Ralf Caspary . Gespräch mit Stephan Lessenich: Leben auf Kosten anderer . Die Struktur der Externalisierungsgesellschaft


Diskurs SWR2-Kooperation A-Z > E
Externalisierung - Gesellschaft
-ds-swr2-aula17-1lessenich-externalisierungsgesellschaft
Ralf Caspary . Gespräch mit Stephan Lessenich: Leben auf Kosten anderer . Die Struktur der Externalisierungsgesellschaft
Gespräch mit Stephan Lessenich
Sendung: Sonntag, 29. Januar 2017, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary . Gespräch mit Stephan Lessenich
Produktion: SWR 2017 
http://www.swr.de/swr2/programm/
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Diskurspartner
Ralf Caspary
ist aufgewachsen in der Nähe von Düsseldorf und dann Frankfurt am Main. Nach dem Abitur Studium der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Mainz, 1989 Volontariat beim damaligen SWF. Caspary ist Redakteur in der Abteilung Wissenschaft und zuständig für die Sendungen "Aula" und "Impuls".
http://www.swr.de/swr2/programm/swr2-moderatoren-ralf-caspary/-/id=661104/did=2004682/nid=661104/1dhghzp/index.html
Prof. Dr. Stephan Lessenich
studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte an der Philipps-Universität Marburg und promovierte 1993 zum Dr. rer. pol. Seit 2015 ist er Special Fellow der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft)-Kollegforschergruppe "Postwachstumsgesellschaften" am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena und seit dem Wintersemester 2014/2015 Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Soziale Entwicklungen und Strukturen an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er darüber hinaus seit 2016 als Direktor des Instituts für Soziologie agiert.Schwerpunkte seines Arbeitsgebietes sind u.a. die Theorie des Wohlfahrtsstaates, Vergleichende Makrosoziologie oder die Politische Soziologie.
Bücher (Auswahl):
- Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. München: Hanser Berlin, 2016- Theorien des Sozialstaats. Zur Einführung. Hamburg: Junius 2012
- Soziologie - Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte. Klaus Dörre, Stephan Lessenich, Hartmut Rosa. Unter Mitarbeit von Thomas Barth. Frankfurt am Main:Suhrkamp, 2009
- Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus. Bielefeld: transcript, 2008
http://www.stephan-lessenich.de

1
ÜBERBLICK
Wir lagern die sozialen und ökologischen Kosten unseres Wohlstands systematisch aus. Diesen Prozess beschreibt der Begriff "Externalisierung". Es wird dabei vom Zentrum in die Peripherie ausgelagert - von der entwickelten zur nicht entwickelten Welt. Wir beuten Rohstoffe in Afrika, Asien, Lateinamerika aus und lassen die Menschen dort mit den oft katastrophalen Folgen allein. Wir profitieren von Kinderarbeit, weil wir billige T-Shirts und ebenso billige Handys wollen, dabei blenden wir konsequent die sozialen und ökologischen Wirkungen unseres Handelns aus. Professor Stephan Lessenich, Soziologe an der LMU München, macht deutlich, warum es so nicht weiter gehen kann.

2
MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: "Leben auf Kosten anderer – Die Struktur der Externalisierungs-gesellschaft".
Es gibt ein neues Etikett für unsere Gesellschaft, nein, nicht Spaßgesellschaft, nicht Erlebnisgesellschaft, sondern dieses Mal Externalisierungsgesellschaft.
Der Soziologe Prof. Stephan Lessenich von der LMU in München hat uns das Etikett verpasst, er hat darüber ein Buch geschrieben, Titel: Neben uns die Sintflut, und ich begrüße ihn nun zum Aula-Gespräch, guten Morgen:
Gespräch:
Lessenich:
Guten Morgen, Herr Caspary.
Caspary:
Herr Lessenich, was bedeutet „Externalisierungsgesellschaft“ genau?
Lessenich:
Es bedeutet im Kern die Tatsache, dass Kosten ausgelagert werden. „Externalisieren“ heißt „auslagern“. Es geht um die Behauptung, dass die reichen Industriegesellschaften des globalen Nordens einen wesentlichen Teil der Kosten, der Lebensführung, der Arbeits-, Produktions- und Lebensweise, die in diesen Gesellschaften üblich ist, an andere Weltregionen und an andere Gesellschaften in anderen Weltregionen auslagern.
Caspary:
Beispiele dafür?
Lessenich:
Es gibt Beispiele zuhauf. Man kann beispielsweise die Auslagerung von schlechter Arbeit anführen: die umweltschädlichen, mit schmutziger Arbeit verbundenen Industrien, die es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch hierzulande gegeben hat. Diese Industrien sind mittlerweile abgewandert, ausgelagert in andere Weltregionen, beispielsweise in Südostasien. Wir bekommen das ab und an mit, wenn eine Textilfabrik in Südostasien abbrennt und es dann hunderte Tote gibt. Diese, so wie sie dort betrieben wird, umweltschädigende und mit schlechter Arbeit versehene Industrie haben wir nicht mehr hier, die haben wir ausgelagert. Das sind niedrigproduktive Industrien. Die hochproduktiven Industrien sind hier geblieben, wie beispielsweise die Verarbeitung von Rohstoffen. Wir sind keine Agrargesellschaft mehr, wir lassen riesige Flächen anbauen, beispielsweise für die Sojaproduktion in Argentinien. Dafür geht jährlich ungefähr die Größe des Landes Hessens „drauf“, um Deutschland mit Soja und ähnlichen Produkten zu versorgen, die hier dann weiterverarbeitet werden. Wir lagern beispielsweise auch unsere Flächen aus, die für uns bewirtschaftet werden.
3
Caspary:
Was hat es genau mit Kosten zu tun, wenn wir diese Flächen zwecks Sojaanbau oder Sojaproduktion auslagern?
Lessenich:
Die Sojaproduktion verursacht dort, wo sie stattfindet, beispielsweise in Argentinien, sehr hohe Kosten, die uns womöglich nicht bewusst sind. Oder – und das ist noch eine weitere Form der Externalisierung – um die wir nicht wissen wollen: Argentinien hat sehr stark auf den Weltmarktbedarf, wesentlich der reichen Industriegesellschaften, umgestellt; früher Viehwirtschaft, mittlerweile sehr stark Sojawirtschaft. Das trägt dort zu einem guten Teil der Steuereinnahmen bei, es fallen dort Gewinne an. Aber diese Sojaproduktion ist erstens extrem herbizid- und pestizidintensiv. Wir haben hier in Deutschland zur Kenntnis genommen, dass es so etwas wie Glyphosat gibt, als davon Spuren im Bier und in der Muttermilch gefunden wurde. Dieses Glyphosat wird in Argentinien in vielen tausenden Tonnen jedes Jahr benutzt, um die Sojaproduktion anzuheizen. Es werden bäuerliche Ökonomien zerstört, es werden Länder enteignet, teils legal, teils halblegal, es findet Stadtflucht statt. Das Land wird also von denen verlassen, die in diesen riesigen monokulturellen Anbaugebieten für ihre ehemalige, bäuerliche Landwirtschaft keinen Platz mehr finden. Es fallen dort viele ökologische, soziale Kosten, zum Teil auch ökonomische Kosten, als Folgen davon an. Die argentinische Wirtschaft steht und fällt mit dem Weltmarktpreis für Soja, der wiederum mit abhängig ist von großen Konzernen, die in der Regel ihren Sitz in den westlichen Industriegesellschaften haben, die machtvolle Positionen – eine große Marktmacht haben – , um entsprechende Preise zu bestimmen. Es gibt also auch eine große Abhängigkeit der entsprechenden Ökonomien von dieser Produktion, und ein Großteil der Kosten werden eben dort getragen.
Caspary:
Sie meinen also hauptsächlich ökologische Folgekosten, die wir uns hier einsparen, indem wir sie auslagern?
Lessenich:
Ich meine ökologische Folgekosten, aber auch Gesundheitsschädigungen. Es gibt in Argentinien mittlerweile entsprechende bürgerschaftliche Organisationen, die aufdecken, welche Gesundheitsschädigungen für die Landbevölkerung mit dem ständigen, massiven Pestizid- und Herbizideinsatz einhergehen. Das sind starke Gesundheitsschädigungen. Und es sind auch die Veränderungen der Sozialstrukturen vor Ort, also einer bäuerlichen Struktur. Dafür ist Argentinien ein Beispiel, dafür sind viele andere agrarische Regionen Beispiele , wo im Auftrag und für den Bedarf der westlichen Industriegesellschaften produziert wird.
Es sind nicht nur ökologische Kosten, die ausgelagert werden. Aber auch. Dass hierzulande der Himmel über der Ruhr oder woanders wieder blau ist, hierzulande in den Flüssen geschwommen werden kann und Stadtstrände angelegt werden können, hängt damit zusammen, dass die umweltschädigende, umweltverschmutzende Produktion anderswo stattfindet, wo die Flüsse umkippen und wo der Himmel – das wissen wir aus medialer Berichterstattung – nicht blau ist, sondern schwefelgelb.
Caspary:
4
Sie haben die Sojaproduktion oder die Produktion von billigen T-Shirts ins Feld geführt. Könnte man zynisch sagen: „Externalisierungsgesellschaft ist die Folge von Firmen, die möglichst viel Profit machen wollen“?
Lessenich:
Ja, das ist auch richtig. Das ist ein Element der Externalisierungsgesellschaft. Die Externalisierungsgesellschaft, wie sie hierzulande betrieben wird, beruht auf einer bestimmten Einrichtung der weltwirtschaftlichen Verhältnisse: dem globalen Kapitalismus, wenn wir es einmal ganz grob sagen wollen, also es geht auch um ein bestimmtes Welthandelsregime, um bestimmte machtvolle Positionen in diesem Weltwirtschaftssystem, um bestimmten Staaten, aber eben auch um privatwirtschaftliche Akteure. Klar sind es Unternehmen, Konzerne, auch Finanzakteure, die eine sehr große Rolle spielen und in einer machtvollen Position sind, um Handelsströme oder die relativen „Terms of Trade“ – also: „Wer kann was, für wie viel, gegen was eintauschen?“ – zu beeinflussen. Unternehmen und Konzerne spiele eine große Rolle. Meine These ist, dass es aber nicht reicht, auf die Unternehmen und Konzerne zu zeigen. Wir brauchen ein anderes Welthandelsregime, wir brauchen auch ein anderes Weltfinanzregime; aber es geht auch darum, inwiefern Durchschnittsbürger und –bürgerinnen dieses System faktisch mit stützen.
Caspary:
Indem sie billige Produkte kaufen?
Lessenich:
Als Konsumenten, aber eben auch als Arbeitende, die davon profitieren. In unseren Arbeitsbedingungen profitieren wir auch davon, dass wir hierzulande die Arbeit nicht leisten müssen, die anderswo geleistet wird. Niemand in dieser Gesellschaft wäre bereit, auch nur einen Tag unter Bedingungen zu arbeiten, wie sie in vielen Produktionsstätten des globalen Südens, auch jenseits der Agrarindustrie, in vielen industriellen Produktionsstätten an der Tagesordnung sind.
Caspary:
Gehört für Sie dazu auch Kinderarbeit in Minen in Südafrika, um seltene Metalle zutage zu fördern, die für unsere Handys gut sind?
Lessenich:
Ja, selbstverständlich. Die Handyversorgung hat ja mittlerweile den Status eines Grundnahrungsmittels. Die Produktzyklen werden kürzer und es werden dort massiv Rohstoffe gebraucht, auch für die gesamte Dienstleistungs- und Wissensökonomie, also all die Gerätschaften, die wir brauchen, um unsere vermeintlich immaterielle Arbeit zu leisten – Wissensarbeit, die auf Gerätschaften beruht, in die sehr viele Rohstoffe eingehen, die verarbeitet werden müssen. Selbstverständlich geht das von den seltenen Erden, über bestimmte Erze bis hin zu agrarischen Produkten. Soja beispielsweise dient auch als Biotreibstoff oder der Fleischproduktion und ist in fast allen Gütern des alltäglichen Bedarfs in irgendeiner mittelbaren Weise enthalten.
Caspary:
Mich erinnert das – auch die Theorie von Ihnen – an das Erbe des Kolonialismus. Kann man das sagen?
5
Lessenich:
Ja, selbstverständlich. Es ist ein Erbe des Kolonialismus. Im Grunde genommen hat meine These zwei Stränge: Einerseits ist es eine Strukturthese, die nicht neu ist. Die kritische Analyse von kolonialen Herrschaftsstrukturen oder von Ausbeutungsstrukturen auf weltgesellschaftlicher Ebene ist nicht neu. Insofern sind wir heute auch Erben des Kolonialismus. Diese Auslagerungsstrukturen haben sich über viele Generationen hinweg ausgebildet und in einer bestimmten Weise eingerichtet. Meines Erachtens haben unsere Austauschbeziehungen mit anderen Weltregionen heutzutage immer noch spätkoloniale oder postkoloniale Züge. Vieles an den Verwerfungen, die man in Ländern des globalen Südens feststellen kann, bis hin zu den sogenannten „failed states“ – also verschiedene Formen des Nicht-Funktionierens von politischen Einrichtungen oder von Verwaltungsinstitutionen – hat viel mit dem Erbe des Kolonialismus zu tun.
Der andere Strang ist eine gegenwartsbezogene These: Dieses über viele Generationen hinweg eingerichtete, arbeitende und uns so selbstverständlich gewordene System der Externalisierung zeitigt mittlerweile Folgen und produziert Kosten, die nicht mehr nur irgendwo anders anfallen, sondern zunehmend auch auf unsere Lebenswelt zurückschlagen. Die Folgeeffekte von Externalisierung, von Auslagerung von Kosten, kommen also langsam auf uns zurück.
Caspary:
Kann man sagen, die Externalisierungsgesellschaft befindet sich deshalb in einer Krise, an einem Wendepunkt? Das müssten Sie noch einmal konkretisieren: Was schlägt da auf uns zurück?
Lessenich:
Ob es schon ein Wendepunkt ist, das wird sich zeigen. Im Grunde genommen ist die These, dass zunehmend die Kosten nicht mehr verdeckt und versteckt bleiben, sondern – beispielsweise in Form des Klimawandels – auch zunehmend hier spürbar werden. Die Auslagerung von Umweltschäden ist zu sehen und diese paradoxe Situation, dass es in den Weltregionen, wo die Menschen einen sehr großen ökologischen Fußabdruck haben und sehr viele Ressourcen und sehr viel Landfläche verbrauchen usw., trotzdem wenig sichtbare und spürbare Umweltschäden gibt. Und umgekehrt in den Weltregionen, wo Menschen mit einem sehr kleinen ökologischen Fußabdruck leben– also sehr wenige Ressourcen dieser Erde verbrauchen – Flüsse umkippen und die Luft verpestet ist. Dieses Paradox schlägt langsam tatsächlich zurück. Das heißt, die Folgen unserer umweltschädigenden Produktions-, Arbeits- und Lebensweise kommen langsam, via Klimawandel, auch zu uns zurück. Ich würde vor allem sagen, dass die Flucht-Migrationen der letzten anderthalb Jahre auch ein Beispiel dafür sind, dass die Folgeschäden von Externalisierung auch in der Weise jetzt hierzulande wirksam werden, dass sie für Bewegungen von Menschen sorgen – einerseits wegen der Kriege, aber auch wegen der Ressourcenkonflikte usw.. All das trägt dazu bei, dass Lebenschancen anderswo systematisch zerstört, die Menschen dazu gezwungen und getrieben werden, ihre Heimat zu verlassen.
Caspary:
Sie haben gesagt: „Externalisierungsgesellschaft ist nichts Neues – in Form der Kritik und des Konzeptes – sie ist ein Erbe des Kolonialismus“. Es ist doch insofern, glaube ich, etwas Neues, dass der Begriff „Auslagerung“ bedeutet, dass wir auch Verantwortung auslagern, dass wir es uns eigentlich schön eingerichtet haben hier in
6
unserem Wohlstand. Kann man sagen, dass wir diesen Auslagerungseffekt zum Teil auch verdrängen?
Lessenich:
Ja. Ein Aspekt dazu: Kolonialismus hat sehr stark über offene Gewaltanwendung funktioniert. Das moderne System der Externalisierung, so wie es sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den reichen Industriegesellschaften entwickelt hat, beruht eher auf Recht als auf Gewalt. Die Verrechtlichung des Externalisierungsgeschehens ist etwas historisch relativ Neues. Welthandelsregime sind verrechtlichte Systeme, die aber trotzdem Ausbeutung befördern und praktizieren. Aber Sie haben vollkommen Recht: Auch relativ neu ist, wie effektiv wir in den letzten Jahrzehnten diese Auslagerungspraxis für uns selber ausblenden konnten. Das ist sozusagen noch einmal eine Externalisierung zweiter Ordnung, gleichzeitig sind wir in der Lage, unser Bewusstsein abzuspalten und auszublenden, auf welchen Voraussetzungen unsere Produktions- und Lebensweise beruht.
Caspary:
Ist das eine Art sozialpsychologischer Basis der Externalisierungsgesellschaft, würde sie sonst gar nicht funktionieren?
Lessenich:
Ich glaube schon, dass sie sonst nicht funktionieren würde. Ich bekomme viele Reaktionen auf diese These, die sagen: „Ja bitteschön, das wissen wir doch alle!“. Das ist in Ansätzen vielleicht richtig, ein Basiswissen dazu haben wir – wir kennen die Externalisierungsprozesse jetzt nicht in allen Verästelungen – , aber wir bekommen doch das Faktum der Auslagerung der Kosten, der Produktions- und Lebensweise immer einmal wieder mit. Aber wenn man wirklich in all den Lebensbereichen, in denen wir Kosten auslagern, immer direkt dafür die Rechnung bekommen und sehen würde, was eigentlich die Voraussetzungen dieser konkreten Form der Lebensführung sind, wenn wir das wüssten und an uns heranließen, dann könnten wir so nicht weiterleben. Deswegen ist diese Ausblendungs- und Verdrängungsleistung eine existentielle Notwendigkeit für große Bevölkerungsmehrheiten im globalen Norden.
Caspary:
Was sagen Sie vor dem Hintergrund Ihrer Theorie zu dem Engagement der Chinesen in Afrika, wo es den Chinesen hauptsächlich um Bodenschätze geht?
Lessenich:
Selbstverständlich. Die westliche Welt hat Standards gesetzt in Sachen industrieller Produktion, industriell gestützter Lebensweise und in dem Schaffen der Voraussetzung für diese Lebensweise. Im Grunde genommen geht von China jetzt die Bewegung aus, die von den westlichen Industriegesellschaften jahrzehntelang ausgegangen ist. Interessant ist ja, dass diese Vorgehensweise hierzulande so stark skandalisiert wird. Was von euro-atlantischen Gesellschaften über Jahrhunderte übliche Praxis war, wird jetzt von China aus betrieben, um die sich dort entwickelnde Formen der Lebensführung aufrecht erhalten zu können. Es werden Ländereien gekauft, um sich entsprechend die Rohstoffproduktion zu sichern. Das sind übliche Vorgehensweisen, wie sie die westlichen Industriegesellschaften an den Tag gelegt haben. China vollzieht jetzt in sehr hoher Geschwindigkeit die industrie-kapitalistische Entwicklung, die es in Europa seit Mitte des 19. Jahrhunderts gegeben
7
hat. Wenn man sich jetzt die rauchenden Schlote und die Umweltverheerungen vor Ort anschaut, sind das Zustände, wie man sie in Europa Mitte oder auch noch Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Regionen kannte. Wie sah es denn beispielsweise damals im Ruhrgebiet aus? In China wird, wie in den anderen aufstrebenden Ökonomien auch, eine Entwicklung nachvollzogen, und zwar aus guten Gründen. Denn es ist selbstverständlich nicht einzusehen, warum andere Gesellschaften oder Mehrheiten in diesen Gesellschaften nicht nach dem Lebensstandard und nach der Art und Weise der Lebensführung, die breite Mehrheiten in den westlichen Industriegesellschaften praktizieren und genießen, streben sollten.
Caspary:
Noch ein Beispiel: Shell-Konzern und Nigeria – typisch Externalisierung?
Lessenich:
Absolut. Auch ein sehr gutes Beispiel dafür, dass die Gesellschaften des globalen Südens nicht ausschließlich aus Verlierern bestehen, sondern dass es in diesen Gesellschaften politische und ökonomische Eliten gibt, die es schaffen, sich an diese Strukturen der Externalisierungsgesellschaft anzudocken. Das Beispiel von Nigeria, Shell und den Eliten vor Ort ist sehr gut belegt. Dort gibt es entsprechende Akteure, die es sich zu Nutzen machen, dass Shell eindeutige Interessen vor Ort hat. Wenn man sich nur Fernsehberichte über die Verheerungen vor Ort ansieht, wie dort Landschaft wirklich über Generationen hinweg zerstört worden ist, dann ist das ein klassisches Beispiel der Externalisierung. Niemand hierzulande, der Öl oder Benzin verbraucht, möchte auch nur etwas darüber wissen, auf welchen Voraussetzungen dies beruht.
Caspary:
Zynisch gefragt: Warum muss ich darüber etwas wissen? Denn: Wenn Sie sagen, in Nigeria profitieren die korrupten Eliten, dann ist das ja nicht unsere Sache, sondern die Sache des Rückstandes gewisser afrikanischer Länder in Bezug auf Zivilisierung, Demokratisierung usw.. Was haben wir damit zu tun?
Lessenich:
Zu sagen: „Naja, das ist halt so“ ist wiederum eine gängige Form der Externalisierung der Verantwortung. Dazu kann man einerseits sagen, dass das stimmt. Andererseits kann man sagen, dass das auch der Effekt von geschichtlichen Entwicklungen ist. Gerade dort vor Ort hat es der Kolonialismus verhindert, dass entsprechende Strukturen gewachsen sind, wie sie in Europa normal sind und wie wir sie jetzt von den dortigen Gesellschaften fordern. Und gleichzeitig heißt das trotzdem nicht, dass die reichen Gesellschaften sich der Verantwortung entledigen könnten, die Verhältnisse dort vor Ort tatsächlich zu verändern. Wenn ich jetzt sehe, dass Regierungsakteure aus Deutschland, aber auch von anderswo, nach Westafrika fahren, um Migrationspakte abzuschließen, dann geht es nicht darum, der Ölindustrie den Hahn abzudrehen oder tatsächlich für eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung vor Ort zu sorgen. Es geht im Wesentlichen darum, uns hierzulande vor den dortigen wirtschaftlichen Folgeeffekten zu schützen; dass die entsprechenden Gesellschaften die potentiellen Migrantinnen zurückhalten, die ansonsten an unsere Tür klopfen würden.
Caspary:
8
Ein Baustein einer Alternative könnte die Aufklärung über die Externalisierungsstrukturen sein. Wie funktioniert das und was passiert da?
Lessenich:
Deswegen sitze ich hier, deswegen schreibe ich etwas. Genau, Aufklärung ist ein Teil einer Gegenbewegung. Wir haben viele Organisationen, die Aufklärung betreiben – denken Sie an die Textilindustrie: Medico International – da gibt es viele Nicht-Regierungsorganisationen, die sehr viel Zeit, Ressourcen, Energie und Manpower reinstecken, um nicht nur darauf hinzuweisen, was dort vor Ort geschieht, nicht nur auf die Verbindungen, die es mit unserer Arbeits- und Lebensweise gibt, sondern auch um für Gegenmodelle zu streiten und dort die Verhältnisse zu verändern. Das ist ein wichtiger Baustein. Wichtigster Baustein, den die Wissenschaft liefern kann, ist Aufklärung, Beobachtung und das Schaffen eines kritischen Bewusstseins. Aber selbstverständlich reicht das nicht. Man muss ja überlegen, wie sich Wissen in Handeln übersetzen könnte. Einstweilen gibt es da eine hohe Hürde, eine riesige Schwelle zwischen dem Wissen um die gesellschaftlichen Verhältnisse und bestimmten weltgesellschaftlichen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten und dann dem Handeln. Wir kennen das auch aus dem Umwelthandeln: Wir wissen schon genau, was umweltpolitisch geboten wäre – und die Verkaufszahlen für SUVs und die Zahl der Kreuzfahrten im Mittelmeer nehmen in den letzten Jahren exponentiell zu.
Caspary:
Könnte es sein, dass diese Aufklärung nichts fruchtet, weil sie gerade mit moralischen Appellen arbeitet und diese nicht zur Veränderung der Handlung beitragen?
Lessenich:
Eventuell. Man müsste womöglich alternativ oder flankierend auf ein wohlverstandenes Eigeninteresse hinweisen. Wenn die Behauptung ist: Diese Kosten, die anderswo strukturell und systematisch erzeugt werden, schlagen langsam auch auf hiesige Lebenswelten zurück, dann könnte man im wohlverstandenen Eigeninteresse sagen: Wir müssten übereinkommen, die Kosten der Reproduktion unseres Lebens zu senken, damit wir nicht so viele dieser Kosten auslagern müssen; wir müssen dafür sorgen, dass anderswo weniger Kosten entstehen, die von uns ausgehen. Und wir müssten mit den Folgen, die wir jetzt schon gewärtigen, in einer vernünftigen Weise umgehen. Wir sehen gegenwärtig ja eher das Gegenteil: Impulse zur Abschottung gegen die Folgen und auch den Impuls, eher dann doch nicht hinzuschauen.
Caspary:
Wie sieht es mit einem „Wertekanon“ oder einer Art Verantwortungsethik aus? Wären das Bausteine auf dem richtigen Weg?
Lessenich:
Als Soziologe würde ich nicht auf die Verantwortungsethik gehen – als Moralphilosoph oder als Theologe unbedingt. Und ich glaube, das ist auch ein Baustein. Vieles von dem, was wir auf individueller Handlungsebene gegenwärtig sehen, also Fragen des ethischen Konsums – ich verbrauche weniger oder umweltbewusster – entspricht unterschwellig einer Verantwortungsethik. Aber das wird, fürchte ich, nicht reichen. Auch umweltschonendes Individualverhalten und
9
weniger Konsum im Rahmen des dem Individuum Möglichen würden es nicht richten. Wir müssten an die Strukturen ran, wir müssten an die Politik ran, die politisch handelnden Verantwortlichen; die müssten unter Druck gesetzt werden, entsprechend an den Strukturen etwas zu ändern. Das kann nicht nur über Marktsignale von Konsumenten passieren, sondern das muss über das politische Handeln der Bürger und Bürgerinnen selbst passieren.
Caspary:
Aber wir haben auf der politischen Ebene eine Art Zurückhaltung: „Lass die Weltwirtschaft einmal machen und lass die sich die Regeln selber geben. Wir wollen das nicht vorschreiben“. Ist es ein guter Weg, auf die Eigendynamik und Eigenverantwortlichkeit von wirtschaftlichen Strukturen zu setzen?
Lessenich:
Meines Erachtens ist das kein erfolgsversprechender Weg. Jedenfalls nicht, wenn man das Ziel hat, an den Externalisierungsverhältnissen tatsächlich etwas zu verändern. Wir leben vielleicht – hoffentlich – am Ende einer Phase, in der es das zentrale Rezept war, die Märkte das machen zu lassen, weniger politisch zu regulieren oder politisch so zu regulieren, dass die Märkte oder Akteure auf Märkten mehr Handlungsfreiheiten bekommen. Ich glaube, das ist kein gutes Rezept. Auch zeigt beispielsweise der Handel mit Verschmutzungsrechten, dass das dazu führt, dass nicht weniger verschmutzt wird, sondern, dass bestimmte machtvolle Akteure es einfach in der Hand haben, tatsächlich zu verschmutzen und sich dafür auch noch legitimieren können, weil sie dafür bezahlen. Das führt insgesamt nicht zu weniger Verschmutzung, sondern zur einseitigen Akkumulation von Verschmutzungsrechten. Das ließe sich in anderen Bereichen ähnlich nachvollziehen und ist meines Erachtens nicht die Lösung. Ich glaube, tatsächlich ist die Lösung: in vielen Bereichen stärkere Regulierung und in vielen Bereichen einfach auch Umverteilung.
Caspary:
Wo soll stärker reguliert werden?
Lessnich:
Es geht darum, die Arbeits- und Sozialstandards für Produktionen in anderen Ländern, in anderen Weltregionen, anzuheben, aber gleichzeitig müsste man auch Regulierungen vorsehen, wie man den Personen, die dort vor Ort nicht mehr in entsprechenden Industrien arbeiten können, ein entsprechendes Einkommen verschafft; wie man eine andere sozioökonomische Entwicklungsstrategie für die entsprechenden Länder befördert. Das heißt nicht, klassische Entwicklungshilfe, sondern für viele Weltregionen eine kluge Industriealisierungspolitik zu leisten. Wir können nicht davon ausgehen, dass wir weite Weltregionen auf dem Stand Deutschlands des frühen 19. Jahrhunderts halten, sondern wir müssen den Weg gehen, dass wir anderen Weltregionen Entwicklungschancen eröffnen. Aber in einer klügeren Weise, als es hierzulande der Fall gewesen ist. Und wir müssen hierzulande Verbrauchniveaus in jeder Hinsicht absenken. Das wird auch mit sinkenden Lebensstandards hierzulande einhergehen. Das wiederum hieße ein steigender Umverteilungsbedarf, von unten nach oben.
Caspary:
Banale Frage: Wäre das T-Shirt, das wir in Bangladesch produzieren lassen, für uns dann teurer, wenn Bangladesch einen gewissen Standard erreicht hat?
10
Lessenich:
Selbstverständlich wäre das T-Shirt teurer. Die Umwelt- und Sozialkosten in den Preis des T-Shirts einzupreisen hieße, dass wir auch hierzulande regulieren müssten, damit sich nicht nur die Reichen das T-Shirt leisten können, sondern es muss hier natürlich zu entsprechenden Einkommensumverteilungen kommen. Das heißt: Hier muss man vernünftig besteuern und auch Vermögen umverteilen. Das hieße aber auch – und das geht nicht nur über die Preise – , dass wir weniger T-Shirts verbrauchen dürfen. Es kann kein Symbol des guten Lebens sein, einmal die Woche das T-Shirt zu wechseln, und zwar nicht nur, indem man es wäscht, sondern indem man sich ein Neues kauft.
Caspary:
Wäre es ein richtiger Weg, dass wir jetzt alles selbst produzieren?
Lessenich:
Nein. Der Weg aus der Externalisierungsgesellschaft kann keine Abkehr von der Globalisierung in dem Sinne sein, sondern es muss eine andere Form der Globalisierung geben, eine andere Steuerung von Globalisierungsverhältnissen. Die Vorstellung, dass jegliche Form des Zurücks – sei es in der Migrations- oder der Produktionspolitik auf die national-gesellschaftliche Einheiten – das Problem lösen könnte, ist ziemlich illusorisch.
Caspary:
Sind Sie Utopist?
Lessenich:
Na klar.
Caspary:
Ich wünsche dem Buch viel Erfolg. Danke, Herr Lessenich.
Lessenich:
Dankeschön. Danke Ihnen.
*****