SWR2 Wissen: Aula - Professor Gerhard Roth: Neuronen in der Schule – Wie das Gehirn lernt

Neuronen und Schule
Autor und Sprecher: Professor Gerhard Roth *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 19. Juni 2011, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

* Zum Autor:
Gerhard Roth studierte Musikwissenschaft, Germanistik, Philosophie und Biologie. Er lehrte Verhaltensphysiologie an der Universität Bremen und war später Direktor des dortigen Instituts für Hirnforschung. 1997 wurde er zum Gründungsrektor des Hanse-Wissenschaftskollegs in Delmenhorst ernannt, dieses Amt bekleidete er bis 2008. Seit 2003 ist er Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes, deren Stipendiat er von 1963 bis 1969 war.
Bücher (Auswahl):
- Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Verlag Klett-Cotta. 2. Aufl. 2011.
- Kopf oder Bauch?: Zur Biologie der Entscheidung. Zus. mit Klaus-Jürgen Grün und Michel Friedman. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. 2010.
- Persönlichkeit, Entscheidung, Verhalten: Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern. Verlag Klett-Cotta. 5. Aufl. 2008.

ÜBERBLICK
Die moderne Hirnforschung konnte mit neuen bildgebenden Verfahren viele Einblicke in die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns liefern. Das betrifft vor allem die Frage, wie das Gehirn eigentlich lernt, wie es neue Informationen verarbeitet, welche Rolle dabei die Emotionen spielen. Interessanterweise unterstützt die Hirnforschung immer wieder wichtige Konzepte der Reformpädagogik. Professor Gerhard Roth, Philosoph und Hirnforscher, erläutert die wichtigen Erkenntnisse seiner Disziplin.


INHALT
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Ansage:
Mit dem Thema: „Neuronen und Schule – wie das Gehirn lernt.“
Die moderne Hirnforschung konnte in den letzten Jahren viele Erkenntnisse darüber
gewinnen und zusammentragen, was im Gehirn eigentlich genau passiert, wenn wir
lernen, wenn wir z. B. etwas verstanden haben, und es in unser Wissensnetz
integrieren können.

Leider werden diese Punkte im Bereich des schulischen Lernens kaum
berücksichtigt, das sagt Professor Gerhard Roth, Hirnforscher, Philosoph, Buchautor
und Präsident der „Studienstiftung des deutschen Volkes“, eine Organisation zur
Förderung von hochbegabten Studenten und Doktoranden in Deutschland.
In der SWR2 Aula zeigt Roth, was sich in der Schule ändern muss, wenn man die
Erkenntnisse der Hirnforschung ernst nimmt, und welche Punkte beim Lernen aus
neurowissenschaftlicher Sicht wichtig sind.
Gerhard Roth:
Intelligenz
Intelligenz teilt man üblicherweise ein in eine allgemeine Intelligenz, kurz definiert als
„kreatives Problemlösen unter Zeitdruck“, und bereichsspezifische Begabungen. Die
gängigen Intelligenztests testen die Begabungen in Hinblick auf verbale und
nichtverbale Fähigkeiten wie Operationen mit Zahlen bzw. Rechnen, Wortschatz,
Bilderordnen und -ergänzen, Gemeinsamkeiten finden und Figurenlegen. Daraus
ergeben sich Erkenntnisse über individuelle Begabungen, die für die Berufswahl
genutzt werden können.
Die üblichen Angaben eines „Intelligenz-Quotienten“ (IQ) beziehen sich auf einen
Durchschnitt solcher unterschiedlicher Begabungen bei einer Person, wobei der IQ
auf eine altersabhängige Durchschnittsintelligenz normiert ist. Dies bedeutet, dass es
für bestimmte Altersstufen eine durchschnittliche Intelligenz gibt, die
definitionsgemäß bei „100“ liegt. IQs über 100 zeigen eine überdurchschnittliche,
unter 100 eine unterdurchschnittliche Intelligenz an.
Die Intelligenz einer Altersstufe ist immer normalverteilt; dies bedeutet statistisch,
dass knapp 70 Prozent aller Menschen einen IQ zwischen 85 und 115 besitzen.
Menschen mit einem IQ unter 85 machen einen deutlich minderbegabten Eindruck,
und solche mit einem IQ über 115 einen deutlich intelligenten. Hochbegabte haben in
der Regel einen IQ von 130 oder mehr und umfassen ca. 1 Prozent ihrer
Altersgruppe. Man wird gelegentlich mit Aussagen wie „unsere Tochter hat einen IQ
von 180“ oder „ich kenne jemanden mit einem IQ von 220“ konfrontiert. Man sollte
solche Aussagen nicht erstnehmen, denn unterhalb eines IQ von 50 und oberhalb
eines IQ von 150 sind Intelligenzaussagen nicht mehr statistisch verlässlich
bestimmbar.
Intelligenz ist nach Meinung führender Experten zu ca. 50 Prozent genetisch bedingt,
der umweltabhängige Teil beträgt rund 30 Prozent, der Rest ist methodisch schwer
oder nicht aufklärbar. Bei der Rolle der Umwelt gilt, dass die frühen psychosozialen
Verhältnisse in den Familien einen großen Einfluss von rund 20 bis 25 IQ-Punkten
haben, der allerdings ab der Jugendzeit auf rund 10 IQ-Punkte absinkt.
Dies scheint wenig zu sein, ist es aber beim zweiten Hinsehen nicht. Nehmen wir
eine Person, die eine durchschnittliche „angeborene“ Intelligenz besitzt und
durchschnittlich gefördert wird. Diese Person wird im Erwachsenenalter
definitionsgemäß einen IQ von 100 haben. Wird sie in der Kindheit minimal
intellektuell gefördert, so erreicht sie später einen IQ von nur 85 bis 90, bei dem ein
Mensch intellektuell etwas beeinträchtigt wirkt. Bei optimaler Förderung kann sie
hingegen einen IQ von 110 bis 115 erreichen, der etwa dem Durchschnitt der
deutschen Abiturienten entspricht. Scheinbar geringe Abweichungen vom Mittelwert
ergeben also bereits deutlich wahrnehmbare Unterschiede in der Intelligenz, was
damit zusammenhängt, dass dasjenige, was wir unter „normaler Intelligenz“
verstehen, sich in einem ziemlich engen IQ-Bereich bewegt. Dies bedeutet auch,
dass Umwelteinflüsse und Erziehung bei der intellektuellen Entwicklung durchaus
eine Chance haben. Diese Chance wird allerdings mit zunehmendem Alter der
Kinder geringer.
Intelligenz ist, gemessen mit den Standard-IQ-Tests, der beste Prädiktor für
schulischen Erfolg, wenn dieser an den Schulnoten gemessen wird. Schulnoten sind
trotz heftiger und zum Teil berechtigter Kritik wiederum der beste Prädiktor für den
Studien- und Berufserfolg. Allerdings liegt der Einfluss des Intelligenzgrades auf den
schulischen Erfolg zwischen 25 und 50 Prozent, wobei die Korrelation mit dem
Verbalteil des IQ-Tests besser ausfällt als mit dem Handlungsteil. Dies könnte
erklären, warum Mädchen, die im Verbalteil durchschnittlich besser abschneiden,
auch durchschnittlich bessere Schulleistungen vollbringen, wenn andere
benachteiligende Einflüsse, z. B. Vorurteile der Lehrer gegenüber intelligenten und
ehrgeizigen Mädchen, fortfallen.
Bei höheren Ausbildungsstufen (z. B. einem Hochschulstudium) sinkt die
Vorhersagekraft von Intelligenz für den Bildungserfolg auf 20 bis 30 Prozent ab,
schneidet von allen Faktoren aber immer noch am besten ab. Dabei sagt die
Abiturgesamtnote den Studienerfolg besser voraus als einzelne Noten, und zwar
auch für diejenigen Fächer, die später studiert werden. Wenn man bedenkt, unter
welch wechselnden und oft ungünstigen Umständen Schulnoten zustande kommen,
dann ist die gute Korrelation zwischen IQ und Schulnoten bzw. zwischen Schulnoten,
Studienleistungen und späterem Berufserfolg eher erstaunlich. Es zeigt sich nämlich,
dass Lehrer die Intelligenz und Begabung von Schülern im Vergleich zu
psychologischen Tests eher schlecht einschätzen können und darin nur noch von
den Eltern unterboten werden.
Der deutliche Einfluss der Intelligenz auf den Schul-, Hochschul- und Berufserfolg
erklärt sich unter anderem dadurch, dass intelligente Kinder schneller lernen als
weniger intelligente, und zwar unabhängig von der Qualität des Unterrichts. Wie die
Intelligenzforscher Neubauer und Stern feststellen, profitieren intelligente Kinder
mehr von einem guten Unterricht als weniger intelligente; insofern ist ein Unterricht
umso „ungerechter“, je besser er ist. Intelligente Kinder lernen auch besser unter
ungünstigen Bedingungen. Das bedeutet, dass ein schlechter Lehrer und ein
schlechter Unterricht besonders schlecht für die weniger intelligenten Schülerinnen
und Schüler sind, da diese eine intensive Förderung benötigen, während intelligente
Kinder auch noch aus dem Unterricht eines schlechten Lehrers einigen Nutzen
ziehen können.

Motivation, allgemeine Lernbereitschaft und Fleiß
Intelligenz ist deutlich mit positiven Persönlichkeitsmerkmalen korreliert, die als
motivationale Faktoren den Lern- und Berufserfolg über die rein kognitiven
Fähigkeiten hinaus befördern. Lernen wird letztlich durch Belohnungserwartung als
eigentliche Grundlage der Motivation gelenkt. Bei jedem Lernen fragt nämlich
(bildlich gesprochen) das Gehirn des Lernenden, ob sich der Aufwand lohnt, oder ob
man nicht lieber etwas weniger Anstrengendes macht. Dabei können die
Belohnungen äußerst verschieden sein, vom Erfüllen der Erwartungen der Eltern
über materielle Belohnungen, Aussicht auf späteren Erfolg, Anerkennung und
schließlich Freude am Wissenserwerb und am Gelingen, und ohne eine solche
Aussicht auf Belohnung und insbesondere unter Druck und Zwang ist Lernen sehr
schwer.
Die allgemeine Lernbereitschaft wird in hohem Maße durch die Bildungsnähe des
Elternhauses bestimmt. Dies bedeutet, dass ein Kind bei seinen Eltern und der
weiteren Umgebung früh die Erfahrung machen sollte, dass Lernen etwas Schönes
und Nützliches ist. Dies drückt sich dann in generell erhöhter Lernbereitschaft und
Motiviertheit aus. Werden hingegen Lernen und Schule früh als unnütz und lästig
dargestellt, so muss man sich nicht wundern, dass sich bei den Kindern erst gar
keine Lernmotivation einstellt. In einer „bildungsnahen“ Familie werden der
allgemeine Belohnungswert des Lernens vermittelt, aber auch Sekundärtugenden
wie Leistungsbereitschaft, Fleiß und Sorgfalt.
Erhärtet wird dies durch Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen
Begabung, Leistung und Karriere. Man verglich hierbei die Sieger im
Bundeswettbewerb Mathematik aus den Jahren 1971 bis 1995 mit drei weiteren
Gruppen in ihren schulischen und akademischen Leistungen, ihren
Persönlichkeitsmerkmalen und ihrem späteren Erfolg, nämlich erstens mit denjenigen
Teilnehmern an der Endrunde, die nicht Bundessieger wurden, zweitens mit
hochbegabten Stipendiaten der Studienstiftung des deutschen Volkes, die nicht an
der Endrunde des Wettbewerbs teilgenommen hatten, und drittens mit „normalen
Abiturienten“ ohne herausragende mathematische oder sonstige Schulleistungen.
Die Bundessieger unterschieden sich in einigen Merkmalen deutlich von den
normalen Abiturienten, aber nur geringfügig von den nicht siegreichen
Endrundenteilnehmern und den Stipendiaten der Studienstiftung: Sie waren
vielseitiger befähigt als die normalen Abiturienten, hatten bessere bis viel bessere
Schulleistungen, erhielten viele Auszeichnungen, hatten häufig eine bis mehrere
Klassen übersprungen, für sie war Mathematik sehr wichtig (sie waren von
Mathematik häufig „fasziniert“), aber zugleich war Mathematik nur eines von
durchschnittlich sechs Interessengebieten. Sie entstammten meist einer
Akademikerfamilie (d. h. mindestens ein Elternteil hat einen akademischen
Abschluss), sie erfuhren eine deutliche Unterstützung von Seiten der Familie in
Hinblick auf den Wert der Bildung. Sie zeigten ein starkes Streben nach Kompetenz
und Leistung, hatten eine entsprechend hohe intrinsische Motivation, waren aber
zugleich sehr ehrgeizig, d.h. ihnen machte es Spaß, an Wettbewerben teilzunehmen
und diese zu gewinnen.
Besonders wichtig war, dass sie alle sehr fleißig waren, d.h. sie verbrachten einen
beträchtlich größeren Teil ihrer Freizeit mit der Beschäftigung mit Mathematik. Dies
lässt sich verallgemeinern, denn hochbegabte junge Menschen sind nur dann
besonders erfolgreich, wenn sie auch sehr fleißig sind und den Stoff systematisch
üben. Diesem wichtigen Zusammenhang steht die Tatsache gegenüber, dass Fleiß
bei deutschen Schülern in der Regel ein geringes Ansehen genießt und als „uncool“
gilt. Ein Schüler, der fleißig ist, muss seinen Fleiß vor seinen Klassenkameraden
verbergen, um nicht als „Streber“ verachtet zu werden. Dies gilt auch für die
Hochbegabten, die so tun müssen, als flöge ihnen alles zu, während sie in
Wirklichkeit hart arbeiten. Bei Schülerinnen ist dies anders, denn bei ihnen wird Fleiß
von den Kameradinnen zumindest neutral bewertet, d. h. es ist dem Ansehen einer
Schülerin unter den Mitschülerinnen nicht unbedingt abträglich, wenn sie fleißig ist.
Dies ist einer der Gründe dafür, dass Schülerinnen in der Abiturnote den Schülern
inzwischen deutlich überlegen sind. Woher diese „Fleiß-Aversion“ deutscher Schüler
stammt, ist unklar, denn sie findet sich keineswegs so ausgeprägt in anderen
europäischen Ländern und anderen Kulturen. In asiatischen Gesellschaften etwa ist
Fleiß hoch angesehen.
Die Motiviertheit und Glaubhaftigkeit des Lehrenden
Emotionspsychologen und Neuropsychologen haben herausgefunden, dass zu
Beginn einer jeden Begegnung und eines jeden Gesprächs die Sympathie und
Vertrauenswürdigkeit des Gegenübers eingeschätzt wird. Dies geschieht innerhalb
weniger Sekunden, zum Teil noch schneller, und meist völlig unbewusst über eine
Analyse des Gesichtsausdrucks (besonders der Augen- und Mundstellung), der
Tönung der Stimme (der sogenannten Prosodie), der Gestik und der Körperhaltung.
Dieser „erste Eindruck“ sagt nichts über die fachlichen Fähigkeiten und die Intelligenz
der beurteilten Person aus, sondern nur, dass die Person vertrauenswürdig ist, und
zwar langfristig. Beteiligt an dieser schnellen Abschätzung von Vertrauenswürdigkeit
und Sympathie sind im Gehirn vor allem der Mandelkern (die Amygdala) und die so
genannte limbische Großhirnrinde. Dies erklärt, warum der Prozess der Überprüfung
der Glaubwürdigkeit so schnell und überwiegend unbewusst verläuft. Diese
Hirnzentren offenbaren die Selbsteinschätzung einer Person, ohne dass diese dies
willentlich kontrollieren kann. Für die allermeisten Personen gilt: Man kann nur
vertrauenswürdig wirken, wenn man vertrauenswürdig ist. Nur große Demagogen
und „Psychopathen“ können den Eindruck der Glaubwürdigkeit erwecken, ohne es
zu sein.
Für die Unterrichtssituation gilt dies genauso. Schüler stellen bei der ersten
Begegnung schnell und teils unbewusst, teils intuitiv-vorbewusst fest, ob der
Lehrende motiviert ist, seinen Stoff beherrscht und sich mit dem Gesagten
identifiziert und damit vertrauenswürdig ist. Wenn ein in vielen Jahren des
Lehrerdaseins ermüdeter und enttäuschter Lehrer Wissensinhalte vorträgt, von
denen er selbst nicht weiß, ob sie überhaupt noch zutreffen, so ist dies in den
Gehirnen der Schüler eine Aufforderung zum Weghören. Umgekehrt kann ein sehr
engagierter Lehrer seine Schüler für nahezu jeden beliebigen Stoff begeistern. Der
Lehrer ist für den Schüler eine Leitfigur, ein Vorbild, und dies müssen
Schulreformbemühungen respektieren.
Dasselbe prägende Erlebnis der „ersten Minute“ bzw. Stunde gilt natürlich auch für
die Lehrenden: Sie entwickeln, etwa als Klassenlehrer, bei der ersten Begegnung mit
den Kindern größtenteils vor- und unbewusst höchst individuelle Grundeinstellungen
der Sympathie und Antipathie, die dann die weitere Interaktion mit den Kindern
maßgeblich beeinflussen. Man muss sich deshalb als Lehrender der Bedeutung
dieser Vorgänge sehr bewusst sein. Viele Lehrer haben bestimmte Schüler von der
ersten Begegnung an auf dem „Kieker“, ohne dass ihnen dies bewusst ist, und daran
können die Betroffenen auch durch gute Leistungen oft nichts ändern. Umgekehrt
kommen bestimmte Schüler von Beginn an gut mit bestimmten Lehrern aus und
werden dann von ihnen besonders günstig bewertet. Dies erklärt, warum ein
Lehrerwechsel einige Schüler plötzlich deutlich besser oder schlechter werden lässt.
Die Art und Weise der Wissensvermittlung und Wissensaneignung
Zurzeit wird viel über die beste Unterrichtsform gestritten. Dabei wird vieles
ausprobiert, ohne dass es genügend empirische Belege gibt. Man wird sich deshalb
dem von Hilbert Meyer empfohlenen „Abschied vom Traum der optimalen
Unterrichtsmethode“ anschließen müssen und stattdessen eine Mischung der drei
Grundformen, nämlich Frontal- und Lehrgangsunterricht, Gruppen- und
Projektunterricht und Frei- bzw. Einzelarbeit, praktizieren. Jede dieser drei Formen
hat, wie Meyer feststellt, ihre typischen Vor- und Nachteile.
Alle Unterrichtsformen müssen das Ziel verfolgen, Wissen und Fähigkeiten so zu
vermitteln, dass diese Inhalte möglichst langfristig im Langzeitgedächtnis der Schüler
hängenbleiben. Dagegen wird in unseren Schulen häufig verstoßen: Inhalte werden
oft ohne Rücksicht auf Nachhaltigkeit und vornehmlich mit dem Ziel vermittelt, in
einer Unterrichtsstunde mit dem Stoff „durchzukommen“. Dies ist deshalb der Fall,
weil der Lehrende es oft als eigenes Versagen ansieht, nicht durchgekommen zu
sein. Es geht aber nicht darum, dass viel angeboten wird, sondern dass von dem
Angebotenen viel hängenbleibt.
Hierbei sind die Prinzipien der Gedächtnisbildung grundlegend: Das erstmalig
Gehörte oder Gelesene wird im Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis für wenige
Augenblicke verarbeitet, gelangt dann stark gefiltert in das Zwischengedächtnis und
schließlich nach Stunden über den Prozess der Konsolidierung in das
Langzeitgedächtnis. Im Normalfall, d. h. ohne besondere
Unterstützungsmaßnahmen, findet hierbei eine starke Informationsreduktion statt, d.
h. es kommen nur Bruchteile der ursprünglichen Information im Langzeitgedächtnis
an, und noch weniger Inhalte schaffen es, sich dort dauerhaft zu verankern. Alle
Überprüfungen des Wissens, das junge Menschen fünf Jahre nach Schulabschluss
noch besitzen, gelangen zu niederschmetternden Ergebnissen und legen den
Schluss nahe, dass das deutsche Schulsystem nur einen geringen Wirkungsgrad
besitzt. Sollte dem tatsächlich so sein, dann wäre dies eine ungeheure
Verschwendung an personalen und finanziellen Ressourcen.
Um diesem Missstand vorzubeugen, ist eine radikale Reduktion der
Unterrichtsinhalte aufgrund der Erkenntnis „weniger ist meist mehr“ notwendig. Es ist
nutzlos, in einer gegebenen Zeitspanne mit höherem Druck mehr „Stoff“ durch den
Flaschenhals des Arbeitsgedächtnisses hindurchzujagen, denn dabei kommt es wie
im Straßenverkehr nur zu Staubildungen und Effektivitätsminderungen. Weniger
Stoff, besser vermittelt, ist wesentlich effektiver als mehr Stoff, der schlecht vermittelt
wird. Insbesondere die Minderleistenden sind dabei die Leidtragenden, denn sie
haben als ein Kerndefizit eine stark verlangsamte Informationsverarbeitung.
Zwingend für alle Unterrichtsformen ist weiterhin die Überprüfung des Vorwissens,
also des aktuellen Wissensstandes der Schüler. Auch hier wird im Willen, schnell
„zur Sache“ zu kommen, sträflich gesündigt. Vorwissen ist die Basis für alles neue
Wissen, denn dieses entsteht nur durch eine neue Kombination bereits vorhandenen
Wissens. Das Wissensgedächtnis hat sehr viele Module oder „Schubladen“, die erst
einmal unabhängig voneinander arbeiten. Dabei werden unterschiedliche Aspekte
eines bestimmten Lerninhalts (Personen, Geschehnisse, Objekte, Orte, Namen,
Farben, der emotionale Zustand, die Neuigkeit usw.) in unterschiedlichen
Schubladen abgelegt. Jeder Lehrende muss deshalb den jeweiligen Wissensstand
des einzelnen Schülers kennen, er muss den neuen Stoff diesem Stand anpassen,
und er muss dafür sorgen, dass die Inhalte miteinander vernetzt werden. Nur so kann
der Schüler auch verstehen, was er gelernt hat.
Welche Unterrichtsform ist nun die Beste? Der Frontal- oder Lehrgangsunterricht ist
auch heute noch die gängigste Form des Unterrichts, wenngleich viele Lehrer ihn –
völlig zu Unrecht – mit schlechtem Gewissen abhalten. Der Frontalunterricht hat bei
entsprechender Vorbereitung und entsprechendem didaktischen Können den großen
Vorteil einer klaren Zielsetzung, Aufgliederung und Darbietung des Stoffes bei
gleichzeitiger direkter Kontrolle des Ablaufs. Unterstützt wird dies alles durch die
Ausstrahlungskraft des selbstbewussten, einfühlsamen und kompetenten Lehrers.
Dieser Lehrer kann in flexibler Weise die einzelnen Schüler ansprechen und sie
mitarbeiten lassen. Andererseits ist die Selbstkontrolle des Lehrers immer
beschränkt, und er kann bei bester Vorbereitung und bestem Willen immer in Gefahr
sein, die Schüler zu überfordern.
Der Gruppenunterricht, besonders als Kleingruppen-, Tandem- oder
Partnerunterricht, bringt viel weniger kognitive Belastung mit sich, hat aber zugleich
einen geringeren Wirkungsgrad. Er sollte entweder als kognitiv-emotionales
Kontrastprogramm dienen, d. h. die Schüler beschäftigen sich in der Gruppe oder im
Tandem mit anderen Aspekten des Themas, oder dasjenige, was der Lehrer „frontal“
vorgetragen hat, wird vertieft. Wichtig hieran sind die kognitive Entlastung und das
praktische Tun, die von hoher gedächtnisstützender Wirkung sind. Der eigentliche
Wissensfortschritt ist hingegen geringer zu veranschlagen, d.h. gegen allen häufig
bekundeten Optimismus bringen sich die Schüler gegenseitig kaum etwas bei. In
vielen Schulstunden, die ich erlebt und auch mitgestaltet habe, schaute bei vier
Teilnehmern einer desinteressiert in der Gegend umher, einer schaute interessiert
zu, wie die restlichen zwei irgendetwas taten. Das ist nur durch erhebliche Mitwirkung
des Lehrers, der von Gruppe zu Gruppe geht, zu verbessern.
Anders sieht dies bei der Projektarbeit aus, bei der sich Lehrer und Schüler auf ein
bestimmtes Thema und einen Projektablauf einigen. Hier wird die Eigeninitiative
mehr gefordert und gefördert. Allerdings gilt auch hier, dass ein solch kreatives
Lernen den Begabteren mehr hilft als den weniger Begabten. Das Problem sind
immer die generellen Langsamlerner und die Schüler mit größeren Wissensdefiziten.
Die Einzelarbeit ist in noch höherem Maße von der Persönlichkeit, dem Lernstil, dem
Motivationszustand und dem Wissensstand des einzelnen Schülers abhängig und
erfordert deshalb einen besonderen diagnostischen und betreuenden Aufwand durch
den Lehrer. Über „selbstorganisiertes Lernen“ ist in letzter Zeit viel geschrieben
worden, wobei hierbei vieles von älteren Reformschul-Konzepten übernommen
wurde. Abgesehen davon, dass Lernen als Wissenskonstruktion trivialerweise stets
selbstorganisiert ist, ist die aktive Aneignung des Lernstoffes ein überaus wichtiger
Teil des Lernerfolges. Aus Sicht der Neurobiologie kommt es hier zu einem
Durchdringen kognitiver und handlungsbezogener Prozesse bei der Konsolidierung
des Gelernten. Beim eigenen Handeln und Ausprobieren ist der Grad der
Aufmerksamkeit, der direkt mit dem Lernerfolg korreliert ist, besonders hoch. Dies ist
auch stark gelenkt vom Neugierverhalten. Neugierde stellt eine besondere Art von
Selbstbelohnung für den Wissenserwerb dar. Allerdings wird oft die Möglichkeit eines
Schülers, sich Dinge selbständig zu erarbeiten, überschätzt. Einzelarbeit hat ebenso
wie Gruppen- und Tandemarbeit den Vorteil der kognitiven Entlastung, führt aber nur
dann zu einem Wissensfortschritt, wenn den Kindern vorher beigebracht wurde, wie
man selbständig lernt, und das geschieht meist nicht.
Der 45-Minutentakt des Unterrichts ist als Regelfall höchst problematisch. Er lässt
keine Zeit zur absolut notwendigen Kontrolle des Wissensstandes der Schüler und
ihrer individuellen Ansprache und ist unvereinbar mit einem Wechsel zwischen
Frontal- und Gruppenunterricht, ganz zu schweigen vom selbständigen Lernen. Nötig
sind, von Einzelfällen einer „geballten Wissensvermittlung“ abgesehen, größere
Unterrichtsblöcke von mindestens 1,5 bis 2 Zeitstunden, in denen, durch kleine
Pausen getrennt, Frontal- und Gruppenunterricht sich abwechseln. Viel besser ist es,
während eines ganzen Vormittags oder gar eines ganzen Tages ein Thema über
eine Mischung von Frontalunterricht, Gruppenunterricht und Einzelarbeit zu
behandeln.
Die eklatante Begrenztheit des Arbeitsgedächtnisses stellt in jedem Unterricht den
limitierenden Faktor der Wissensvermittlung dar. Dies beinhaltet die Erkenntnis, dass
niemand einem neuen Stoff für mehr als 5 Minuten konzentriert zuhören kann, und
dass das Arbeitsgedächtnis dann Gelegenheit haben muss, „Atem“ zu holen, d. h.
das Gehörte oder Gelesene vorläufig zusammenzubinden und so ins
Zwischengedächtnis abzulegen. Andernfalls „schiebt“ die neue Information die alte
aus dem Arbeitsgedächtnis heraus, und diese ist dann weg. Der Frontalunterricht von
maximal 30 Minuten muss deshalb „arbeitsgedächtnis- und
aufmerksamkeitsfreundlich“ in kleine Portionen unterteilt werden. Dies bedeutet, dass
der Stoff in kurzen 5-minütigen „Spannungsbögen“ präsentiert werden muss, die von
einer kurzen Zusammenfassung („wo stehen wir jetzt?“), einer spaßigen Bemerkung
mit befreiendem Lachen, einem erläuternden Hinweis usw. unterbrochen werden.
Eingeleitet wird das Ganze durch eine klare Erläuterung dessen, was jetzt kommen
wird. Dies erhöht die Aufmerksamkeit der Schüler. Abgeschlossen wird der
Frontalunterrichtsblock durch eine Zusammenfassung unter dem Schlagwort „was
haben wir jetzt gelernt?“ – je strukturierter, desto besser.
Wiederholung ist das A und O des Lernens. Außer stark emotionalen
Geschehnissen, die meist ungesteuert wirken, wird nichts mit einem Mal oder auch
nur mit zwei Malen gelernt. Es empfehlen sich Wiederholungen in zunehmend
längeren Abständen, z. B. nach 6 Stunden, d. h. am Nachmittag desselben Tages,
nach 2 bis 3 Tagen, 2 bis 3 Wochen und 2 bis 3 Monaten. Erst dann ist das Gelernte
wirklich im Langzeitgedächtnis fest verankert.

Abschlussbemerkung
Nichts von dem, was ich gesagt habe, ist inhaltlich wirklich neu. Vielmehr haben
hervorragende Lehrer seit jeher intuitiv und durch Ausprobieren gewusst, wie man
einen erfolgreichen Unterricht gestaltet, d. h. ein bestimmtes Wissen so vermittelt,
dass es langfristig verfügbar bleibt, verstanden und mit anderen Wissensinhalten
vernetzt wurde und praktisch anwendbar ist. Aber nicht jeder ist „von Natur aus“ ein
hervorragender Lehrer, und deshalb ist es wichtig, dass jeder angehende Lehrer die
psychologisch-didaktisch-pädagogischen Prinzipien eines guten Unterrichts vermittelt
bekommt. Hinzu kommt eine hinreichende Kenntnis der Entwicklungs- und
Persönlichkeitspsychologie sowie der Lern- und Verhaltensstörungen.
Die Neurobiologie kann diesem Wissen nur wenige neue Inhalte hinzufügen; erst
recht kann sie nicht aus sich heraus Pädagogik und Didaktik ersetzen, wie
gelegentlich behauptet wurde. Ihr Beitrag besteht in aller Regel darin, die
Mechanismen aufzuzeigen, die dem Lehren und Lernen und den damit verbundenen
kognitiven und emotional-motivationalen Prozessen zugrundeliegen.
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Gerhard Lauer : Lesen mit Spiegelneuronen. Was ist Neurogermanistik?

SWR2 Wissen Aula -  Autor und Sprecher: Professor Gerhard Lauer *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 4. Mai 2008, 8.30 Uhr, SWR 2
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Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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ÜBERBLICK
Viele Disziplinen lassen sich in letzter Zeit mit einem "Neuro" versehen: Es gibt die Neurodidaktik, die Neuroökonomie und dasselbe gilt für die Literaturwissenschaft. Auch in diesem Bereich lassen sich Erkenntnisse der Hirnforschung fruchtbar anwenden. Von großer Bedeutung sind dabei die sogenannten Spiegelneuronen, die beim Menschen verantwortlich sind für Empathie, Mitgefühl und Nachahmungstrieb. Diese Elemente spielen bei der Rezeption von Literatur eine wichtige Rolle, Literatur weckt den zu Empathie führenden Nachahmungstrieb, lesen heißt handeln als ob. Professor Gerhard Lauer, Germanist an der Universität Göttingen, beschreibt die Grundlagen der noch jungen Neurogermanistik.

AUTOR*
Prof. Gerhard Lauer, geb. 1962, studierte Germanistik und Philosophie, 1992 Promotion zum Dr. phil., 2000 Habilitation an der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität München. Seit 2004 ist Lauer Direktor des Seminars für Deutsche Philologie an der Universität Göttingen. Lauer beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit rezeptionsästhetischen Aspekten der Neurogermanistik, mit der Rolle des Autors, der Kulturgeschichte des Romans und der Funktion der Literatur in der Wissensgesellschaft.
Buchauswahl:
Texte zur Theorie der Autorschaft (zus. mit Martinez u. anderen). Reclam-Verlag.
Wissenschaft und Universität (zus. mit M. Huber). Verlag DuMont.
Rückkehr des Autors (zus. mit Martinez u.a.). Verlag Niemeyer.

(Thema "Bewusstseinstheorie" Die Spiegelneuronen und Nachahmung)


Autor und Sprecher: Professor Gerhard Lauer *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 4. Mai 2008, 8.30 Uhr, SWR 2
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INHALT
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Ansage:

Heute mit dem Thema: „Lesen mit Spiegelneuronen – Was ist Neurogermanistik.“

Alle möglichen Disziplinen lassen sich ja in letzter Zeit mit einem „Neuro“ versehen: Es gibt die Neurodidaktik, die Neuroökonomie und neuerdings auch die Neurogermanistik. Auch in diesem Bereich lassen sich einige neue Erkenntnisse der Hirnforschung anwenden, auch in diesem Bereich bestätigt die Hirnforschung eine alte These: Es handelt sich um die Nachahmungstheorie des guten alten Aristoteles. Der sagte: Literatur beruhe auf Nachahmung menschlicher Handlungen, gerade das mache die bezaubernde Wirkung von Erzählungen aus.

Professor Gerhard Lauer ist Germanist an der Universität in Göttingen und ein Vertreter der Neurogermanistik. Er hält im Sinne von Aristoteles die Nachahmungstheorie für sehr wichtig, und er zeigt in der SWR2 AULA, wie die Hirnforschung diese Theorie unterstützt. Es geht dabei konkret um die Entdeckung der Spiegelneuronen.


Gerhard Lauer:

Mit dem Ausdruck „Spiegelneuronen“ hat eine Forschergruppe um den italienischen Neurowissenschaftler Giacomo Rizzolatti eine Beobachtung belegt, die nicht ohne Grund einiges Aufsehen erregt hat. Rizzolatti und seine Gruppe wollten und wollen seit den 90er Jahren eine einfache Frage klären: Wie gelingt es uns oder genauer: wie gelingt es unserem Gehirn, Handlungen zu planen und zielgerichtet zu steuern? Bei einem ihrer Experimente hatten sie an den vorderen Schläfenlappen des Gehirns eines Makaken-Affen Elektroden angebracht, um dessen neuronale Steuerung seiner Hände untersuchen können, etwa beim Aufnehmen von Futter. Wie sie zunächst beobachten konnten, feuerten bei jedem Greifen nach Futter eine ganz bestimmte Neuronengruppe, so dass gemessen werden konnte, welche Neuronen mit welcher Intensität bei welcher Handlung aktiviert wurden. Während eines ihrer Experimente war einer der Experimentatoren aus der Gruppe gerade dabei, neues Futter für das nächste Experiment zu greifen. Dabei hat ihm ein Affe zufällig zugesehen, während die Elektroden immer noch an seinem Gehirn angeschlossen waren. Das Verblüffende war, dass dieselben Areale mit praktisch der gleichen Intensität gefeuert haben (das Gehirnareal F5), die sonst feuern, wenn der Affe selbst nach dem Futter greift.

Nach Überprüfung der experimentellen Anordnungen auf mögliche Fehler und mehrfachen Wiederholungen der ungeplanten Beobachtungssituation stellt sich der immer gleiche Effekt ein. Dieselben Neuronen entladen sich, gleich ob die Handlung durch den Makaken selbst ausgeführt oder die gleiche Handlung durch den Affen nur beobachtet wird, wie sie durch einen der Experimentatoren ausgeführt wird. Wie kann das erklärt werden?

Ein weiteres kam hinzu: Verwandte Experimente zeigen, dass offensichtlich nicht alle Handlungen diese „Resonanz“ oder Spiegelung im Gehirn auslösen. Die Spiegelung oder Resonanz ist offenbar sehr ausgewählt, sehr selektiv, objektabhängig und abhängig vom Agenten, von Bewegungsrichtungen, abhängig davon, ob es um Handlungen etwa der Hand oder des Mundes geht und anderen Faktoren, so dass genauer hingesehen werden musste, was eigentlich im Gehirn nachgeahmt wird, wenn es zuschaut, wie jemand anderes etwas macht. Es zeigte sich dann sehr schnell, wie schwierig es ist, genau anzugeben, was wir eigentlich beobachtet, wenn wir einem anderen bei einer Handlung zuschauen. Was sieht ein Kind, wenn es die Bewegungen etwa eines Erwachsenen nachahmt, der einen Ball wirft? Das scheint ein einfaches Beispiel zu sein, aber aus Sicht der Neurowissenschaften ist es ein unglaublich komplizierter Vorgang.

Schauen wir also etwas genauer hin: Neurologisch ist den Spiegelneuronen gemeint, dass es im Gehirn Neuronen gibt, die für motorische Handlungen zuständig sind, also etwa wie eine Hand oder ein Mund abhängig vom Objekt bewegt werden müssen. Diese „planenden“ Neuronen sitzen in der prämotorischen Cortex bei Primaten und Menschen, und damit in enger Nachbarschaft zu Nervenzellen, die die Muskelbewegungen im Detail steuern, also wiederum metaphorisch gesagt, das Programm der anderen Neuronengruppe motorisch umsetzen. Sie sagen, welcher Muskel muss wie weit angespannt, gebeugt oder gedehnt werden, um eine bestimmte Handlung auszuführen.

Man kann etwa durch magnetenzephalographische Verfahren nachweisen, dass zunächst die in der prämotorischen Cortex sitzende „planende“ Neuronengruppe feuert, und Millisekunden später die bewegungssteuernden motorischen Neuronen aktiv werden. Anders ausgedrückt: Handlungsplanung und Handlungsausführung sind zwar verbunden, arbeiten aber getrennt voneinander. Dieser modulare Aufbau des Gehirns erklärt auch einen ganz einfachen Umstand: Wir können nämlich eine Handlung planen, ohne sie gleich ausführen zu müssen; und auch warum man Handlungen wahrnehmen kann, ohne sie selbst auszuführen. Spiegelneuronen können dank dieses Mechanismus eine Art innere Simulation der wahrgenommen Handlung abbilden. Und das ist ein verblüffendes neues Ergebnis.

Warum diese innere Simulation so gut gelingt, hängt noch mit einem weiteren physiologischen Befund zusammen: der Nähe der Spiegelneuronen zu somatosensiblen Teilen der Hirnrinde, den Teilen des Gehirns, die für die Selbstwahrnehmung des Körpers verantwortlich sind. Wir wissen immer ungefähr, wo sich unsere Gliedmaßen befinden, wie entspannt oder angespannt sie sind. Eine Handlung wahrzunehmen heißt auch zu wissen, wie sich die Handlung anfühlt, wie sie ausgeführt werden müsste, welchen Muskel daran beteiligt wären usw. Die Nähe dieser verschiedenen Neuronengruppen ist deshalb wichtig, weil sie zu erklären verspricht, warum bei Affen auch dann die Spiegelneuronen feuern, wenn nur der Anfang einer Handlungssequenz, also zum Beispiel das Greifen nach Futter durch einen Experimentator gezeigt wird, die eigentliche Handlung aber gar nicht vorgemacht wird. Das neuronale Erregungsmuster ist das gleiche wie im Fall der vollständig vorgeführten Handlung.

Besonders deutlich wird dieser Resonanzvorgang bei Schmerzempfindungen, zum Beispiel bei Schmerzempfindungen an Fingerkuppen – da sind wir ja sehr sensibel. Dann feuern nämlich dieselben Zellgruppen, die spezifisch auf Schmerzimpulse auf der Fingerkuppe reagieren, auch dann. Sie können das selber ausprobieren: Bitten Sie einen anderen, sich mit seiner Fingerkuppe einem Reißnagel zu nähern, während Sie zuschauen. Sie werden es förmlich spüren, diesen Schmerz.

Spiegelneuronen scheinen also zwischen den eigenen Empfindungen und den Empfindungen von anderen zu vermitteln und damit eine wichtige Erklärung zu liefern dafür, was die Wissenschaft eine „Theory of Mind“ nennt, eine „Bewusstseinstheorie“.

Wir haben alle eine Theorie, dass die uns umgebenden Menschen auch ein Bewusstsein haben und dass ihre Gefühle und ihre Gedanken in etwa ähnlich sind wie unsere. Nur in pathologischen Fällen haben wir diese Ansicht nicht und das ist dann ziemlich dramatisch. Wir wissen also, wie es sich anfühlt, wie sich zum Beispiel die Muskeln bewegen, wenn jemand diese oder jene Handlung ausführt.

Alle diese Befunde laufen daher auf die Auffassung zu, dass das nachahmende Verhalten der Primaten und Menschen mindestens zu einem erheblichen Teil in den Spiegelneuronen seine neuronale Entsprechung hat. Spiegelneuronen in ihrem Zusammenspiel mit anderen Gehirnarealen versprechen eine Antwort auf die Fragen zu geben, wie Primaten und Menschen in der Lage sind, so etwas wie eine Bewußtseinstheorie auszubilden, also eine Vorstellung davon, wie der andere denkt und fühlt, warum sich höhere Primaten und Menschen so verhalten, wie sie es tun, wie sie die Grenze zwischen Selbst und anderem regulieren, warum sie ihr Verhalten zugleich in einem evolutionsgeschichtlich gesehen einzigartigen Weise ändern können. Die Spiegelneuronen könnten so etwas wie die Brücke zwischen dem biologischen und dem sozialen, vielleicht auch kulturellen Verhalten darstellen. Wie haben sich Kulturen gebildet? Wahrscheinlich über Nachahmungen. Wir gehen alle davon aus, dass es wohl keine Kultur geben würde, wenn der Mensch nicht über Sprache verfügen würde. Man kann lange darüber diskutieren, ob Affen in Ansätzen nicht auch eine Kultur haben, jedenfalls bedienen sie sich in Ansätzen auch einer Sprache. Sprache ist wohl eine der wichtigsten Kulturtechniken des Menschen, ohne Sprache wäre Kultur wohl nicht möglich, weder die Kultur noch die Literatur.

Wie aber entsteht das Sprechen? Einer der Ansatzpunkte zur Klärung dieser Frage ist, dass dieses Sprechen selbst wiederum aus einer sehr motorischen Nachahmung erwächst. Die vorsprachliche Nachahmung beginnt schon längst, bevor wir eigentlich sprechen, vielleicht schon im Mutterleib.

Säuglinge, das hat etwa der amerikanische Säuglingsforscher Andrew Meltzoff vielfach nachweisen können, ahmen von Geburt– wirklich schon in den ersten Tagen (Meltzoff hat neben dem Kreissaal gewartet und kaum war das Baby geboren, hat er seine Experimente begonnen) - Gesichtsausdrücke und Gesten vor allem ihrer Mutter nach. Und das nicht nur, wenn sie diese Gesichter oder Gesten unmittelbar vor sich sehen, sondern auch schon in den ersten sechs Monaten aus dem Gedächtnis. Sie reagieren also nicht nur, sondern sie memorieren auch wahrgenommene Gesten und Gesichtsausdrücke. Was sie den einen Tag gelernt haben, können sie verzögert am nächsten Tag nachahmen und, das ist besonders verblüffend, sie machen nicht eins zu eins nach, sondern sie variieren die Wiederholung ihrer Nachahmung. Das setzt voraus, dass die Säuglinge wissen, worauf sie achten müssen: auf die Augen, auf den Mund der Mutter? Das ist nicht selbstverständlich und wohl angeboren. Das setzt so etwas wie eine Selektion aus den Wahrnehmungen und es setzt voraus, dass schon in den ersten Tagen so etwas wie eine Interpretation beginnt, obwohl die ganz Kleinen überhaupt kein Selbstbewusstsein in unserem erwachsenen Sinn haben.

Dieses Erkennen ist also eine soziale Kognition, eine soziale Wahrnehmung, betrachtete man es aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive. Kinder wissen von Geburt an, was der Nachahmung lohnt, zunächst und zuallererst die Intention der sozialen Verbindung, also sprich: Was will mir diese Mutter da sagen? Und das ist natürlich kein bewusster Vorgang. Es sind besonders die Partien des Gesichtes, hier vor allem die Augen- und Mundpartie, auf die Säuglinge fokussiert sind und aus denen sie erste Annahmen über die Welt gewinnen.

Vor allem Selbstbewusstsein fragen Kinder, wer bist du, und beantworten diese Frage mit dem Hinweis, wer bin ich. Sie gewinnen ein Gefühl ihrer selbst, ein sehr motorisches Gefühl ihrer selbst aus dieser Begegnung , der nachahmenden Begegnung vor allem mit der Mutter. Man kann das Kind auch irritieren: Wenn man zum Beispiel einen Säugling ganz neutral anschaut, ohne das Gesicht zu bewegen, so fängt das Kind sehr sehr schnell an zu versuchen, das Gesicht seines Gegenübers zum „Sprechen“ zu bringen, es verzieht selbst das Gesicht, weil es unter Menschen eigentlich nicht üblich ist, mit starrem Gesicht einander anzublicken. Es sei denn im Falle einer Bedrohung etwa, und das ist ein Zustand, den ein Säugling natürlich vermeiden will. Wir versuchen also schon motorisch, einander nachahmend zum Sprechen zu bringen.

Dieser Resonanz-Mechanismus geht letztendlich auf die Spiegelneuronen zurück, damit die Kinder das Gegenüber überhaupt in sich spiegeln können und damit eine – noch ganz unbewusste – Vorstellung von dem Gegenüber in sich herausbilden.

Kleinkinder können schon im völlig vorsprachlichen Entwicklungsstadium sehr passgenau motorische Wahrnehmungen von Mundbewegungen und Lautbildung miteinander koordinieren. Das lässt sich experimentell sehr gut zeigen: Zeigt man etwa vier Monate alten Babys zwei Gesichter nebeneinander, die einmal den Vokal „a“ und einmal den „i“ aussprechen und spielt dann ein damit genau synchronisiertes Tonband mit jeweils dem einen oder anderen Vokal ab, so blicken sie länger auf das Gesicht, das den jeweils dazu passenden Vokal ausspricht.

Nachahmung gibt der Welt also Bedeutung, und zwar ganz weit, bevor der Säugling überhaupt spricht, bevor er in dem uns vertrauten Sinne kommuniziert. Zwischen dem 18 und 30 Monaten explodiert diese Fähigkeit zur sozialen Nachahmung förmlich, so dass solche Techniken gelernt werden: Nicht nur ich ahme nach, sondern ich bin selbst Vorbild für die Nachahmung. Das Kind übernimmt also abwechselnd verschiedene Rollen, die des Vorbilds und die des Nachahmenden. Es lernt, Aufmerksamkeit zu erregen, zum Beispiel irgendwohin zu blicken, um zu erreichen, dass die Muter auch dorthin schaut.

Das alles passiert vor der Fähigkeit zu sprechen. Allerdings hat das Ganze sehr wenig mit Sprache zu tun, wenn man den Begriff sehr eng fasst. Aber in dem hier vorgeschlagenen Sinn, im Sinne des Aristoteles, gehört das alles zusammen. Es entsteht also in diesen ersten Lebensjahren eine Welt des Spiels, in der Nachahmungen wie Zeichen gebraucht werden und die spielenden Kindern auch unabhängig von Bezugspersonen zu agieren beginnen. Sie spielen selbstvergessen, nehmen Rollen anderer an, sind Ritter oder Prinzessin. Es braucht lange, etwa bis zum siebten Lebensjahr, bis Kinder beim Nachahmen auch still sitzen und ihren motorischen Nachahmungstrieb so hemmen können, dass sie zu Zuschauern der Handlungen anderer werden, ohne selbst zu spielen – außer im Kopf. In jedem Fußballstadion können wir uns davon überzeugen, wie schwierig es ist, zuzuschauen und sitzen zu bleiben.

Was eine Nachahmung jeweils meint, ist etwa ab einem halben Jahr nicht mehr nur eine motorische Frage, sondern hat eine aus dem Kontext erschließbare Bedeutung. Ein- und dieselbe Handlung kann ja ganz unterschiedliche Bedeutungen haben. Das Kind greift beispielsweise nach einem Spielzeug, um das Interesse darauf zu lenken oder die Mutter darauf aufmerksam zu machen oder ein anderes Kind nachahmen. Dieselbe Handlung bedeutet also Unterschiedliches, und Kinder haben überhaupt keine Schwierigkeiten, dazwischen zu unterscheiden.

Dennoch löst die Sprache der Laute im Laufe der Entwicklung die der körperlichen Nachahmung zu einem erheblichen Teil ab. Es liegt auf der Hand, dass die lautliche Sprache sehr viel leichter, schneller, flexibler und ökonomischer kann, was wir mit dem Körper „reden“ können.

Man kann inzwischen experimentell sehr genau zeigen, wie Sprache ähnliche Resonanzphänomene in den Handlungsvorstellungen codierten Spiegelneuronen auslöst, wie es auch die vorgemachten Handlungen tun. Auch das bloße Reden über eine Handlung führt zu einer Resonanz derjenigen Handlungsnervenzellen, die auch feuern würden, wenn die gleiche Handlung selbst vollzogen würde. Gesprochene Handlungen werden so in einer Art spontanen Simulation in uns selbst vollzogen und damit auf ihre innere Plausibilität geprüft.

Wenn aber Sprache so eng mit der angeborenen Fähigkeit zur Nachahmung gekoppelt ist, wie es die neuere Forschung nachlegt, dann geht es bei ihr auch um kulturelle Relativität. Es spielt eine Rolle, wo man auswächst, wer die Eltern sind, welcher sozialen Gruppe man angehört, in welcher Kultur man lebt. Universell ist nur die Fähigkeit zur Nachahmung, aber relativ der Erwerb der einzelnen Sprachen.

Was hat das alles nun mit der Literatur zu tun? Meine These lautet sehr einfach gesagt: Literatur besteht aus Nachahmungsgeschichten. Der Grund des Vergnügens an ihnen liegt in den Spiegelneuronen und dem mit ihnen verbundenen Mechanismus der inneren Nachahmung. Metaphorischer formuliert: Literatur ist Nahrung für unseren Nachahmungsinstinkt. Literatur ist dabei so wenig wie andere Künste angeboren. Es gibt menschliche Populationen, die entweder keine Literatur haben oder ihre keine größere Bedeutung beimessen. Man muss Literatur nicht als Universalie setzen, sowenig wie Sprache eine Universalie unter den Primaten ist. Es gibt aber evolutionäre Gründe dafür, warum Sprachen verbreitet sind und vielleicht auch Gründe, warum Literatur ausgesprochen häufig unter den Menschen anzutreffen ist.

Literatur ahmt Handlungen von Menschen nach, sagt die Tradition mit Aristoteles, und das mit Freude. Sie ahmt zum einen Menschen nach, weil wir als Menschen den Handlungen unserer Artgenossen deutlich größere und verstehendere Aufmerksamkeit zukommen lassen als anderen Wesen wie zum Beispiel Tieren, selbst wenn sie uns vertraut sind wie Affen. Bei Haustieren kann sich diese Grenze übrigens auch verwischen, und dadurch entwickeln sich Haustiere auch anders als in der Natur.

Auch Fabeln handeln ja von Menschen in Tiergestalt und nicht von Tieren. Zum anderen thematisiert Literatur Menschen nicht abstrakt, sondern als handelnde Wesen, genauer noch als sozial und kulturell handelnde Wesen. Nur das Handeln von Menschen können wir mit Bedeutung und Empathie versehen. Vom ersten Tag unseres Lebens an sind wir damit beschäftigt, den eigenen und mehr noch den anderen Handlungen (immer auch soziale und kulturelle) Bedeutung zuzuschreiben, indem wir sie nachahmen, über das Nachahmen kommunizieren und das Nachgeahmte mit unserer eigenen Körpermotorik mehr oder minder abgleichen.

Schon der Satz „Sie nahm einen Apfel in die Hand“ lässt uns nach der Absicht dieser Handlung fragen, und das, in dem wir die Bedeutung über den Mechanismus der Spiegelneuronen zu erschließen trachten. Viele dieser Bedeutungserschließungen laufen unbewusst und kleinschrittig ab. Wir können kaum anders, als wissen zu wollen, was ein Akteur tut und vor allem, warum er es tut und auch wie es sich anfühlt, wenn jemand etwas Bestimmtes tut. Wir sind darüber hinaus in Alltagserzählungen wie erst recht dann in komplexeren literarischen Erzählungen auch in der Lage, komplizierte Schlussfolgerungen aus Ereignissen, Beschreibungen und Schilderungen zu ziehen, eben weil Nachahmung beim Menschen nicht Mimikry ist, sondern immer die Nachahmung des Ziels, was ist das Ziel, die Absicht, die dahintersteht.

Literatur nimmt sich die Zeit, auch das Gefühl zu vermitteln, wie es sich anfühlt, eine bestimmte Handlung zu vollziehen, bestimmte Gefühle zu haben. Wie fühlt es sich an, traurig und verlassen zu sein? Die Literatur kann das sagen. Oder zugespitzt mit Wittgenstein formuliert: Wir wissen alle und können präzise sagen, wie hoch ist der Eiffelturm. Aber wir wissen und können nicht sagen, wie klingt der Ton einer Klarinette. Eben das ist die Aufgabe der Literatur zu sagen, wie der Ton einer Klarinette klingt. Dass Literatur das kann, liegt letztendlich auch an den Spiegelneuronen.

Eine Alltagserzählung oder ein literarischer Text ohne Handlungen gibt es nur als Grenzfall. Im Regelfall dagegen brauchen Texte, die unsere Aufmerksamkeit haben wollen, viel Handlung, Handlung, die uns anregen, zu fragen, welche Figur eigentlich wer ist, welche Absichten verfolgt werden, wie die Figuren demnächst so oder so vermutlich handeln werden, wie sich das „anfühlt“, wenn sie so oder so handelt, eben Figuren zum Nachahmen im Kopf. Das ist der Grund, warum wir uns in Büchern verlieren können. Wir versinken in der anderen Figur.

Spannung in Geschichten ist daher keine unwesentliche Qualität. Ein Text muss so etwas wie Spannung erzeugen und sei es, dass die Spannung in der Erschließung von komplizierten Symbolen besteht. Aber in der Regel geht es gar nicht um verzwickte Fragen wie, was mag dieser Schwan in den Gedichten Hölderlins meinen. Wir fragen in der Regel viel einfachere Dinge, insbesondere Kinder: Wer gehört zu den Guten, wer gehört zu den Bösen? Das erzeugt Spannung.

Die meisten Geschichten, die wir uns erzählen, die wir lesen oder anschauen, sind daher Beziehungsgeschichten, besonders solche, ob Hans nun seine Grete bekommt, sind Geschichten von rätselhaftem Verhalten wie etwa Kriminalfälle, fantastische Wandlungen, wie aus einem unscheinbaren Jungen der berühmteste Zauberer wird, tragische Geschichten von einander widerstreitenden Gefühlen, Geschichten also, die unsere Fähigkeit zur Nachahmung anregen. Im Alltag begegnen uns solche Erzählungen nicht, in der Literatur erfahren wir sie verdichtet. Gerade darum ist Literatur Nahrung für unseren Nachahmungsinstinkt.Nichts können wir besser und nichts interessiert uns mehr, denn durch ihn sind wir geworden, was wir sind.

Kinder haben im Umgang mit solchen fiktionalen Welten der Literatur ein erstaunlich sicheres Unterscheidungsvermögen, reale Welten von erfundenen zu unterscheiden. Drei- bis fünfjährige Kinder verwechseln nicht ihr Holzpferd mit einem richtigen Pferd, wissen dass es Superman in der realen Welt nicht gibt und dass sie nicht fliegen können, nur weil sie es lesen. Sie verwechseln auch nicht ihr Verhalten, wenn sie zum einen Zeitpunkt ein Löwe waren mit dem Verhalten zu einem anderen Zeitpunkt, wenn sie eine Prinzessin sind. Das können sie sehr genau unterscheiden. Fast – muss man hinzufügen. Denn diese eigentlich robuste Unterscheidung verläuft doch etwas anders als bei Erwachsenen. Verabredet man mit Kindern zwischen vier bis sechs Jahren, sich vorzustellen, in einem Kasten sei ein Hase oder ein Monster und verlässt dann den Raum, so geht eine nicht geringe Zahl der Kinder zu dem Kasten und schaut nach, ob nicht doch ein Hase oder Monster im Kasten ist, und zwar die selben Kinder, die ansonsten sicher den Unterschied zwischen realen und imaginierten Objekten benennen können. Die Überwältigung durch die Vorstellung, die die bloße sprachliche Benennung eines möglichen Hasen oder Monsters in einer Kiste ausgelöst hat, ist ebenso eindrücklich experimentell nachweisbar wie die Möglichkeit, durch das Vorlesen eines Märchen, kleine Kinder dazu zu bewegen, Dinge für möglich zu halten, die sie zuvor für unmöglich gehalten haben, etwa durch das Aussprechen bestimmter Worte auf die andere Seite einer Glasschreibe durchgreifen zu können.

Wir brauchen nicht lange zu überlegen, warum Kinder sehr viel besser nachahmen können als wir. Sie müssen nämlich diese Nachahmung ständig im Alltag anwenden, um so viel neue Dinge zu lernen. Deshalb lernen Kinder auch viel viel schneller als wir. Diese wunderbare Fähigkeit geht uns also ein wenig verloren, zumindest dann, wenn wir sie nicht kultivieren, zum Beispiel mit Hilfe von Literatur. Eine Funktion von Literatur ist auch, ein bisschen in der Kindheit bleiben zu können.

Gerade je mehr kleine Kinder ihre Umwelt beobachten und spielend nachahmen, desto mehr wächst ihr Interesse an magischen Charakteren und Fähigkeiten, kurz: die Freude an der Nachahmung. Rollenspiele gehören hier her, Spiele, bei denen man nicht zusieht, sondern ganz in seiner Rolle aufgeht. Erst größere Kinder über sieben Jahre etwa, können dann auch einfach nur zuschauen, können lesen, ohne handeln zu müssen, weil sie gelernt haben, die Spiegelung der Handlungen anderer zwar zu empfinden, aber nicht ausführen zu müssen. Ab etwa sieben Jahren können Kinder dann auch mehrere, einander widerstreitende Gefühlszustände in sich selbst simulieren, der sogenannte Odysseus-Konflikt (nämlich den zwischen dem Wunsch, die Sirenen hören zu wollen und sich zugleich vor ihnen hüten zu müssen).. Einander widerstreitende oder zumindest nicht deckungsgleiche Wünsche, Absichten und Ziele anderen zuzuschreiben zu können, diese Fähigkeit geht zusammen mit der, beim Spiel nur einfach zusehen zu können. Das ist der Grund, warum uns tragische Geschichten interessieren.

Diese Muster im Umgang mit fiktionalen Welten, die sich also in der Kindheit herausbilden, verwenden wir auch weit über die Kindheit hinaus. Kleinkinder akzeptieren auch Ordnungen und mögliche Welten und halten sie auseinander, die wir dann zu Gattungen, zu Genres verfestigen. Wir wissen ungefähr, wie eine Handlung in einer Kriminalgeschichte abläuft, wie sich ein Abenteuerroman oder eine fantastische Geschichte entwickelt. Das hilft uns, Muster zu bilden, und aus diesen Mustern besteht die Literatur. Literatur hat deswegen immer zumindest grobe Regeln. Wir wissen, eine Tragödie hat einen Helden, und der Held kann untergehen, er muss sogar am Ende untergehen.

Man also muss nicht lange suchen, um zu erklären, warum der Mensch über alle diese Fähigkeiten verfügt, warum er Literatur hat. Es ist der schlichte Vorteil in der Evolution, so gut nachahmen zu können, so gut den anderen verstehen zu können wie der Mensch. Darin ist er allen Tieren überlegen – so nah uns die Primaten manchmal auch sind. Der Mensch vermag über Nachahmung sich eine soziale Welt zu erschaffen, die ihm das Überleben sichert. Und das fängt vom ersten Tag an