Manfred Lütz: Irre oder ganz normal? Über den Umgang mit psychisch Kranken
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SWR2 Wissen: Aula - 
 Sendung am Freitag, 01.01.2010, 08.30 bis 9.00 Uhr
 Autor: Dr. Manfred Lütz *
 Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
 Sendung: Freitag, 1. Januar 2010, 8.30 Uhr, SWR 2
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 Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
 ÜBERBLICK
 Wir sperren sie weg, weil sie uns verunsichern und Angst machen: die Schizophrenen, die Paranoiden oder die Manisch-Depressiven. Und wir stempeln diese Menschen als unnormal ab, obwohl wir intuitiv wissen, dass es nur eine schmale Grenze zwischen den Normalen und den angeblich Verrückten gibt. Deshalb stellt sich ja auch immer wieder die Frage: Wer ist in unserer Gesellschaft eigentlich verrückt, und besteht unser Problem nicht in der selbstverordneten Normalität? Manfred Lütz, Psychiater, Psychotherapeut, Theologe und Bestsellerautor, wirft einen ungewohnten, teilweise sogar humoristisch-ironischen Blick auf das Thema und zeigt, dass wir die Falschen behandeln.
 * Zum Autor:
 Manfred Lütz, geboren 1954, Studium der Humanmedizin, katholischen Theologie
 und Philosophie, 1979 Approbation als Arzt, danach Diplom in katholischen
 Theologie; 1989 Facharzt für Nervenheilkunde, 1991 Facharzt für Psychiatrie; seit
 1997 Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln.
 Bücher (Auswahl):
 - Irre - Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere
 Seelenkunde. Gütersloher Verlagshaus.
- Das Leben kann so leicht sein. Lustvoll genießen statt zwanghaft gesund. Carl-
Auer-Systeme Verlag.
- LebensLust. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und Fitness-Kult.
 Pattloch-Verlag.
 - Der blockierte Riese, Psycho-Analyse der katholischen Kirche. Pattloch-Verlag.
 INHALT
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 Ansage:
„Irre oder ganz normal – Über den Umgang mit psychisch Kranken“, das ist das
 Thema der ersten Aula im neuen Jahr.
 Wenn uns heute Nacht Außerirdische beobachtet hätten, hätten die wahrscheinlich
 gedacht: Diese Erdlinge sind ganz schön meschugge, ballern rum, betrinken sich und
 singen.
 Haben Sie etwa Recht? Sind wir Normalen die eigentlich Verrückten und wissen es
 nicht einmal? Sind wir Normalen auch deshalb verrückt, weil wir die angeblich
 Verrückten wegsperren, weil sie uns verunsichern und Angst machen mit ihren
 Psychosen oder Depressionen?
 Manfred Lütz würde all diese Fragen beantworten, denn er meint: Es gibt nur eine
 ganz schmale Grenze, die verrückt von normal trennt. Er als Psychiater,
 Psychotherapeut und Theologe weiß, was wir alles von den Verrückten lernen
 können. Was genau, das schildert er nun in der SWR 2 Aula mit einem
 Augenzwinkern, und er bezieht sich auch auf sein neues Buch „Irre, wir behandeln
 die Falschen“.
Manfred Lütz:
 Wenn ich tagsüber als Chefarzt eines großen psychiatrischen Krankenhauses mit
 meinen liebenswürdigen Patienten zu tun habe – mit rührenden Demenz-Kranken,
 mit sensibeln Schizophrenen, dünnhäutigen Süchtigen, erschütternd Depressiven,
 hinreißenden Manikern – und ich komme abends nach Hause und sehe die
 Nachrichten im Fernsehen, dann sehe ich da Kriegshetzer, Wirtschaftskriminelle,
 rücksichtslose Egomanen. Da kommt einem schon manchmal der ketzerische
 Gedanke, möglicherweise behandeln wir die Falschen, unser Problem scheinen die
 Normalen zu sein.
 Andererseits habe ich den Eindruck, dass die Öffentlichkeit über psychische
 Erkrankungen eigentlich wahnsinnig wenig weiß. Ich halte im Krankenhaus vor dem
 Küchenpersonal immer einen Vortrag: die ganze Psychiatrie in zwei Stunden, alle
 Diagnosen, alle Therapien, das Ganze ein bisschen lustig. Dann lachen die immer
 und meinen: „Das geht doch gar nicht, Herr Doktor“. Und dann sage ich: „Die
 Psychos sollen sich nicht immer so wichtig tun, natürlich geht das.“ Ich finde es
 unheimlich, wenn jemand in der Psychiatrie arbeitet und sich gar nicht damit
 auskennt. Womöglich denkt er, die Patienten sind alle ganz merkwürdig, was wird da
 wohl alles passieren! Hier ist Aufklärung wichtig.
 Wenn man bedenkt, dass ein Drittel der Deutschen irgendwann im Leben einmal
 psychisch krank ist, dann ist dringend Aufklärung erforderlich im Bereich der
 psychischen Krankheiten, doch hier gibt es eine große Lücke. Die Regale in
 Buchhandlungen quillen über mit Psychologie-Literatur, wie man psychologisch gut
 mit seinem Chef umgeht usw., aber die wirklich schweren psychischen Krankheiten:
 Schizophrenie, Depressionen etc. kennen die Menschen nicht. Deswegen wollte ich
 auf 185 Seiten mal die gesamte Psychiatrie und Psychotherapie, alle Diagnosen, alle
 Therapien unterhaltsam und allgemeinverständlich darstellen.
 Ich habe mein Buch lesen lassen von Deutschlands bekanntesten Psychiatern, die
 fanden das gut, aber auch von unserem Metzger, und der fand das ebenfalls
 verständlich. Und das war Ziel des ganzen Projekts. Das Ziel ist auch, dass im Fall
 Enke zum Beispiel die Öffentlichkeit besser aufgeklärt sein müsste. Es war
 beeindruckend, dass seine Frau und der behandelnde Psychiater vor die Presse
 gegangen sind und mal aufgeklärt haben. Wenn schon zu diesem Zeitpunkt die
 Menschen über Psychiatrie soviel Bescheid gewusst hätten wie über innere Medizin,
 wenn man gewusst hätte, eine phasenhafte Depression klingt auch wieder ab und
 dann ist man wieder gesund wie zum Beispiel nach einem Rheumaschub, dann wäre
 es vielleicht auch Robert Enke leichter gefallen, sich anderen Menschen mitzuteilen.
 Mein Wunsch ist, dass ein alerter Manager, der nie ein Psycho-Buch lesen würde,
 dieses Buch einfach mal zur Hand nimmt, weil er gehört hat, es sei ein Bestseller und
 ganz unterhaltsam, und am Schluss seinen schizophrenen Vetter anruft, weil er
 festgestellt hat: „Der ist gar nicht so verrückt, wie ich gedacht habe.
 Man muss ja sagen, der ganz normale Wahnsinn sind nicht die Verrückten, das sind
 nicht die psychisch Kranken. War Hitler verrückt? Hitler war natürlich nicht verrückt.
 Wenn Hitler verrückt gewesen wäre, hätte man mit ein paar Medikamenten und ein
 bisschen Arbeitstherapie für einen arbeitslosen Künstler in München Millionen Tote
 verhindern können. Aber Hitler war natürlich nicht verrückt. Hitler war normal,
 schrecklich normal, er war böse, er war ein Verbrecher. Psychisch Kranke können
 gar keine Kriege führen, weil sie die Ausdauer dafür im Grunde gar nicht hätten.
 Es gibt aber nicht nur den ganz normalen Wahnsinn, es gibt auch die wahnsinnig
 Normalen. Das sind die Mitläufer, die es zu allen Zeiten gegeben hat, die auch bei
 Diktatoren mitlaufen. Und auch heute gibt es diese Ritter der political correctness, die
 uns alle in Meinungsuniformen prügeln wollen, so dass man gar nicht mehr man
 selbst sein kann. Und es gibt den ganz normalen Blödsinn. Keiner meiner Patienten
 ist so abgedreht wie Dieter Bohlen und keine meiner Patientinnen so
 übergeschnappt wie Paris Hilton. Aber Paris Hilton und Dieter Bohlen sind natürlich
 gar nicht behandlungsfähig, weil sie normal sind.
 Oft bestehen Normale auf ihrer Normalität. Ich habe nicht selten mit Paartherapie zu
 tun. Zerstrittene Paare kommen zu mir, und oft sagte die Ehefrau ganz am Anfang zu
 mir: „Wissen Sie, Herr Lütz, ein psychisches Problem haben wir nicht. Unser Problem
 wäre gelöst, wenn mein Mann einsehen würde, dass ich recht habe.“ Und der Mann
 meint, auch gleich am Anfang: „Ein psychisches Problem haben wir nicht. Unser
 Problem wäre gelöst, wenn meine Frau wieder tun würde, was ich sage, wie das
 früher einmal war.“ Als Therapeut sind Sie da in einer schwierigen Situation. Sie
 wollen beide auf Ihre Seite ziehen, im besten Fall verbünden sich beide gegen Sie,
 dann haben Sie wenigstens die Ehe stabilisiert. Dieses Bestehen darauf, normal zu
 sein, die Tyrannei der Normalität, prägt ein bisschen unsere Gesellschaft. Was aber
 ist eigentlich wirklich verrückt?
 Als ich anfing in der Psychiatrie, war ich ganz erschüttert nach einem Gespräch mit
 einem katholischen Psychiater, ein sehr netter, kompetenter, der mir sagte: „Wissen
 Sie, was ich am Heiligen Franz von Assisi so bewundere ist, dass der mit seiner
 Schizophrenie so gut klar gekommen ist.“ Darüber war ich total erschrocken. Ich
 dachte, wenn die so bedeutende Leute wie Franz von Assisi für verrückt erklären,
 dann werde ich lieber Chirurg oder noch Schlimmeres. Dann habe ich mir aber
 überlegt, na ja, Franz von Assisi hat tatsächlich in dem kleinen Kirchlein San
 Damiano in der Nähe von Assisi eine Stimme vom Kreuz gehört, die ihm gesagt hat:
„Bau meine Kirche wieder auf“, und er hat das kleine Kapellchen wieder aufgebaut.
 Wenn in der Nähe meines Krankenhauses heutzutage ein junger Mann, der sich
 gerade mit seinem Vater verkracht hat, in abgerissenen Klamotten ein kleines
 Kapellchen wieder aufbauen würde, das ihm gar nicht gehört, und die Polizei fragt
 ihn: „Warum machen Sie das hier?“, und er würde sagen: „Ich hab eine Stimme vom
 Kreuz gehört“, dann hätten wir wahrscheinlich bald wieder ein belegtes Bett.
 Oder auch nicht. Denn ich habe mir damals überlegt, was heißt das eigentlich? Wird
 hier nicht die Psychiatrie hybride, überschreitet sie nicht ihre Grenzen? Wenn es
 früher nur Menschen gegeben hätte wie Franz von Assisi, wäre die Psychiatrie nie
 erfunden worden. Franz von Assisi war ein außergewöhnlicher Mensch. Aber die
 Psychiatrie ist erfunden worden, weil Menschen gelitten haben. Wenn man unter
 seiner Außergewöhnlichkeit leidet, dann ist man krank und dann versuchen Ärzte, mit
 Diagnosen zu helfen. Diagnosen auf Leute anzuwenden, die nur außergewöhnlich
 sind, ist ein Missbrauch von Diagnosen. Franz von Assisi war gesund, um das klar zu
 sagen. Man sagt auch, Genie und Wahnsinn lägen nahe beieinander. Das stimmt
 überhaupt nicht. Es gibt natürlich psychisch Kranke, die genial sind. Aber die sind
 genial trotz ihrer Erkrankung, nicht wegen ihrer Erkrankung. Das ist schon ein
 Unterschied. Salvatore Dali hat einen Aufsatz geschrieben über das Recht auf
 Verrücktsein. Salvatore Dali war sehr merkwürdig, außergewöhnlich, ein brillanter
 Künstler. Aber er war natürlich nicht wirklich psychisch krank.
 In meinem Buch gibt es ein Kapitel über die Geschichte der Psychiatrie. Die
 Psychiatrie gibt es noch nicht so lange, ein bisschen weniger als 200 Jahre. Die
 deutsche Psychiatrie hat die psychischen Erkrankungen in drei große Gruppen
 eingeteilt: die organischen Störungen, das sind die Störungen des Organs Gehirn;
 dann gibt es das, was man früher Geisteskrankheiten nannte: Schizophrenie und die
 manisch-depressive Erkrankung; und die Variationen seelischen Wesens: die
 Persönlichkeitsveränderungen, Neurosen, Süchte usw. Aber wichtig ist es mir zu
 sagen, es gibt gar keine Diagnosen, es gibt keine Schizophrenie, es gibt keine
 Depression. Es gibt nur Menschen, die leiden. Das Wort Schizophrenie, das Wort
 Depression ist von Psychiatern erfunden worden, damit man diesen Menschen auf
 eine ganz spezifische Weise helfen kann. Der Sinn der Diagnose ist nur die
 Therapie. Das hat schon Aristoteles gesagt. Unser Problem ist, dass wir einen
 utopischen Gesundheitsbegriff haben. Die Weltgesundheitsorganisation hat einmal
 definiert, Gesundheit sei völliges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden.
 Das ist natürlich überhaupt nicht erreichbar. Und Klaus Dörner hat einmal in einer
 überregionalen Tageszeitung zusammengerechnet, wie viel Prozent der Deutschen
 psychotherapiebedürftig sind. Das sind seriöse Zahlen. Darunter fallen Menschen mit
 Panikattacken, Angststörungen usw. Und dabei kam raus: 210 Prozent der
 Deutschen sind Psychotherapie bedürftig, also krank! Deswegen brauchen wir
 Zuwendung, sage ich dann immer scherzhaft.
 Natürlich ist nicht jedes Tränchen gleich eine Depression, und es ist sehr wichtig,
 dass wir nicht aus jeder Befindlichkeitsstörung große Diagnosen basteln. Im Zweifel
 ist ein Mensch vielleicht merkwürdig wie ich und Sie, aber im Zweifel sind wir gesund.
 Ein wichtiger Gesichtspunkt der modernen Psychiatrie und Psychotherapie ist, dass
 wir schauen, was ist eigentlich das Gute am Schlechten? Was ist das Gute an der
 psychischen Erkrankung? Natürlich ist die psychische Erkrankung ein Leiden. Aber
 sie hat auch positive Aspekte. Ressourcen-orientierte Sichtweise nennen wir das
 heutzutage. Die Kinderpsychiaterin Thea Schönfelder hat einmal gesagt: „Was mich
 von meinen psychotischen Mitmenschen unterscheidet, ist meine Fähigkeit, ihn heiler
 zu sehen, als er das selbst vermag.“
Wir können natürlich jede psychische Störung, aber auch jede psychisch gesunde
 Reaktion unter ganz verschiedenen Perspektiven sehen. Man kann den Menschen
 und seine Psyche unter biologischer Perspektive betrachten. Das ist völlig richtig.
 Alles, was der Mensch macht, was er denkt, was er gesund oder krank denkt, hat
 sicherlich irgendwelche biologischen Korrelate, irgendwelche Moleküle schlagen da
 Kapriolen im Gehirn – wenn ich mich freue zum Beispiel. Das gilt für alle psychischen
 Veränderungen. Und auch für die psychische Gesundheit. Man kann alles unter der
 lebensgeschichtlichen Perspektive beleuchten. Oder unter der Perspektive der
 frühen Kindheit, wie die Psychoanalyse das klassischerweise getan hat. Und man
 kann alles unter gesellschaftlicher Perspektive sehen, und auch das ist richtig und
 legitim.
 Die wichtigste Perspektive jedoch ist die Perspektive der Freiheit. Und die gilt auch
 für den psychisch Kranken. Manchmal ist seine Freiheit eingeschränkt, und die
 Aufgabe von uns Ärzten und Psychotherapeuten ist es, diese Freiheit wieder zu
 ermöglichen, dem Patienten nicht vorzuschreiben, was er zu tun hat mit seiner
 Freiheit, sondern ihn wieder frei zu lassen von seiner Erkrankung. Es ist mir sehr
 wichtig, dass auch bei uns im Krankenhaus das Ziel der Behandlung der Patient
 bestimmt und nicht wir Psychiater. Ich habe das lernen müssen, als ich als junger
 Assistenzarzt eine schizophrene Patientin behandelte, die Stimmen hörte. Ich hatte
 gelernt, dass man mit bestimmten Medikamenten diese Stimmen weg bekommt. Die
 Patientin bekam diese Medikamente, aber in zu geringer Dosis, wie ich fand. Ich
 habe die Dosis erhöht, kam nach drei Wochen wieder, und die Patientin schaute
 mich schon ganz verärgert an. Ich fragte sie, was denn los sei, ob die Stimmen weg
 sein. Sie sagte, immer noch verärgert: „Ja, das ist genau das Problem!“ Sie habe
 eine rührende Stimme von einer alten verstorbenen Lehrerin gehört, das habe ihr
 den Tag versüßt. Und jetzt plötzlich sei die Stimme weg. Es sei einfach eine
 Frechheit, was ich da gemacht hätte.
 Dann habe ich ein paar Mal überlegt, will ich jetzt eigentlich, dass ich ein toller Arzt
 bin, der alles weg macht, oder will ich tatsächlich einer Patientin helfen, glücklich zu
 leben? Und ich habe in diesem Fall tatsächlich mit Einverständnis der Patientin die
 Medikamentenration reduziert, so dass sie die Stimme wieder hören konnte. Die
 Patientin war chronisch schizophren und gar nicht richtig heilbar. Aber es ist wichtig,
 dass die Lebensqualität der Patientin gut ist.
 Damit komme ich zu Therapieformen: Psychoanalyse, Verhaltenstherapie,
 systemische Therapie usw., in all diesen Therapieformen arbeiten wir heute
 ressourcen-orientiert. Wir schauen auf die Kräfte. Als Laie würde man einen
 Patienten vielleicht fragen nach den Gründen für seine Depression, weil man denkt,
 da kann er alles mal rauslassen, dann ist das draußen – eine hydraulische Form der
 Depressionsbehandlung! Nur wird man dadurch die Depression möglicherweise
 sogar verstärken. Denn wenn ein Mensch eine dreiviertel Stunde lang das ganze
 Elend seines Lebens erzählt hat, dann geht es ihm nach dieser dreiviertel Stunde
 nicht besser, sondern jetzt geht es ihm richtig schlecht und er weiß zudem, warum.
 Sie haben also sozusagen die Symptomatik in der Vergangenheit auch noch
 verankert. Wir fragen aber vielleicht etwas wie: „Wie haben Sie es denn diese lange
 Zeit mit Ihrer Depression durchgehalten?“ Und der gleiche Patient wird ganz anders
 antworten. Er wird Ihnen sagen, dass er immerhin noch ein bisschen malen konnte,
 ein bisschen spazieren gehen, ein paar Freunde besuchen konnte – nicht soviel wie
 sonst, weil er ja depressiv ist. Das heißt, er wird Ihnen von dem erzählen, was ihn
 trägt, was ihm hilft. Denn womit wollen Sie denn Therapie machen, wenn nicht mit
 den Kräften des Patienten. Das liebevoll auszubauen, ist Sinn moderner
 Psychotherapie.
 Der genialste Psychotherapeut des 20. Jahrhunderts war der Amerikaner Milton
 Erickson. Milton Erickson saß schwer behindert im Rollstuhl, aber er hat deswegen
 die Fähigkeit entwickelt, Menschen genau zu beobachten, er hatte eine brillante
 Menschenkenntnis. Noch heute nimmt man Therapien von Milton Erickson zum
 Vorbild. Eines Tages kam eine junge Patientin zu ihm, legte ein Bündel Dollarnoten
 auf den Tisch und sagte, das sei ihr restliches erspartes Geld, dafür wollte sie nun
 bei ihm, dem berühmten Psychotherapeuten, Psychotherapie machen, und wenn das
 aufgebraucht sei, dann wolle sie sich umbringen. Es ist natürlich für jeden
 Therapeuten unmöglich, unter dem Damokles-Schwert des sicheren Selbstmords zu
 behandeln, aber Erickson hatte ja eine geniale Menschenkenntnis, und er nahm den
 Fall an.
 Die junge Patientin erzählte ihm, dass sie immer wieder Beziehungsstörungen habe.
 Gerade sei wieder eine Beziehung kaputt gegangen, sie habe auch den Eindruck, sie
 sehe abschreckend aus, sie hatte eine Zahnlücke. Die Kollegen am Arbeitsplatz
 beachteten sie gar nicht, der Kollege, mit dem sie zusammen im Büro arbeitete,
 behandelte sie sogar wie Luft, er grüßte sie noch nicht einmal. Als Erickson das
 gehört hatte, forderte er sie auf, mit ihm auf den Hof zu gehen; auf dem Hof war ein
 Brunnen. Er bat sie, Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen, es in den Mund zu
 nehmen und nun durch die Zahnlücke hindurch auf einen bestimmten Punkt zu
 spritzen. Die junge Frau tat das, und siehe da, sie hatte darin eine gewisse Fertigkeit
 erlangt, über mehrere Meter hinweg einen bestimmten Punkt in einem scharfen
 Wasserstrahl durch die Zahnlücke hindurch zu treffen.
 Erickson forderte sie nun auf, den Kollegen, mit dem sie in einem Zimmer arbeitete,
 plötzlich und unerwartet durch die Zahnlücke mit Wasser zu bespritzen und ohne
 weitere Erklärung den Raum zu verlassen. An dieser Stelle muss ich Ihnen vielleicht
 etwas erklären: Milton Erickson wusste, dass ein Mensch, der sich für abstoßend
 aussehend hält, auf andere Menschen auch nicht sehr attraktiv wirkt. Andererseits
 hatte er so eine Ahnung, dass die Tatsache, dass dieser Kollege sie nicht beachtete,
 sie besonders kränkte. Aber mehr wusste er natürlich auch nicht.
 Die junge Frau tat das, und zum ersten Mal kam es zu einem Gespräch zwischen ihr
 und diesem Kollegen. In der Folgezeit kam es häufiger zu Gesprächen, schließlich
 auch häufiger im privaten Rahmen. Die Therapie war längst beendet, als Jahre
 später ein Brief bei Milton Erickson eintraf mit einem Foto: eine glückliche
 amerikanische Familie mit vier Kindern, alle keep smiling, und man konnte deutlich
 sehen, zwei der Kinder hatten eine Zahnlücke. Und unter dem Foto stand: „As you
 see, Milton, two of my children are blessed with a space“ – „Wie du siehst, Milton,
 zwei meiner Kinder sind gesegnet mit einer Zahnlücke“.
Ich bin immer wieder gerührt, wenn ich von diesem Fall erzähle, weil die Zahnlücke,
 die beinahe Grund für einen Selbstmord gewesen wäre, zur Lösung wird, zum
 Segen. Das ist wirklich geniale Psychotherapie, und das hat Milton Erickson immer
 wieder verstanden.
 Psychotherapie ist natürlich immer eine künstliche Beziehung auf Zeit für Geld. Wer
 glaubt, in der Psychotherapie den Sinn des Lebens zu erfahren, der geht nicht zum
 Psychotherapeuten, sondern zu einem Guru oder so. Es heißt, Psychotherapie sollte
 möglichst kurz sein. Sie ist auch nur die zweitbeste Form der Kommunikation. Das
 beste Gespräch, auch für Schizophrene, ist ein Gespräch mit Metzgern, Bäckern,
 Verkäuferinnen. Erst wenn das nicht mehr geht, dann sind wir Psychos dran. Aber
 auch nur solange, bis dieses Gespräch wieder möglich ist, und darum müssen wir
 uns bemühen.
 Ich kläre im Buch noch ein bisschen über Psychopharmaka auf. Darüber herrschen
 ja heute auch dolle Vorstellungen. Man kann mit Psychopharmaka heute
 Depressionen heilen, die Schizophrenie heilen. Das wissen viele Menschen gar
 nicht. Nicht zu 100 Prozent natürlich, aber in sehr vielen Fällen. Und diese
 Medikamente machen gar nicht abhängig. Es gibt andere, die abhängig machen,
 aber die halten die Leute für harmlos: irgendwelche Schlafmittelchen oder so was.
 In meinem Buch stelle ich außerdem alle psychischen Erkrankungen dar, das will ich
 jetzt im Schnelldurchlauf Ihnen kurz vortragen: Es gibt die organischen Störungen.
 Dazu erzähle ich Ihnen eine Geschichte: Eine Ehepaar kam zu mir. Die Frau hatte
 ihren Mann gedrängt, mal bei mir anzurufen, weil er Alkoholiker sei. Sie kamen zu
 mir, der Mann druckste herum – eine ganz typische Situation, wie wir das kennen,
 und ich hatte in meinem Kopf schon ein Bett auf der Entgiftungsstation fertig. Dann
 bat ich die Frau nochmal raus, um den Mann körperlich zu untersuchen – das gehört
 zu einer psychiatrischen Untersuchung dazu. Und siehe da: auf der linken
 Körperseite hatte er gesteigerte Muskelreflexe. Das spricht dafür, dass im rechten
 Teil des Gehirns irgendetwas nicht stimmt. Ich habe ihn röntgen lassen und dabei
 kam heraus, er hatte einen Hirntumor, der Gott sei Dank gutartig und operabel war.
 Im Nachhinein habe ich dann die ganze Geschichte erfahren: Vor einem Jahr
 begannen bei dem Mann Konzentrationsschwierigkeiten. Deswegen hat er sich in
 den Frühruhestand begeben. Zuhause musste er dann immer für seine Frau
 einkaufen, das hatte er auch früher immer gerne getan, aber er vergaß jetzt immer
 sehr viel. Die Frau ärgerte sich und meinte, er höre ihr nicht zu. Er fing an, vermehrt
 Alkohol zu trinken, weil ihn das so traurig machte, und er merkte, dass durch den
 Alkohol auch die Kopfschmerzen, die er plötzlich hatte, weg gingen. Und so gab es
 einen Teufelskreis. Durch die Operation aber war der Alkoholismus plötzlich weg,
 nach einigen Monaten konnte er sich wieder konzentrieren, die Ehe war wieder
 stabilisiert.
 Daran sieht man, wie wichtig es ist, die richtige Diagnose zu finden. Ein Hirntumor
 kann alle psychischen Störungen imitieren wie ein Chamäleon. In diesem Bereich
 sind auch die Demenzen zu nennen. Ich finde es sehr wichtig, dass man respektvoll
 mit diesen Menschen umgeht. Im Medizinstudium befragte der Assistenzarzt einen
 Demenzkranken, der nur noch ein Sekundengedächtnis hatte und sofort vergaß, was
 er gerade gesagt hatte. Das wurde ihm aber zunehmend peinlich. Danach fragte ich
 den Assistenzarzt, ob man denn so eine Befragung überhaupt machen dürfe, wenn
 das evident ist, wie peinlich das dem Patienten ist. Daraufhin meinte er, der Patient
 habe das doch auch sofort vergessen. Aber das reicht für meine Begriffe nicht, denn
 der Moment ist für den Patienten eben peinlich, und das darf man nicht einfach so
 ausnutzen.
 Und deswegen habe ich mir angewöhnt, immer besonders höflich mit diesen
 Patienten umzugehen und die Leute auch nicht sofort nach dem Datum zu fragen
 oder wo wir uns befinden, um die Orientierung zu prüfen. Eine ältere Dame, die mit
 Verdacht auf Demenz zu uns kam, fragte ich, nachdem ich schon ein bisschen über
 ihre Lebensgeschichte erfahren hatte: „Sagen Sie mal, was haben wir eigentlich für
 ein Datum heute?“ Da kam wie aus der Pistole geschossen das richtige Datum und
 sie sagte dann: „Auch ein bisschen durcheinander, Herr Doktor!“ Das ist der Preis für
 eine gewisse Höflichkeit.
 Es gibt ein Kapitel „Firma, Frau und Führerschein“, in dem geht es um Sucht. Darin
 wird deutlich, wenn jemand bereit ist, seinen Beruf, seine Ehe, seinen Führerschein
 aufs Spiel zu setzen, dann sind das Kriterien dafür, dass er tatsächlich eine stärkere
 Beziehung zum Alkohol hat als zu seinem Beruf, zu seiner Frau und zu seiner
 Freiheit, die ja auch mit dem Führerschein verbunden ist. Das ist auch ein viel
 stärkeres Kriterien, um Menschen selbst klar zu machen, dass sie süchtig sind, als
 wenn man nur Laborwerte hat oder irgendwelche Mengen, die meistens sowieso
 nicht stimmen, wie sie genannt werden. Wir arbeiten heute in der Suchttherapie
 kooperativ, wertschätzend mit den Patienten und machen sie nicht dauernd runter.
 Wir versuchen auch da, den Patienten auf Augenhöhe zu begegnen und das Ziel die
 Patienten bestimmen zu lassen.
 Die Schizophrenie ist keine Persönlichkeitsspaltung, wie viele Leute glauben,
 sondern sozusagen eine Verunsicherung vom Kern des Ich her. Ich kann das hier
 nicht ausführlicher darstellen, aber wichtig ist zum Beispiel zu wissen, dass ein Drittel
 der Schizophrenen gesund wird. Das wissen die meisten Menschen nicht. Ich habe
 eine Gymnasiallehrerin behandelt, eine Religionslehrerin, die zwischenzeitlich
 dachte, sie sei der Prophet Jona. Nach sechswöchiger Behandlung war sie davon
 distanziert und wieder ganz normal und verstand gar nicht, warum sie so verrückte
 Sachen gedacht hat. Ein Drittel wird also wieder gesund, ein Drittel wird wieder
 berufsfähig, nur ein Drittel bleibt chronisch schizophren wie die Patientin, von der ich
 vorhin sprach, die die Stimme ihrer Lehrerin hörte, aber auch die können heute
 mitten in unserer Gesellschaft ein sehr gutes Leben führen.
 Und schließlich: himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt – da geht es um
 phasenweise schwere Depressionen, wie zum Beispiel Robert Enke sie wohl hatte,
 und um Manien. Maniker sind übertrieben heitere Menschen. Sie sind eigentlich
 sonst ganz normal, aber manchmal haben sie eine Phase, da gehen sie über Tische
 und Bänke – das fällt bei uns im Rheinland gar nicht besonders auf, wird in
 Westfalen aber immer stationär behandelt. Wir hatten ein Patientin, die war so
 manisch, dass sie sogar bei uns im Rheinland stationär behandelt werden musste,
 und als es ihr besser ging, bat sie um Ausgang im Krankenhausbereich. Ich fand das
 völlig in Ordnung, hatte aber dabei nicht berücksichtigt, dass der
 Krankenhausbereich für eine Manikerin erheblich weiter ist, als ich mir das eigentlich
 gedacht hatte. Nach etwa einer Stunde kam ein Anruf aus der örtlichen
 Bundeswehrkaserne, der wachhabende Offizier, mit den Nerven völlig am Ende,
 sagte, hier sei eine entlaufende Patientin von uns, die tanze zur Zeit auf dem Tisch
 des Wachhabenden, ob ich nicht ein paar Wärter (!) schicken könne, die die Patientin
 in die Anstalt – damit meinte der uns – zu verbringen. Bundeswehrdeutsch.
 Ich habe daraufhin die zartest gebaute Schwesternschülerin, 1,60 m und 40 kg, zur
 Bundeswehr geschickt, die hat die Patientin bei der Hand genommen und zu uns
 zurückgebracht. Die Patientin hat den Ausflug außerordentlich genossen, die
 Bundeswehr war mit den Nerven am Ende. Jetzt überlegen Sie mal: 500 bis an die
 Zähne bewaffnete Männer und eine unbewaffnete Patientin von mir – seitdem glaube
 ich nicht mehr an die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland!
 Dann gibt es noch ein Kapitel über menschliche Variationen wie Angststörungen,
 Zwangsstörungen, Essstörungen usw., auch über merkwürdige Persönlichkeiten,
 aber wichtig bleibt zum Schluss, dass nicht jeder, der leicht auffällig ist, gleich krank
 ist, und wichtig bleibt, dass wir psychisch Kranke besser kennenlernen, damit wir sie
 auch ins normale Leben wieder integrieren können.
 Und so möchte im am Schluss aus meinem Buch „Irre – wir behandeln die Falschen:
 Unser Problem sind die Normalen. Eine heitere Seelenkunde“ einen
 Schlussabschnitt vorlesen:
 Wenn man auf solche Weise erst einmal die unsichtbaren Schranken niedergelegt
 hat, die immer noch die Normalen von den anderen trennen, wird der Blick frei für
 diese liebenswürdige und bunte andere Welt, die chaotischer, aber auch
 phantasievoller, die erschütternder, aber auch existentieller, leidvoller, aber auch
 weniger zynisch ist als die glatt lackierte, allgemein herrschende Normalität.
 Da sind die ehrgeizigen, eitlen Erfolgsmenschen, die als Demente zum ersten Mal in
 ihrem Erwachsenenleben hilfsbedürftig, aber dadurch zugleich erstmals auch wirklich
 echt und anrührend wirken.
 Da sind die immer so korrekten, empfindsamen Süchtigen, die ihr Leben lang
 unermüdlich auf der Suche sind nach einem Menschen, der sie nicht mehr beschämt,
 verachtet, verletzt und die sich im Rausch hinaussehnen aus einer ihrer
 Empfindsamkeit so rücksichtslos zusetzenden Welt.
 Da sind die weisen Schizophrenen, die nicht bloß in einer, sondern in ganz vielen
 fantastischen Welten leben, die sich jeder uniformierenden Zudringlichkeit ihrer
 Mitmenschen höflich verweigern und ihr Geheimnis niemandem aufdrängen, die
 dünnhäutiger sind als andere, aber dadurch auch sensibler für manches, das uns
 nicht der Rede wert erscheint.
 Da sind die erschütternd Depressiven, die angstvoll ins existentielle Nichts starren,
 die für eine Zeit ihres Lebens unfähig geworden sind, ihren Blick von den alles in
 Frage stellenden Urerfahrungen des Menschen weg zu wenden. Von auswegloser
 Schuld, von existentieller Bedrohung, von hoffnungsloser Angst. Über sie hinweg
 tanzt eine Gesellschaft am Rande des Abgrunds, die blind ist für die wirklich
 wichtigen Fragen und diese Blindheit komischerweise für normal hält.
 Da sind die hinreißenden Maniker, die in ihrer prallen und unmittelbaren Vitalität
 mitten in eine in leblosen Riten erstarrte Normalgesellschaft hineinplatzen, die trotz
 all ihres Größenwahns ganz hemmungslos die Wahrheit sagen, so wie Kinder es
 manchmal tun, und dadurch plötzlich all die Verlogenheiten der Normalen
 spektakulär entlarven.
 Da sind die Menschen, die von Lebensereignissen aus der vorgezeichneten Bahn
 geworfen wurden und die nun angeschlagen und vom Leben gezeichnet ihren
 wirklichen Weg suchen, der oft durch Leidensphasen hindurch zu größerer Reife und
 tieferer Gelassenheit führt.
 Und da sind schließlich all diese schrillen Gestalten, die sich und andere immer
 wieder nachhaltig beunruhigen, die so gar nicht normal, aber auch nicht eigentlich
 krank sind. Sie bringen Farbe in ein dahinplätscherndes Leben. Das sind die
 Aufreger, die Übertreiber, die allzu kantigen Gestalten, an denen man sich
 gelegentlich verletzen kann und an denen man zugleich kaum vorbeikommt.
 Hat der liebe Gott diese Menschen mit dem gewissen Etwas wirklich geschaffen,
 damit man sich aufs Paradies noch freuen kann, weil es da keine solche
 Psychopathen mehr gibt? Oder ist es nicht vielleicht ganz anders und wir regen uns
 im Paradies bloß nicht mehr so auf? Vielleicht finden wir das ganz und gar
 Außergewöhnliche dann sogar gut? Vielleicht gibt es im Paradies ein lustiges
 Durcheinander von Schizophrenen, Manikern, Neurotikern und Psychopathen, aber
 niemanden mehr, der darunter leidet. Und vor allem keine Psychiater, die die Fülle
 des Außergewöhnlichen in biedere Diagnosen verpacken.
 Und wenn nicht das Gewöhnliche, sondern das Außergewöhnliche
 Ewigkeitscharakter haben sollte, dann mag es sogar sein, dass es im Himmel
 vielleicht überhaupt nichts Normales geben wird, sondern nur Originales. Nichts
 Serienmäßiges, sondern nur Echtes. Nichts Mittelmäßiges, sondern nur
 Staunenswertes. Dann hätte sich der Münchner im Himmel vielleicht so richtig
 wohlgefühlt und wäre nicht am ewigen Hallelujahsingen verzweifelt.
 Die Tyrannei der Normalität lebt von der großen Illusion der ewigen Weiterexistenz
 des Normalen und der Flüchtigkeit des Außergewöhnlichen. Dabei wird es wohl eher
 umgekehrt sein. Denn das Normale ereignet sich nicht, es ist nur der Hintergrund für
 das Eigentliche. Im Grunde existiert das Normale nicht, denn es hat keine Substanz.
 Die Frage nach der Ewigkeit stellt sich erst angesichts der Unwiederholbarkeit eines
 Menschen, und wer da genauer hinsieht, kann die Außergewöhnlichkeit eines jeden
 Menschen gewahren. Dann kommen in hellen Momenten sogar hinter dem Schleier
 der wohlanständigen Normalität all der Normopathen die längst vergessenen
 lebendigen Farben zum Vorschein. Und an diese einmaligen Färbungen erinnert
 man sich, wenn man sich an Menschen erinnert.
 Sind Sie selbst, werden Sie jetzt am Schluss vielleicht fragen, normal oder
 außergewöhnlich? „Wer hier normal ist, bestimme ich“, behaupte ich manchmal in
 meinem Krankenhaus, nachdem ich mich freilich gründlich vergewissert habe, dass
 die Zuhörer Humor haben. Ich erkläre also hiermit feierlich, dass ich Sie, lieber Leser,
 nicht für normal halte. Sie müssen nach meiner festen Überzeugung zur Gruppe der
 außergewöhnlichen Menschen gehören. Denn wer Bücher kauft, gehört schon zu
 einer Minderheit. Und wer Bücher sogar liest und sie nicht nur verschenkt, der ist nun
 wirklich nicht normal. Also keine Sorge! Wenn Sie es bis hierhin geschafft haben, ein
 Buch zu lesen, dann sind Sie ganz sicher nicht normal. Mit anderen Worten: Wenn
 es stimmt, dass unser Problem die Normalen sind, wegen Ihnen, lieber Leser, hat die
 Menschheit keine Probleme.