenspraxis, eine Spiritualität, die irrig ist?

 

Der Biologe und Wissenschaftskritiker Rupert Sheldrake sagt: „Es gibt in der Nähe zum Menschen nur noch zwei Kategorien von Tieren. Die einen verwöhnen wir mit Haustierfutter und die anderen werden dazu verarbeitet.“ Dermaßen gnadenlos und unverantwortlich verhalten wir uns in der sogenannten „Ersten Welt“ nicht nur gegenüber den Tieren, sondern gegenüber der gesamten natürlichen Mitwelt. Gleichzeitig unverantwortlich gegenüber der sogenannten „Dritten Welt“ und unserer Nachwelt. Diese dreifache Verantwortungslosigkeit schreibt der Naturphilosoph Meyer Abich uns Menschen in den Industrienationen ins Stammbuch, und er kennzeichnet eben dieses Verhalten als das Verhalten interplanetarischer Eroberer: Wir gehen mit diesem Planeten um, als kämen wir von einem anderen Stern, als seien wir mit nichts und niemandem auf diesem blauen Planeten verwandt und könnten ihn als pure Ressource ausnutzen und ausbeuten. Interplanetarisch! So skizziert er unser Verhalten. Doch, so Meyer Abich, in uns schlummert noch ein Traum, eine Erinnerung an ein Leben, das anders gekennzeichnet ist, nämlich durch den Charakter der Beheimatung. Wir sind keine Interplanetarier, sondern Erdensöhne und Erdentöchter. Verwandt mit allem, was lebt, mit dem eigenen Platz im Gesamt des Lebendigen. Dieser Traum ist in alten Bildern, Geschichten und Mythen aufgeschrieben und gehört ebenso in den Grundbestand unseres Lebens wie die vorherrschende Ausgestaltung des Lebens als Interplanetarier.

 

Schauen wir als erstes in die Magna charta der jüdisch-christlichen Weltsicht, die unser Denken, Glauben und Theologietreiben geprägt hat, nämlich in die Heilige Schrift. Überliefert sind zwei Schöpfungsberichte. In der ersten Erzählung, die die Schöpfung als 7-Tage-Werk darstellt, wird der Mensch zusammen mit den Tieren am sechsten Tag geschaffen. Der siebte Tag ist der Tag der Ruhe. Dieser Tag ist übrigens die Krone der Schöpfung, nicht der Mensch. Dem Menschen kommt allerdings im Gesamt des Lebendigen, im Gesamt der Schöpfung, eine besondere Bedeutung zu: „Herrschen“ soll er über die Tiere und sie sich „unterwerfen“. Diese Begriffe sind erst in der Neuzeit absolutistisch missverstanden und umgedeutet worden. Im ersten Testament bezeichnen diese Begriffe den Gedanken der Verantwortung. „Herrschen über“ und „unterwerfen“ - diese Begriffe sagen über das Verhältnis des Menschen gegenüber den Tieren, dass er wie ein altorientalischer König verantwortlich mit dem ihm anvertrauten Leben umgehen soll; aus eben der Welt des altorientalischen Königtums stammen die Bilder und Begriffe der Genesis. Ein Löwe, ein Blauwal oder ein Esel können keine Verantwortung für das Ganze übernehmen, das allein kann und soll der Mensch, und insofern er diese Verantwortung übernimmt, ist er Ebenbild Gottes. Die Ebenbildlichkeit Gottes impliziert eindeutig seine Verantwortung. Insofern der Mensch die Verantwortung nicht übernimmt, verliert er den Anspruch, Ebenbild Gottes zu sein. Der zweite Schöpfungsbericht erzählt eine andere Geschichte. Es ist die Geschichte von Adam und Eva im Garten Eden. Eine Probe aufs Exempel: Wahrscheinlich wissen Sie, dass zunächst Adam in diesen prachtvollen Garten Eden gesetzt wird. Und dieser Adam fühlt sich einsam, so diagnostiziert Gott der Herr und er beschließt, diesem Adam eine Hilfe zu machen, damit er sich nicht länger einsam fühlt. Und dann kommt eben nicht die Eva ins Spiel, sondern im Buch Genesis heißt es: „Dann sprach Gott, der Herr: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. Gott, der Herr, formte aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu, um zu sehen, wie er sie benennen würde.“

 

Und Adam gibt jedem Tier einen Namen und merkt, die eigentliche Partnerin, das Geschöpf, das ihm entspricht, ist nicht darunter. Und erst jetzt kommt seine Eva ins Spiel. Was meint das, dass Adam den Tieren einen Namen geben soll? Exegeten sagen deutlich, es geht nicht nur um eine Etikettierung, sondern es geht um ein Sich-vertraut-machen mit den Tieren. Noch einmal Thomas von Aquin: Er fragt unter der Überschrift, ob Adam im Unschuldszustand über die Tiere herrschte: Adam brauchte die Tiere nicht zur Bekleidung, zur Fortbewegung oder zur Ernährung. Er brauchte sie, um sich ein Erfahrungswissen über sie anzueignen. Modern könnten wir sagen, Adam muss zunächst einen Zugang zu seinen inneren Tieren, zu seiner Gefühlswelt, zu seiner Triebhaftigkeit finden, verantwortlich damit umgehen, um reif zu werden für eine echte Partnerschaft, eine Begegnung von Du zu Du. Wir können aber auch sagen, dass das reale Tier, die wirklich existierenden Geschöpfe, die Löwen, die Giraffen, die Kröten, Fische und Käfer als wirkliches Gegenüber des Menschen zu verstehen sind. Und in deren Wahrnehmung und Beobachtung und Abgrenzung findet der Mensch zu sich.

 

Stellen Sie sich vor, Sie seien nun Adam und / oder Eva und hätten nach eben jenem unsäglichen Sündenfall das Paradies verloren, befänden sich also jenseits von Eden, aber Sie bekämen noch einmal die Chance, umzukehren. Der Engel träte zur Seite und ließe Sie einen Blick riskieren in den verlorenen Garten. Sie würden sich vermutlich die Augen reiben und erstaunt feststellen: Die Tiere haben den Garten Eden nicht verlassen müssen.

 

Ein drittes Mal Thomas von Aquin. Er sagt: Die Tiere haben eine größere Gottunmittelbarkeit als der Mensch, weil sie eben durch die Vernunft nicht getrennt sind von ihrem Schöpfer. Greifbar und spürbar wird diese Signatur in dreifacher Weise. Ein Erstes: Die Tiere leben im Hier und Jetzt, im Augenblick. Wir Menschen können nicht anders als die Vergangenheit bedenken und überarbeiten, aus ihr Schlüsse ziehen und die Zukunft planen, Perspektiven und Visionen entwickeln. Das macht uns zu Menschen. Und dennoch sind wir immer wieder erfüllt von der Sehnsucht, doch im Augenblick zu leben. Übrigens haben die großen mythischen Traditionen in den Religionen oftmals nichts anderes im Sinn, als den Menschen in ein Leben im Augenblick zu führen. Meditationen, Exerzitien sollen genau das bewirken.

 

Ein Zweites: Die Tiere leben anders als wir Menschen immerzu in der Wahrnehmung. Ein solches Leben in der Wahrnehmung korrespondiert genau mit einem solchen Leben im Augenblick. Und auch hier können uns die Tiere etwas verdeutlichen. Wir Menschen sind auf unser hoch spezialisiertes Denkvermögen angewiesen. Im Verlauf der Evolution hat uns dies einen enormen Sprung ermöglicht. Das abstrakte Denken, das Denken in größeren Zusammenhängen, das Entwickeln einer Mathematik, einer Philosophie und einer Theologie haben uns Menschen zu Menschen gemacht. Und auch dies hat eine Kehrseite; denn das pure Denken hat oftmals zur Folge, die Wahrnehmung gering zu schätzen, dem Sehen, Hören, Fühlen, Tasten und Riechen nicht mehr den Raum zu geben, den diese Sinneswahrnehmungen brauchen. Leben in der Wahrnehmung mit allen fünf Sinnen: auch darin sind uns die Tiere voraus. Leben im Augenblick, Leben in der Wahrnehmung, in der Konsequenz heißt dies - und da sind wir beim dritten Punkt: Beheimatet sein – Wissen und spüren, wohin man gehört! „Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn; Israel aber hat keine Erkenntnis!“ - so mahnt der Prophet Jesaja.

 

Durch die Entwicklung des hohen Bewusstseins ist dem Menschen all das gelungen, worauf er stolz sein kann. Doch zugleich ist mit der Entwicklung dieses Bewusstseins eine Distanzierung zur Lebenswelt, zu den Menschen und zu sich selbst verbunden. Die Fragen: Woher komme ich, wohin gehe ich, wohin gehöre ich? sie sind dem Menschen zu eigen und kennzeichnen oft seine Not. Das Tier und auch das Kind, vermitteln uns immer wieder den Eindruck, beheimatet zu sein, zu wissen, wohin man gehört. Im Hier und Jetzt sein – in der Wahrnehmung leben – beheimatet Sein, diese drei Eigenarten können etwas von dem deutlich machen, was die Tiere uns voraus haben. Und die biblische Botschaft geht mit diesen Gedanken und diesen Bildern um: Erstens sind Mensch und Tier laut biblischer Botschaft aufeinander bezogene und voneinander abhängige Geschöpfe des einen Gottes und sind beide Teilhaber des einen Bundes – geschlossen nach der Sintflut. Und zweitens: Mensch und Tier haben eben darin eine je eigene Beziehung, sie haben darin einen je eigenen Wert und eine Beziehung zum Schöpfer und somit ihren je eigenen Ort im Gesamt der Schöpfung.

 

Aktuelle verhaltensbiologische Daten einerseits und der Rückblick auf die Wertschätzung, die die Bibel für die Tiere aufbringt andererseits zeigen den Kontrast zur Tierwelt, die wir Menschen in den Industrienationen entwickelt haben. Zugleich markieren sie einen Weg, den fatalen und folgenreichen Irrtum über unsere Mitgeschöpfe zu überwinden. „Mit zunehmender Erkenntnis“, so schreibt der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti, „mit zunehmender Erkenntnis werden die Tiere den Menschen immer näher sein. Wenn sie dann wieder so nahe sind wie in den ältesten Mythen, wird es kaum mehr Tiere geben.“

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* Zum Autor:

Rainer Hagencord hat in Münster und Fribourg / Schweiz Theologie, Philosophie und Biologie studiert. Er arbeitet heute als Krankenhausseelsorger und Mitarbeiter am Institut für Neuro – und Verhaltensbiologie der Universität in Münster. Darüber hinaus ist er in der Erwachsenenbildung tätig. In seiner Doktorarbeit geht er dem Phänomen nach, dass die Tiere zwar in der Bibel auf fast allen Seiten vorkommen, sie aber in der modernen Theologie vergessen worden sind. Neben der philosophiegeschichtlichen Ergründung dieses Skandals reflektiert  er neuere verhaltensbiologische Daten und theologische Denkmodelle, um einen  Platz für Tiere  auch in der Theologie auszumachen.

Bücher:

- Diesseits von Eden. Verhaltensbiologische und theologische Argumente für eine neue Sicht der Tiere. Regensburg.

- Ich finde Dich in allen diesen Dingen. Sieben Wochen für Leib und Seele. Stuttgart 2005