Ulrich Teusch: Arbeiten im Spannungsfeld - Der Künstler und die Macht oder Antipolitik

SWR2 Wissen - Aula,

 Philosophie der Gelassenheit, der geistigen Souveränität, der ironischen Distanz ( Konrad )
Sendung: Sonntag, 14. Oktober 2007, 8.30 Uhr, SWR 2
Autor und Sprecher: Dr. Ulrich Teusch *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch

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ÜBERBLICK
Immer wieder haben sich Künstler in ihren Werken kritisch mit den jeweiligen politischen Machtverhältnissen und deren Protagonisten auseinandergesetzt. Insbesondere Diktaturen reagieren darauf mit staatlichen Repressionen. Auf der anderen Seite haben sich Künstler oftmals den Herrschenden angedient oder sich von ihnen vereinnahmen lassen. Übrigens: Auch in liberalen Demokratien ist das Verhältnis von Künstlern zur Politik nicht konfliktfrei, wie zuletzt der "Fall Handke" gezeigt hat. Der Politikwissenschaftler Ulrich Teusch beschreibt anhand konkreter Beispiele aus Vergangenheit und Gegenwart das ambivalente Verhältnis des Künstlers zur Macht.

ZUM AUTOR*
Ulrich Teusch, 1958 geboren, Dr. phil. Habil., ist Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Trier und zugleich freier Journalist. Nach dem Studium in Marburg und Trier promovierte Teusch über das Verhältnis von Technik, Gesellschaft und Politik, seine anschließende Habilitationsschrift behandelt das Thema "Staatengesellschaft im Globalisierungsprozess". Teusch war von 1999 bis 2001 DFG-Habilitationsstipendiat, seit 2001 ist er Privatdozent an der Universität Trier.
Bücher:

* Was ist Globalisierung? Primus Verlag.
* Die Staatengesellschaft im Globalisierungsprozess. VS Verlag.
* Freiheit und Sachzwang. Zum Verhältnis von Technik, Gesellschaft und Politik. Nomos Verlag.

INHALT
Ansage:

Heute mit dem Thema: „Arbeiten im Spannungsfeld – Die Kunst und die Macht, der Künstler und die Macht“.

Immer wieder haben sich Maler, Autoren oder Musiker in ihren Werken intensiv und kritisch mit den jeweiligen politischen Verhältnissen, in denen sie lebten, auseinandergesetzt. In der Demokratie war und ist das kein Problem, in autoritären Systemen sieht das anders aus, die reagieren auf Kritik mit teilweise starken Repressionen. Wobei auch in Demokratien das Verhältnis von Politik und Kunst zumindest konfliktbeladen ist, siehe die Ratten- und Schmeißfliegen-Äußerung von Franz Josef Strauss, siehe den Fall Peter Handke, der mit seinen angeblich pro-serbischen Statements auch in einigen politischen Lagern Unruhe ausgelöst hatte.
Der Politikwissenschaftler Dr. Ulrich Teusch beschreibt im folgenden anhand ausgewählter Beispiele aus der Vergangenheit und Gegenwart das ambivalente Verhältnis des Künstlers zur politischen Macht.


Ulrich Teusch:

Die Künstler können den politisch Mächtigen nützlich sein, sie können ihnen aber auch unbequem, sogar gefährlich werden. Das Verhältnis zwischen Kunst und politischer Macht ist seit jeher spannungs- und konfliktgeladen. Das liegt nicht daran, dass jedes Kunstwerk politisch wäre, sondern daran, dass kein Kunstwerk unpolitisch ist. Oder besser: dass kein Kunstwerk vor einer Politisierung gefeit ist.

„Politisierung der Kunst“ - wie ist das zu verstehen? Beginnen wir mit dem Offenkundigen: Es gibt selbstverständlich „politische Kunst“. Das ist Kunst, die politische Ab-sichten verfolgt. Sie stellt sich bewusst in den Dienst einer politischen Sache, ver-steht sich in Extremfällen sogar als „Waffe“ im politischen Kampf. Sie setzt ihre ästhetischen Mittel so ein, dass ein möglichst großer politischer Effekt entsteht. Solche Kunst ist typisch für historische Epochen, in denen die Menschen mit den politischen und sozialen Verhältnissen unzufrieden sind und sich für fundamentale Veränderungen einsetzen - politisch aufgeregte und aufregende Zeiten also, mit einem Wort: Phasen einer allgemeinen Politisierung. So war es zum Beispiel in den Jahren vor der deutschen Revolution von 1848. Damals kam die sonst so politikferne Poesie häufig in Gestalt „gereimter Leitartikel“ daher. Vergleichbare Phänomene konnte man im aufgeheizten politischen Klima der Weimarer Republik beobachten oder im Zuge der Protestbewegung in den 60er Jahren.

Doch auch wenn Kunstwerke nicht primär politisch zu verstehen sind, enthalten sie mitunter politische Aussagen oder lassen politische Intentionen erkennen. Diese mögen verschlüsselt sein oder unterschwellig bleiben - aber sie sind da. Selbst in einem so entschieden weltabgewandten Werk wie Adalbert Stifters Roman „Der Nachsommer“ findet sich hier und da Politisches; man könnte sogar sagen, dass Stifter mit der utopischen Gegenwelt, die er in seinem Text schildert, den Lesern einen kritischen Maßstab zur Beurteilung der realen Welt, auch der politischen Welt, an die Hand geben wollte. Solche politischen Aspekte eines Kunstwerks, und seien sie noch so versteckt, können von den Rezipienten bemerkt und hervorgekehrt werden. Und die Wahrscheinlichkeit, dass dies geschieht, ist - wiederum - dann besonders hoch, wenn eine allgemeine Politisierung im Gange ist, wenn die Wahrnehmung also entsprechend sensibilisiert ist.

Aber gibt es nicht auch die reine Kunst, die nur um ihrer selbst willen da ist? Und also auch ganz frei ist von politischen Zwecken? Was etwa sollte an einem Stillleben, an einem Landschaftsgemälde oder einem Liebesgedicht politisch sein? So klar die Antwort in politisch ruhigen Zeiten sein mag, so problematisch kann sie – abermals - in Zeiten der Politisierung werden. Wenn sich ein Dichter in solchen Zeiten dem all-gemeinen Trend entzieht und – zum Beispiel - konventionelle Naturlyrik verfasst, während seine Kollegen sich allenthalben der „engagierten“ Literatur verschreiben, kann er sich damit Ärger einhandeln. Denn wenn alle die politische Öffentlichkeit suchen, wirkt der Rückzug ins Private suspekt - politisch suspekt. Was als unpolitisches Gedicht gemeint war, wird von den anderen als verkapptes politisches Statement aufgefasst.

Unpolitische Kunst kann also wider Willen in politische Auseinandersetzungen geraten. Sie kann aber auch ganz bewusst politisch instrumentalisiert werden. Das ist ein völlig anderer Vorgang – und er ist um einiges problematischer. Wenn ich bislang von „Politisierung der Kunst“ gesprochen habe, dann habe ich stets eine gesellschaftliche Politisierung im Blick gehabt, also gleichsam eine Politisierung „von unten“. Die gezielte Instrumentalisierung der Kunst ist hingegen meist eine Politisierung „von oben“: durch einen Staat, der sich anschickt, immer mehr Lebensbereiche – und also auch die Kunst - politisch zu durchdringen. Besonders gefährlich ist diese Durchdringung in totalitären Staaten. Insbesondere die Nationalsozialisten haben eine politische Instrumentalisierung der Kunst betrieben. Allerdings taten sie das nicht, indem sie die Kunst offen und aggressiv politisierten. Ganz im Gegenteil: Sie haben einen regelrechten Kult um das „unpolitische Kunstwerk“ veranstaltet. Dieser Kult begann bei der Klassikerpflege, der Ehrfurcht vor den großen deutschen Meistern und reichte bis hin zum deutschen Film. Die vergnüglichen Komödien, die Goebbels von der Ufa produzieren ließ, waren so unpolitisch wie nur möglich – und hatten gerade deshalb eine eminent politische Funktion.

Wie die unpolitisch gemeinten Kunstwerke, so können auch Künstler, die sich selbst als unpolitisch verstehen, in die Mühlen der Politik geraten. Und auch hier spielen Prozesse der Politisierung eine zentrale Rolle. Der Musikhistoriker Eckhard John hat dies sehr anschaulich am Beispiel des Komponisten Arnold Schönberg demonstriert. Bekanntlich stießen Schönbergs musikalische Innovationen, also seine atonale Musik, bei konservativen Kollegen und großen Teilen des Publikums auf schroffe Ablehnung. Bis zum Ersten Weltkrieg spielten dabei politische Argumente aber noch keine Rolle. Dies änderte sich zu Beginn der Weimarer Zeit, als man begann, Schönberg und seine Schüler als „Musikbolschewisten“ zu diffamieren. Das war zwar ein in jeder Hinsicht abwegiger Vorwurf, denn weder hatte Schönberg etwas mit dem Bolschewismus zu tun, noch konnten die Bolschewisten allzu viel mit Schönbergs Musik anfangen. Dennoch verfehlte der Begriff seine Wirkung nicht. Später wurde er sogar noch inhaltlich ausgedehnt; jetzt sprach man allgemein von „Kulturbolschewismus“ - ein Kampfbegriff, der selbstverständlich auch von den Nazis dankbar aufgegriffen wurde. Als typisches Produkt des Kulturbolschewismus erschien ihnen zum Beispiel Ernst Kreneks Erfolgsoper „Jonny spielt auf“. Als das Werk nach seiner Leipziger Uraufführung gegen Ende 1927 nach Wien kam, riefen die dortigen Nationalsozialisten zu einer Protestkundgebung auf. In einem Flugblatt behaupteten sie, die Staatsoper sei – so wörtlich - „einer frechen jüdisch-negerischen Besudelung zum Opfer gefallen“.

Was brachte die Nazis ausgerechnet gegen dieses Werk so auf? Es war sicher nicht nur Kreneks Mischung unterschiedlicher Musikstile – inklusive des Jazz -, sondern auch und vor allem der Umstand, dass „Jonny spielt auf“ ein ganz bestimmtes, ame-rikafreundliches Lebensgefühl vermittelte und dass die Hauptfigur der Oper ein schwarzer Tanzmusiker war. In ihrer Propagandaausstellung über „Entartete Musik“, die 1938 in Düsseldorf stattfand, zeigten die Nazis auch das Plakat, mit dem einst für Kreneks Oper geworben worden war – allerdings hatten sie es bösartig karikiert: statt einer Nelke im Knopfloch seines Smokings trägt Jonny nun einen „Judenstern“.

Die Initiatoren der Düsseldorfer Propagandaschau hatten sich übrigens ein ziemlich ehrgeiziges Ziel gesetzt. Sie versuchten allen Ernstes, ästhetische Kriterien für „entartete Musik“ zu finden, also nachzuweisen, dass sich in der Musiksprache selbst „Natürliches“ und „Deutsches“ von „Artfremdem“ unterscheiden lasse. Als „artfremd“ galten ihnen insbesondere Jazz und Atonalität. Doch solche Bemühungen waren am Ende vergeblich. Die kulturpolitische Praxis des NS-Regimes war sehr viel einfacher gestrickt: Sie ließ sich, wie ja auch die Verunstaltung des Jonny-Plakats zeigt, primär von rassistischen, antisemitischen Erwägungen leiten. Auf diese Weise gerieten zahlreiche Künstler ins Fadenkreuz der Politik, obwohl sie völlig unpolitisch oder dem Regime vielleicht sogar freundlich gesonnen waren. Und auch sonst zeitigte der kulturpolitische Kurs des NS-Regimes Ergebnisse, die aus heutiger Sicht fast paradox anmuten. Die 1917 entstandene Operette „Das Schwarzwaldmädel“, die sich in jeder Hinsicht dem NS-Musikgeschmack gefügt hätte und einst sogar zu den Lieblingswerken Hitlers und Himmlers gehört hatte, wurde verboten, weil ihr Komponist Leon Jessel Jude war. Der Jude Arnold Schönberg musste Deutschland verlassen, während die von ihm maßgeblich repräsentierte musikalische Moderne auch zu NS-Zeiten durchaus eine Nischenexistenz finden konnte – allerdings nur, wenn sie, wie man damals sagte, „judenfrei“ blieb.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten setzte ein wahrer Künstler-Exodus ein. Viele, die das Land damals verließen, kehrten nach dem Ende der NS-Herrschaft nicht mehr zurück. Und die in Deutschland bleiben durften oder bleiben wollten, profitierten nicht selten vom Schicksal der Exilanten, besetzten die frei gewordenen Stellen und trieben ihre Karriere voran. Es gelang den neuen Machthabern allerdings auch, hochkarätige Künstler im Lande zu halten, die auf solch politische Hilfestellung nicht angewiesen waren. Keineswegs alle von ihnen waren überzeugte Parteigänger des neuen Regimes. Doch viele passten sich geflissentlich an, verhielten sich opportunistisch. Nur wenige versuchten, sich selbst und ihren Überzeugungen die Treue zu halten. Für die Nachgeborenen ist es schwer, vielleicht unmöglich, dass Verhalten so unterschiedlicher Künstler wie Richard Strauss oder Werner Egk, Wilhelm Furtwängler oder Herbert von Karajan, Gottfried Benn oder Ernst Jünger, Leni Riefenstahl oder Gustaf Gründgens auf einen Nenner zu bringen oder auch nur den Einzelfall gerecht zu beurteilen.

Bekannte wie auch weniger bekannte Künstler versuchten nach 1945, ihre Rolle im „Dritten Reich“ zu begründen, zu rechtfertigen, zu entschuldigen. Ein beliebtes Entlastungsargument lautete, man sei doch völlig unpolitisch gewesen und habe nur der Kunst dienen wollen. Dieses Argument ist aus meiner Sicht jedoch eines der un-glaubwürdigsten. Recht besehen, ist es sogar eher be-lastend als entlastend. Gewiss mag es gerade unter Künstlern eine verbreitete politische Naivität gegeben haben. Aber dass es in einem derart politisierten System wie dem des Nationalsozialismus auch keine „unpolitische Kunst“ mehr geben konnte, hätte jedermann klar sein können und auch müssen.

So lautet denn meine These: Ein öffentlichkeitswirksamer Künstler, der dem Regime kritisch gegenüberstand, konnte die Zeit des Nationalsozialismus nur dann mit Anstand überstehen, wenn er sich nicht in ein fiktives Reich des Unpolitischen zurückzog, sondern sich, im Gegenteil, mit aller Entschiedenheit und Konsequenz auf Politik einließ. Dazu brauchte es Mut und ein hohes Maß an persönlicher Integrität, vor allem aber bedurfte es der Fähigkeit zu einer nüchternen Analyse der politischen Verhältnisse, in denen man sich bewegte. Genau dazu waren jedoch nur wenige in der Lage.

Einer dieser wenigen war Heinz Tietjen. Sein Name ist heute vielen nicht mehr geläufig. Tietjen war Opernregisseur und Dirigent und schon in jungen Jahren, 1907, Theater-Intendant in der Provinz geworden. Seine eigentliche Karriere setzte in den 20er Jahren ein. Damals wurde das sozialdemokratisch geprägte preußische Kultusministerium auf ihn aufmerksam. Tietjen ging nach Berlin und stieg in rasantem Tempo auf. 1927 wurde er zum General-Intendanten der Preußischen Staatstheater berufen; er war nun Chef eines Theater-Imperiums, zu dem so renommierte Häuser wie die Staatsoper „Unter den Linden“ oder das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt gehörten. 1931 wurde Tietjen zusätzlich künstlerischer Leiter der Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele. Damit besaß er eine Machtfülle, die in der Theatergeschichte einzigartig sein dürfte. Viele seiner Weggefährten wurden nach 1933 verfolgt oder ins Exil getrieben. Tietjen hingegen blieb in seinen Ämtern – bis zum Ende, bis 1945. Dafür ist er oft kritisiert worden. Doch nicht weniger interessant als die Fra-ge, warum sich Tietjen 1933 so und nicht anders entschieden hat, erscheint mir die Frage, wie und warum er sich in seinen Ämtern überhaupt hat halten können. Denn den Nazis, allen voran ihren Kulturpolitikern Joseph Goebbels und Alfred Rosenberg, galt Tietjen als im Grunde untragbarer Exponent des verhassten Weimarer „Systems“. Nur zu gerne hätten sie ihn entmachtet. Warum also hat Tietjen sämtliche At-tacken heil überstanden?

Tietjens preußische Staatstheater lagen im Machtbereich von Hermann Göring, während für alle übrigen Theater Propagandaminister Goebbels zuständig war. Zwischen beiden Politikern bestand eine bösartige Rivalität. Diesen Dauerkonflikt der beiden NS-Größen machte sich Tietjen zunutze - mit diplomatischem Geschick, mit politischer Intelligenz und nicht zuletzt mit profunder Menschenkenntnis. So gewann er Handlungsfreiheit. Tietjens zweites Spielfeld, die Bayreuther Festspiele, genossen im „Dritten Reich“ eine Sonderstellung. Hier führte Winifred Wagner das Zepter. Die politischen Differenzen zwischen Tietjen und der Hitler-Verehrerin Winifred waren zwar offenkundig. Doch sie brauchte ihn als künstlerischen Mitarbeiter, und auch auf priva-ter Ebene war sie ihm zugetan. Für Tietjen bedeutete das einen gewissen Schutz. Nimmt man Berlin und Bayreuth zusammen, so befand sich der Intendant in einer komplizierten und delikaten Konstellation, in der er sich mit beachtlicher Virtuosität bewegte und behauptete. Tietjen profitierte davon, dass das Herrschaftssystem des „Dritten Reiches“, wie Historiker sagen, „polykratische“ Züge trug, also oft mehrere Machtzentren miteinander rivalisierten oder sich sogar neutralisierten. Was Tietjen während der NS-Zeit unternahm, erschien manchen rückblickend als ein opportunistisches Lavieren; in Wahrheit handelte es sich um ein gewagtes Doppelspiel, eine gefährliche Gratwanderung, die ihn schon früh Kontakte zu Widerstandskreisen knüpfen ließ. Weil er die jeweiligen Machtverhältnisse durchschaute und weil er es verstand, die Nähe zum System zu suchen und zugleich Distanz zu wahren, konnte er viele bedrängte Menschen schützen und einigen sogar das Leben retten - so dem großen jüdischen Dirigenten Leo Blech.

Aber nicht nur Künstlern, auch Politikern konnte der Intendant helfen, unter ihnen der Zentrumspolitiker Hermann Pünder: In der Weimarer Zeit war Pünder sechs Jahre lang Chef der Reichskanzlei gewesen; seit dieser Zeit kannte und schätzte er auch Tietjen. 1933 wurde Pünder von den neuen Machthabern politisch kaltgestellt. Dennoch hielt er als Privatmann Kontakt zu regimekritischen Kreisen in Berlin. Unmittelbar nach dem gescheiterten Attentat des 20. Juli 1944 wurde er verhaftet und fünf Monate später wegen Hochverrats vor dem Volksgerichtshof angeklagt. Pünder war auf ein Todesurteil gefasst. Doch das kurze Verfahren endete zu seiner Überraschung mit einem Freispruch. Er blieb zwar noch bis Kriegsende in Lagerhaft, weil die SS sich mit dem Urteil nicht abfinden wollte, aber: Sein Leben war gerettet. Wie es dazu gekommen war, erfuhr Pünder erst viel später. Am Tag des Prozesses hatte sich Tietjen in die Höhle des Löwen gewagt, zu Roland Freisler, dem gefürchteten Präsidenten des Volksgerichtshofs. Diesem erklärte er, Hermann Göring habe ein besonderes Interesse am Fall Pünder und wünsche vor etwaigen unwiderruflichen Entscheidungen persönlich Akteneinsicht zu nehmen. Wenn Freisler an seinen Darlegungen zweifele, so Tietjen, dann möge er Görings Adjutanten kontaktieren und sich von diesem den Sachverhalt bestätigen lassen. Freisler gab nach – und verzichtete auf eine Überprüfung. Zum Glück, denn das Interesse Görings am Fall Pünder war eine Erfindung Tietjens, ein Bluff, der ihn selbst das Leben hätte kosten können.

Dass ein Künstler, der in einem totalitären System höchste kulturelle Ämter bekleidet, sich in dieser Weise in die politische Praxis wirft, dürfte ein ziemlich singulärer Vorgang sein. Weit häufiger haben Künstler auf ihrem ureigensten Gebiet, dem der Kunst, Widerstand geleistet. Betrachten wir ein Beispiel aus dem anderen großen totalitären System des 20. Jahrhunderts, dem Stalinismus.

Die Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ des Komponisten Dimitri Schostakowitsch gehört fraglos zu den bedeutendsten Werken des Musiktheaters. Schon ihre Uraufführung, 1934 fast zeitgleich in Moskau und Leningrad, war ein sensationeller Erfolg. Ei-ne moderne Oper, die, was selten genug geschieht, nicht nur von den Kritikern mit Ovationen überschüttet wurde, sondern auch das Publikum in einen Taumel der Begeisterung versetzte. Der erst 27-jährige Schostakowitsch erlebte mit der Lady Macbeth – auch international - seinen fulminanten künstlerischen Durchbruch.

Zwei Jahre später, 1936, bricht die Erfolgsgeschichte abrupt ab. Der Diktator Josef Stalin besucht eine Vorstellung der Oper. Meist agierte Stalin wohl überlegt; doch in diesem Fall ließ er sich – zumindest teilweise - von seinen Gefühlen überwältigen. Was er hörte und sah, stieß ihn ab, insbesondere die krasse Erotik des Werks empörte ihn. Kurz darauf erschien in der Parteizeitung „Prawda“ ein anonymer Artikel, der von Stalin initiiert und mit großer Wahrscheinlichkeit sogar von ihm selbst verfasst worden war. Sein Titel: „Chaos statt Musik“. Über Nacht war Schostakowitsch in höchste Gefahr geraten, seine Werke wurden verboten, er musste jederzeit mit Verhaftung oder Schlimmerem rechnen.

Doch schon kurze Zeit danach – und abermals untypisch für diesen Mann - ruderte Stalin zurück. Über die abfälligen Reaktionen der sowjetischen Intelligenz auf seine Kampagne war er durch unzählige Spitzelberichte bestens informiert. Zudem bestand die Möglichkeit, dass der feinfühlige Schostakowitsch sich angesichts des ge-gen ihn entfachten Kesseltreibens das Leben nehmen und der internationalen Reputation des Landes schaden könnte. Beides zusammen ließ Stalin einlenken. Das Ergebnis war eine Art Kompromiss und in der Folge ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem Diktator und dem Künstler. Schostakowitschs Biograph Solomon Wolkow schreibt, dass der Komponist nun vollends in eine Rolle schlüpfte, die er auch schon in den Jahren zuvor gelegentlich gespielt hatte: in die Rolle eines „russischen Gottesnarren“. Wie der Dichter Alexander Puschkin es in seinem Verhältnis zu Zar Nikolaus I. getan hatte, verbarg auch er sich hinter einer Maske. Sie ermöglichte es ihm, dem „neuen Zaren“ Josef Stalin gefährliche, aber notwendige Wahrheiten ins Gesicht zu sagen.

Millionen Menschen wurden in den folgenden Jahren von Stalin in den Tod geschickt, unter ihnen auch zahlreiche Künstler. Eine Atmosphäre permanenten Terrors legte sich über das Land. Das Leben wurde zum Lotteriespiel. Tod oder Straflager trafen nicht jeden, aber sie konnten jeden treffen - jederzeit. Auch Schostakowitsch lebte in existenzieller Angst. Doch trotz bedrückender Umstände gelang es ihm, herausragende musikalische Werke zu schaffen. Und er überlebte. Er überlebte auch Stalin, um 22 Jahre. Den Schatten des Diktators wurde er aber auch nach dessen Tod nicht los. Im Westen galt und gilt Schostakowitsch manchen immer noch als im Wesentlichen linientreuer Komponist. Doch dass er je innerlich überzeugter Kommunist gewesen sein oder gar die Verhältnisse zu Stalins Zeiten und danach gutgeheißen haben könnte, ist kaum vorstellbar. Seine Musik zeigt es. Diese Musik ist nicht das, als was sie an der Oberfläche erscheint. Sie enthält, wie bei „Gottesnarren“ üblich, einen „Subtext“. Sie ist verschlüsselt. Sie teilt Dinge mit, die sich auch aufmerksamen Zuhörern erst beim zweiten oder dritten Hören oder nach genauer Analyse erschließen. So etwa im berühmten ersten Satz der siebten Sinfonie, der „Leningrader“. Dort findet sich ein Thema, das, ähnlich wie in Ravels „Bolero“, elfmal wiederholt wird und ständig an Intensität zunimmt. Nach gängiger Lesart beschreibt Schos-takowitsch hier den Angriff Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion. Doch eine genaue Analyse der Musik und ihrer Entstehungsgeschichte zeigt, dass ihr Thema ursprünglich der wachsende stalinistische Terror gewesen ist.

Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen kommunistischer und nationalsozialistischer Kulturpolitik herauszuarbeiten. Festzuhalten bleibt, dass beide Systeme durch eine rückhaltlose Politisierung der Kunst gekennzeichnet waren, auch wenn diese Politisierung auf recht unterschiedliche Weise zum Ausdruck kam. Beide Systeme forderten enorme menschliche Opfer, und die künstlerischen Neuschöpfungen von bleibendem Wert, die sie hervorge-bracht haben, sind in beiden Fällen nicht so sehr wegen, sondern trotz des jeweiligen Systems zustande gekommen.

Gelegentlich hört man den Satz: „Die Kunst braucht die Demokratie nicht – aber die Demokratie braucht die Kunst.“ Der erste Teil dieses Satzes, obwohl provokativ, ist sicher zutreffend; die politischen Verhältnisse, unter denen große Kunstwerke ent-standen, waren im Laufe Menschheitsgeschichte in der Tat nur selten demokratisch. Selbst in den beiden totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts sind, wie auch im-mer und ungeachtet aller Barbarei, bedeutende künstlerische Leistungen zustande gekommen. Dennoch wird kaum jemand bestreiten wollen, dass das Ende dieser Systeme zumindest in Europa eine Befreiung der Kunst und der Künstler bedeutete.

Auch in Demokratien ist das Verhältnis zwischen Künstlern und politisch Mächtigen zwar nicht konfliktfrei – das kann und das soll es auch nicht sein. Aber die Beziehungen haben sich in jüngerer Zeit zweifellos entspannt. Echte Theater-, Literatur- oder Kunstskandale finden nur noch selten statt, weil in einer weitgehend liberalisierten Gesellschaft nur noch wenige Tabus verblieben sind, die zu brechen sich lohnte. Blickt man auf die Jahre des wiedervereinigten Deutschland, dann entzündeten sich die Kontroversen im Spannungsfeld von Kunst und Politik zum einen an der Vergangenheit ostdeutscher Künstler, zum anderen an den verspäteten Bekenntnissen eines Günter Grass oder den eigenwilligen politischen Einlassungen Peter Handkes, Martin Walsers und einiger anderer. All das ist Ausdruck demokratischer Normalität, zumal die Kontroversen fast durchweg „von Gleich zu Gleich“, also auf einer gesellschaftlichen Ebene ausgetragen wurden – und nicht etwa zwischen „politischer Macht“ und „oppositioneller Kunst“. Insofern scheint auch der zweite Teil des eben zitierten Satzes – dass die Demokratie die Kunst brauche – bei den politisch Verantwortlichen angekommen zu sein.

Auch die Politisierung der Kunst, ob „von oben“ oder „von unten“, hat sich in den ver-gangenen Jahren abgeschwächt. Das war in der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg nicht immer so. Zu Zeiten des Kalten Krieges beispielsweise war eine Politisierung von oben noch deutlich spürbar. In den USA hatten viele Künstler unter den antikommunistischen Exzessen des Senators McCarthy zu leiden, aber auch in Deutschland, an der Nahtstelle der Ost-West-Konfrontation, brachte man politisch unbequeme Künstler gerne mit dem außenpolitischen Gegner in Verbindung. Oder man verweigerte Künstlern, die sich nach ihrer Exilzeit nicht für die Bundesrepublik, sondern für die DDR entschieden hatten, im Westen die Anerkennung. Ähnliche Überreaktionen konnte man in den 70er Jahren im Zeichen der terroristischen Bedro-hung beobachten, als man einzelne Künstler der Sympathisantenszene zurechnete oder ihnen eine Mitschuld an der verbreiteten Gewaltbereitschaft gab.

Die Politisierung von unten hat mit dem großen Engagement der Künstler in der Protestbewegung der 60er und frühen 70er Jahre ihren Höhepunkt erlebt. Viele, die sich seinerzeit politisch exponierten, schauen heute ein wenig erstaunt und manchmal auch peinlich berührt auf ihre Aktivitäten zurück. Man mag auch dies als eine ganz normale Erscheinung betrachten, als eine weitere Episode im ewigen Wechselspiel von Engagement und Enttäuschung, wie es Albert Hirschman so anschaulich beschrieben hat. Die emphatische Vorstellung, man könne die Welt – auch mit künstlerischen Mitteln – aus den Angeln heben, scheint sich überlebt zu haben, fürs erste jedenfalls. Unter Künstlern scheint sogar aufgrund der leidvollen Erfahrungen im 20. Jahrhundert ganz generell die Sensibilität dafür gewachsen zu sein, dass nicht nur eine Politisierung von oben die künstlerische Autonomie gefährden kann, sondern auch die Politisierung von unten, die „Selbst-Politisierung“ sozusagen.

Nur wenige haben über die politische Gefährdung und Selbst-Gefährdung des Künst-lers so umfassend und intensiv reflektiert wie der ungarische Schriftsteller György Konrád. Nur wenige sind zudem so prädestiniert wie er, sich zu dieser Frage zu äu-ßern. Konrád kennt beides, Diktatur und Demokratie. Nur mit großem Glück ist er der Vernichtung der ungarischen Juden durch die Nationalsozialisten entronnen. Auch mit der kommunistischen Diktatur, die sich in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in seiner Heimat etablierte, geriet er schon bald überkreuz. Nach dem gescheiterten Volksaufstand des Jahres 1956 und auch in späteren Jahren stellte sich für ihn die Frage, ob er Ungarn verlassen solle. Anders als viele seiner Landsleute entschied er sich fürs Bleiben. Dennoch verweigerte er sich dem kommunistischen System. Die Machthaber warfen zwar Köder aus, doch Konrád ließ sich nicht beirren. Er hatte sich entschieden, keine Konzessionen zu machen und sämtliche Nachteile in Kauf zu nehmen. Über viele Jahre erduldete er die Repression und die Schikanen der Herrschenden. Im eigenen Land persona non grata, war er im Westen ein bekannter Dissident, dem es immer wieder gelang, Manuskripte ins Ausland zu schmuggeln und auf diese Weise ein paar bescheidene Einnahmen zu erzielen. Aber er musste lernen, seine materiellen Ansprüche auf ein Minimum zu reduzieren, in permanenter ökonomischer Unsicherheit zu leben. Mit der Zeit fand er sogar Gefallen an seiner Situation, genoss die kleinen Freiheiten, die er sich in einem System der Unfreiheit herausnahm. Er hat seine Entscheidung für den unbequemeren Weg nicht bereut.

Konrád hat über seine Haltung schon früh auch theoretisch reflektiert und sie auf den Begriff gebracht. Dieser Begriff heißt „Antipolitik“, und er klingt gefährlich, fast wie „politik-feindlich“. Doch genau das – politik-feindlich – ist Konrád nie gewesen. Er war und ist ein gefragter Essayist, äußert sich immer wieder gerne und pointiert zu politischen Themen. Insoweit ist seine anti-politische Haltung keinesfalls mit einer a-politischen zu verwechseln. Zu Zeiten des kommunistischen Ungarn bedeutete Anti-politik den Kampf gegen die Politisierung von oben, wie sie von der Partei- und Staatsmacht betrieben wurde. Es ging darum, gesellschaftliche Teilbereiche von ih-rer politischen Durchdringung zu befreien, ihnen ihre Autonomie zurückzugeben. Will man es paradox formulieren, kann man sagen, dass der Antipolitiker Konrád eine „Politik der Entpolitisierung“ verfolgte. Antipolitik ist demzufolge keine politische Richtung, die einer anderen politischen Richtung den Kampf ansagt und selbst nach politischer Macht strebt; Antipolitik versucht vielmehr, ein bestimmtes Politikverständnis durch ein ganz anderes zu ersetzen. Anfang der 80er Jahre schrieb Konrád – ich zitiere:

„Da uns die Politik in fast allen Ecken und Enden des Lebens überschwemmt hat, wünsche ich mir den Rückgang der Flut. Wir müssen unser Leben entpolitisieren, wir müssen uns von der Politik befreien wie von einer Heuschreckenplage.“ Und weiter: „Antipolitik ist das Politisieren von Menschen, die keine Politiker werden und keinen Anteil an der Macht übernehmen wollen.“ „Antipolitik heißt Scharfblick. Unauslöschlicher Argwohn gegen die uns umgebende Menge politischer Urteile.“ „Die Antipolitik ist weder Stütze noch Opposition der Regierung, sie ist anders.“ Mit solchen Maximen sprach Konrád vor allem die Intellektuellen an. „Die Macht des Geistes und die Macht des Staates sind miteinander unvereinbar“, postulierte er. Und mit Blick auf die Künstler fügte er hinzu: „Echte Kunst kann nicht Dienerin einer Regierung sein, stets ist sie etwas anderes als von den Herrschenden gewünscht.“

Obwohl sich die politischen Verhältnisse in Ungarn und andernorts nach dem Ende des Kommunismus grundlegend verändert haben, versteht sich Konrád heute immer noch – und offenbar mehr denn je – als „Antipolitiker“. Er hat seine antipolitische Hal-tung sogar zu einer allgemeinen Lebenseinstellung radikalisiert, zu einer Philosophie der Gelassenheit, der geistigen Souveränität, der ironischen Distanz. Sein stets un-berechenbares, skeptisches Denken, Schreiben und Handeln richtet sich nicht mehr allein gegen die maßlose Politisierung von oben, sondern auch gegen jede ausufernde Politisierung von unten. Konráds Antipolitik stuft das Politische zu einem Lebensbereich neben vielen anderen, nicht minder wichtigen Lebensbereichen herab, und sie grenzt es insbesondere scharf von allem Privaten ab. Wenn man so will, ein dritter Weg zwischen Politisierung und Privatisierung.

„Die Politik ist unser Schicksal“, hat Napoleon gesagt. Ein Satz, der sich vor allem im 20. Jahrhundert auf grauenvolle Weise bewahrheitet hat. Leidtragende waren auch die Künstler und ihre Werke. Antipolitik und vor allem antipolitische Kunst könnten dazu beitragen, dass sich solche Erfahrungen nicht wiederholen.