Dieter Nitzgen: Vom Trauma zur Sucht . Wie sich Kriegs-/Konflikt*erfahrungen auswirken
SWR2 AULA - 
 Autor: Dieter Nitzgen 
 Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
* Konflikt: wurde durch PA4- Redaktion aus aktuellen Erwägungen erweitert)
 Sendung: Sonntag, 30. November 2008, 8.30 Uhr, SWR 2
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 Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
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 Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
 Zum Autor:
 Dieter Nitzgen, M.A. Studium Philosophie, Literaturwissenschaften und Psychologie.
 Seit 1986 als Psychotherapeut in einer Fachklinik für Suchterkrankungen der DRVBaden
 Württemberg beschäftigt, derzeit als Bereichsleiter Psychotherapie.
 Gruppenanalytiker, gruppenanalytischer Supervisor und Organisationsberater
 (DAGG), Psychoanalytiker (AFP). Klinische Interessen: Verständnis und Behandlung
 von Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen; traumaspezifische Prozesse
 in Individuen, Gruppen und Organisationen sowie die intergenerationale
 Transmission von Traumata.
 ÜBERBLICK
 Die Kriegsfolgen des 20. Jahrhunderts wurden bislang erforscht unter der Kategorie "Traumata". Doch es gibt noch einen weiteren Wirkungskreis, der wiederum eng mit den traumatischen Folgen von Kriegs-, Bürgerkriegs- und Migrationserfahrungen zusammenhängt: Es geht um die Verbindung von Trauma und Sucht und das Verständnis von Sucht und Suchterkrankung als Ausdruck gesellschaftlicher Krisen und Modernisierungsprozesse. Dieter Nitzgen, Psychologe und Psychotherapeut, beschreibt den Zusammenhang von Trauma und Sucht.
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 INHALT
 Ansage:
 Heute mit dem Thema: „Vom Trauma zur Sucht – Wie sich Kriegserfahrungen
 auswirken“.
Die Kriegsfolgen des 20. Jahrhunderts wurden bislang in psychologischer Hinsicht
 erforscht unter den Kategorie Trauma, wobei man immer wieder gefragt hatte, was
 dieses Trauma genau auslöst, wie es die Psychologie der Betroffenen verändert.
 Doch es gibt noch einen weiteren Wirkungskreis, der eng mit traumatischen Folgen
 von Kriegs-, Bürgerkriegs- und Migrationserfahrungen zusammenhängt: Und da geht
 es um die Verbindung von Trauma und Sucht und zugleich um das Verständnis von
 Suchterkrankungen als Ausdruck gesellschaftlicher Krisen. Gerade nach den
 Bürgerkriegen in Bosnien oder Afghanistan berichten viele Psychologen aufgrund
 ihrer Praxiserfahrungen von jungen traumatisierten Männern, die gerade wegen ihrer
 Kriegserlebnisse alkoholsüchtig oder tablettenabhängig geworden sind.
 Dieter Nitzgen ist Psychologe und Psychotherapeut, er beschreibt in der SWR2
 AULA den Zusammenhang von Trauma und Sucht, die Zitate spricht Karl-Rudolf
 Menke.
 Dieter Nitzgen:
 Im nachfolgenden Beitrag sollen Zusammenhänge zwischen der Entstehung von
 Suchterkrankungen und seelischen Erschütterungen durch Kriegserfahrungen
 aufgezeigt werden. Solche Zusammenhänge hat der Psychoanalytiker Ernst Simmel
 vor dem Hintergrund der Behandlung von traumatisierten Soldaten im Ersten
 Weltkrieg und von Suchtpatienten im Berlin der Zwanziger Jahre des vergangenen
 Jahrhunderts beobachtet. Einen Kontinent weiter und dreißig Jahre später fasst er
 seine Erkenntnisse 1948 im kalifornischen Exil, wohin er als Jude vor den Nazis
 fliehen musste, zusammen:
„Es steht zu erwarten, dass der zweite Weltkrieg dieselben psychischen
 Nachwirkungen haben wird wie seinerzeit der Erste. Nach dem Ersten Weltkrieg
 wurde eine enorme Zunahme an Charakterstörungen, besonders an Süchten,
 beobachtet. Psychische Nachkriegsschäden deuten daraufhin, dass es dem „Kriegs-
Ich“ (...) nicht gelingt, sich in ein „Friedens-Ich zurückzuverwandeln.“ (1948/1993, S.
 289)
 Anders und hellsichtiger als manche aktuellen psychologischen Theorien hat Simmel
 bereits in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erfasst, dass nicht nur
 der Krieg selbst mit seinen Katastrophenerlebnissen traumatisch ist, sondern auch
 seine Beendigung, insofern diese dem militarisierten Ich abverlangt, sich wieder in
 ein alltägliches „Friedens-Ich“ zurückzuverwandeln.
„Während des Krieges dient das gemeinsame Ziel von Zivilbevölkerung und Armee,
 für den Sieg zu arbeiten und zu kämpfen, als ein kollektives Ich-Ideal (...). Durch
 seine Entzauberung nach dem Krieg verliert das Siegesideal seine Bedeutung und
 Wirksamkeit als stabilisierender Faktor im Leben von Menschen, womit dem
 einzelnen Ich der stützende Überbau des Gemeinschaftsgeistes entzogen wird. Die
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 Vom Trauma zur Sucht – Wie sich Kriegserfahrungen auswirken
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 geeinte Nation zerfällt von neuem in widerstreitende Gruppen mit disparaten
 Eigeninteressen (...). Der schützenden Teilnahme an einem begeisternden
 Menschenverbund beraubt und nicht mehr in der Lage, sich mit der Nation als
 Ganzes zu identifizieren, stellt der ernüchterte Bürger fest, dass die bittere Frucht
 des Sieges eine Rückkehr zu individueller, sozialer und wirtschaftlicher Unsicherheit
 ist.“ (ibid.)
 Die tiefe Desillusionierung ist für Simmel die Ursache dafür, dass die Beendigung
 des bewaffneten Konflikts (...) von allen als „narzisstisches Trauma“ erlebt wird. Das
 Kriegs-Ich steht damit vor der doppelten Aufgabe, nicht nur seine im Krieg erlebten
 Schrecken: Verwundung, Kampf und Massensterben verarbeiten zu müssen,
 sondern auch die Kränkung zu akzeptieren, dass das, was gestern noch erlaubt, ja
 befohlen war: zu töten, zu plündern, zu vergewaltigen von nun an wieder verboten,
 geächtet und sogar verächtlich sein soll. Das zu verarbeiten erfordert ein hohes
 Ausmaß an seelischer Anstrengung. Um sich diesen Aufwand zu ersparen, stehen
 dem Ich nach Auffassung von Simmel zwei Notausgänge zur Verfügung: Der
 Konsum von Suchtmitteln und/oder kriminelle Verhaltensweisen. (ibid.)
„Süchte bilden eine perfekte Ausflucht für das Nachkriegs-Ich (...). In der Sucht findet
 das Ich die Möglichkeit, die unlustvolle Realität (...) zu leugnen; es erlebt eine
 Befreiung von Über-Ich-Verboten mit Hilfe einer künstlichen pharmakotoxischen
 Hochstimmung.“ (ibid.)
 Durch die Einnahme von Suchtmitteln, seien es Alkohol, Drogen und/oder
 Medikamente, können Gefühle manipuliert werden; können etwa Angst und
 Depression in eine künstliche, das heißt biochemisch erzeugte Hochstimmung
 verwandelt werden. Solche Stimmungsumschwünge können aber ebenso gut die
 Folge riskanten Verhaltens sein, weshalb Simmel bestimmte Formen der Kriminalität
 eine direkte Fortsetzung des „Kriegs-Ich“ im Zivilleben ansieht (1948/1993, S. 290),
 durch die aggressive Impulse ungehemmt ausgelebt werden können. Andererseits
 kann Suchtmittelkonsum auch dazu dienen, solche Impulse abzuschwächen,
 weshalb eine Sucht „unter bestimmten Umständen auch zur Verhütung krimineller
 Handlungen“ dienen kann.
 Wie können wir uns die seelische Verfassung eines Ichs vorstellen, das für solche
 Fehlentwicklungen anfällig ist? In der Literatur des Zwanzigsten Jahrhunderts gibt es
 diesbezüglich eindrucksvolle Schilderungen, etwa im Frühwerk von Ernst Jünger.
 Jünger, geboren 1895, hatte als junger Kriegsfreiwilliger am Ersten Weltkrieg
 teilgenommen und seine Erfahrungen an der Westfront später in verschiedenen
 Büchern geschildert, am bekanntesten in seinem Kriegstagebuch „In Stahlgewittern“
(1924). Hören wir seine Beschreibung der Auswirkungen des stundenlangen
 Trommelfeuers tausender Geschütze auf die Befindlichkeit der Soldaten zu Beginn
 der letzten deutschen Offensive an der Westfront am Morgen des 21.03.1918:
„Und immer noch steigert sich der furchtbare Donner der Schlacht; (...) schon
 beginnen die Sinne sich zu verwirren unter der Überlast an Reizen, die ihnen
 zugemutet wird. Schon ist niemand mehr imstande, zu überprüfen, was er fühlt,
 denkt oder tut, und es ist, als trete ein fremder Wille zwischen uns und unsere
 Handlungen (...). Alle gewohnten Gesetze scheinen aufgehoben, wir befinden uns in
 einem Fiebertraum von höchster Wirklichkeit (...). Bündel von Schattenstrichen
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 huschen durch die Luft, die durch den Gasdruck erschütterte Atmosphäre lässt die
 festen Gegenstände zittern und tanzen wie die Bilder eines flimmernden Films.“
(1929, S. 484f.)
 Vor diesem Hintergrund fasst Jünger die Wahrnehmungsbedingungen des modernen
 Krieges in dem programmatischen Satz zusammen: „Unaufhörlich schmettern
 Eindrücke ins Hirn“ (2KiE, S. 98). Die damit verbundene Wahrnehmungsperspektive
 ist die der Plötzlichkeit; das heißt die punktuelle Wahrnehmung einer „Sekunde“, in
 der blitzartig Gefahr, Schrecken und Tod enthüllt werden:
„(...), dieses Zusammenfahren bei jedem plötzlichen und unerwarteten Geräusch. Ob
 ein Zug vorbeirasselte, ein Buch zu Boden fiel, ein nächtlicher Schrei erscholl –
immer stockte der Herzschlag für einen Augenblick unter dem Gefühl, dass eine
 große und unbekannte Gefahr auf dem Sprung stände.“ (5Sta, S. 3)
 Zentrales Merkmal des im Kampf erfahrenen Ich ist eine tiefgreifende
 Erwartungsangst, die den Krieg selbst überdauert. In den nach dem Ende des Ersten
 Weltkrieges verfassten Texten, etwa dem „Abenteuerlichen Herzen“, beschreibt
 Jünger, wie diese Angst auch zum Bestandteil des modernen Alltagslebens
 geworden ist, das damit als Fortsetzung des Krieges unter zivilen Bedingungen
 erscheint:
„Aber was in den feurigen Traumlandschaften des Krieges gültig war, das ist auch in
 der Wachheit des modernen Lebens nicht tot (...). Nichts ist wirklich und doch ist
 alles Ausdruck von Wirklichkeit. Im Heulen des Sturms und im Prasseln des Regens
 vernehmen wir einen verborgenen Sinn, und schon dem Zuschlagen der Tür in
 einem einsamen Haus hört selbst der Nüchternste nicht ohne eine Spur von
 Misstrauen zu. In dem sehr rätselhaften Gefühl des Schwindels deutet sich das uns
 ständig wie ein unsichtbarer Schatten begleitende Bewusstsein der Bedrohung an.
 (...)“ (1AH, S. 213)
 Hier wird anschaulich, was geschieht, wenn die Demobilisierung des Kriegs-Ich
 misslingt. Insofern können Jüngers Texte als ästhetisches Pendant zu Simmels
 klinischer Diagnose der Symptome der Kriegsneurose gelesen werden:
„Die wesentlichen, durchgängigen Symptome aller Fälle, die den Namen
„Kriegsneurose“ verdient, waren eine allgemeine emotionale Labilität und
 Reizbarkeit, eine Neigung zu Gefühlsausbrüchen, besonders von Wut – und eine
 charakteristische Schlafstörung durch quälende Träume. (...)“ (1944/1989, S. 206)
 Alle diese Symptome sind auch im Frühwerk von Jünger beschrieben. Dessen
 seismographische Wahrnehmungsschärfe besteht darin, aufgezeigt zu haben, dass
 sie auch zu Merkmalen des modernen Alltags-Ichs geworden sind getreu dem Satz
 von Theodor W. Adorno, demzufolge „der Begriff des Schocks zur Einheit der
 Epoche gehört“. Im weiteren illustriert Jüngers politische Nähe zu
 rechtsanarchistischen Gruppen und seine mutmaßliche Verstrickung in deren
 politische Aktivitäten in der Weimarer Republik auch Simmels luzide Einsicht in die
 Tendenz desillusionierter Soldaten zur Bandenbildung:
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„Wo der gesellschaftliche Strukturierungsprozess ausbleibt, bildet das Individuum
 Gruppen oder schließt sich welchen an, die ihm einen neuen, schützenden
 Gemeinschaftsgeist mit einem gemeinsamen Ziel zur Abfuhr aggressiver Energien
 liefern.“ (1948/1993, S. 290)
 Die erwähnten Befunde über den engen Zusammenhang zwischen
 Kriegstraumatisierung, Suchtentwicklung und aggressivem bzw. Verhalten sind im
 Anschluss an den Ersten und Zeiten Weltkrieg auch in den Nachfolgekriegen in
 Vietnam, im Irak, in Kroatien, in Bosnien und auch in Afghanistan wiederholt bestätigt
 worden; zuletzt und eindrucksvoll in Benjamin Biebers 2007 erschienener,
 soziologischer Studie über die „Hypothek des Krieges“ in Bosnien-Herzegowina.
 Wechseln wir vor diesem Hintergrund die Perspektive und betrachten eine konkrete
 psychotherapeutische Fallgeschichte; den Fall von Anton, einem Patienten, wie der
 heute in vielen Beratungsstellen und Fachkliniken für Suchtkranke auftaucht:
 Zum Zeitpunkt seiner Aufnahme war Anton Anfang vierzig, ein schlanker,
 mittelgroßer Mann mit noch immer jungenhafter Ausstrahlung, wachem, bisweilen
 argwöhnischem Blick, dem es sichtlich schwer fiel, sich in das Reglement der Klinik
 und in ihren Tagesablauf zu einzufügen. Er ließ sich nicht gerne etwas sagen. Bei
 seiner Ankunft hatte er bereits eine lange Suchtkarriere hinter sich.
 Mit Alkohol bereits als Kind konfrontiert, da auf dem elterlichen Hof auch Wein
 angebaut wurde, hatte er seinen ersten Rausch hatte als Jugendlicher während
 eines Urlaubs. Mit 15 Jahren begann er, regelmäßiger zu trinken, zunächst nur an
 Wochenenden. Mit 17 rauchte er zusätzlich Cannabis und konsumierte beides in
 steigender Dosis. Mit Anfang 20 wurde inhaftiert und war unfreiwillig eine zeitlang
 abstinent. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis begann er sofort wieder zu
 trinken und Cannabis zu konsumieren, später auch Kokain. Ab dem dreißigsten
 Lebensjahr reduzierte er den Kokainmissbrauch, fing aber an, Opium und Heroin zu
 rauchen. Der Opiatmissbrauch fand zunächst im Rahmen längerer
 Auslandaufenthalte statt, wurde dann aber auch zuhause in Deutschland fortgesetzt.
 Anton begann jetzt, unter zunehmenden Entzugserscheinungen zu leiden.
 Das veranlasste ihn, mit Ende Dreißig eine erste stationäre Drogenentgiftung zu
 machen. Kurze Zeit nach der Entlassung konsumierte er wieder Opiate, Cannabis
 und Alkohol zu konsumieren in hoher Dosierung: durchschnittlich 2 Liter Wein, 1 bis
 2 Gramm Opium oder Heroin und die gleiche Menge an Cannabis. Nach einjähriger
 Teilnahme an einer Substitution mit der Ersatzdroge Methadon erfolgte eine weitere
 stationäre Entgiftung. Wiederum wurde Anton nach wenigen Tagen rückfällig. Er ging
 wieder ins Ausland und konsumierte dort exzessiv Alkohol und Drogen. Nach seiner
 Rückkehr nach Deutschland begab er sich erneut in stationäre Entgiftung und
 beantragte anschließend eine stationäre Entwöhnungstherapie in einer Fachklinik.
 Dort wurde er als mehrfachabhängiger Patient diagnostiziert.
 Im Rahmen seiner Behandlung wurde rasch deutlich, dass die Motive seines
 Suchtmittelgebrauchs, aber auch seines riskanten Verhaltens durchaus vielfältig
 waren. So war sein delinquentes Verhalten nicht ausschließlich finanziell motiviert,
 sondern auch durch seine ständige Suche nach Erregung, Nervenkitzel und
 psychischen „Kicks“. Der Führerschein war ihm mehrfach alkohol- und
 drogenbedingt, aber auch wegen zu schnellen Fahrens entzogen worden. Mit Anfang
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 zwanzig war Anton überdies für längere Zeit wegen Drogenschmuggel inhaftiert
 worden. Zusammen mit Freunden hatte er versucht, eine größere Menge Cannabis
 aus dem Mittleren Osten nach Deutschland zu schmuggeln. Während einer späteren
 Reise wurde er deswegen in Thailand erneut verhaftet und war dort unter
 schwierigen Bedingungen inhaftiert.
 Diese Erfahrung hatte ihm erstmals Angst gemacht. Dennoch hatte ihm der Konsum
 von Alkohol und Drogen immer wieder ermöglicht, seine psychische Befindlichkeit je
 nach Situation beliebig zu manipulieren: Mit Kokain putschte er sich auf, Opium und
 Heroin dämpften eine zu hohe Erregung und zu starke Gefühle Die
 lebensgeschichtlichen und psychischen Hintergründe dafür wurden erst allmählich
 erkennbar:
 Anton war im ländlichen Milieu im Süden Deutschlands aufgewachsen. Der Vater war
 als junger Mann aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland gekommen,
 nachdem seine Familie dort während und nach dem Zweiten Weltkrieg
 verschiedenen Repressalien ausgesetzt gewesen war. Den Erzählungen nach war
 der väterliche Großvater vor den Augen seines Sohnes wegen seiner Zugehörigkeit
 zur rechtsgerichteten Organisation der Ustasha von kommunistischen Partisanen auf
 grausame Weise getötet worden. Er wurde an ein Scheunentor genagelt. Nachdem
 seine Fabrik später enteignet worden war, musste Antons Vater das Land verlassen.
 Nach seiner Ankunft in Deutschland heiratete er in eine bäuerliche Familie ein. Er
 qualifizierte sich auf dem zweiten Bildungsweg in einem akademischen Beruf und
 arbeitete darin bis zu seiner Pensionierung.
 Pauls Mutter, deren Familie im Dorf isoliert war, da ihr Vater mit den Nazis
 sympathisiert und daraus Vorteile ziehen konnte, hatte später den väterlichen Hof
 übernommen und war bis heute in der Landwirtschaft tätig. Nach der Geburt von
 Anton und seinen Geschwistern war das Familienleben durch die beruflich bedingte
 Abwesenheit des Vaters geprägt, der in der Stadt arbeitete. Als Kind und
 Jugendlicher hatte Anton unter den von ihm wahrgenommenen
 Bildungsunterschieden der Eltern gelitten. Während ihm seine Mutter ungebildet,
 derb und bäurisch erschien, sah er den Vater als sensibel, kultiviert und introvertiert
 an. Er brachte seine Schulschwierigkeiten damit in Verbindung und sagte, seine
 Eltern hätten ihm den „Sinn des Lernens“ nicht vermitteln können. Wegen schlechter
 schulischer Leistungen musste er vom Gymnasium auf die Realschule wechseln, nur
 um diese erneut wegen mangelnder Leistungen verlassen zu müssen. Zuletzt erwarb
 Anton den Hauptschulabschluss und zwei Gesellenbriefe, ohne jemals in den
 erlernten Berufen zu arbeiten. Zum Zeitpunkt seiner Aufnahme in die Klinik arbeitete
 er offiziell im Landschaftsbau und nebenbei als Mann fürs Grobe bei einer
 Hausverwaltung.
 Familiengeschichtlich ist Anton der Enkel eines ermordeten Großvaters, Sohn eines
 emigrierten Vaters und Kind einer tiefen ehelichen Disharmonie. Obwohl er seine
 Mutter entwertete und den Vater idealisierte, dessen mangelnde familiäre Präsenz er
 entschuldigte, blieb Anton beiden Eltern psychisch eng verbunden. Dem Vater durch
 seine Reisen und seine Ruhelosigkeit, der Mutter dadurch, dass er immer wieder auf
 ihren Hof zurückkehrte, der damit Gravitationszentrum einer endlosen Umkreisung
 und sichtbares Zeichen seiner Bindung an die Mutter war. Diese Familiengeschichte
 machte ihn nicht nur zum Enkel, sondern auch zum Erben der wechselvollen
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 jüngeren Geschichte des ehemaligen Jugoslawiens: seiner Besetzung durch
 deutsche Truppen, der kroatischen Kollaboration mit Hitler und des serbischen
 Widerstandes dagegen. Beide Geschichten sollten Anton mit Beginn des
 jugoslawischen Bürgerkriegs zu Anfang der neunziger Jahre des letzten
 Jahrhunderts einholen.
 Mit knapp dreißig Jahren verspürte er plötzlich den Drang, sich am Kriegsgeschehen
 in dem Land zu beteiligen, das seine Heimat nie gewesen war und hatte dabei vage
 das Schicksal des väterlichen Großvaters vor Augen. Er setzte sich spontan ins Auto
 und fuhr nach Kroatien, wo er sich einer paramilitärischen Einheit anschloss, die für
 die Unabhängigkeit einer Teilrepublik kämpfte. Bei diesen Kampfhandlungen erlebte
 Anton den gesuchten Nervenkitzel und Schlimmeres: Er wurde Zeuge von
 Überfällen, Folterungen und Vergewaltigungen ohne, wie er sagte, jemals aktiv daran
 beteiligt gewesen zu sein. Dabei lernte er stimulierende Wirkung des Alkohols vor
 dem Angriff und die Entspannung durch Opiate danach kennen und schätzen. Opium
 hatte er hier erstmals konsumiert und seine Opiatabhängigkeit entwickelte sich in
 direktem Zusammenhang mit seinen Bürgerkriegserlebnissen. Sein Konsum
 ermöglichte ihm später auch, seine traumatischen Kriegserinnerungen auf Distanz
 und unter Kontrolle zu halten. Im weiteren halfen ihm Drogen und Alkohol, Nähe und
 Distanz in seinen zumeist kurzen Partnerbeziehungen zu regulieren.
 Antons Suchtkarriere bestätigt im wesentlichen Simmels Einsichten in den
 Zusammenhang von Trauma, Sucht, Krieg und Kriminalität. Deutlich wird vor allem
 die mehrfache psychologische Funktion der Suchtmittel. Die Einnahme von Alkohol
 und Drogen diente nicht nur dazu, Zustände traumatischer seelischer Überregung,
 Angst und/oder depressiver Lethargie zu behandeln, sondern erfüllte darüber hinaus
 auch die Regulierung von Nähe und Distanz in Beziehungen. Mit ihrem Konsum
 schützte Anton sich vor einem gefürchteten „Zuviel“ an menschlicher Nähe und
 zugleich vor dem Abgrund totaler Verlassenheit. Diagnostisch wäre es daher naiv,
 seine psychische Hintergrundstörung allein als Ausdruck einer sogenannten
 posttraumatischen Belastungsstörung verstehen zu wollen und nicht zugleich als
 eine tiefgreifende Bindungs- und Beziehungsstörung, deren Entstehung mehrere
 Generationen umfasste. Dass Anton sich dazu berufen fühlte, Rächer seines
 Großvaters zu werden, muss insofern als Ausdruck einer unbewussten seelischen
 Verbundenheit und eines familiären Wiederholungszwangs zwischen den
 Generationen verstanden werden, bei der die Täter- und Opferrollen mehrfach
 wechselten.
 Ein krasses Beispiel dafür ist die Biographie von Milan Kovacevic, die Norbert
 Gstrein in seinem Roman „Das Handwerk des Tötens“ als „ebenso herzerreißend wie
 grauenerregend“ genannt hat. Als Kind einer Gefangenen im Konzentrationslager
 Jasenovac im Februar 1941 geboren, wird Kovacevic knapp fünfzig Jahre später
 selbst Kommandant der serbischen Folterlager von Omarska, Keraterm und
 Trnoplolje, in denen Tausende bosnischer Muslime und Kroaten gequält und getötet
 wurden. Von Beruf Anästhesist und zeitweilig Direktor der Klinik von Prijedor, wird
 der im übrigen auch schwer alkoholabhängige Kovacevic deswegen vor dem UN
 Kriegsverbrecher Tribunal in Den Haag angeklagt und stirbt dort während des
 Prozesses in seiner Zelle.
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 Schicksale wie das von Milan Kovacevic und Anton eröffnen Einblicke in die
 generationsübergreifende Weitergabe traumatischer Erfahrungen. Mit Blick darauf
 können psychische Störungen nicht mehr nur im Einzelnen verortet werden. Ihre
 Entstehung und ihre Weitergabe erfolgt vielmehr im Kontext übergreifender sozialer
 Verflechtungszusammenhänge, deren Dynamik die Einzelnen ebenso durchdringt
 wie das Kollektiv. Eine solche Perspektive verändert das Verständniss der
 Entstehung von Suchterkrankungen. Davon ausgehend kommt Earl Hopper, ein in
 London lebender, amerikanischer Soziologe und Psychoanalytiker, in seinem Aufsatz
„Eine psychoanalytische Theorie der Drogenabhängigkeit“ zu dem Schluss, „dass
 das Sucht-Syndrom innerhalb eines traumatogenen Prozesses auftritt, der mehrere
 Generationen und ein beträchtliches Maß an sozialem und geographischem Raum
 umfassen kann“ (1995, S.1140). Um etwa eine Suchtkarriere in den Vereinigten
 Staaten verstehen zu können, müsste auf deren klinischer „Landkarte“ nach
 Auffassung von Hopper folgende Informationen verzeichnet sein:
„Informationen über die Einwanderung von Italien nach New York während des
 späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, den Sklavenhandel und das Erbe von
 Kolonialismus und Imperialismus sowie über die Struktur ethnischer Gruppen
 innerhalb des Stratifikationssystems industrieller Gesellschaften (...), sowie
 Informationen (...) über den Drogenhandels als einer Form von Erwerbsarbeit im
 Zusammenhang mit extrem hohe Arbeitslosenraten bei männlichen Schwarzen, über
 innerstädtische Armutskulturen und über verschiedene Gesundheits- und
 Wohlfahrtsprogramme im Kontext des vorherrschenden politischen Klimas, und
 schließlich Informationen über Geschlechtsrollen und sexuellen Normen etc.“ (1995,
 S. 1131)
 Klinisch ist es deshalb für die Erforschung wie auch für die Behandlung von
 Suchterkrankungen „notwendig (...), die unbewussten Auswirkungen sozialer
 Tatsachen und Kräfte auf das psychische Innenleben zu berücksichtigen.“ (1995, S.
 1132) Diagnostisch spricht Hopper daher von einem „Trauma -Sucht - Syndrom“,
dessen klinische Erscheinungsformen vielfältig sind und neben Abhängigkeit und
 Sucht auch „Somatisierung, Perversion, Kriminalität und Risikoverhalten“ (2003, p.
 2007) umfassen. Ursachen und Entstehung dieses Syndroms verweisen ihm zufolge
 im wesentlichen auf traumatische Lebenserfahrungen der betroffenen Individuen und
 ihrer sozialen Bezugsgruppen. Als traumatisierend ist hier vor allem das Scheitern
 von Bindungs- und Abhängigkeitsbedürfnissen anzusehen und zwar sowohl in der
 frühen Kindheit als auch in späteren Lebensphasen.
 Als Folge dieses Scheiterns werden unbewusst individuelle und kollektive
 Vernichtungsängste mobilisiert, deren Bewältigung durch eine psychische und
 soziale „Verkapselung“ erfolgt. In abgekapselter Form bleiben Bruchstücke
 traumatischer Erfahrungen als gleichsam innere Fremdkörper im Einzelnen, aber
 auch in der Gesellschaft als Ganzes wirksam und wirkmächtig. Ein Beispiel dafür ist
 die Verkapselung der traumatischen Umstände der Ermordung von Antons
 Großvaters und ihre Übertragung auf den Enkel. Hoppers Konzeption des Trauma-
Sucht- Syndroms kann als Erweiterung von Simmels psychoanalytischen Einsichten
 verstanden werden. Ein wichtiger Unterschied betrifft den historischen Standort.
 Während Simmel seine Beobachtungen vor dem Hintergrund beider Weltkriege und
 mit Blick auf die Psyche regulärer Soldaten gemacht hatte, verweisen Antons
 Erfahrungen im jugoslawischen Bürgerkrieg auf eine weitgehend veränderte
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 politische und militärische Konstellation, die mit den Maßstäben und Kategorien
 klassischer Staatenkriege nur noch sehr bedingt erfassbar ist.
 Herfried Münkler hat diese veränderten Kriegsbedingungen unlängst als „Die Neuen
 Kriege“ (2004) bezeichnet. Dabei handelt es sich um zumeist bürgerkriegsähnliche
 Auseinandersetzungen, hervorgegangen aus dem Zerfall „der einstigen Imperien des
 19. und 20. Jahrhunderts“ und überwiegend an deren „Rändern und Bruchstellen“
angesiedelt (2004, S. 13). Sie sind, so Münkler, vor allem durch eine zunehmende
„Privatisierung und Kommerzialisierung“ einerseits und einer „Asymmetrie“
andererseits gekennzeichnet, „das heißt, durch das Aufeinanderprallen prinzipiell
 ungleichartiger Militärstrategien und Politikrationalitäten“ andererseits (2004., S. 58).
 Die damit einhergehende Aufhebung der Grenzen zwischen Krieg und Alltagsleben
 hatte schon Jünger im Anschluss and den Ersten Weltkrieg beschrieben und später
 als Zustand des „Weltbürgerkrieges“ diagnostiziert. Insofern dessen Täter und Opfer
 heute vermehrt psychotherapeutische Hilfe suchen, werden die dadurch
 verursachten psychischen Folgekosten derzeit zunehmend erkennbar, ohne wirklich
 schon überschaubar zu sein. Die Konzeption des „Trauma Sucht Syndroms“ liefert
 dafür einen möglichen und brauchbaren klinischen Bezugsrahmen.
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