Auf dem Weg zur Toleranz – Der Dialog der Religionen . Von Prof. Michael von Brück
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SWR2 AULA : 
 Autor: Prof. Michael von Brück *
 Redaktion: Ralf Caspary
 Sendung: Pfingstsonntag, 31. Mai 2009, 8.30 Uhr, SWR 2
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 Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
 Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
 Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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 * Zum Autor:
 Michael von Brück (* 1949 in Dresden) leitet den Lehrstuhl für Religionswissenschaft
 an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Von 1968-73 studierte er
 Evangelische Theologie, vergleichende Sprachwissenschaft, Sanskrit und Indologie
 in Rostock. Nach der Promotion ging er nach Madras in Südindien, um Indische
 Philosophie und Religion sowie Buddhismus zu studieren. 1979 ließ er sich zum
 Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen ordinieren. 1980-85 war
 er Gastdozent in Indien. 1982 erfolgte seine Habilitation in Systematischer Theologie
 über "Möglichkeiten und Grenzen einer Theologie der Religionen bei Rudolf Otto und
 Karl Barth". Seit 1985 ist er Zen- und Yogalehrer auf der Basis von Ausbildungen in
 Indien und Japan. 1988 erhielt von Brück die Professur für Vergleichende
 Religionswissenschaft an der Universität Regensburg und wechselte 1991 auf den
 Lehrstuhl für Religionswissenschaft an der LMU. Von Brück ist seit langen Jahren
 Gesprächspartner des 14. Dalai Lama. Er verfasste zahlreiche Bücher über den
 Buddhismus und dessen Verhältnis zum Christentum, die als Standardwerke gelten.
 Er war Gründer und Herausgeber der Zeitschrift Dialog der Religionen.
 Auswahl seiner Bücher:
– Ewiges Leben oder Wiedergeburt. Herder, Freiburg im Breisgau 2007.
– Einführung in den Buddhismus. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt
 2007.
– Der Weg des Dalai Lama. Knesebeck, München 2005.
– Zen: Geschichte und Praxis. 2. Auflage. C. H. Beck, München 2007.
– Wie können wir leben? Religion und Spiritualität in einer Welt ohne Maß. C. H.
 Beck, München 2002.
– zus. mit Whalen Lai: Buddhismus und Christentum. Geschichte, Konfrontation,
 Dialog. C.H. Beck, München 1997.
 ÜBERBLICK
 Mehr Toleranz durch interreligiösen Dialog?
 Angesichts des islamischen Fundamentalismus, angesichts der Konflikte zwischen Orient und Okzident und angesichts der Tatsache, dass die meisten Religionen aggressive Elemente enthalten, die Andersgläubige diffamieren und ausgrenzen, stellt sich immer wieder die Frage, wie man ein friedliches Miteinander erreichen kann, einen Dialog, der zur gegenseitigen Befruchtung beitragen könnte. Welche Elemente wären da wichtig, welche Religion könnte ein Katalysator sein? Antworten gibt Michael von Brück, Professor für Missions- und Religionswissenschaft an der Universität München.
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 INHALT
 Ansage:
 Heute mit dem Thema: „Auf dem Weg zur Toleranz – Der Dialog der Religionen“.
Welche Art von Religion brauchen wir in der globalisierten Welt? Sie sollte tolerant
 sein, also sie darf Andersgläubige nicht ausschließen und diffamieren, sie sollte den
 gegenseitigen Austausch der Kulturen befördern, sie sollte auf die gesellschaftlichen,
 sozialen Herausforderung der Globalisierung reagieren, das heißt: Sie sollte dem
 naiven Fortschrittsideal der angeblich zivilisierten Hochkulturen eine Alternative
 entgegensetzen, und sie sollte schließlich die Verlierer der Globalisierung, die
 Armen, Ungebildeten ansprechen können und ihnen dabei helfen, eine neue stabile
 Identität auszubilden.
 Das sagt Professor Michael von Brück, Religionswissenschaftler an der Universität in
 München. In der SWR2 Aula skizziert er diese Art von Religion und bezieht sie auf
 die spezifischen Probleme der globalisierten Welt.
 Michael von Brück:
 Der Islam präsentiert sich, wenn man genauer hinschaut, in vielfältiger Gestalt. Die
 Religionen des Buches, also Islam selbst, aber auch das Judentum und das
 Christentum, konnten unter islamischer Herrschaft in gewissem Sinne vorläufig
 akzeptiert werden, wenngleich der Islam für sich die endgültige Offenbarung
 beansprucht, die durchzusetzen aber letztlich Gott überlassen werden konnte. Das
 Modell des Islam ist daher weniger das der unmittelbaren religiösen Missionierung
 gewesen, sondern eher das der kulturellen und politischen Expansion. Im einzelnen
 sind die historischen Erfahrungen, und die Modelle, die mit ihnen verknüpft sind, sehr
 vielschichtig, aber jihad als „religiöse Anstrengung" hat auch immer schon den
 Eroberungskrieg bedeutet, der freilich – so der Koran – durch Verhältnismäßigkeit der
 Mittel gekennzeichnet sein muss.
 Die Unverfügbarkeit Gottes und die Prädestination sind zentrale Aussagen
 islamischer Theologie. Wenn Gott alles vorherbestimmt, dann ist das Schicksal des
 Einzelnen, aber auch das der Völker und ihrer Religionen vom Willen Gottes abhängig
 und nicht von der Streitbarkeit des Menschen. Wenn Gott das Schicksal
 vorherbestimmt, kann sich der Mensch dem nur fügen, d. h. auch das religiöse
 Schicksal ist der Wille Gottes, und die Vielfalt der Religionen ist eine
 Bewährungsprobe in Geduld und Toleranz, eine Vielfalt, die der Mensch nicht
 vorzeitig und aus eigenen Interessen beenden darf. Tendenzen zu einer solchen
 sagen wir toleranten Interpretation des Islam finden sich im Koran, und dann vor allem
 im Sufismus und bei Ibn al Arabi. Innerislamisch konnten verschiedene
 Rechtsauffassungen toleriert werden, sofern sie sich auf gültige Koran-Auslegung
 berufen und die Rechtleitung durch Gott anerkennen. „Den" Islam als
„fundamentalistisch" zu deuten, ist historisch falsch. Heutige Tendenzen in dieser
 Richtung sind politisch und ökonomisch begründet, wie ich noch zeigen werde, und sie
 sind nicht auf den Islam beschränkt.
 Wie sieht es mit der Toleranz im Christentum aus? Das Christentum der ersten
 Generationen glaubte, in einer Endzeit zu leben. Die Wiederkunft Christi wurde sehr
 bald erwartet, und bis dahin sollte allen damals bekannten Völker (im wesentlichem
 der Mittelmeerraum) das Evangelium verkündet werden. Dieses war in der Person Jesu
 eine personale Zusage, nicht eine institutionelle Wahrheit. Toleranz war nicht die
 pragmatische Akzeptanz „falscher" Götter, sondern die einladende Mildtätigkeit
 gegenüber dem irrenden Sünder. Erst als das Christentum im 4. Jahrhundert zur
 Staatsreligion wurde und das weltliche Imperium als corpus Christianum definiert
 wurde, konnte die sozial-politische Gestaltung immer mehr religiös aufgeladen und die
 civitas Dei und die civitas terrena immer mehr miteinander verschmolzen werden. Bis
 das Imperium Chrisüanum bzw. das „christliche Abendland" im 16. Jahrhundert in der
 Konfessionsspaltung auseinanderbrach. Die Aufklärung setzt dann die Vernunft bzw.
 die Vernunftreligion als über die faktischen Konfessions-PIuralität stehende Realität
 ein.
 Dies ist, wie mir scheint, der Befund bis heute: Toleranz im modernen Sinne ist ein
 Konzept der Aufklärung, das auf die Unlösbarkeit der Konflikte innerhalb des
 Christentums antwortet, nicht a-religiös, aber transkonfessionell. Es geht um den
 Versuch, einen religiösen Wertekonsens für die Gesellschaft zu ermöglichen, der nicht
 auf der Behauptung von Offenbarung, sondern auf der kommunikativen Vernunft
 beruht, indem die gegenseitige Abhängigkeit und historische Bedingtheit der
 Religionen als Hintergrund für reflektierte Toleranz möglich wurde. Historisch findet
 sich zu diesen Entwicklungen in anderen Religion kaum etwas Vergleichbares, wohl
 aber werden die anderen Religionen heute mit dieser Geschichte des Christentums
 und ihren Folgen konfrontiert, und sie reagieren darauf. Diese Reaktionen sind
 unterschiedlich, sie sind zum Teil so, dass Elemente der Aufklärung sowohl im Islam,
 aber besonders auch im Buddhismus, im Hinduismus, auch im Judentum rezipiert
 werden, dass aber gleichzeitig Abgrenzungs- und Abwehrbewegungen gegen dieses
 von der Aufklärung geprägte Christentum ins Szene gesetzt werden.
 Ich möchte nun ein Thema ansprechen, dass die europäische Selbstidentität in den
 gegenwärtigen Jahrzehnten erschüttert, nämlich der Zusammenbruch und das Ende
 des Mythos vom Fortschritt. Dieser Zusammenbruch hängt natürlich mit politischen
 und ökologischen Entwicklungen zusammen, die aber auf die kulturelle Gestalt der
 Religionen unmittelbaren Einfluss haben. Wie kommt es überhaupt dazu, dass
 Menschen Hoffnung entwickeln und dass sie diese Hoffnung als einen
 Fortschrittsmythos in der Geschichte interpretieren?
 Aufgrund des Zeitbewusstseins kann sich der Mensch die Zukunft vorstellen. Ja, er
 kann sich intuitiv in eine andere Wirklichkeit als die, die er gegenwärtig real erlebt,
 versetzen. Es ist die denkende Imagination, die das Endliche übersteigt und Hoffnung
 über die jeweilige Gegenwart hinaus freisetzt. Hoffnung ist Ausdruck des Kreativen im
 Menschen, der sich über den Ist-Zustand erhebt. Man könnte geradezu sagen, das ist
 eine der wesentlichen Wurzeln für Religion. Hoffnung erzeugt ein
 Spannungsverhältnis, nämlich die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen
 Sein und Sollen und Wünschen und dem, was man als real wahrnimmt. Aber Hoffnung
 ist zugleich der Inbegriff der Aufhebung dieses Widerspruchs.
 Die klassischen Hoffnungsbilder der christlichen Religion – das Reich Gottes, das
 himmlische Jenseits – verblassten im 17. und 18. Jahrhundert und wurden durch
 diesseitige Gesellschafts-Utopien ersetzt, wie Heinrich Heine formuliert: „Wir wollen
 hier auf Erden schon das Himmelreich errichten“. Markant greifbar ist dies im
 geschichtsphilosophischen Fortschrittspathos, besonders des 19. Jahrhunderts, das
 ein Produkt der europäischen Zivilisationsgeschichte ist und von anderen Kulturen so
 nicht nachvollzogen wird. Mit Wissenschaft, Technologie und ihrer Verbreitung durch
 den globalen Markt wird dieses Fortschrittsdenken gleichsam „missionarisch"
 verbreitet und untergräbt kulturelle Selbstdefinitionen z. B. in islamischen,
 hinduistischen und anderen Ländern, wogegen sich diese Kulturen und Religionen zur
 Wehr setzen, und das ist bis heute so.
 Im Ersten Weltkrieg brach der Fortschrittsoptimismus zusammen. Man denke an Stefan
 Zweig, Oswald Spengler, die Dialektische Theologie und andere Strömungen. Die
 Selbstzerstörung des Abendlands war mehr als eine politisch-militärische Katastrophe,
 es war die Demaskierung des Fortschrittsbewusstseins. Die beiden mächtigsten
 totalitären Bewegungen im 20. Jahrhundert –Faschismus/Nationalsozialismus auf der
 einen, Kommunismus auf der anderen Seite – sind der Versuch einer Antwort auf
 diesen Zusammenbruch, ebenso wie die Ankündigung vom „Untergang des
 Abendlands" (Spengler), die sich in Warnungen hinsichtlich der „Grenzen des
 Wachstums" (Club of Rome, 1960) und ökologischer Katastrophenszenarien, wie wir
 sie heute kennen, fortsetzt. Ein Gegenentwurf ist Jean Gebsers Ruf nach einem
„Bewusstseinswandel" in seinem bahnbrechenden Buch „Ursprung und Gegenwart“
von 1949, ein Bewusstseinswandel, der sich aus einem mythisch-mystischen
 Bewusstsein speisen solle und Vorläufer bei Schopenhauer, Nietzsche, Hesse, Carl
 Gustav Jung und anderen hat sowie von Albert Schweitzer, Dietrich Bonhoeffer, Carl
 Friedrich von Weizsäcker u. a. weiter geführt wurde.
 Globalisierung und Fortschrittsdenken hängen eng zusammen mit einer spezifischen
„Ökonomie der Zeit", die in spezifisch europäischen Entwicklungen das
 Zeitbewusstseins geprägt hat: Die europäische Entwicklung ist nämlich, anders als
 andere Religionen, geprägt von zwei mythischen Zugängen zur Zeit: vom
 apokalyptischen Denken einerseits und der Utopie andererseits. Die jüdische (und
 später islamische) Apokalyplik war die Erwartung der Vollendung der Geschichte durch
 Gott am Ende der Zeit, im Zusammenhang mit dem iranischen Dualismus
 metaphysisch interpretiert. Das heißt, nach einem Untergang des Bestehenden sollte
 ein messianisches Reich des Friedens und der Gerechtigkeit unter Herrschaft Gottes
 kommen. Doch dies war kein „Fortschritt", denn Subjekt dieser Geschichte war Gott
 allein: Der Mensch könne die Ereignisse allenfalls befördern oder verzögern durch
 sein gottgemäßes bzw. gesetzwidriges Verhalten. Gleichwohl war mit dieser Denkform
 ein Zeitpfeil in die Geschichte eingezogen. Diese Denkform finden wir heute
 keineswegs nur marginal, sondern im Mittelpunkt des Denkens amerikanischer
 fundamentalistischer protestantischer Bewegungen.
 Die Begegnung der Kulturen zeigt Alternativen kultureller Wertemuster und
 Lebensformen auf. Vergleichbarkeit ermöglicht, dass eigene Mängel und Sehnsüchte
 kompensatorisch auf andere Kulturen übertragen werden. Die Zeitfreiheit der
 buddhistischen Meditationserfahrungen, integrierte Sozialbezüge der indischen,
 chinesischen oder afrikanischen Großfamilie, die in lokalen Wirtschafts-Kreisläufen
 begründete Selbstversorgung indischer dörflicher Gesellschaften, die „ganzheitliche
 Medizin" asiatischer oder afrikanischer Herkunft im Unterschied zur kaum mehr
 finanzierbaren Hochtechnologie-Medizin des Westens, all dies lässt rational
 verantwortete Alternativen zum Fortschrittsideal des Westens erscheinen. Genau dies
 ist der Ort der vielen alternativen Religionsbewegungen in westlichen Ländern. Dabei
 ist allerdings zu klären, ob und wie Fortschritt als Freiheit bzw. Befreiung des
 Menschen in anderen Kulturen gedeutet wird und inwiefern diese Konzepte bei der
 Selbstidentifikation sozialer Schichten in den Kulturen Asiens, Afrikas, Südamerikas
 und anderswo eine Rolle spielt. Sind die aus den Religionen bekannten Alternativen
 tatsächlich nur auf die religiös-kulturelle Identitätsgebung beschränkt, oder prägen sie
 mehr oder weniger auch den wirtschaftlichen und politischen Alltag in den
 betreffenden Ländern? Haben sie geschichtlich aufweisbare Auswirkungen auf die
 Ursprungkulturen des westlichen Fortschrittsmythos? Wie sind die Amalgame in hochindustrialisierten
 Ländern zu interpretieren, die nicht auf der europäischamerikanischen
 Mentalitätsgeschichte gründen, wie z. B. Japan, Taiwan, Singapur,
 Korea, die urbanen Subkulturen Indiens, Lateinamerikas und auch Afrikas sowie auch
 der arabischen Welt? Hier gibt es Verstehensbedarf, und wir müssen diese
 schwierigen Fragen für die Zukunft der Religionen offen lassen.
 Ich möchte ein Phänomen ansprechen, was gerade mit den Pluralisierungen, aber
 auch mit der Marginalisierung ganzer Bevölkerungsgruppen zusammenhängt: die
 Angst. Es geht mir hier nicht um eine Phänomenologie der Angst, sondern um das
 Verstehen der Ängste, die mit dem Zusammentreffen der Kulturen ausgelöst werden
 und das heutige weltweite politische Klima zunehmend prägen. Diese Ängste haben,
 wie mir scheint, drei Wurzeln: Identitätsverlust, Machtverlust und – wie schon
 angemerkt – ökonomische wie kulturelle Marginalisierung.
 Identitätsverlust entsteht dann, wenn man vertraute Lebensmuster verliert, die einst
 Halt boten, selbst wenn sie als repressiv empfunden wurden. Wir wissen, dass das
 Unbekannte oder Unsichere noch unerträglicher ist als die Repression. Identität ist
 aber nicht statisch, sondern immer im Werden. Um diese Prozesse bewusst erleben
 zu können, bedarf es der Bildung, d. h. der Kenntnis der eigenen wie der anderen
 Traditionen sowie der Kenntnis der Durchdringung verschiedener Traditionen in
 Geschichte und Gegenwart. Auf Identitätsverlust, der nicht verstanden wird, und die
 damit verbundene Angst vor Orientierungslosigkeit reagiert das Individuum mit
 Aggression und Gewalt.
 Machtverlust ist mit der Pluralisierung von Gesellschaften unweisweichlich für die
 Institutionen verbunden, die bisher die Dominanz der Definition in Bezug auf Werte
 und Religion hatten. Anstelle des Machtmonopols tritt der dialogische Diskurs. Diesen
 institutionell zu organisieren, ist bisher nicht hinreichend gelungen. Es bedarf dafür
 lokaler, nationaler und internationaler Institutionen. Wenn dies nicht gelingt, wird die
 Angst wachsen und damit Aggressionen und Gewalt.
 Ökonomische und kulturelle Marginalisierung betrifft die Mittel- und Unterschichten
 ganzer Kontinente. Die ökonomische Asymmetrie in einzelnen Ländern wie auch
 zwischen unterschiedlichen Staatengruppen ist offenkundig und muss hier nicht erörtert
 werden. Die kulturelle Marginalisierung betrifft zunehmend auch die Gebildeten in
 Gesellschaften, die durch strukturelle Ungleichgewichte die Teilhabe am öffentlichen
 Diskurs verhindern. Dies kann politisch, ökonomisch oder auch organisatorisch
 bedingt sein, etwa Kontrolle der Medien durch Bürokratien. Es sind die kulturelle
 Marginalisierten, die sich nicht artikulieren können, und die ökonomisch
„Überflüssigen'", die in abgrenzenden Fundamentalismen subkulturelle Sicherheit
 suchen. Ängste der Marginalisierung erzeugen ein schwer einschätzbares
 Gewaltpotential.
 Es handelt sich gegenwärtig nicht um einen Kampf der Kulturen, sondern um den
 Kampf gegen Identitätsverlust, Machtverlust und ökonomische wie kulturelle
 Marginalisierung. Dem kann, wie mir scheint, durch gezielte kulturelle, politische und
 ökonomische Entwicklung entgegengetreten werden. Ein wesentlicher Faktor ist dabei
 die Bildung.
 Vom Iran bis nach Südafrika, von China bis in die arabische Welt, von Indien bis
 Indonesien entstehen nationalistisch-religiös motivierte Abgrenzungsbewegungen, die
 als Fundamentalismen ja nur ganz unzulänglich beschrieben wären. Sie sind
 Versuche, der Globalisierung entgegenzutreten. In diesen Ländern, die von Verarmung,
 Korruption, Misswirtschaft und Gewalt geprägt sind, wird Globalisierung schlicht und
 einfach als Schrecken erlebt. Die Menschen fühlen sich dem Zugriff von
 internationalen Finanzoligarchien ausgesetzt. Die kulturell-religiöse Abgrenzung ist
 der verzweifelte Versuch, wenigstens in einem Bereich des sozialen und politische
 Lebens Subjekt zu seine. Bis hin zu Gewalt und Terror versucht man alles, um der
 wirtschaftlichen und eben auch kulturellen Enteignung entgegenzutreten. Das ist kein
 Kampf der Kulturen oder Religionen, sondern in fast allen Fällen der Aufstand gegen
 die Ratlosigkeit und Verzweiflung, der von Diktatoren und Gewalttätern in diesen
 Ländern selbst für deren jeweilige machtpolitische Zwecke ausgebeutet wird.
 Das bedeutet: Religion ist, wie alles Geschichtliche, nicht gegeben, sondern wird
 erzeugt von Menschen, die den Diskurs um Religion führen. Religion entsteht jeweils
 neu in dem Kontext, in dem sich Menschen auf sie berufen bzw. in dieser Aneignung
 ihre individuelle und kollektive Identität finden. Religion ist im Werden. Religion ist
 nicht eine abstrakte Ansammlung von humanistisch vertretbaren Leitmotiven, sondern
 gemeinsames Ringen um Dialog statt Kampf, wobei die eigene Identität nicht gegen,
 sondern in Partnerschaft mit dem Anderen erstritten werden muss.
 Das „Böse", das Angst und Gewaltbereitschaft erzeugt, erscheint nicht nur als Gewalt,
 sondern bereits zuvor in Gestalt von Dummheit, Egozentrizität und Trägheit. Unter
 Dummheit verstehe ich die Dumpfheit oder Unfähigkeit, größere Zusammenhänge
 wahrzunehmen, zu erkennen und entsprechend zu handeln. Dummheit ist nicht nur ein
 intellektueller Mangel, sondern eine bornierte Beschränktheit des Besserwissens, ein
 Mangel an Kreativität und das Fehlen von Neugierde überhaupt. Sie ist die Unfähigkeit,
 offen dafür zu sein und womöglich zu akzeptieren, dass die Argumente und
 Entscheidungen des Anderen, ja sein gesamter Lebensentwurf, seine Religion, auch
 richtig sein können. Egozentrizität ist das meist angstgesteuerte Anhaften am eigenen
 Ich, das sich abgrenzen zu müssen meint, um bestehen zu können. Natürlich ist Ich-
Abgrenzung ein wesentlicher Aspekt der psychischen Entwicklung jedes einzelnen
 Menschen, doch dabei stehen zu bleiben bedeutet die geistige und soziale Erstarrung.
 Wir haften in diesem Sinne am Ich an, weil wir die Dummheit nicht überwinden. Der
 Buddhismus hat diesen Mechanismus genau beschrieben und gezeigt, wie daraus
 Hass und Gewalt bzw. Gier und Eifersucht entstehen. Diesen Mechanismus genau zu
 durchdacht und Gegenmittel entworfen zu haben, ist einer der Hauptgründe dafür,
 dass der Buddhismus gerade in der westlichen Welt heute so viele Anhänger findet.
 Trägheit ist das Festhalten am Gewohnten, die wenig flexible Starre dessen, der so
 denkt, fühlt und handelt, weil er immer so gedacht, gefühlt, gehandelt hat. Träge ist,
 wer sich nicht wandeln kann. Hinter dem „man" der Trägheit verbirgt sich Feigheit
 davor, gegen den Strom zu schwimmen. Trägheit ist letztlich auch ein Mangel an
 Humor, ein Mangel an Selbsterkenntnis, die eine gewisse Distanz zu den eigenen
 vorläufigen Lebensmustern und –meinungen, auch zur eigenen Religion, erlaubt. Dies
 gilt ebenso für die Wahrnehmung anderer Menschen. Dummheit, Egozentrizität und
 Trägheit sind ein Mangel an Weisheit. „Gute Religion" strebt danach, diesen Mangel
 zu überwinden.
 Eine Überwindung dieses Mangels ist nur möglich durch Dialog, d. h. durch die
 bewusst gesuchte Gemeinschaft mit anderen Menschen und die Bereitschaft,
 gegenseitig voneinander zu lernen. Dialog aber ist abhängig davon, dass sich die
 jeweiligen Partner gegenseitig als Quellen von Erkenntnis betrachten lernen. Bloße
 Toleranz im Sinne des gleichgültigen Geltenlassens genügt nicht. Ich muss mich auf
 die Andersartigkeit des Anderen einlassen und den Ausdruck der Würde des anderen
 Menschen bzw. der anderen Kultur nicht nur in der Ähnlichkeit zum Eigenen, sondern
 gerade durch die Andersartigkeit der anderen Kultur und Religion akzeptieren
 können. Mir scheint nun aber eben auch, dass dazu gehört, die letztgültigen Ziele,
 Hoffnungen und Erwartungen einer anderen Religion als möglicherweise gültig
 akzeptieren zu lernen. Wenn ich nämlich den Anderen nur in seinem weltlichen Bezug
 ernst nehme, verfehle ich gerade sein Tiefstes, seine eigentliche Motivation und
 Lebensmitte. Die aber ist Gott oder das Transzendente. Behaupte ich, dass nur mein
 eigener Weg, meine Religion, mein Dogma zum Leben in seiner letztgültigen
 Dimension, zum Heil, taugt, dann spreche ich dem Anderen letztlich doch seine Würde
 ab. Denn die Würde kann nicht nur an ein abstraktes Menschsein gebunden werden,
 sie muss sich prinzipiell auch auf die kulturellen und religiösen Ausdrucksformen des
 Menschseins beziehen können, denn in diesen Ausdrucksformen äußert der Mensch
 sein schöpferisches Inneres. Voraussetzung für einen wirklichen Dialog ist also, dass
 ich es für möglich halte, dass der Andere durch seine Religion zum Heil gelangen
 kann.
 Das ist zwar eine prinzipielle Voraussetzung, die aber nicht besagt, dass nicht um die
 Wahrheit gestritten werden muss. Im Gegenteil: Wo wir einander ernst nehmen,
 schulden wir auch einander die ungeteilte Wahrhaftigkeit. Das Leben ist komplex,
 Einsichten und Analysen sind es auch. Daraus folgen Widersprüche um das Erkennen
 und das Handeln. Das rational nachvollziehbare und konsistente Argument muss
 gelten, wo es um die Austragung von Differenzen geht, sonst nichts. Alle Religionen
 und Kulturen müssen anerkennen, dass Argumente zählen und ernst genommen
 werden, von wem sie auch kommen. Nur dann kann eine produktive Streitkultur
 entstehen, die bitter nötig ist. Denn sie allein kann Probleme lösen und gleichzeitig die
 Versuchung zur gewaltsamen Verdrängung des je Anderen vermeiden.
 Wenn das, was ich zur Identitätsbildung und Überwindung von Angst sagte, richtig ist,
 so ist Dialog unmittelbar abhängig von gerechten wirtschaftlichen Beziehungen
 zwischen armen und reichen Völkern und zwischen armen und reicheren Gruppen
 innerhalb einzelner Völker. Denn diese Gerechtigkeit ist Voraussetzung dafür, dass
 eine Seite nicht auf Kosten der Anderen lebt und sich – kulturell – ihre Identität durch
 Verdammung des Anderen erwirbt. Es gibt aber auch eine kulturelle Enteignung, die
 den Anderen nicht gleichberechtigt zu Wort kommen lässt, sondern marginalisiert.
 Eine Religion, die zukunftsfähig sein soll, deckt solche Zusammenhänge als der
 Würde des Menschen widersprechend auf. Um diesbezügliche Gerechtigkeit, die
 denen, die entwürdigt werden, vorenthalten wird, geht es nämlich in vielen der
 heutigen blutigen Religions- und Kulturkonflikte.
 Wir brauchen zum Dialog eine Geisteshaltung, die das Vorläufige aller menschlichen
 Erkenntnis ertragen und mit Gelassenheit sich selbst und anderen gegenüber Fragen
 stellen und zuhören kann. Mir scheint, dass eine solche Geisteshaltung, die die eigene
 Tradition dankbar als Grund und Nährboden annimmt, aber nicht zur
 Ausschließlichkeit stilisiert und damit aus sich selbst einen Götzen macht, dass eine
 solche Haltung in den sogenannten mystischen Traditionen der Religionen angetroffen
 werden kann. Denn mystische Erfahrungen weisen über jede abgegrenzte
 Wirklichkeitserfahrung hinaus. Sie sind demzufolge inklusiv – sie "umarmen" den
 Anderen, insofern er oder sie anders ist, ohne dass dadurch die jeweils eigene oder
 die andere Identität bedroht würde. Dies ist möglich, weil in mystischen Erfahrungen
 der Zwang zur Ich-Stabilisierung oder zur Gruppen-Stabilisierung durch
 Identitätsstreben aufhört, da die Identitätsgewissheit als ankommende Gabe oder
 Gnade erfahren wird. Der Mystiker kann also angesichts der Andersartigkeit des
 Anderen deshalb heiter und gelassen bleiben, weil er in allem die Präsenz Gottes/des
 Absoluten wahrnimmt, so dass ihn die Andersartigkeit des Anderen bereichert, nicht
 aber Abwehrmechanismen oder Konversionsgelüste aktiviert.
 Hier besteht das Desiderat von Bildung im nationalen wie im weltweiten Maßstab. Es
 geht darum, Bewusstseinsschulung zu ermöglichen, durch die der Mensch lernt, die
 genannten Ängste zu überwinden und dialogfähig zu werden. Alle Kulturen haben dazu
 Potentiale, die weltweit vernetzt werden können und sollen. Dies ist die Alternative
 zum Fundamentalismus.
 Vom Heiligen Augustinus ist folgendes Wort überliefert:
„Im Notwendigen – Einheit,
 im Fraglichen – Freiheit,
 in allem aber: Liebe.
 Was notwendig und was fraglich ist, muss im Geiste des gleichberechtigten Respekts
 auf der Grundlage der Liebe, d. h. der primären wechselseitigen Abhängigkeit aller
 Lebewesen, und der Güte, jeweils neu ausgehandelt werden. Das Bewusstsein für
 diese Aufgabe unter dem letztgültigen Horizont der Liebe wach zu halten, ist die
 Aufgabe der Religion. Ohne Kultivierung einer solchen Geisteshaltung wird wohl keine
 interreligiöse Verständigung oder gar Praxis der Einheit der Menschheit erreicht
 werden können. Eine solche Praxis – ich wiederhole – schließt eine Streitkultur nicht
 aus, sondern ein, wo es um Gerechtigkeit und Menschenwürde geht. Eine gute
 Streitkultur bedeutet aber, Identitätsstreben nicht von offenen oder verdeckten
 Machtansprüchen abhängig zu machen, damit jeder Partner mit gleichen Rechten und
 Verpflichtungen in den Diskurs eintreten und in gegenseitiger Akzeptanz denselben
 auch wieder würdevoll verlassen kann.
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