Professor Max Otte: Weniger ist mehr . Wie geht man mit dem Informations-Crash um?
Otte-Informations-Crash
SWR2 AULA –  (Abschrift eines frei gehaltenen Vortrags)
 Autor und Sprecher: Professor Max Otte 
 Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
 Sendung: Sonntag, 18. April 2010, 8.30 Uhr, SWR 2
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 ÜBERBLICK 
 Jeden Tag werden wir mit nutzlosen und auch irreführenden Informationen zugeschüttet, die uns kaum bereichern dürften. Das führt letztlich dazu, dass wir uns auf unser scheinbares Wissen nicht mehr verlassen können und sollten, das betrifft fast alle Bereiche: die Medizin, die Bildung, die Altersvorsorge, die Finanzkrise. Überall gibt es zuviel Fakten, Interpretationen, Gerüchte. Diese Flut zwingt den Konsumenten zur neuen Askese, zur Informationssouveränität. Der Finanzwissenschaftler Professor Max Otte zeigt Wege auf, um mit dem Info-Crash fertig werden zu können.
 Zum Autor:
 Max Otte, geb. 1964, promovierte an der Princeton University und war von 1998 bis
 2000 Assistant Professor für internationale Wirtschaft und internationales
 Management an der Boston University. 1999 gründete er das Instituts für
 Vermögensentwicklung IFVE in Köln, dessen Präsident er auch ist. Er lehrt
 außerdem allgemeine und internationale Betriebswirtschaftslehre an der FH Worms.
 Bekannt wurde Max Otte vor allem durch seinen Bestseller „Der Crash kommt“, in
 dem er schon 2006 vor der Finanzkrise gewarnt hat.
 Bücher (Auswahl):
 - Der Crash kommt. Econ-Verlag. 2006.
- Investieren statt sparen – Wie man mit Aktien ein Vermögen aufbaut. Ullstein-
Verlag. 2008.
- Der Informationscrash – Wie wir systematisch für dumm verkauft werden. Econ-
Verlag. 2009.
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 INHALT
 Ansage:
 Heute mit dem Thema: „Weniger ist mehr - Wie geht man mit der Informationsflut
 um?“
Wir leben ja angeblich in einer Wissensgesellschaft und generieren jeden Tag neues
 Wissen. Und wir wollen auch immer mehr wissen, manche Menschen scheinen das
 Ideal zu haben, als lebendiges Lexikon durch die Welt zu laufen – warum sonst
 sollten Wissensshows im Fernsehen so viele Zuschauer haben.
 Doch da gibt es ein Problem: Es gibt nämlich zuviel irreführendes und auch nutzloses
 Wissen, das nicht aufklärt, sondern Aufklärung unmöglich macht. Fast überall gibt es
 solches Wissen, im Bereich der Bildung, der Medizin, der Politik, und auch und vor
 allem im Bereich der Ökonomie. Denn die Finanzkrise hat ihre Ursache auch in
 falscher Informationspolitik, die bestimmte Fakten uminterpretiert hat.
 Das meint Professor Max Otte, er ist Finanz- und Betriebswissenschaftler und er
 warnt vor einer Gesellschaft, die nicht mehr unterscheiden kann zwischen guten und
 schlechten Informationen, siehe die Finanzkrise.
 Max Otte:
 Die Finanzkrise ist letztlich Ausfluss eines viel größeren Übels, des Übels der
 flächendeckenden Desinformation. Welcher Privatanleger weiß denn heute noch,
 welche Finanzprodukte sicher sind, ob Finanzprodukte das leisten, was sie
 versprechen, ob Banken überhaupt solide sind. Es fehlen hier verlässliche Staaten
 und vor allem verlässliche Informationsstandards.
 Aber der Finanzsektor ist nicht der einzige, in dem sich das Virus der Desinformation
 eingenistet hat. Nehmen wir den Bereich Gesundheit: Alle paar Jahre entsteht eine
 neue Epidemie und damit auch eine neue Hysterie, zum Beispiel vor einigen Jahren
 SARS, dann die Schweinegrippe, die Geflügelpest. Meistens wissen wir nicht, wie wir
 diese Gefahren genau einzuschätzen haben. Medien springen auf den Hysteriezug,
 Politiker springen auf. Gegen die Schweinegrippe hat sich letzlich trotz der Hysterie
 nur fünf Prozent der deutschen Bevölkerung impfen lassen – es scheint also ein
 gesundes Misstrauen gegenüber derartigen Informationswellen vorhanden zu sein.
 Im Bereich der Erziehung ist es ähnlich. Wo früher noch einfache und verlässliche
 Standards galten, gibt es heute undurchsichtige Rankinglisten, die angeblich etwas
 über die Qualität einer Schule oder Uni aussagen. Im Bereich der Nahrungsmittel ist
 es ähnlich. Welche Bioprodukte sind gut, welche nicht? Der Verbraucher weiß es
 nicht. Der Weltklimarat hat Beratungsaufträge von Firmen angenommen, die er
 nachher bewertet hat. Auch hier gibt es also Desinformation, Verwischung von
 Informationsstandards. Es sieht so aus, als ob Verwirrung die Klarheit und
 Misstrauen das Vertrauen verdrängen. Nehmen Sie die Bereiche, mit denen wir im
 täglichen Leben zu tun haben: Stromtarife, Telefontarife. Ständig werden Tarife
 gewechselt, man muss sie zum Teil im Internet suchen, dort können sie in sehr
 kurzen Geschwindigkeiten geändert werden. Ständig sind wir als Verbraucher auf der
 Suche, wir befinden uns in einer Art informatorischem Überlebenskampf. Was früher
 die Jagd war nach der nächsten Beute, ist heute der Versuch, sich überhaupt noch in
 einem modernen unübersichtlichen System zurecht zu finden.
 Es ginge auch anders. In gewisser Weise schaffen wir uns eine neue
 Feudalgesellschaft. Wir laufen Gefahr, die Basis der bürgerlichen und
 demokratischen Gesellschaft zu verlieren. Die Kaste der Manager hat sich
 weitgehend isoliert von den Anforderungen des täglichen Lebens. Sie wird durch
 bestimmte Herolde unterstützt: das sind die Wirtschaftsforschungsinstitute, sie hat
 ihre Erfüllungsgehilfen: die Rechtsanwaltskanzleien. Haftungsregeln für die
 Managerkaste sind fast außer Kraft gesetzt, die Mehrheit der Manager, die
 verantwortlungslos gehandelt hat, kommt ungeschoren davon, während die
 Haftungsregeln für Private, für kleine Gewerbetreibende immer schärfer werden.
 Dieser informatorische Überlebenskampf zeigt sich zum Beispiel auch bei der
 Preisgestaltung. Welchen Sinn kann es haben, dass ein einfaches Produkt an der
 Tankstelle zwei, drei oder vielleicht sogar vier Euro kostet und in einem anderen
 Umfeld nur ein Euro oder 99 Cent? Dies ist die sogenannte nutzenorientierte
 Preisfestsetzung. Wir wissen nicht mehr, was für einen Preis wir wirklich für ein Gut
 bezahlen. Das ist auch Ziel der Konzerne. Sie wollen hier Verwirrung schaffen, denn
 je weniger wir den Überblick haben, desto leichter lassen sich Gewinne machen.
 Gestern noch habe ich im Supermarkt-Regal einen Becher Joghurt
 herausgenommen, da stand der Preis von 7,20 Euro. Das bezog sich natürlich auf
 ein Kilo. Wem nutzt so etwas?
 Einhergehend mit der Desinformation des Verbrauchers durch immer
 undurchsichtigere Tarif- und Preisstrukturen, durch schnelle Wechsel in den
 Preisgestaltungen, haben sich die Konzerne selber sozusagen Nachtsichtgeräte
 geschaffen, nämlich „customer relationship“-Programme und „Pricing“-Programme,
 mit denen sie sehr gut Preise steuern können, zum Teil minutengenau, zum Beispiel
 im Internet oder auch bei Fluglinien, um damit ihre Gewinne maximieren. Auf der
 Strecke bleiben Transparenz und Informationsstrukturen, die es dem Einzelnen
 überhaupt noch möglich machen, sich zurecht zu finden und Preise richtig
 einzuschätzen.
 Was sind die Ursachen der Informationskrise, der Desinformationsgesellschaft? Ich
 sehe im wesentlichen drei Punkte, nämlich erstens die Interessen der
 Wirtschaftsakteure selber, zweitens die Schwäche des Journalismus und drittens
 auch die Schwäche des Staates. Natürlich haben Wirtschaftsakteure Interesse
 daran, ihre Gewinne zu maximieren, auch Produkte und Märkte intransparent zu
 gestalten, denn umso schwerer wird es für den Einzelnen da durchzublicken. In der
 Betriebswirtschaftslehre, in der Marketinglehre ist ganz klar: Komplexität bei der
 Preisgestaltung sowie Intransparenz helfen, die Wechselwilligkeit bei den
 Konsumenten zu verringern und damit Gewinne zu steigern. Dieser Glaube an den
 Markt hat dazu geführt, dass wir den Wirtschaftsakteuren nahezu freie Hand gewährt
 haben.
 Das haben die Begründer der freien Marktwirtschaft wie Alexander Rüstow, Walter
 Eucken, Wilhelm Röpke und einige andere komplett anders gesehen. Sie sprachen
 schon vor 60 Jahren davon, dass der Spätkapitalismus entartet sei und dass
 strengste Auflagen im Wettbewerbsrecht, im Werberecht und im Rabattgesetz usw.
 notwendig seien, um den Wettbewerb in einen vernünftigen Rahmen zu setzen und
 auch so zu lenken, dass er letztlich dem Einzelnen nützt. Bert Rürup spricht hier von
 einem Automatismus, an den die neoliberalen Ökonomen glauben, und heutzutage
 ist das die Mehrheit der Ökonomen. Die sagen: Der Markt wird es schon richten, der
 Markt führt automatisch zu einem optimalen Ergebnis. Im Moment scheint es so, als
 ob der Automatismus und der Glaube an die automatische Kraft des Marktes
 überwiegen und wir uns daher jeglicher sinnvollen Regulierung (Preisgestaltung,
 Rabattgesetz etc.) verschließen.
 Der zweite Trend, der die Desinformationsgesellschaft begünstigt, ist eine
 zunehmende Schwächung des Journalismus. Gerade Print-Redaktionen
 insbesondere unter den privaten Anbietern unterliegen einem massiven Kostendruck.
 Stellen werden gestrichen, mittlerweile werden vorproduzierte Beiträge „von
 draußen“ eingekauft, ohne weitere kritische Überprüfung, weil die Ressourcen dazu
 fehlen. Kritischer Journalismus, der auch etwas kostet, hat es daher und angesichts
 der vielen kostenlosen vermeintlichen Informationen im Netz immer schwerer. Damit
 einher geht der Druck, immer neue Sensationen produzieren zu müssen. Der
 ehemalige Bundespräsident Walter Scheel sprach einmal davon, dass Sensation
 letztlich Desinformation ist, weil sie die Dinge aus dem Zusammenhang reißt. Und
 tatsächlich ist das heute eine große Gefahr, denn Sensationsmache und die
 Boulevardisierung von Nachrichten hat massiv zugenommen. Auch sogenannte
„Bürgerreporter“ können keine Abhilfe schaffen. Natürlich kann ein Bürgerreporter ein
 Foto eines abstürzenden Flugzeuges schießen, natürlich kann er Bilder vermitteln,
 aber die kritische Einordnung, die nur mit Hilfe von geschultem Sachverstand
 geschehen kann, fehlt dabei. In Island zum Beispiel gab es während der großen
 Finanzpleiten kaum ausgebildete Wirtschaftsreporter, die das Geschehen hätten
 interpretieren können. So entstand ein elektronisches Rauschen bei Twitter und in
 Chat-Foren, jeder glaubte, etwas gehört zu haben. Doch letztendlich lief alles
 durcheinander und niemand konnte sich wirklich ein Bild machen.
 Der dritte Punkt, der maßgeblich zur Desinformation beiträgt, ist eine zunehmende
 Schwächung des Staates. Der Staat bestimmt heute keine Spielregeln mehr,
 sondern er ist zunehmend zum Spielball starker Interessen und Akteure geworden.
 Ministerien sind unterbesetzt und fungieren oftmals nur noch als osmotische
 Systeme, die die verschiedenen Anliegen, die an sie herangetragen werden,
 vermitteln, aber nicht mehr aktiv tätig werden. Sehr deutlich zeigte sich das im
 Zusammenhang mit der Rettung der Hypo Real Estate: Die Banken haben sich
 letztlich ihren eigenen Plan geschrieben, von staatlicher Seite wurde er nur noch
 mehr oder weniger abgenickt. Eine Partei kam vor kurzem ins Gerede, weil
 Sponsorenbriefe verschickt wurden. Es ist gut, dass so etwas noch thematisiert wird.
 In den USA ist es im Rahmen von Präsidentschaftswahlkämpfen leider gang und
 gäbe, den Zugang zum Kandidaten gegen Geld zu verkaufen.
 Was sind die philosophischen Hintergründe der Relativierung von Information, der
 Instrumentalisierung von Information, des Verlusts allgemeingültiger Standards? Ich
 glaube, dass es in der Tat gesellschaftstheoretisch und staatstheoretisch einen
 Unterschied zwischen der angelsächsischen, ich nenne sie mal „liberalen“,
Staatstheorie und der kontinental-europäischen gibt. In der kontinental-europäischen
 Staatstheorie ist der Staat mehr als die Summe der Einzelinteressen. Der Staat ist
 eben auch Wächter des Gemeinwohls. Und das Gemeinwohl kann sich nicht darin
 erschöpfen, die Summen der Einzelinteressen zu addieren. Das hat verschiedene
 Ausdrucksformen gefunden in der kontinental-europäischen Philosophie, zum
 Beispiel bei Jean-Jacques Rousseaus „Volonté Générale“ – dem allgemeinen Willen,
 der durch einen Staat verkörpert wird, oder bei Kants „kategorischem Imperativ“.
Natürlich haben auch diese kontinental-europäischen Ideen im 20. Jahrhundert zu
 Verwerfungen geführt, aber es ist doch an der Zeit, dass wir uns auf sie
 rückbesinnen. Nehmen wir das Beispiel Privateigentum und verdeutlichen wir daran
 die Unterschiede angelsächsischer und kontinental-europäischer, meinetwegen auch
 deutscher Auffassungen: In Großbritannien gab es die „tragedy of the commons“,
die Tragödie der allgemein zugänglichen Plätze. Das hieß, die allgemeinen Wiesen
 und Wälder wurden Stück für Stück abgezäunt, die Bürger der Dörfer durften nicht
 mehr rein, der Adel hatte den Grund sozusagen für sich reserviert. Bis heute wird
 Privateigentum in Großbritannien, aber auch in USA extrem verteidigt. Wenn Sie zum
 Beispiel einen Privatbesitz betreten, kann es Ihnen passieren, dass Sie mit
 vorgehaltener Flinte wieder verscheucht werden, denn es gehört sich nicht, seinen
 Fuß auf fremdes Eigentum zu setzen. In Kontinentaleuropa, in Deutschland haben
 wir dafür doch eine intelligentere Lösung gefunden: Die Wälder befinden sich zu 80
 Prozent in Privatbesitz, aber bei uns gelten verschiedene Nutzungsrechte. Natürlich
 darf der Besitzer sein Land nutzen und Jäger im Rahmen der Auflagen und Gesetze
 jagen. Gleichzeitig aber steht der Wald allen offen, zum Beispiel zum Wandern und
 zur Erholung, solange sich die Menschen an bestimmte Regeln halten. Und das ist
 eben in der angelsächsischen Philosophie des Privateigentums völlig anders: privat
 ist privat und öffentlich ist öffentlich.
 Und genau diesen Weg droht das Internet einzuschlagen, denn es scheint so, dass
 gute Information immer mehr privatisiert und nur noch denen zur Verfügung gestellt
 wird, die es sich leisten können. Nehmen wir das Beispiel Telefonbücher. Als es das
 Internet noch nicht gab, waren die Telefonbücher die gültigen Verzeichnisse. Heute
 existieren viele miteinander konkurrierende Verzeichnisse, und wenn ich einen
 bestimmten Namen über eine Suchmaschine suche, ist es nicht sicher, dass ich den
 oder die Gesuchte auch finde. Also fange ich u. U. an, kostenpflichtige Dienste und
 konkurrierende Standards zu nutzen und die Verwirrung beginnt.
 Web-Kataloge, mit denen die ersten Internet-Verzeichnisse begonnen haben, sind
 eigentlich intelligente Möglichkeiten, sich schnell einen Überblick zu verschaffen, auf
 interessante Webseiten zu kommen, um dort weiter zu forschen. Warum
 verschwinden die Web-Kataloge aus dem Netz? Sie müssen gepflegt werden, das
 kostet natürlich Aufwand. Mittlerweile liefern wir uns alle der ominösen Mechanik von
 Suchmaschinen aus, von denen wir nicht wissen, wie sie suchen und was sie
 eigentlich suchen. Es kann also auch über den Umweg Suchmaschine so weit
 kommen, dass gute und wichtige Information nicht mehr öffentlich zugänglich ist –
wie der Wald, sondern privat und nur noch für diejenigen, die dafür bezahlen. Noch
 gibt es „Wikipedia“, eine sicherlich gute und unterstützenswerte Idee. Aber es ist
 auch kein Brockhaus, es ist keine Organisation, in der gut ausgebildete und bezahlte
 Mitarbeiter nur zum Zweck der Wissenssammlung und –sortierung arbeiten. Sondern
 die Zusammenarbeit beruht auf freiwilliger Basis. Ich spreche den Menschen, die an
 dem Projekt mitwirken, hohe Anerkennung aus, aber Wikipedia verringert nicht das
 Chaos im Informationsdschungel.
 In einem konsequent neoliberalen System werden sich immer die größten Akteure
 das größte Stück vom Kuchen abschneiden. Das hat man nach der Finanzkrise
 gesehen, als zuerst die Bankbranche gerettet wurde, gefolgt von der Autoindustrie –
danach passierte nicht mehr viel. Mancur Olson hat schon vor mehr als 30 Jahren in
 seinem Buch vom „Aufstieg und Fall der Nationen“ gesagt: Wenn es keine ordnende
 Macht gibt, wird irgendwann ein solches neoliberales System, in dem der Staat
 Spielball der Interessengruppen ist, verknöchern und versteinern, und Information
 wird zunehmend privatisiert, wie vieles anderes auch. Es geht also um mehr, als nur
 um die Auffassung, ob der Staat nun ein Halb- oder ein Vollautomatismus ist. Es geht
 darum, ob wir den Markt als höchste Instanz akzeptieren oder die Politik bzw. den
 demokratisch verfassten Staat als die Form, die wir der Politik und damit dem
 Gemeinwesen gegeben haben.
 Im Internet geht es mit der Desinformationsgesellschaft munter weiter. Wenn ich zum
 Beispiel eine Online-Bestellung mache und erst beim letzten Klick, nachdem ich mir
 bereits zehn Seiten angeschaut habe, noch die Nebenkosten sehe, werde ich den
 Vorgang sehr viel weniger gerne abbrechen, als wenn ich gleich am Anfang
 transparent die gesamten Kosten einer Bestellung erfahren würde. So etwas könnte
 ein Rabattgesetz bzw. ein Transparenz-Gesetz regeln. Doch die Politik tut zu wenig.
 Ja, es sieht so aus, als ob wie in Schuberts Lied von der „Forelle“ der Bach von
 vielen Anglern getrübt wird und wir letztlich an einer Angel hängen bleiben.
 Neulich hörte ich von einem angesehenen Ökonomen das Argument, Google würde
 doch auch Mehrwert produzieren. Dem muss ich widersprechen. Ich glaube, Google
 ist auf lange Sich ein massiver Wertvernichter, denn durch diese automatischen
 Algorithmen werden sehr viele Menschen, die sich professionell und engagiert mit
 dem Vermitteln von Informationen beschäftigen, das auf Dauer nicht mehr tun
 können. Google funktioniert automatisiert über einen Prozess der Schlagwortsuche.
 Google gibt diesen Prozess nicht preis, aber es gibt natürlich genügend Optimierer,
 die versuchen herauszufinden, nach welchen Kriterien Google rankt, und die
 dementsprechend ihre Webseiten gestalten. Mittlerweile passiert sogar Folgendes:
 Wenn Firmen herausfinden, auf welche Schlagworte im Moment besonders gerne
 geklickt wird, lassen sie von Tausenden freien Mitarbeitern zu Hungerlöhnen Artikel
 zu eben diesen Schlagworten schreiben. In diesen Artikeln steht fast nichts mehr
 drin, aber sie erfüllen ihr Ziel: Wenn diese Artikel angeklickt werden, kann man dort
 gut Werbung platzieren. Das Ganze hat sich mittlerweile zu einem ganz neuen
 Wirtschaftszweig entwickelt.
 Nachdem wir also als Autofahrer das Kartenlesen verlernt haben und uns von
 Navigationssystemen unwissend durch die Welt leiten lassen, droht eine ähnliche
 Entwicklung in der Welt der Information. Mit Google und Co schaffen wir Leitsysteme
 durch die Welt der Information, die eben weit mehr als bloße Werkzeuge sind. Sie
 sind Programme, die uns steuern und lenken. Schritt für Schritt geben wir damit die
 Fähigkeit zur eigenen Bewertung von Informationen auf.
 Was können wir angesichts des drohenden Informationscrashs politisch tun?
 Zunächst einmal müssen wir tatsächlich eine Renaissance des Staates fordern.
 Wenn der Staat keine Standards schafft, wer soll es dann tun? Rating-Agenturen, die
 sich letztlich von ihren Kunden bezahlen lassen? Wir haben in der Finanzkrise
 gesehen, dass das in die Hose geht, und auch nach der Finanzkrise hat sich am
 grundsätzlichen Geschäftsmodell der Rating-Agenturen nichts geändert. Sollen wir
 den Bereich Bildung durch private Rating-Agenturen ranken lassen, was ja auch
 Mode geworden ist? Ich glaube, dass ein Staat zuverlässigere und verlässlichere
 Standards schaffen kann. Wir brauchen ganz einfache Standards wie z. B. eine
 Wiedereinführung der Verpackungsverordnung. Wem nutzt es, dass Milch nicht nur
 in Halbliter-, Viertelliter- oder Literpackungen zu haben ist, sondern auch in 400- oder
 600 ml-Packungen? Dadurch wird es dem Verbraucher sehr viel schwerer gemacht,
 Preise zu vergleichen. Im Gesundheitswesen, in der Bildung, in den Medien – überall
 dort wäre ein Staat, der wenigstens die Spielregeln wieder setzt und Standards
 festlegt, zu wünschen. Das hat nichts damit zu tun, dass in irgendeiner Form in den
 Wettbewerb eingegriffen wird, sondern es hat damit zu tun, dass die
 Rahmenbedingungen des Wettbewerbs vom Gemeinwesen definiert werden und
 nicht von Wirtschaftsakteuren
 Wenn wir eine Renaissance des Staates fordern, heißt es, den Staat ernst nehmen,
 es heißt auch, das Berufsbeamtentum zu stärken, vielleicht nach dem Modell in
 Frankreich, wo doch sehr interessante Karriereaspekte und Karrierepfade für
 Staatsdiener geschaffen werden. In Deutschland ist es leider so, dass gerade im
 wirtschaftspolitischen Bereich viele talentierte Menschen lieber in
 Rechtsanwaltskanzleien und Investmentbanken gehen. Es heißt auch,
 Großkonzernen Grenzen aufzuzeigen. Was ist es für ein Signal, wenn Herr
 Ackermann zum Geburtstag zum Essen ins Kanzleramt eingeladen wird, wenn aber
 die Chefs der Sparkassen, der Volks- und Raiffeisenbanken, die sicherlich in der
 Krise einen sehr viel besseren Job gemacht haben, eher stiefmütterlich behandelt
 werden?
 Wie können Sie sich schützen vor der zunehmenden Desinformation und
 Instrumentalisierung der Information? Natürlich ist ein Weg, die richtigen Medien zu
 nutzen, also die öffentlich-rechtlichen. Das zweite ist sicherlich, sich auf
 Medienreduktionskost zu setzen. Braucht man einen Fernseher? Ich habe keinen
 und lebe ganz gut damit. Muss man jeden Tag Nachrichten sehen oder hören? Nicht
 unbedingt. Das, was wichtig ist, bekommen Sie auf jeden Fall mit. Ich lebe seit
 Jahren sehr gut ohne Fernseher, Radio höre ich nur im Auto. Und wenn etwas
 Gesprächsthema des Tages ist, werden Sie das automatisch mitbekommen, das
 garantiere ich Ihnen. Lassen Sie den Ereignissen zwei, drei, vier Tage Zeit, bevor Sie
 sie an sich ranlassen. Bis dahin hat sich vieles Wichtige als Unwichtiges
 herausgestellt.
 Bücher halte ich für äußerst wichtig. Sie sind vielleicht heutzutage noch das einzige
 Medium, wo Autoren die Möglichkeit haben, lange Gedankengänge zu entwickeln
 und unkonventionelle Ideen zu erörtern. Außerdem sind Bücher relativ schwer
 manipulierbar. Wenn mal eines gedruckt ist und es im Regal steht, kann man es sich
 auch in zwei Jahren wieder holen. Das ist bei Informationen im Internet nicht so.
 Diese werden ständig verändert, ohne dass Sie selber das so richtig merken.
 Ich komme zum Schluss. Information ist hierarchisch strukturiert. Das ist das Wesen
 der Information. Es gibt gute, es gibt schlechte Information. Es gibt auch
 Desinformation. Dies sind Themen und Probleme, die der wissenschaftlichen, der
 politischen und auch der öffentlichen Debatte bedürfen. Wenn wir sie ignorieren,
 dann besteht die Gefahr, dass wir mit Hochgeschwindigkeit ins Informationsnichts
 rasen.
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