Dr. Sabine Skalla: DIN EN ISO / DIN-Norm für Kinder – Auf dem Prüfstand

SWR2 Wissen Aula -
Autorin: Dr. Sabine Skalla *
Sprecherin: Anja Brockert
Redaktion: Ralf Caspary
Sendung: Sonntag, 23. Oktober 2011, 8.30 Uhr, SWR 2
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ÜBERBLICK
Kindertagesstätte "Zwergenland" in Dortmund . In Deutschland herrscht auf dem Gebiet frühkindlicher Bildung eine Zertifizierungsmanie: Überall werden Kitas evaluiert, bewertet, verglichen und dann mit einer Note oder einem Gütesiegel versehen. Das soll einerseits den Eltern helfen, schnell gute Betreuungsplätze für ihre Kinder zu finden, andererseits soll das Verfahren der Qualitätsentwicklung dienen. Es gibt dabei nur einen Haken: Die meisten Verfahren kommen aus der Wirtschaft und berücksichtigen weniger spezifisch pädagogische Aspekte. Dr. Sabine Skalla, Politikwissenschaftlerin und Leiterin einer Integrationseinrichtung für Kinder, nimmt die Prüf- und Bewertungsverfahren unter die Lupe.

* Zur Autorin:
Dr. Sabine Skalla studierte Politische Wissenschaft, Journalistik und Pädagogik an der Universität Hamburg. Sie arbeitete mehrere Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin in multimedialen Projekten und war 16 Jahre Leiterin einer integrativen Kindertagesstätte in Hamburg. Außerdem lehrte sie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg in den Studiengängen „Erziehung und Bildung in der Kindheit“ und „Soziale Arbeit“. Promotion in Erziehungswissenschaft, das Thema ihrer Dissertation: Qualitätsentwicklung in Kindertagesstätten. Im Jahr 2011 erhielt Sabine Skalla einen Ruf an eine private Hochschule als Studiendekanin und Studiengangsleiterin für das Studienfach „Frühpädagogik“.

INHALT
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Ansage:

In Deutschland grassiert spätestens seit den PISA-Tests die Zertifizierungsmanie.
Überall sollen Schulen und auch Kindertagesstätten evaluiert, bewertet, verglichen und
effizienter gemacht werden. Es geht um Qualitätsmanagement und
Qualitätsentwicklung. Und wer jetzt an die Wirtschaft denkt und sagt: Moment mal, das
ist eigenartig, wie kann man ökonomische Verfahren auf Einrichtungen übertragen, die
mit Kindern und Pädagogik zu tun haben, da ergeben sich viele Probleme, der hat
Recht.
Warum, das sagt in der SWR2 Aula, Sabine Skalla. Sie ist Politikwissenschaftlerin, war
Leiterin einer Kindertagesstätte in Hamburg, und sie hat eine Dissertation im Fach
Erziehungswissenschaften genau zu diesem Thema geschrieben, zu Prüf-und
Bewertungsverfahren, die mit Pädagogik leider nichts zu tun haben.
Sabine Skalla:
„Kita XY zertifiziert nach DIN EN ISO“ – immer häufiger hängt ein solches Zertifikat an
den schwarzen Brettern von Kindertagesstätten und dient als Qualitätssiegel. In
Deutschland ist eine zunehmende Tendenz zu beobachten,
Qualitätsmanagementverfahren in Kindertagestätten zu implementieren. Diese
Verfahren stammen ursprünglich aus der Wirtschaft und werden in der Regel nach DIN
EN ISO, der europäischen und der internationalen Standardnorm, zertifiziert.
Diese Tendenz kann man vor allem bei den großen Wohlfahrtsverbänden beobachten –
der Arbeiterwohlfahrt, dem Roten Kreuz, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband und in
den kirchlichen Kindertagesstätten, die Mitglied im Caritas-Verband oder im
Diakonischen Werk sind. Im sozialen Dienstleistungsbereich dieser Wohlfahrtsverbände
ist der Sektor der Kindertagesbetreuung in der Regel nur eines von mehreren
Betätigungsfeldern. Auch die Altenpflege, die Betreuung von Menschen mit körperlichen
oder geistigen bzw. psychischen Beeinträchtigungen oder der Betrieb von
Krankenhäusern sind oftmals Bestandteil des sozialen Angebots.
Eine Verbesserung der Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsqualität in
Kindertagesstätten ist sicherlich sinnvoll, vor allem in Anbetracht der Erkenntnisse, die
wir in den letzten Jahren über Kinder und ihre Entwicklungspotenziale in der Zeit von der
Geburt bis zur Einschulung gewonnen haben. Der Gesetzgeber hat die Anwendung von
Qualitätsentwicklungsverfahren in Kindertagesstätten bereits verbindlich
festgeschrieben. Mittlerweile existiert eine unüberschaubare Anzahl von Anbietern
solcher Verfahren speziell für Kitas. Ebenso existiert eine Vielzahl unterschiedlicher
Qualitätsentwicklungsansätze.
Wem soll sie am Ende nutzen, die verbesserte Qualität? Naheliegend ist, dass es in
erster Linie um die Kinder gehen sollte, die die Kindertagesstätten besuchen. Betrachtet
man aber die Qualitätsmanagementverfahren etwas genauer, die bundesweit forciert
und verbreitet durch die Wohlfahrtsverbände in den Kindertagesstätten zur Anwendung
kommen, so kann man schon im Inhaltsverzeichnis der zumeist recht umfangreichen
Handbücher erkennen, dass kindbezogene Inhalte nur eines von vielen Themen sind.
Blättert man in den Qualitätshandbüchern, so kann man oft keine klare
Prioritätensetzung erkennen. Maßnahmenbeschreibungen für Notfälle, Festlegungen für
Einkäufe und Bestellungen, Marktanalysen oder Dokumentationsformblätter rangieren
meist gleichberechtigt neben der Sprachförderung oder der Zusammenarbeit mit den
Eltern. Verständlich wird dies, wenn man den Ursprung und die Funktion eines
Qualitätsmanagementverfahrens betrachtet: Es geht in erster Linie darum, sämtliche
Organisationsabläufe in den Blick zu nehmen und stetig zu verbessern.
Ihren Ursprung haben die Qualitätsmanagementverfahren in der Wirtschaft, genauer
gesagt in der Automobilindustrie. Später kamen sie dann in fast allen industriellen
Fertigungsprozessen zur Anwendung. Im Dienstleistungssektor wurden die aus der
Industrie stammenden Verfahren Anfang der 90er Jahre im Zuge des Wandels im
Gesundheitswesen zuerst in Krankenhäusern umgesetzt. Eine marktwirtschaftliche
Orientierung bzw. Prioritätensetzung wurde hierbei durch den Gesetzgeber
festgeschrieben.
Die Qualitätsmanagementmodelle heißen z. B. Total Quality Management (TQM) und
European Foundation for Quality Management (EFQM). Das TQM stammt aus den USA
und wird nach dem ehemaligen US-Handelsminister auch Malcolm-Baldrige-Modell
genannt. Im Mittelpunkt des TQM-Konzepts steht die Orientierung am Kunden und die
strukturierte Herangehensweise an die Unternehmensziele. Das EFQM-Modell, man
könnte sagen die europäische Variante des TQM, orientiert sich am TQM, bezieht
jedoch die Beschäftigten stärker ein. Bezogen auf den Humanfaktor Mensch muss im
Rahmen des europäischen EFQM-Konzepts neben der Kundenzufriedenheit auch die
Motivation und Beteiligung der Beschäftigten berücksichtigt werden. Da beide Modelle
keine Zertifizierung beinhalten, werden sie in der Regel mit der DIN EN ISO kombiniert,
denn deren Normvorschriften dienen vorrangig einer Zertifizierung. Die
Zertifizierungsanforderungen verlangen eine systematische Arbeitsweise, am Ende
eines solchen Prozesses stehen nachprüfbare und dokumentierte Qualitätsstandards.
Innerhalb des Unternehmens – sei es nun eine Automobilfirma oder eine Organisation
aus dem sozialen Sektor, wie z. B. eine Kindertagesstätte – geht es also darum,
sämtliche Arbeitsabläufe zu optimieren. Hierzu gehört, dass Mindestanforderungen
formuliert werden.
Doch wie gestaltet sich nun so ein Qualitätsmanagementprozess in einer Kita? Die
Dachverbände und ihre Kita-Fachberatungen lassen sich von Qualitätsmanagement-
Experten zunächst beraten, diese moderieren gegebenenfalls den Gesamtprozess.
Wenn die Themenpalette definiert ist, werden Qualitätszirkel zu allen Themenbereichen
eingerichtet, die die Kita betreffen. In diesen Qualitätszirkeln erarbeiten dann
verschiedene Berufsgruppen der Kita und des Dachverbands gemeinsam Standards
und Anforderungen für das betreffende Themenfeld.
Auf den ersten Blick ist dies eine basisdemokratische Vorgehensweise mit breiter
Beteiligung von Erzieher/innen, Kita-Leitungskräften, Fachberatungen und
Verbandsvertretungen. Zum Teil arbeiten auch Eltern in solchen Qualitätszirkeln mit. Im
zwei- bis dreijährigen Arbeitsprozess der Qualitätszirkel wird außerdem ein
Qualitätsmanagementhandbuch erstellt, in dem sämtliche Abläufe innerhalb der Kita
definiert und festgehalten sind und die entsprechenden Vorgehensweisen beschrieben
werden. Es wird eine teilweise unüberschaubare Vielzahl von Vordrucken,
Maßnahmeblättern und Formularen für die interne Dokumentation entwickelt, z. B. zum
Beobachten der Entwicklung von Kindern, dem Einkauf von Tintenpatronen für den
Büroalltag oder für die Audits, in denen festgelegt wird, auf welche Weise die
Überprüfung der definierten Standards erfolgen soll.
Die Erarbeitung des Handbuchs kann als sinnstiftendes, gemeinschaftliches Erlebnis
und Ergebnis gewertet werden, doch eine Kita-Mitarbeiterin hat durch ihre Teilnahme an
einem oder mehreren Qualitätszirkeln nur in einem kleinen Teilbereich mitgewirkt und
sich folglich thematisch auch nur mit einem Bruchteil des Gesamtwerks intensiv
beschäftigt. Wer die Standards für das Beschwerdemanagement definiert hat, mag auf
diesem Gebiet Expertin sein, doch zum Thema Sprachstandserfassung bei der
Aufnahme eines Kindes in der Kita bleibt zunächst nur, das hierzu im Qualitätszirkel
entwickelte Formular zu verwenden. Eine vertiefte Auseinandersetzung und Reflexion
der einzelnen Themengebiete ist allein aufgrund der Fülle der Themen nicht möglich.
Betrachtet man nun die Ergebnisse der Qualitätszirkel genauer, so kann man immer
wieder feststellen, dass in den Standards Selbstverständliches formuliert wird. Die
Zusammenarbeit mit Eltern ist beispielsweise in den Qualitätsmanagement-
Handbüchern der Kindertagesstätten ein Themengebiet, das in der Regel sehr
ausführlich behandelt wird. Man findet Formulare für Wartelisten, Checklisten für
Elternabende und Elterngespräche, aber auch Ankreuzbögen für Elternbefragungen.
In dem Handbuch eines Spitzenverbandes werden „Elterngespräche“ folgendermaßen
definiert, Zitat: „Elterngespräche sind der verbale Teil der Kommunikation zwischen
Eltern und Beteiligten der Kindertageseinrichtung, hierzu zählen insbesondere geplante
Elterngespräche, Tür-und–Angel-Gespräche, Telefonate und Sprechzeiten.“ Zitat Ende.
Diese Definition wird im Handbuch weiter spezifiziert. Es heißt: „Geplante
Elterngespräche haben die Entwicklung des Kindes oder andere vorbereitete Themen
zum Inhalt oder dienen dem Informationsaustausch. Sie werden durch die Einrichtung
oder Eltern initiiert.“ Als Ergebnis des Qualitätszirkels zum Thema „Elterngespräche“
werden im Handbuch der Standard und das Optimum definiert. Die formulierte
Standardanforderung lautet: „Einmal jährlich findet ein geplantes Elterngespräch statt.“
Auch das Optimum wird benannt. Es heißt dort: „Bei besonderen Anlässen finden
zusätzliche Elterngespräche statt.“
Ist es wirklich notwendig, solche Selbstverständlichkeiten zu definieren? Die Antwort
scheint banal, aber womöglich gehörten solche Kommunikationsformen bislang nicht
zum Kita-Alltag.
Ergebnisse wie die zu Elterngesprächen verweisen aber auch auf ein anderes Problem
der Qualitätszirkel. Die inhaltliche Arbeit eines Qualitätszirkels wird primär durch die
Teilnehmenden bestimmt. Die oft zufällig, wenn auch zumeist nach Interessen
zusammengekommenen Gruppenteilnehmer/innen müssen nicht zwangsläufig Experten
für das Themengebiet des jeweiligen Qualitätszirkels sein. Wer garantiert in solchen
Fällen, dass aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse in den Qualitätszirkeln zur Sprache
kommen und diese leitend für die Definitionen und Formulierungen der
Mindeststandards sind? Es bleibt mehr oder weniger beliebig, was die Mitwirkenden der
einzelnen Qualitätszirkel als Standard zur Qualitätsverbesserung in ihrer Arbeitsgruppe
festlegen, zumindest aber ist es abhängig von individuellem Fachwissen und
praktischen Erfahrungen.
Im Rahmen meiner Dissertation, die ich über Qualitätsentwicklungsverfahren in
Kindertagesstätten geschrieben habe, hat mir ein Verbandsvertreter, der für einen
Spitzenverband an einem bundesweit zum Einsatz kommenden Qualitätsmanagement-
Handbuch mitgewirkt hat, in einem Interview erläutert, dass es in diesem Verfahren nicht
mehr wichtig sei, mit welchen Methoden und welchen Inhalten die Standards erfüllt
werden. Relevant seien nur noch die Dokumentationen, die zeigen, dass die Kriterien
erfüllt werden. Bezogen auf das Elterngespräch aus dem zitierten Qualitätshandbuch ist
demnach dem pädagogischen Anspruch Genüge getan, wenn dokumentiert ist, dass
einmal jährlich ein Elterngespräch stattgefunden hat.
Die pädagogische Qualität in einer Kindertagesstätte soll mit den
Qualitätsmanagementverfahren optimiert und verbessert werden. Laut DIN EN ISO
9000 wird Qualitätsmanagement als „aufeinander abgestimmte Tätigkeiten zum Leiten
und Lenken einer Organisation bezüglich Qualität“ definiert. In den Normvorschriften der
DIN EN ISO 9000 werden die Grundlagen und Begriffe erläutert, die auch für die
Zertifizierung der Kindertagesstätten notwendig sind. Doch was ist mit Qualität gemeint?
Dazu gibt es eine Vielzahl von Definitionen. Die derzeit gültige für Qualität nach DIN EN
ISO 9000 ist der „Grad, in dem ein Satz inhärenter Merkmale Forderungen erfüllt.“ Diese
rätselhafte und zugleich hoch abstrakte Formulierung hat allerdings nichts gemein mit
pädagogischen Sprachgepflogenheiten. Selbst wenn man weiß, dass Inhärenz „einer
Einheit innewohnend“ bedeutet, also ein ständiges Merkmal wie die Breite und Höhe
des DIN-A-4–Blattes ist, wird nicht verständlich, wie man mit solch einer Definition in
einer Kindertagesstätte Qualitätsverbesserungen erreichen kann.
Dieses Beispiel für Definitionen nach DIN EN ISO macht ebenfalls deutlich, dass es sich
bei den Zertifizierungen und Qualitätsmanagementverfahren um stark formalisierte,
strukturierte und auf Standards abzielende Verfahren handelt. Doch auch andere
Definitionen von Qualität erscheinen wenig hilfreich, wenn man bedenkt, dass
Kindertagesstätten Orte sind, an denen Kinder spielen und sich bilden und Eltern und
Erzieher/innen, idealerweise in einer Erziehungspartnerschaft, die
Ansprechpartner/innen für die Kinder darstellen. Es existieren produktbezogene,
anwenderbezogene, prozessbezogene oder auch Preis-Nutzen-bezogene Sichtweisen
hinsichtlich der Qualität. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass der Begriff
„Qualität“ im sozialen Bereich erstmalig im Kontext von Sparreformgesetzen und
marktorientierten Steuerungsmodellen auftauchte.
Doch sind Kinder und ihre Familien wirklich Kunden? Nein, Kinder sind keine Einkäufer
und eine Kita ist weder ein Händler noch ein Geschäft. Beschritten ist er jedoch längst,
der Weg der Ökonomisierung in den Kindertagesstätten. In vielen Bundesländern und
Kommunen müssen die Kindertagesstätten heute wirtschaften wie ein Unternehmen,
auch Rücklagen für schlechte Zeiten sollen gebildet werden. Ja, vielleicht ließen sich
auch Profite erwirtschaften, wenn man immer mehr Kinder von weniger Personal
betreuen ließe. Doch diese Maßnahmen werden von Regierungsseite ohnehin schon als
Sparmaßnahmen verordnet – auf Kosten einer Investition in die verbesserte
pädagogische Qualität der Kitas. Kindertagesstätten konkurrieren heute miteinander,
und die scheinbar objektive ökonomische Logik hat zur Folge, dass das pädagogische
Handeln zunehmend von aus der Wirtschaft übernommenen Begrifflichkeiten und
Handlungsweisen bestimmt wird.
Man kann einen Qualitätsmanagementprozess in Kindertagesstätten nur mit externen
Beratern oder kommerziellen Unternehmen auf den Weg bringen, die ihre Dienste
Institutionen im sozialen Sektor anbieten. Dies stellt einen hohen Kostenfaktor dar, der
von Kleinsteinrichtungen oft gar nicht zu leisten ist. Neben den hohen Kosten, die auch
nach Abschluss des Prozesses für die regelmäßig zu wiederholenden Zertifizierungen
anfallen, stellen auch formale Anforderungen, die mit einem großen Arbeits- und
Zeitaufwand verbunden sind, die Qualitätsmanagementverfahren im Bereich der
Kindertagesstätten grundsätzlich in Frage.
Es mag sinnvoll sein, Abläufe in der Büroorganisation im Rahmen von
Dienstbesprechungen zu optimieren, und eine Checkliste kann für ein Elterngespräch
einen guten Orientierungsrahmen bilden. Dennoch werden die pädagogischen Inhalte
im Vergleich zu den formalen Anforderungen zunehmend zweitrangig. Für die
Beschäftigten einer Kindertagesstätte bedeutet Qualitätsmanagement zunächst einmal,
dass alles Schwarz auf Weiß dokumentiert wird. Auch wenn man die Interviews, die ich
im Rahmen meiner Dissertation geführt habe, sicherlich nicht als repräsentative
Erhebung werten kann, ist doch die immer wiederkehrende Betonung der immensen
Dokumentationspflichten auffällig. Die Auswirkungen möchte ich Ihnen anhand eines
Zitats aus einem der von mir geführten Interviews verdeutlichen. Eine befragte Kita-
Leiterin äußerte sich dazu folgendermaßen:
„Ja, wir haben uns einfach Zeit bei den Kindern gestohlen, muss man wirklich sagen.
Anders ging es ja gar nicht. Wie sollte ich es den Mitarbeitern verkaufen zu sagen: Ihr
packt eure Stunden oben drauf? Das geht nicht, somit haben wir sie bei den Kindern
weggenommen. Heute ist es so, dass unsere Qualitätsbeauftragte eine Wochenstunde
mehr hat als andere, um alles festzuhalten. Es wird alles festgehalten, sei es der
Pfarrbrief oder wann Druckerpatronen ausgetauscht wurden; alles solche Dinge.“
Egal ob es nun der Wechsel einer Druckerpatrone ist oder das Formular, das über den
Entwicklungsstand eines Kindes Auskunft geben soll. Ob die umfangreichen
Dokumentationen für das Praxisfeld einer Kita sinnvoll sind und den Kindern mehr
Anregungen und Entwicklungsmöglichkeiten bieten können, scheint äußerst fraglich.
Wenn, wie im Zitat eben geäußert, den Kindern Betreuungszeit genommen wird, muss
man umso deutlicher hinterfragen, wie ein solcher Qualitätsmanagementprozess die
pädagogische Qualität verbessern soll.
Wenn eine Kita nach DIN EN ISO 9001:2000 zertifiziert wurde, dann drückt die erste
Ziffernfolge die fortlaufend durchnummerierte Normvorschrift aus und die zweite Zahl
das Jahr ihrer Überarbeitung. Vielleicht kennen Sie die vielzitierte Kritik der
Schwimmweste aus Beton, die man mit dem DIN-EN-ISO-System theoretisch
zertifizieren könnte, auch wenn sie ihren Bestimmungszweck nie erfüllen könnte.
Es bleibt fraglich, ob mit einem Qualitätsmanagementverfahren pädagogische Prozesse
überhaupt verbessert werden können oder ob solche Verfahren nicht sogar schädliche
Auswirkungen auf sie haben können.
Beliebig oder gar schädlich? Für mich ist es unverständlich, warum ein
Qualitätsentwicklungsverfahren für Kindertagesstätten nicht in erster Linie kindorientiert
ist. Warum werden stattdessen Normvorschriften und Standardbeschreibungen in den
Vordergrund gerückt? Den Qualitätsmanagementverfahren fehlen die wesentlichen
bildungstheoretischen Grundlagen, die meines Erachtens nach die eigentliche Basis für
ein Verfahren zur Verbesserung der pädagogischen Qualität bilden sollten. In den
letzten Jahren wurden viele neue Erkenntnisse in der pädagogischen Forschung und
auch in benachbarten Wissenschaftsdisziplinen gewonnen. Beispielsweise entdeckten
Hirnforscher erst vor kurzer Zeit die Potenziale, über die Kinder bereits in der frühen
Kindheit verfügen. Die Synapsen im Gehirn bilden sich in den ersten Jahren sehr stark
heraus. Bereits Säuglinge kommen mit einer Basisausstattung zur Welt, mit der sie
differenziert wahrnehmen können. Sie können vertraute von nichtvertrauten Personen
unterscheiden, sie sind kommunikationsfähig und können sogar Töne imitieren. Und in
ihrem Gehirn werden die gemachten Erfahrungen individuell verarbeitet und
gespeichert. Auch die Art und Weise, wie Kinder lernen, konnte erst vor Kurzem neu
bestimmt werden. Man kann Kleinkindern nichts vermitteln oder beibringen, vielmehr
sind sie von Geburt an eigenaktive Lerner, die ihre Welt selbstlernend erkunden.
Demnach brauchen Kinder vor allem Anregungen. Gegenstände nach unterschiedlichen
Merkmalen zu sammeln, ordnen und zu sortieren, das sind erste mathematische
Grunderfahrungen die Kinder machen. Und wer einmal ein Quadrat mit Bauklötzen
geschaffen hat, bekommt eine Vorstellung von geometrischen Figuren. Beim Bauen und
Konstruieren müssen die Kinder vergleichen, Schlüsse ziehen und Gegenstände in
Beziehung setzen. Solche Erkenntnisse sollten im Kita-Alltag das pädagogische
Handeln der Erzieher/innen leiten. Ein Qualitätsentwicklungsverfahren, mit dem man die
pädagogische Qualität verbessern möchte, muss aktuelles Fachwissen einbeziehen.
Was braucht man, um Orte für Kinder so zu gestalten, dass die Kinder zu Forschern und
Entdeckern werden können, dass die pädagogischen Prozesse verbessert werden
können? Das pädagogische Personal sollte wissen, beobachten und reflektieren
können, wie Kinder lernen und sich bilden und welche Bedeutung soziale Beziehungen
und Bindungen in diesem Zusammenhang haben. Auch die Raumgestaltung und die
Auswahl von Materialien ist eine pädagogische Aufgabe, wenn man ein anregendes
Umfeld für Kinder und ihre Bedürfnisse gestalten möchte – damit sie ihre Erfahrungen
mit allen Sinnen machen können. Allein mit einer Bestellung aus einem
Kindergartenversandhandel kann man den Interessen der Kinder heute nicht mehr
gerecht werden.
Wenn man sich nun auf die Suche nach einem sinnvollen
Qualitätsentwicklungsverfahren begibt, sollte man darauf achten, dass ihm ein
bildungstheoretisches Fundament zugrunde liegt. Ebenso wenig darf man die
Zielgruppe aus den Augen verlieren, für die man die Qualität wesentlich verbessern
möchte – die Kinder. Sie sind diejenigen, an denen sich das Verfahren orientieren muss,
soll die pädagogische Qualität verbessert werden.
Betrachtet man die Personengruppen, die in der Kita eine wichtige Rolle für die Kinder
spielen, dann muss ein Qualitätsentwicklungsverfahren neben den Kindern auch die
Weiterbildung der Erzieher/innen in den Blick nehmen. In der Fachliteratur wird
wiederholt die fehlende Reflexionsfähigkeit der pädagogischen Fachkräfte in Kitas
bemängelt. Durch intensive Weiterbildungsmaßnahmen und Bildungsprozesse des
Personals kann eine neue pädagogische Qualität entstehen, in deren Rahmen die
Mitarbeiter/innen nicht mehr nur die bevorzugten Entwicklungsbögen zum Ankreuzen
verwenden und diese dann ohne weitere Konsequenzen im Aktenordner verschwinden
lassen. Sie könnten stattdessen durch das Wahrnehmen der Bildungsprozesse der
Kinder selbst viel Neues entdecken und sich in der Rolle als Bildungsbegleiter/innen neu
finden. Die Kooperation und Zusammenarbeit mit den Eltern spielt ebenfalls eine
wichtige Rolle, denn eine gelungene Erziehungspartnerschaft wird sich
entwicklungsfördernd auf das Kind auswirken.
Bleiben zuletzt noch die Kita-Leitungen, die Träger und Dachverbände, die für die
Schaffung von adäquaten Rahmenbedingungen, für die kontinuierliche Begleitung und
die Moderation der Qualitätsentwicklungsprozesse in der Kita zuständig sind. Hier
können ergänzend eine fachwissenschaftliche Begleitung oder auch
Weiterqualifizierungen und Umstrukturierungen im Träger- und Managementbereich
sinnvoll sein.
Es ist äußerst schwierig, im Dickicht der vielen Qualitätsentwicklungsverfahren ein
geeignetes zu finden, das in erster Linie kindorientiert und bildungstheoretisch fundiert
ist. Immer wieder stößt man auf Qualitätsmanagementverfahren, die Qualität mit
Standardbeschreibungen definieren oder durch Leitsätze bzw. Grundorientierungen
Reflexions- und Qualitätsverbesserungsprozesse initiieren wollen.
Am Schluss möchte ich Ihnen zwei positive Beispiele aufzeigen, wovon eines jedoch
eigentlich gar nicht als Qualitätsentwicklungsverfahren deklariert wird. Es handelt sich
dabei um das Konzept des Soziologen Hans-Joachim Laewen und der
Erziehungswissenschaftlerin Beate Andres, das im Rahmen des von ihnen gegründeten
Instituts infans, ein Institut für Angewandte Sozialisationsforschung und Frühe Kindheit,
entwickelt wurde. Es wird daher als Infans-Konzept bezeichnet.
Das Infans-Konzept nahm seinen Anfang als Modellprojekt „zum Bildungsauftrag von
Kindertagesstätten“ in den Bundesländern Sachsen, Schleswig-Holstein und
Brandenburg. Mittlerweile wird das Konzept in über 1.000 Kindertagesstätten erfolgreich
praktiziert und es ist zur Grundlage der pädagogischen Arbeit vieler Kindertagesstätten
in den Bundesländern Baden-Württemberg und Brandenburg geworden. Auch in der
Schweiz wird es derzeit, an die dortigen Bedingungen angepasst, in den ersten
Kindertagesstätten eingeführt. Den wesentlichen Kern des Infans-Konzeptes bilden die
Prozesse und Bildungsthemen der Kinder und die hierfür notwendigen
Qualifizierungsmaßnahmen für das Fachpersonal in Kindertagesstätten. In dem Infans-
Konzept geht es zunächst darum, dass die Erzieher/innen Ziele für konkretes Handeln
im Alltag mit den Kindern formulieren, die dann später regelmäßig reflektiert werden. In
einer Brandenburger Kita wurden unter anderem zum Aspekt „Kooperationsfähigkeit“
folgende Erziehungsziele vereinbart:
Wir greifen die Ideen der Kinder auf und unterstützen sie bei der Umsetzung.
Wir nehmen uns Zeit, wenn ein Kind uns etwas erzählen oder mitteilen will.
Im Laufe der Weiterbildung mit dem Infans-Konzept wird ein spezielles Beobachtungsund
Auswertungsverfahren eingeführt, bei dem die Interessen und Themen der Kinder
festgehalten werden und diese dann im pädagogischen Alltag von den Erzieher/innen
besonders berücksichtigt werden. Die pädagogischen Fachkräfte erlernen ebenfalls, die
Bildungsprozesse der Kinder kontinuierlich zu dokumentieren. Aber auch
organisatorische Rahmenbedingungen, wie z. B. Zeiteinteilung oder Teamarbeit sind
Bestandteile des Infans-Konzepts. Für die Implementierung des Infans-Konzeptes wird
von einem Zeitraum von ein bis anderthalb Jahren ausgegangen.
Das zweite Beispiel ist das Qualitätsentwicklungsverfahren eines Wohlfahrtsverbandes
in Hamburg, das SOAL-QE-Verfahren, welches unter der wissenschaftlichen Begleitung
des emeritierten Professors für Frühkindliche Pädagogik Gerd E. Schäfer von der
Universität zu Köln entstanden ist.
Das Qualitätsentwicklungsverfahren des Alternativen Wohlfahrtsverbandes SOAL e. V.
ist nicht nur eine Weiterbildungsmaßnahme für das pädagogische Personal in den Kitas
auf Basis einer bildungstheoretischen, kindorientierten Grundlage, der insgesamt
dreijährige Prozess schließt mit einer Zertifizierung ab. Alle zwei Jahre muss das
Zertifikat erneuert werden, in der Zwischenzeit müssen die
Qualitätsentwicklungsprozesse regelmäßig dokumentiert werden.
Die Erzieher/innen werden mit Handwerkszeug für die Gestaltung und die Reflektion des
pädagogischen Alltags ausgestattet. Dazu gehören auch Formen der Kommunikation
oder Konfliktlösungsstrategien. Die pädagogischen Fachkräfte erlernen
Analysemethoden, um Stressmomente im Alltag zu minimieren. Im Vordergrund des
SOAL-Verfahrens steht die Dokumentation der Bildungsprozesse der Kinder. Hierfür ist
es notwendig, dass sich die Erzieher/innen auch mit der eigenen Bildungs-Biografie
beschäftigen. Mit der Erstellung eines „Ich-Als-Kind-Buches“, bestehend aus Texten,
Erinnerungsstücken und Fotos, taucht man in seine eigene Kindheit ein.
Bei der Wahrnehmung der kindlichen Bildungsprozesse geht es in erster Linie darum,
ein wahrnehmendes und entdeckendes Beobachten zu erlernen, das nicht einordnet,
was man schon kennt, sondern durch das Kind etwas zu entdecken, was man noch
nicht kennt. Diese Wahrnehmungen sollen dazu dienen, weiterreichende
Bildungsanregungen für die Kinder zu schaffen. Hierfür beschäftigen sich die
Erzieherinnen mit speziellen Raumkonzepten und Materialangeboten, mit denen man
die kindliche Neugier herausfordern und Bildungsanregungen schaffen kann. In neu
gestalteten Kinderateliers, Bauräumen oder Bewegungsbaustellen probieren sich die
Erzieher/innen zunächst selbst aus und vertiefen dann im Rahmen des
Qualitätsentwicklungsverfahrens einen oder mehrere Bildungsbereiche, um Kindern als
kompetente Ansprechpartner/innen zur Verfügung zu stehen. Nach Abschluss des
dreijährigen Prozesses haben sich die pädagogischen Fachkräfte fachlich spezialisiert
und persönlich weiterentwickelt.
Wirft man abschließend einen Blick auf die aus der Industrie stammenden
Qualitätsentwicklungskonzepte, so ist es nur folgerichtig, den mittlerweile weit
verbreiteten Irrweg zu verlassen, den die großen Wohlfahrtsverbände mit ihren
Qualitätsmanagementverfahren in Kindertagesstätten eingeschlagen haben. Für wen
und auf welcher Grundlage soll die Qualität verbessert werden? Diese Frage muss neu
gestellt werden. Es ist zu beobachten, dass die Qualitätshandbücher für
Kindertagesstätten in aufwändigen, mehrjährigen Prozessen mit einem hohen Kostenund
Arbeitsaufwand entstehen, während das fertige Handbuch danach in der Regel
ungenutzt im Schrank verschwindet. Die notwendige Zeit, die unzähligen Formulare zu
bearbeiten, hat im Kita-Alltag aufgrund knapper Ressourcen ohnehin kaum jemand. Es
existieren aber, wie ich aufgezeigt habe, Alternativen, mit denen es tatsächlich gelingen
kann, die pädagogische Qualität, um die es eigentlich in einer Kindertagesstätte gehen
sollte, zu verbessern.

Dr. Michael Winterhoff: Kinder sind keine Partner . Kleine Narzissten . Warum unsere Kinder Tyrannen sind

SWR2 Wissen Aula -

Ralf Caspary im Gespräch mit Dr. Michael Winterhoff *

Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch

Sendung: Sonntag, 19. Oktober 2008, 8.30 Uhr, SWR 2

Bitte beachten Sie:

Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.

Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen

Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

 

AUTOR*

Dr. Michael Winterhoff, geboren 1955, studierte Humanmedizin in Bonn und ist als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie seit 1988 in eigener Praxis niedergelassen. Er befasst sich schwerpunktmäßig mit dem aktuellen Störungsbild der psychischen Entwicklungsstörungen im Kindes- und Jugendalter aus tiefenpsychologischer Sicht. Winterhoff analysiert Familiensysteme auch auf dem Boden gesellschaftlicher Veränderungen. Er warnt vor einer Macht-Umkehr zwischen Eltern und Kindern. Dinge zu erklären, könnte ein Anleiten und Führen nicht ersetzen. Eltern als Freunde machten Kinder zu Tyrannen. Außerdem sieht Winterhoff die zunehmend verschriebenen Medikamente nicht als Lösung für Erziehungsprobleme.

Literatur:

Dr. Michael Winterhoff: Warum unsere Kinder Tyrannen werden - Oder: Die Abschaffung der Kindheit. Gütersloher Verlagshaus 2008, 191 Seiten.

Dr. Michael Winterhoff: Tyrannen müssen nicht sein: Warum Erziehung nicht reicht - Auswege. Gütersloher Verlagshaus (Januar 2009), 192 Seiten.

ÜBERBLICK

Wieso werden Kinder zu kleinen Tyrannen?

Sie sind ungehorsam, selbstbezogen, sie wollen immer im Mittelpunkt stehen und plappern ständig dazwischen. Es gibt immer mehr von diesen respektlosen Kindern, deren Eltern einiges falsch gemacht haben. Sie zeigen ihren Kindern keine Grenzen, sie sehen ihren Sohn oder ihre Tochter als Partner. Überraschend daran ist, dass dieses Phänomen zunehmend in der bürgerlichen Mittelschicht wahrzunehmen ist - gerade hier gibt es machtlose Eltern, die ihren aggressiven Kindern nicht mehr gewachsen sind.

Der Kinderpsychiater und Buchautor Michael Winterhoff forscht nach den gesellschaftlichen und psychologischen Ursachen.

 

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ERSTES KURZES FAZIT  w.p.

Kernaussage: In der Kind- als Partner-Herrschaft entsteht "Emotionaler Missbrauch" zwischen Kinder-Tyrannen, Eltern und Gesellschaft statt Erziehung ist Fakt . Langfristig-heranwachsende Partnerschafts-Erziehung als Ziel, wenn am frühkindlichen Weg, dann führt sie zur individuellen bis gesellschaftlichen Krise  > "anything goes"...

1  Eltern <   > Kinder : ? Partnerschaft ? Sie sind keine Partner - vorerst !

2  Kinder - Herrschaft

       V

    Eltern  : ? Tyrannei I ! Eltern in Not

3  Kinder - Herrschaft

       V

   Erzieher : ? Tyrannei II ! Schule in der Krise

4  Kinder als Erwachsene -  Herrschaft

       V

   Gesellschaft  : ? Tyrannei III ! in der Krise

5  Was tun : Vorrangiges Ziel von Eltern, Erziehern und Gesellschaft ist es die eigene Sinnfrage zu beantworten ( statt Symbiose und Kompensation ... ).

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INHALT

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Ansage:

Heute mit dem Thema: „Kleine Narzissten – Warum unsere Kinder Tyrannen sind.“

Sie sind unerzogen, gehorchen nicht, sie sind auf sich selbst und auf die eigenen Wünsche fixiert. Es gibt immer mehr dieser „Tyrannen“, deren Eltern eigentlich versagt haben. Überraschend ist, dass dieses Phänomen, dieses Psychogramm immer öfter in der Mittelschicht anzutreffen ist, hier scheint wirklich etwas aus dem Ruder gelaufen zu sein.

 

Das sind Thesen des Buchautors, des Kinder- und Jugendpsychiaters Dr. Michael Winterhoff, den ich zum AULA-Gespräch begrüße. Guten Morgen, Herr Winterhoff.

 

Winterhoff:

Guten Morgen, Herr Caspary.

 

Frage:

Ihr Buch trägt den Titel „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“. Ich habe eben schon einen kleinen Verhaltenskatalog skizziert, wie ließe der sich fortsetzen? Wann benimmt sich aus Ihrer Sicht ein Kind wie ein Tyrann?

 

Winterhoff:

Zunächst einmal zu dem Buchtitel: Meine Sorge ist, dass diese Kinder später als Erwachsene Tyrannen sind. Der Hintergrund ist, dass ich in meiner Praxis immer mehr Kindern begegne, die psychisch nicht reifen. Das erkennen Sie daran, dass diese Kinder respektlos sind. Dabei geht es nicht um offensichtliche Respektlosigkeit, freche und unverschämte Kinder sehe ich seltener. Mir geht es um die Kinder, die so wirken, als würden sie einfachste Aufträge nicht verstehen. Dadurch bringen sie den Erwachsenen dazu, Aufträge doppelt und dreifach zu geben.

 

Frage:

Das heißt, ich sage meinem Kind zum Beispiel, ‚hol mir mal die Butter’ oder ‚fege bitte die Straße’, und es verweigert sich und sagt, ‚nein, das mache ich nicht’?

 

Winterhoff:

Nein, zu einer direkten Verweigerung kommt es nicht. Nehmen wir das Beispiel ‚deck bitte den Tisch’. Die Antwort eines solchen Kindes könnte lauten: ‚Ja, aber gleich’, ‚warum schon wieder ich’, ‚die Messer auch’, ‚hab ich das so richtig gemacht’ oder es deckt die Tassen nicht. Und wenn Sie den Auftrag doppelt und dreifach geben, führt das Kind es aus. Gehen wir von einer gesunden Reifeentwicklung aus, wäre ein Kind mit drei Jahren psychisch schon so weit, dass es unterscheiden kann zwischen sich selbst und seinem Gegenüber. Es kann sich auf seine Eltern einstellen. Konkret bedeutet das, wenn ein dreijähriges Kind ein Fehlverhalten an den Tag legt, zum Beispiel eine Knatsch-Phase hat, und Sie treten sehr eindeutig auf und sagen ‚jetzt ist Schluss, ich mag das nicht mehr’, würde das Kind dieses Verhalten einstellen. Ganz wichtig: Ab fünf Jahren kommt es zu einer tiefen Beziehungsfähigkeit, das heißt, der Fünfjährige führt mehr oder weniger alles aus für die Eltern, der Fünfjährige würde gerne für die Mutter den Tisch decken und zwar sofort und gleich.

 

Die Kinder, denen ich begegne, stellen sich nicht auf den Erwachsenen ein, sondern sie bringen den Erwachsenen dahin, dass er sich auf sie einstellt. Psychisch gesehen ist das ein Verhalten von Kindern unter drei Jahren. Wenn Sie einen Auftrag erteilen, der eindeutig ist, und das Kind wirkt so, als habe es diesen einfachen Auftrag nicht verstanden, ist das, wie eben schon dargestellt, eine Respektlosigkeit.

 

Mittlerweile sind es immer mehr Kinder von gesunden beziehungsfähigen Eltern, die ihre Kinder bewusst haben, alles für sie getan und sie erzogen haben, die Verhaltensauffälligkeiten zeigen und psychisch nicht reifen. Und das ist der neue Zusammenhang.

 

Frage:

Könnte man nicht auch von einer ganz normalen Trotzphase sprechen, die jedes Kind braucht?

 

Winterhoff:

Die Trotzphase tritt normalerweise im Alter zwischen zwei und drei Jahren auf. In diesem Alter obliegt das Kind der Vorstellung, es könne seine Körperfunktionen selbst bestimmen. Wir kennen das zum Beispiel von der sogenannten Reinlichkeitserziehung. Das Kind denkt – psychisch betrachtet -, es entscheidet selbst, ob es einhält, in die Hose macht oder auf die Toilette geht. Dieses Verhalten kann in allen Bereichen auftreten und ist typisch für dieses Alter. Aber nicht mehr über das dritte Lebensjahr hinweg.

 

 

Frage:

Wir reden also über Kinder, die älter sind als drei Jahre?

 

Winterhoff:

Ja, noch eindeutiger sehen Sie es bei Kindern über fünf.

 

Frage:

Und diese Kinder werden zu Ihnen in die Praxis gebracht?

 

Winterhoff:

Es ist interessant zu beobachten, dass auch die Eltern sich verändert haben. Die meisten Eltern sehen die Probleme ihrer Kinder gar nicht, sondern sie kommen zu mir, weil die Lehrer sie schicken. Sie selbst sagen, sie haben mit ihren Kindern keine Schwierigkeiten. In meiner Praxis läuft es so ab, dass ich zuerst die Kinder alleine sehe, danach spreche ich mit den Eltern. Wenn das Kind Auffälligkeiten zeigt, dann sage ich den Eltern auf den Kopf zu, ‚Ihr Kind hört nicht’. Die Reaktion ist immer gleich, sie sagen: „Doch“. Dann muss ich es erklären und sie darauf hinweisen, dass sie Aufträge doch doppelt und dreifach erteilen müssten. Oftmals nehmen die Eltern das gar nicht als ein Nicht-Hören wahr. Erst wenn ich deutlich mache, dass sich das Kind in der Schule ähnlich verhält und ein Lehrer die gleiche Aufgabe nicht fünf Mal stellen kann, dann merken sie, dass doch ein Problem vorliegt.

 

Frage:

Die Kinder werden also zu Ihnen in die Praxis gebracht, weil sie Schwierigkeiten in der Schule haben, Anweisungen nicht verstehen oder nicht ausführen, richtig?

 

Winterhoff:

Die Totalverweigerung kommt auch vor. Vor allem sind es aber Kinder, die die Leistung nicht entsprechend ihrer Intelligenz erbringen, die im Unterricht unaufmerksam sind oder ihn offensichtlich stören. Natürlich habe ich auch mit Kindern zu tun, die erheblich auffälliger sind, die lügen, klauen oder einnässen. Es gibt viele Symptome im Kindesalter und viele Gründe, mich aufzusuchen. Neu sind jedoch die beschriebenen Störungsbilder. Ich bin seit 25 Jahren im Fachberuf und bis vor 16 Jahren habe ich nur Kinder gesehen, die psychisch die ersten sechs Lebensjahre durchlaufen sind. Das heißt, sie konnten mit sechs Jahren sehr klar sehen: Ich bin ein Mensch, das Gegenüber ist ein Mensch, der Mensch gegenüber hat etwas zu sagen, wenn es ein Lehrer ist zum Beispiel. Und man konnte sehen, dass eine Reaktion zu einer Gegenreaktion führte, was ja sehr wichtig ist. Wenn ich im Unterricht wiederholt dazwischen rede und der Lehrer sagt, Du schreibst eine Seite extra, dann muss ich ja sehen, dass ich das verursacht habe. Vor 16 Jahren hatten die Kinder diesen Reifegrad, sie kamen aus anderen Gründen zu mir, eher wegen Blockaden, die im Rahmen der Lebensgeschichte der Eltern auftraten. Die Kinder, die ich heute in meiner Praxis sehe, zeigen einen Reifegrad von 10 bis 16 Lebensmonaten – in jeder Altersstufe, auch im Jugendalter. Und das ist eben der große Unterschied, und das ist neu.

 

Frage:

Sie haben gesagt, dass aus diesen Kindern im Erwachsenenalter Tyrannen werden könnten. Lassen Sie uns das kurz beschreiben: Was würde passieren, wenn Kinder erwachsen werden, ohne dass ihr Verhalten korrigiert wird? Was werden das für Erwachsene sein?

 

Winterhoff:

Lassen Sie uns zunächst über Weltbilder sprechen. Ein Kind hat ganz andere Weltbilder als ein Erwachsener, Weltbilder entstehen durch Erfahrungen. Als Erwachsene haben wir die Vorstellung, wir seien Individuen im Rahmen einer Gesellschaft. Ein kleines Kind dagegen denkt, es gibt nur mich auf der Welt, ich kann alle steuern und bestimmen, ich bin autonom. Mit diesem Bild leben diese später erwachsenen Menschen, sie leben auf einer Stufe von 10 bis 16 Monaten, sie sind lustorientiert, sie leben nur im Moment, sie sind nicht beziehungsfähig, sie sind nicht arbeitsfähig. Die ruhige Variante sind junge Heranwachsende, die nur noch auf ihrem Zimmer leben mit dem 24-Stunden-Internetanschluss, einem vollem Kühlschrank, und sie haben Ruhe. Dieses Phänomen zeigt sich ja schon genügend in unserer Gesellschaft. Die Jugendlichen verbleiben in Abhängigkeit, sie bleiben immer wie Kinder.

 

Frage:

Warum zeigen Kinder dieses Verhalten, das sie später zu Tyrannen werden lässt? Was sind die psycho-sozialen Ursachen?

 

Winterhoff:

Ich habe in den letzten 16 Jahren drei gravierende Beziehungsstörungen herausgearbeitet, die nicht bewusst stattfinden, denen aber viele Erwachsene unterliegen. Die erste Veränderung fand Anfang der 90er Jahre statt. Um das zu erklären, müssen wir uns kurz mit der Frage der Menschenführung befassen. Es gibt zwei Systeme: das traditionelle Denken, Stichwort: Hierarchie. Für meine Eltern zum Beispiel war es sehr eindeutig, es gibt eine Erwachsenenwelt und eine Kinderwelt, Kinder haben zu hören, zu funktionieren, Kinder werden geschützt. Und es gibt das moderne Denken, das mit den 68ern aufkam. Das beinhaltet die Vorstellung, man soll etwas begreifen, bevor man es ausführt, wenn ich etwas begriffen habe, dann kann ich es. Den Begriff des Übens gibt es im modernen Denken nicht. Wir verfügen über beide Denksysteme. Wenn wir einen Chef haben, der uns eine Anweisung erteilt, können wir ihm gegenüber angstfrei argumentieren, warum es günstiger wäre, die Aufgabe anders auszuführen. Wenn er aber sagt, ich will das so haben, leisten wir es. Wir wenden beide Denksysteme an.

 

Seit Anfang der 90er Jahre hat man das traditionelle Denken abgelegt, es als lieblos, kalt, abweisend dem Kind gegenüber abqualifiziert. Seitdem bewegt man sich nur noch im modernen Denken. Das heißt, schon kleine Kinder werden als Partner gesehen, es herrscht die Vorstellung vor, dass man über Reden und Begreiflichmachen erziehen könnte. Das Problem ist, dass wir ja Psyche bilden müssen beim Kind. Damit ist folgendes gemeint: Von der Grundlage her haben Sie und ich die gleich aufgebaute Psyche. Wir sind ja auch zu gleichen Leistungen in der Lage. Zum Beispiel unser Interview: Es ist im Augenblick egal, ob ich Hunger oder Durst habe oder ob ich müde bin, ich muss mich auf das Gespräch konzentrieren. Meine Psyche leistet das, und dieser Anteil unserer Psyche wird in den ersten 20 Lebensjahren gebildet. Wenn ich kleine Kinder schon als Partner sehe, wird sich diese Psyche niemals entwickeln können.

 

Übertragen wir das auf einen anderen Bereich: Wenn Sie Tennis lernen wollen, müssen Sie Nervenzellen im motorischen Zentrum des Gehirns trainieren. Das können Sie nicht, indem man es Ihnen erklärt und vorspielt, sondern indem Sie zehn Jahre lang einen Trainer haben, der Sie als Schüler sieht, der Sie liebevoll coacht, Ihnen viele Übungen auferlegt, wo Sie sich fragen, was hat das mit Tennis zu tun.

 

Das Tragische ist, und das beschränkt sich nicht nur auf die Eltern, sondern bezieht sich auch auf den Kindergarten und die Schule, dass man heute kleine Kinder schon als Partner sieht und damit der Vorstellung unterliegt, dass sie sich über Begreiflichmachen entwickeln oder erzogen werden. Das liegt auch daran, dass sich Erziehung heute vorwiegend darauf konzentriert, dass Kinder Regeln lernen sollen und sich benehmen sollen. Aber eigentlich muss ja ein Reifeprozess stattfinden, der viel umfassender ist, und das wird auf dieser Ebene nicht funktionieren.

 

Der Preis, den die Kinder zahlen, wenn sie heranwachsen, sehen Sie auf dem Arbeitsmarkt. Es fehlen psychische Funktionen wie Frustrationstoleranz, Gewissensinstanz, Arbeitshaltung, Erkennen von Strukturen. Wenn Sie die Zeitung aufschlagen, lesen Sie, dass genau das die Kritik ist, die den Auszubildenden gegenüber geäußert wird.

 

Diese erste gravierende Veränderung von den Anfängen der 90er hält bis heute an. Die Konzepte in Kindergarten und Grundschule sind zum großen Teil Partnerschaftskonzepte, die davon ausgehen, dass kleine Kinder schon Persönlichkeiten wären. Fachlich gesehen sind sie das aber überhaupt nicht. Die Idee ist, Kinder sollten sich frei entfalten und ganz selbständig werden. Nur leider bildet sich auf diesem Wege keine Psyche.

 

Frage:

Lassen Sie uns das nochmal analysieren. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, fehlt heute die Asymmetrie, ich als Erwachsener bin der Führende, das Kind der Geführte, ich bin groß, das Kind ist klein. Und wenn diese Asymmetrie fehlt, wenn ich dem Kind auf gleicher Augenhöhe begegne, es als Partner sehe, dann kommt es zu einer Fehlentwicklung beim Kind?

 

Winterhoff:

Nein, nicht zu einer Fehlentwicklung, sondern vielmehr zu einer Nicht-Entwicklung. Viele Abläufe müssen ja eintrainiert werden. Nehmen wir das Beispiel duschen. Wir duschen ganz automatisch. Wenn Sie mich fragen, haben Sie Ihre Schulter gewaschen, kann ich Ihnen sagen, ja. Denn ich kann mich beruhigenderweise auf meine Nervenzelle Duschen verlassen.

 

Wenn Sie einem Kind die Körperhygiene beibringen wollen, dann sieht es so aus: Fünf Jahre baden Sie das Kind, zwischen fünf und sieben leiten Sie das Kind an, und zwischen sieben und zwölf kommen Sie immer wieder dazu und müssen vielleicht noch sagen: Du hast noch Shampoo im Haar, Du musst die Füße waschen, komm, wir schneiden die Fußnägel. Nach einiger Zeit können Sie davon ausgehen, dass dieser Ablauf so trainiert ist, dass er automatisch erfolgt. Wenn das Kind als Partner gesehen wird, passiert folgendes: Der Fünfjährige kommt an und sagt, Mama, ich kann schon duschen. Er wird auch super duschen, weil er es ja der Mama beweisen will. Ab dann schickt sie das Kind, den Partner nur noch zum Duschen. In Wirklichkeit kann er nicht duschen. Und ich muss Ihnen sagen, ich habe viele Kinder aus besten Familien, wenn ich die körperlich untersuche, stelle ich immer wieder fest, dass sie überhaupt nicht gewaschen und ungepflegt sind. Das passt nicht zusammen, ist aber erklärbar über das Phänomen, dass die Eltern in diesem Kind einen Partner sehen und davon ausgehen, dass es das schon alles kann.

 

Frage:

Wir kommen gleich nochmal zu der Partnerrolle. Aus meiner Sicht steckt in dieser Beziehung eine Art Perversität, denn das ist die völlige Negation der Erwachsenenrolle. Aber wir sollten noch kurz bei dem bleiben, was Sie eben gesagt haben: Schuld daran sei auch ein Stück weit die moderne Pädagogik, die sagt, das Kind ist ein Partner oder – ich zitiere jetzt aus dem Kopf – das Kind ist der eigene Konstrukteur seiner eigenen Lebenswelt, das Kind ist eigentlich ein Selbstlerner, und das Kind soll durch die Erwachsenen eher zu diesem Selbstlernen animiert werden. Ist das auch für Sie das ein Problem in dem ganzen Komplex, den wir besprechen?

 

Winterhoff:

Nein, eigentlich nicht. Kinder mit einem Reifegrad von sechs Jahren sind sehr wissbegierig und wollen gerne lernen. Es gibt sicherlich Konzepte, die für diese Kinder sehr gut geeignet und im Vergleich zu früher vielleicht auch besser sind. Nehmen Sie als Beispiel die Gruppenarbeit in der Schule. Es geht ja nicht nur um die Methode, sondern auch um die Persönlichkeit, die dahinter steht. Wenn ein Lehrer ein Kind als Kind sieht, wird er die Gruppenarbeit lenken. Er wird in der Freiarbeit sagen, der eine Schüler sucht sich das richtige Material aus, das ist in Ordnung, ein anderes Kind möchte spielen, spielen gibt es bei mir nicht, ‚Du machst für mich das und das’. Das wäre eine gelenkte Gruppenarbeit, Freiarbeit.

 

Frage:

Sie haben aber eben eine bestimmte Art der Pädagogik scharf kritisiert. Ich habe das so verstanden, dass diese Pädagogik in dem Kind den Konstrukteur der eigenen Lebenswelt sieht.

 

Winterhoff:

Ja, das bezieht sich ganz massiv auf den Kindergarten. Früher kümmerten sich zwei Erzieherinnen um 20 Kinder. Im Vergleich dazu ist die heutige Personalpolitik eine Katastrophe. Diese Erzieherinnen haben eine Gruppe geleitet. Es fanden immer gleiche Abläufe statt. Heute ist es in vielen Kindergärten so, dass die Kinder frei entscheiden können, was sie machen wollen. In manchen Kindergärten bewegen sie sich im gesamten Gelände, und man bietet nur noch an. Es findet also eine ständige Wechselhaftigkeit vor in Raum, Inhalt, Gruppe, Bezugsperson, der das Kind ausgesetzt ist. Dadurch kann das Kind gar nicht mehr richtig lernen. Denn Nervenzellen brauchen immer gleiche Abläufe, um lernen zu können. Außerdem wurde das Vorschulprogramm in vielen Kindergärten abgeschafft, in dem die Kinder eine Stunde am Tag unter Anleitung gemalt, gebastelt usw. haben. Heute haben sie noch eine Stunde in der Woche, und in der können sie sich aussuchen, was sie machen wollen. Die heutigen Konzepte sind nicht mehr auf Kinder abgestimmt. Es handelt sich aber nicht um Böswilligkeit, sondern aus fachlicher Perspektive um eine falsche Sicht von Kindern. Wenn man Kinder als Kinder sieht, ist klar, dass man vieles eintrainieren muss, dass vieles gleich laufen muss, dass das alles liebevoll erfolgt, dass man auch viel Zeit darauf verwenden muss. Das ist nur die erste Veränderung, die ich feststellen musste. Die beiden anderen Beziehungsstörungen sind noch viel gravierender.

 

Frage:

Ist es falsch, wenn man Sie versteht als jemanden, der für mehr Autorität und mehr Disziplin plädiert? Das wäre ja schon die Richtung, die man Ihnen unterstellen könnte.

 

Winterhoff:

Das ist völlig falsch und ist auch gar nicht mein Thema. Es geht nicht um mehr Strenge, sondern um die Beziehung Erwachsener – Kind. Die ist vorgegeben, genauso wie die Beziehung Trainer – Schüler vorgegeben ist. Gehen wir nochmal zum Tennis-Training. Der Trainer mag 30 Jahre jünger sein als ich, sich mit mir duzen, aber auf dem Tennisplatz bin ich sein Schüler. Das ist ein Verhältnis, das vorgegeben ist. Und nur wenn man das sieht, ist auch eine entsprechende Entwicklung möglich. Ansonsten würde man Kinder permanent überfordern. Ich setze mich nicht auseinander mit Pädagogik oder pädagogischen Richtungen. Ich mache als Kinderpsychiater darauf aufmerksam, dass auf der gleichen Ebene sich viele Bereiche in der Psyche nicht bilden können.

 

Frage:

Bekommen Sie denn Unterstützung für Ihre These seitens der Hirnforschung, die zum Beispiel die kognitive Entwicklung des Kindes analysiert?

 

Winterhoff:

Ich bin Arzt und Kinderneurologe. Die Erkenntnisse der Hirnforschung sind für mich nicht gravierend neu. Ich wende ja nur neurologische Erkenntnisse an, genauso wie ich entwicklungspsychologische Erkenntnisse anwende. Die Entwicklungspsychologie habe ich ja nicht erfunden. So betrachtet, wüsste ich nicht, in welcher Form ich Unterstützung erhalten sollte.

 

Frage:

Ich formuliere es mal anders: Was passiert neurologisch im Gehirn, was Ihre These stützen würde?

 

Winterhoff:

Es ist klar bewiesen, dass eine Nervenzelle nur aktiviert werden kann mit Hunderten von gleichen Durchläufen einer Tätigkeit. Und danach müssten Sie mit Tausenden von Durchläufen trainieren. Nehmen Sie das Beispiel lesen und schreiben. Ich brauche dasselbe A an der Tafel wie im Heft und schreibe A A A ..., dann wird aus einem Zufallsprinzip heraus eine Nervenzelle sich bereit erklären, für das A zuständig zu sein. Diese Nervenzelle müssen Sie über drei bis fünf Jahre trainieren, bis sie in der Lage ist, in jeder Handschrift ein A zu erkennen. Und diese Durchlaufquote ist in der Psyche wesentlich höher. Viele Abläufe, die für uns selbstverständlich sind, mussten erst eintrainiert werden. Wenn Sie diese unumstrittene Grundkenntnis nehmen, dann zeigt das, wie in Kindergarten und Grundschule dagegen verstoßen wird – aus Unkenntnis heraus.

 

Frage:

Warum ist diese Aufgabe der Elternrolle bei einer bestimmten Elterngeneration passiert? Warum verstehen sich Eltern plötzlich als Partner? Was ist da ins Ungleichgewicht geraten?

 

Winterhoff:

Eine Hypothese dazu ist, dass wir Anfang der 90er Jahre einen enormen Wohlstand hatten, der mehr oder weniger jeden erreicht hat. Der Wohlstand führte dazu, dass sich Erwachsene immer mehr um sich drehen, dass sie immer mehr ihre eigenen Bedürfnisse erfüllen und damit eigentlich immer unvernünftiger werden. Man kann es sich dann durchaus leisten, Dinge zu übersehen oder dem Kind abzunehmen oder auch zu erklären. Das Modell der Partnerschaftlichkeit klingt ja auch wunderbar: Ich rede mit meinem Kind, erkläre ihm, warum und weshalb es etwas tun soll. Das Problem ist, dass dieses Modell nicht funktioniert.

 

Also eine Hypothese ist der Wohlstand. Die zweite ist, dass wir natürlich diese wichtige Veränderung mit den 68ern zunächst einmal integriert hatten. Ich glaube, zwischen 1970 und 1990 hatten wir eine sehr gute Synthese, kleine Kinder wurden als Kinder gesehen, und je älter sie wurden, desto mehr hat man ein modernes Denken dazu gelegt. Damit hat man beide Denksysteme vermittelt. Später hat sich jedoch ein Überhang entwickelt, dass man nur noch das modernde Denken sieht.

 

Mitte der 90er Jahre ist die nächste Veränderung entstanden. Die Gesellschaft hat sich immer mehr aufgelöst, man weiß ja heute gar nicht mehr, leben wir in Deutschland, leben wir in Europa, die Grenzen fallen. Windows 95 ist eine klare Begrifflichkeit, der Computer zog in alle Haushalte ein, und was der alles verändert hat in den letzten 13 Jahren, ist enorm. Wir haben eine missachtende Gesellschaft, in der die Bundeskanzlerin morgens im Radio durch den Kakao gezogen, wir haben keine Sicherheit mehr, Stichwort: Krankenkasse, Rentenversicherung, wir unterliegen Angst machenden Prozessen wie zum Beispiel der Globalisierung oder dem Internet. Zusammengenommen können wir feststellen, dass unsere Bedürfnisse als Erwachsene nach Orientierung, Anerkennung, Sicherheit immer weniger von der Gesellschaft befriedigt werden. Und jetzt kommt es zu dem tragischen Phänomen: Das Kind bietet sich an – unbewusst natürlich – zur Kompensation, nach dem Motto: Wenn mich da draußen keiner führt, soll mich mein Kind führen; wenn mich da draußen keiner liebt, soll mich mein Kind lieben; und wenn mir keiner sagt, ob ich gut oder schlecht bin, soll mein Kind mit seinem Verhalten der Beweis dafür sein, dass ich gut bin, sprich wenn mein Kind in der Schule und sozial klar kommt, bin ich eine gute Mutter, ansonsten bin ich eine schlechte.

 

Es kommt zu einer Machtumkehr, der Erwachsene wird bedürftig, das Kind übernimmt quasi eine Ersatzelternposition. Das ist emotionaler Missbrauch und passiert in weiten Teilen des Landes. Nehmen wir auch mal das Beispiel Großeltern. Eine Oma früher hat den Enkel verwöhnt, sie hat das Lieblingsessen gekocht, aber sie hat ganz klar gesagt, ‚Du wäscht Dir erst die Hände, wir fangen gemeinsam an, wir hören gemeinsam auf’, also sie hat erzogen. Eine Oma, die geliebt werden will, kann keine Grenzen mehr setzen, weil sie dann Angst hat, dass der Enkel nicht mehr kommt. Immer mehr Erwachsene wollen heute – unbewusst – vom Kind geliebt werden und durch diese Machtumkehr ist eine Entwicklung auf Seiten des Kindes nicht mehr möglich. Kleine Kinder haben ja die Fantasie, dass sie über dem Erwachsenen stehen und jeden steuern und bestimmen können. Die Machtumkehr bestärkt sie in dieser Fantasie und letztlich verbleiben die Kinder in einer respektlosen, frühkindlichen, narzisstischen Phase.

 

Frage:

Was Sie beschreiben, ist ja genau genommen ein Skandal, eine desaströse, fast schon apokalyptische Entwicklung.

 

Winterhoff:

Ja, richtig. Und es ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Wir leben in einem Land, in dem laut offiziellen Zahlen 20 bis 25 Prozent der Kinder behandlungsbedürftig sind. Wahrscheinlich ist der Satz noch viel höher. Wir hören nur noch von Krankheiten, unsere Kinder leiden an ADHS, Legasthenie, an Dyskalkulie, andere sind hochbegabt. Immer mehr Kinder befinden sich in Behandlung, sei es die Logopädie oder Ergotherapie. Wie ist das denn zu erklären? Es kann doch nicht sein, dass wir auf einmal nur noch kranke Kinder haben. Im Jahre 2004 waren 20 Prozent der 18-Jährigen nicht arbeitsfähig. Und das sind nur die, die übers Arbeitsamt gezählt wurden. Tatsächlich dürfte der Prozentsatz viel höher liegen. Es ist sehr deutlich, dass wir uns in einer Entwicklung befinden, in der immer mehr Kinder verhaltensauffällig und immer mehr Jugendliche arbeitsunfähig sind. Meine Analyse ist, dass dahinter bei den meisten Kindern keine Erkrankungen stecken, sondern eben eine Nicht-Entwicklung. Wenn wir das als Gesellschaft begreifen würden, könnten wir den Kindern die Möglichkeit eröffnen nachzureifen. Wenn wir das Problem allerdings ignorieren, dann werden wir es nur verwalten.

 

Frage:

Wie ist es in Ihrer Praxis? Können die Eltern irgendwann offen über diese Beziehungsstörungen reden, oder fallen sie aus allen Wolken, wenn Sie das ansprechen?

 

Winterhoff:

Die Beziehungsstörungen sind den Eltern meist gar nicht bekannt. Ich kann sie ihnen begreiflich machen, aber nicht auf direktem Wege. Um das zu erläutern, müssen wir noch über die dritte Beziehungsstörung reden: Vor fünf Jahren ist es zu einer weiteren Veränderung gekommen, die nur die Eltern betrifft. Unsere Gesellschaft ist nicht mehr positiv-zukunftsweisend. Seit fünf oder sechs Jahren heißt es ja, so geht es nicht weiter, es wird immer schlechter und schlechter. Aber mit einer Negativ-Prognose kann man nicht leben. Von daher wäre theoretisch jeder von uns heute gefordert, die Sinnfrage zu beantworten: Warum lebe ich, wofür lebe ich, wo will ich in meinem Leben hin? Nur wer für sich die Sinnfrage beantwortet hat, ist abgegrenzt. Ansonsten fehlen Anteile wie glücklich sein, zufrieden sein, sich auf etwas freuen zu können.

 

Wenn Sie jetzt ein Kind haben, bietet sich dieses Kind– unbewusst – zur Kompensation an. Dann ist auf einmal das Glück des Kindes mein Glück, damit fühle ich fürs Kind, ich denke fürs Kind, ich gehe fürs Kind in die Schule. Es entsteht fachlich gesehen eine Symbiose. In einer gesunden Beziehung findet die Symbiose in den ersten acht, neun Lebensmonaten des Kindes statt: Ich weiß, wann das Kind essen muss, was und wie viel. Ab dann muss ich dem Kind psychische Anteile abdelegieren. Einem Dreijährigen sehe ich zum Beispiel ja nicht mehr an, dass er Hunger hat, sondern er muss sagen, ‚gibst du mir bitte was zu essen’ oder ‚darf ich etwas essen’. In der Symbiose ist jedoch eine Entwicklung des Kindes gar nicht möglich. Von Seiten der Eltern wird das Kind als Teil des Selbst betrachtet. Ich vergleiche das immer mit meinem Arm und mir.

 

Nehmen wir wieder ein Beispiel: Wenn Sie in ein Restaurant gehen, und da sitzen Eltern mit Kindern, ist es oft so, dass die Eltern sich bestens benehmen, und die Kinder schwirren umher wie Satelliten im Raum, alle fühlen sich wie angefasst, nur diese Eltern nicht. Wie ist das zu erklären? Das liegt daran, dass ich nicht registriere, wo sich meine Hand am Körper aufhält. Das heißt, die Reize bzw. die Symptome des Kindes werden gar nicht mehr verarbeitet als Reize des Kindes, sondern wie ein Eigenreiz, und deshalb nehmen die Eltern das nicht wahr. Wenn Sie die Eltern darauf aufmerksam machen, dass das Kind etwas anstellt, dann kommt ja oft der Kommentar: „Das hat er aber nicht extra gemacht!“ Mein Arm kann auch nichts „extra“ machen. Das heißt, die Schwierigkeit ist die, dass die Eltern das Kind nicht mehr mit einer Distanz sehen, sondern als Teil ihrer selbst. Dadurch sind sie von außen betrachtet wie blind, sie finden immer Erklärungen für die Verhaltensweisen des Kindes, und sie gehen dem Kind gegenüber dramatisch falsch vor nach dem Motto, meinen Arm kann ich verändern, einen anderen Menschen nicht. Nehmen wir ein Beispiel: Wenn ich sage, mach Deine Hausaufgaben und das Kind sagt, das mache ich nicht, wäre das ohne Symbiose vom Empfinden her ein freches Verhalten mir gegenüber, und ich würde das Kind vielleicht links liegen lassen oder es auf sein Zimmer schicken. Aber in der Symbiose ist das jetzt mein Arm, der nicht schreibt, also versuchen die Eltern, ihren Arm dazu zu bringen, dass er schreibt. Sie reden, regen sich auf, drohen Strafen an. Sie führen Machtkämpfe, die sie nicht gewinnen können. Denn ich kann niemals erreichen, dass ein anderer Mensch, mein Kind zum Beispiel, schreibt, liest, lern, hört usw. Dieser Druck, dem die Eltern sich ausgesetzt sehen, bedeutet für das Kind Zuwendung, und es wäre ja dumm, wenn es das nicht herausfordern würde.

 

Wenn ich mit Eltern zu tun habe, die in einer Symbiose sind, können die gar nicht distanzieren. Das heißt, ich kann nur mit ihnen arbeiten, wenn ich nicht konkret über ihr Kind spreche, sondern wenn ich allgemein über Gesellschaft und gesellschaftliche Veränderungen rede, über Beziehungsstörungen, die es heute gibt. Es ist möglich, mit diesem Know-how Eltern in 1 ½ Jahren – das sind bei mir sieben bis acht Sitzungen – dahin zu bringen, dass sie über zwei Sitzungen wissen, was eine Symbiose ist und wie man sie auflöst, und danach werden sie instruiert, wie sie sich verhalten müssen, dass die Kinder nachreifen können. Das funktioniert bis zu einem Lebensalter von etwa 15 Jahren.

 

Frage:

Ihr Buch ist schon seit einigen Monaten auf dem Markt und hat starke Reaktionen hervorgerufen. Mittlerweile ist es, glaube ich, ein Sachbuch-Bestseller. Hatten Sie eigentlich mit dieser Reaktion gerechnet? Sie haben ja nicht nur „ins Wespennest gestochen“, sondern auch viele konträre Meinung herausgefordert.

 

Winterhoff:

Über den enormen Anklang bin ich schon erstaunt. Und er freut mich sehr, weil es mich hoffen lässt, dass wir etwas verändern können. Und das müssen wir dringend. Wir müssen unbedingt diskutieren und zwar auf ganz anderen Wegen, wir müssen uns unterhalten über Entwicklungspsychologie. Ich habe das Buch drei, vier Jahre in der Schublade gehabt und den Zeitpunkt abgewartet. Es muss ja soweit sein, dass die Gesellschaft überhaupt in der Lage ist zu sehen, dass etwas nicht stimmt, sonst würde ein solches Buch nicht verstanden werden oder man würde mich vielleicht diffamieren aus Unverständnis heraus. Anscheinend war es der richtige Zeitpunkt. Im Augenblick arbeite ich an dem zweiten Buch, das im Januar oder Februar erscheinen soll. Das erste Buch handelt von der Diagnose, davon, was vorliegt. Wir müssen auch erst mal nachprüfen, ist es wirklich so, wie Winterhoff es sagt, bevor wir uns Gedanken darüber machen, was wir tun müssen. Und damit setze ich mich im zweiten Buch auseinander.

Die Fragen stellte Ralf Caspary.