Prof. Klaus-Michael Kodalle: Vergeben und Verzeihen – Über die Bedeutung dieser Kategorien für das politische Ethos
SWR2 Aula -
Manuskriptdienst Redaktion: Ralf Caspary. Sendung: Ostersonntag, 11. April 2004, 8.30 Uhr, SWR 2 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrückliche Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag, 8.30 – 9.00 Uhr) sind beim Landesmedienzentrum Karlsruhe (LMZ) erhältlich. Bestellungen an das LMZ: Telefon (07 21) 88 08 – 20, Fax 88 08 – 69, e-mail: hschneider@lmz-bw.de
Prof. Klaus-Michael Kodalle:
Meine Damen und Herren, ich halte mich an Sören Kierkegaard, der einmal gesagt hat: "Wer die Ausnahme nicht erklären kann, der kann auch die Regel nicht erklären". Ich füge hinzu: wer sich philosophisch auf den Gedanken der Pflicht, des Sollens, der Befolgung richtiger Regeln konzentriert, das Phänomen der Schuld aber und ihrer Bearbeitung, z. B. in der Weise der Verzeihung, einfach umgeht, der wird den inneren Sinn des Moralischen überhaupt nicht passend erfassen können. Er wird nur konstatieren können, dass die Menschen offensichtlich das Rechte, das moralisch Gute einsehen, aber leider meistens das Gegenteil tun. Das ist ja eine Einsicht, die in dieser oder ähnlicher Weise auch schon der Apostel Paulus geäußert hat.
Dieser Hinweis auf Paulus veranlasst mich, an diesem Ostermorgen auf die Leidensgeschichte des Jesus von Nazareth einzugehen, der nach Auffassung der Gläubigen ja den Tod überwunden hat und auch für uns dem Tod seine Bitterkeit, seinen Stachel genommen hat. Und zwar erinnere ich Sie an jenes berühmte Wort vom Kreuz, dass der Sterbende, der ja sogar von seinen Anhängern verlassen war, gesprochen haben soll:
„Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Bei diesem Wort möchte ich einen Augenblick verweilen. Sind wir es doch gewohnt, in einer sehr groben Kennzeichnung das Christentum als die Religion der Liebe dem griechischen Denken gegenüber zu stellen, das angeblich allein auf die Idee der Gerechtigkeit konzentriert war. Nun spricht aber sehr viel für die Vermutung, dass in jenem Jesus-Wort sich griechischer Geist widerspiegelt. Platon-Sokrates hatte viele hundert Jahre früher die Lehre aufgestellt, dass niemand bewusst und in schlechthin böser Absicht das Böse tut. Wohl gibt es fürchterlich Böses in der Welt, aber es kommt nur in die Welt, so meinten diese Philosophen, weil die Menschen immer auch partiell blind handeln. Sie kennen ihre eigenen Motive ja nicht zu Genüge, sie können nicht durchschauen, welches die Handlungsfolgen sein werden, jedenfalls können sie es nicht in ihrer Gänze erkennen. Und dann passiert eben immer wieder in der Geschichte Entsetzliches, ohne dass die Menschen dies im vollen Sinne beabsichtigt hätten. Das Böse resultiert demnach aus partieller Unwissenheit. Das ist die berühmte Agnoia-Lehre der platonischen Philosophie.
Nun waren doch die Griechen, die die Abgründe des Menschlichen ja kannten, nicht blauäugig. Haben die das wirklich geglaubt? Oder war es vielleicht so: Um den Geist der Rache außer Kraft zu setzen, um in der Kraft des Verstandes den Affekt der Vergeltung zu brechen, um sich und vor allem natürlich auch dem, der von einem Unrecht betroffenen war, zu helfen, dass er zu Milde und Nachsichtigkeit findet, deshalb nahmen sie Zuflucht zu diesem eigentümlichen Argument, niemand tue das Böse in voller Absicht und bei klarem Verstand.
Das – so verstanden - wäre dann kein beschreibender Satz, sondern ein, wie wir Philosophen zu sagen pflegen, ein performativer Satz - also ein Satz, der eine praktische Einstellung ermöglichen oder begünstigen soll. Sinngemäß: Wenn der Täter doch nicht weiß, was er tut, dann müsste es doch dem Betroffenen leichter fallen, ihm zu vergeben.
Wenn Jesus also seinen Vater im Himmel nicht einfach nur bittet ‚Herr, vergib diesen Verbrechern’, sondern hinzufügt ‚denn sie wissen nicht, was sie tun’, so stellt er sich hier in den Raum der griechischen Philosophie.
Diese Bemerkung zur Ostergeschichte mag uns nun in den philosophischen Kontext unseres Problems „Verzeihung“ zurückführen. Verzeihung zu empfangen und Verzeihung zu gewähren, das sind Daseinsäußerungen, die jeder Mensch - ob er nun Christ ist oder nicht - aus seinem Leben kennt. Ohne sie könnte er gar nicht in Würde existieren in der Gemeinschaft mit anderen. Jeder Mensch, behaupte ich, hat doch schon die Erfahrung gemacht, dass ihm nach einer womöglich tief verwerflichen Handlung verziehen wurde. Wobei Sie bitte darüber nachdenken mögen, was uns eigentlich schwerer fällt: Verzeihung zu gewähren oder Verzeihung zu empfangen. Ich neige zu der Auffassung, es sei viel schwerer, Verzeihung zu empfangen. Denn im Gewähren von Verzeihung können wir uns zur höchsten Höhe unserer Menschlichkeit aufschwingen, Großzügigkeit, Großherzigkeit ist das Stichwort. Da kann es geradezu ein Selbstgenuss sein, aus innerer Souveränität heraus einem anderen seine Schwäche seinen Verrat, seine Gemeinheit nicht nachzutragen, sondern sie zu vergeben.
Der oder die hingegen, die sich schuldig gemacht haben, sind eher schon in ihrem Selbstwertgefühl angekränkelt oder unterwandert. Sie möchten am liebsten, wenn sie die Schuld nicht ganz kräftig verdrängen, vor sich selbst davonlaufen. Mit der Verzeihungsbereitschaft des anderen, an dem man sich versündigt hat, konfrontiert zu werden, das wirft ja einen solchen Menschen noch einmal unerbittlich auf seine Vergehen zurück. Diese Asymmetrie zwischen dem Verzeihenden und dem Schuldigen ist nur schwer auszuhalten.
Deswegen muss der Verzeihende übrigens alles Erdenkliche tun, um nicht als der Überlegene dazustehen, dem so ein Versagen niemals unterlaufen könnte. Nein, er muss so überzeugungskräftig wie möglich in dem Akt, in dem er seine Verzeihungsbereitschaft andeutet, sich auch zurücknehmen und jede Verdeutlichung von Überlegenheit vermeiden.
In religiöser Sprache würde man es vielleicht so ausdrücken: zwar bin ich im Augenblick derjenige, an dem es ist zu verzeihen, weil nur so die Verletzung aus der Welt geschafft werden kann, aber ich weiß selbst, dass mir schon morgen ein Fehler, eine Schäbigkeit, ein Versagen, eine Gemeinheit unterlaufen kann. Deshalb gilt: grundsätzlich bin ich nicht besser als du.
Um so erstaunlicher und begeisternder ist es eben, dass es zwischen uns korruptionsanfälligen Menschen diese Möglichkeit gibt, geradezu als einen Impuls des Göttlichen dem Geist der Verzeihung unter uns Geltung zu verschaffen.
Es war der große Hegel, der in einem seine Hauptwerke, nämlich der „Phänomenologie des Geistes“ die Überzeugung philosophisch abgestützt hatte, dass wir als bloß moralische Wesen in Heuchelei und Überlegenheitsdünkel enden müssten, wenn es den Geist der Verzeihung zwischen uns nicht gäbe. Hegel identifizierte diesen Geist der Verzeihung mit Gott, der zwischen uns waltet.
Damit habe ich eine Behauptung von vorhin leicht modifiziert: selbstverständlich findet man, wenn man in der Philosophiegeschichte nur sucht, durchaus eindringliche Stellen, in denen der Sinn oder die Herausforderung bedacht wird, die mit dem Verzeihen verbunden ist. Es war übrigens der große Antipode Hegels: der Däne Sören Kierkegaard, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts wie kein anderer psychologisch subtil die Vorgänge, auch die Gefahren des Verzeihens analysiert hat.
Ich möchte Sie nun bitten, sich auf eine Herausforderung einzulassen, die mit unserem Thema verbunden ist. Wir gehen ja gewöhnlich im Alltag davon aus, dass ein Mensch, der sich etwas zuschulden kommen ließ, zunächst seine Tat oder Unterlassung bereuen muss, ehe er überhaupt hoffen darf, Verzeihung zugesagt zu bekommen. Also wir würden sagen: Zuerst die Reue, dann (vielleicht) die Verzeihung. Das ist nicht abwegig. Aber diese Vorstellung geht, so behaupte ich, an den psychologischen, existenziellen Komplikationen der menschlichen Verhältnisse irgendwie vorbei. Die Maschinerie der Alibi-Produktion ist ja gigantisch. Wir finden Gründe über Gründe, um uns zurechtzulegen, dass unser Verhalten vielleicht falsch, vielleicht sogar böse war, aber dass es irgendwie auch unvermeidlich war, oder dass der andere doch gewiss eine Mitschuld trägt, oder dass die Umstände doch auch gewürdigt werden müssten. Die große Schweinerei, die großen Schweine waren doch die anderen, ich war doch nur ein kleines Rädchen im Getriebe - und wie die Konstrukte der Selbst-Entschuldigung auch formuliert sein mögen. Faktum ist: wir können es gar nicht aushalten mit uns selbst als Schwein und also legen wir uns Gründe zurecht, die uns entlasten sollen oder zumindest könnten. Und am Ende, so heißt es schon bei Kierkegaard, sind dann die Wachhunde die Schuldigen, und die sind verantwortlich für das eingetretene Desaster.
Deshalb haben Menschen, die tief in die Abgründe der Seele zu blicken vermochten, eine radikale Umkehrung unserer Blickrichtung empfohlen: Derjenige - und das ist das Ungeheuerliche, das ich Ihnen zumute mitzudenken -, der das Opfer einer schäbigen, einer verletzenden Handlungsweise geworden ist, wenn dieser oder diese es schließlich, vielleicht nach einer langen Zeit der Besinnung, fertig bringt, auf den Übeltäter zuzugehen, ihm zu signalisieren, von Angesicht zu Angesicht, dass er auf Verzeihung hoffen darf, dann gibt es eine Chance, dass dieser Täter, diese Täterin sich der Vergangenheit überhaupt erst ehrlich stellt, dass er oder sie dieses wagt, weil es eine Aussicht gibt, dass man mit dem Bösen, welches man schließlich zu verantworten hat und dass man sich einzugestehen hat, nicht als Person total identifiziert wird.
Wenn Sie, meine Zuhörerinnen und Zuhörer, diesem Gedanken etwas abgewinnen können, werden Sie die zugespitzte, für manche vielleicht paradox anmutende Formulierung verstehen können, dass die Verzeihung oder Vergebung keineswegs nur als Reaktion auf die Bekundung der Reue ins Spiel kommt, sondern dass die Zusage der Verzeihung die Voraussetzung, die Ermöglichung der Reue ist. Beispiele für diese These drängen sich mir auf, aus der ganz kleinen Welt wie aus der großen geschichtlichen Welt:
Nehmen Sie das Kind, das gegen ein elterliches Gebot verstoßen oder irgendetwas sehr Wertvolles zerstört hat. Nehmen Sie dieses Kind, wie es auf die strengen Vorhaltungen der Autorität reagiert, nämlich verbockt, alles abstreitend. Es ist verstockt. Erst als es trotz alledem in den Arm genommen wird und es spürt, die Liebe ist nicht verspielt, da bricht es in Tränen aus und gesteht, was da in Wahrheit passiert ist.
Und aus der Welt der Erwachsenen und der großen Geschichte fällt mir dann das spektakuläre Beispiel einer Nazi-Funktionärin ein, einer gewissen Frau Melitta Maschmann. Sie hat sich erst sehr spät ehrlich auf die eigene Geschichte eingelassen. Und sie schreibt: „Die verzeihende Liebe, die mir begegnet war, schenkte mir die Kraft, unsere und meine Schuld anzunehmen. Erst jetzt hörte ich auf, Nationalsozialistin zu sein.“
Ich möchte nun noch einen Augenblick verweilen bei den diversen Strategien der Selbstentschuldung. Wir alle neigen ja vielleicht dazu, bei der Betrachtung von bedrängenden Situationen, in denen Menschen Schuld auf sich geladen haben, davon auszugehen, es gäbe so etwas wie mehr Freiheit oder weniger Freiheit. Weniger Freiheit bedeutete dann auch weniger Verantwortung. Ich möchte Ihnen eine andere Betrachtungsweise erneut nahe legen:
Ich denke, es gibt keine Situation, in der wir gänzlich der Freiheit beraubt wären. Denken Sie mal an diesen Fall: Es gab Menschen in den Konzentrationslagern, die angesichts der barbarischen Umstände und der absehbaren Ermordung in einem letzten Freiheitsakt ihre Würde sogar dadurch bekundeten, dass sie sich selbst den Tod gaben. Und die Schergen der SS nahmen diese Würde-Manifestation genau wahr: Mit allen Mitteln versuchten sie zu verhindern, dass diejenigen, die vielleicht morgen schon getötet werden sollten, sich heute selbst das Leben nahmen. Die SS wollte Herr über Leben und Tod sein.
Wenn einer - und das geschieht ja immer wieder - bekundet "ich hatte doch gar keine andere Wahl!", dann reagieren wir genervt, weil wir erkennen, "der will sich herausreden".
Selbst der berühmte Saint-Just, der in der französischen Revolution so viele Menschen unter die Guillotine gebracht hatte, berief sich seinerzeit auf die Metapher vom Rädchen im Getriebe - wie übrigens später Eichmann oder viele viele Nummern kleiner so mancher IM in der ehemaligen DDR. Saint-Just deklamierte "ich war doch nur daß Beil der Revolution! Hat man schon je gesehen, daß ein Beil zum Schaffot geführt wurde?!“
Diese unerträgliche Form, sich zu entwürdigen, indem man Freiheit und Verantwortung bestreitet, lassen wir, die soziale Umwelt, nicht durchgehen! Wir sagen also: diese Person hatte sehr wohl die Freiheit, anders zu handeln - und wir zeigen mit dieser Feststellung zugleich an, dass wir nicht bereit sind, in diesem Fall Nachsicht zu üben!
Wenn wir die Umstände eines Vorgangs in Augenschein nehmen und uns in die Lage des gequälten anderen Menschen, der z. B. gefoltert worden ist, hinein versetzen, dann ist uns zwar klar, dass er nicht hätte Verrat üben müssen. Denn es gab ja auch andere, die standhielten. Aber wenn wir uns dann fragen, wie wir wohl in dieser Situation gehandelt hätten und uns also der eigenen Schwäche bewusst werden, dann wird uns vielleicht Mitleid ergreifen, welches sich als Nachsicht zeigt und wir werden (metaphorisch) sagen "dieser Mensch hatte doch gar keine Freiheit, anders zu handeln!"
Wohlgemerkt: das ist kein beschreibender Satz, denn es gibt immer eine Wahl. Sondern mit dieser Formulierung „er hatte doch gar keine Wahl“ drücken wir unsere Absicht aus, Nachsicht zu üben, also Verzeihung zu gewähren. Sagen wir, bezogen auf eine von uns missbilligte Tat, „der Mensch war frei“, so sagen wir zugleich, wir sind in diesem Falle nicht bereit, nachsichtig zu sein. Sagen wir „der Mensch hatte doch gar keine andere Wahl“, so drücken wir damit aus: in Anbetracht der bedrängenden Umstände sind wir bereit zu verzeihen. Ob wir Freiheit oder nicht Freiheit zusprechen, das entscheidet sich hier also auf der Ebene unserer Verzeihungsbereitschaft. Man könnte auch sagen: auf der Ebene der Zivilität, nämlich: wie weit gelingt es uns, den an sich berechtigten Willen zur Vergeltung zu relativieren oder teilweise außer Kraft zu setzen.
Gestatten Sie mir an dieser Stelle den Bezug zum Recht zu thematisieren. In Bezug auf das Recht stellt sich das gravierende Problem: Gnade vor Recht oder Gnade nach Recht. Ein sicherlich extremes Beispiel ist die Haltung der katholischen Kirche gegenüber Naziverbrechern. Es ist bekannt, dass der Vatikan vielen belasteten Nazis geholfen hat, sich einem Rechtsverfahren zu entziehen, indem man diese Leute mit neuen Pässen versah und ihnen half, sich z. B. nach Südamerika abzusetzen. Ich brauche hier nicht näher zu erläutern, warum ich das für verwerflich halte. Im gesellschaftlichen Kontext eines Rechtsstaates muss der Ausdruck der Milde, der Nachsicht, wenn man so will der Gnade, an die rechtsstaatliche Bekräftigung der Normgeltung gebunden sein. Also: wenn Gnade im Rechtsstaat, dann "Gnade nach Recht".
Als nächstes möchte ich eine Wendung aufgreifen, die Ihnen allen geläufig ist: Das ist vergeben und vergessen. Es wird unterstellt, zwischen Verzeihen und Vergessen bestünde doch ein enger Zusammenhang. Und das trifft auch zu. Wer Verzeihung geübt hat, nun aber bei jeder Gelegenheit den anderen daran erinnern wollte, was er seinerzeit mal getan hat und wie großzügig ihm verziehen worden ist, der wäre ein unerträglicher Zeitgenosse und dokumentierte im übrigen, dass er gar nicht verziehen hat. Also: wenn Verzeihung wirklich gelingt, dann muss für den Verzeihenden die Tat wirklich aus der Welt sein! Nicht, dass er sie gar nicht mehr erinnerte. Aber er kommt nicht auf die Idee, sie noch einmal zur Sprache zu bringen. Ganz anders aber steht es mit dem, dem verziehen worden ist und der dadurch wieder in die Gemeinschaft integriert worden ist. Er hat die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sich der Tat, vor allem aber der Tatsache zu erinnern, dass ihm verziehen worden ist! Für ihn besteht der allerengste Zusammenhang zwischen Verzeihung empfangen und der Pflicht zur Erinnerung.
Ich möchte es Ihnen überlassen, die Folgerungen auszudenken, die sich aus diesen Erwägungen für die Schuld der Deutschen im Kontext dieser zwei Diktaturen des 20. Jahrhunderts ergeben. Ein paar Bemerkungen dazu werde ich am Ende meines Beitrags noch machen. Jetzt aber wende ich mich einer weiteren Formel zu, die Ihnen geläufig sein dürfte: Alles verstehen heißt: alles verzeihen. Was ist von dieser Wendung zu halten?
Alles verstehen: das meint ja wohl: die Ursachen von etwas in der ganzen Komplexität zu durchschauen. Wenn die Dinge so auf der Hand liegen, dann ist dieser Spruch, meine ich, passend. Ich könnte es auch so sagen: je harmloser das Vergehen ist, desto kleinkarierter und engherziger ist derjenige, der nicht verzeihen will.
Die Sache sieht aber anders aus, wenn wir von barbarischen Vorgängen sprechen, die alle Vorstellungskraft übersteigen. Wir merken das daran, dass auch die höchste Strafe, die der Rechtsstaat vorsieht, uns völlig unangemessen erscheint. Denker wie Hannah Arendt, die dem Vorgang des Verzeihens in ihren Werken durchaus große Aufmerksamkeit gewidmet haben, banden das Verzeihen an die Strafbarkeit. Das meint: Nur was in unseren Augen rechtlich bestraft werden kann, das kann auch verziehen werden; was aber in seiner verbrecherischen Dimension so ungeheuerlich ist, dass es sich auch der Wiedergutmachung durch Strafe entzieht, das ist das Unverzeihliche. Ähnlich dachte auch der jüdische Philosoph Vladimir Jankélévitch, der ein bedeutendes Buch über das Verzeihen (Le pardon, 1967) geschrieben hat, der sich aber außerstande sah, als Jude den Deutschen zu vergeben. Der jüdische Philosoph Jacques Derrida widerspricht hier: „Das Verzeihen des Verzeihlichen dürfe man ja geradezu erwarten. Die eigentliche Herausforderung des Denkens bestehe in dem paradoxen Ansinnen, das Unverzeihliche zu verzeihen“.
Was ich das Unverzeihlich nenne, möchten Sie wissen? Diese Unterscheidung hat natürlich keinen objektiven Maßstab. Sie appelliert an unsere Urteilskraft und unsere moralische Intuition. Vielleicht ist aber dies ein Kriterium: Die Vorstellung, ein Fehltritt x – sagen wir das Beispiel Ehebruch – „das hätte mir trotz aller Treueversprechen auch passieren können“. Wo jedoch diese Art des Sich-hinein-versetzen-Könnens in den anderen oder in dessen Handlungsweise versagt, da stoßen wir auf das maßlos Abgründige menschlicher Existenz. Wieder ein Beispiel: Jemand verliebt sich, heiratet, führt eine normal glückliche Ehe, bekommt Kinder, die gedeihen und groß werden und muss nun plötzlich nach dem Ende des kommunistischen Systems mit Entsetzen feststellen, dass dieses ganze gemeinsame Leben eine Veranstaltung der Staatssicherheit war, dass der geliebte Mensch ein Stasi-Spitzel war, der noch während der ganzen gemeinsamen Zeit mich ausgehorcht hat und seine Berichte verfasst und weitergegeben hat. Sprengt so etwas nicht alle Vorstellungskraft? Ist das nicht zum Verrücktwerden? Das aber genau ist passiert. Ist das nicht, als öffneten sich die Pforten der Hölle vor einem? Ich denke, Sie können nachvollziehen, dass man so etwas für unverzeihlich halten kann. Aber an diesem Punkt eben ist anzusetzen. Verzeihung des Unverzeihlichen als paradoxe Herausforderung, die uns allerdings an Grenzen des Zumutbaren führt.
Von hier aus möchte ich abschließend die Holocaust-Problematik in den Blick nehmen. Es gibt im Judentum viele Stimmen, die angesichts des Holocaust jeden Gedanken an Verzeihung und Versöhnung schroff zurückweisen. Andererseits gibt es Stimmen, die für die eigene Person, ich möchte sagen, das Derrida-Paradox wagen: das Unverzeihliche zu verzeihen. Aber direkt ist dies natürlich kaum auszusprechen, zumal ja auch keiner stellvertretend für die vielen toten Opfer reden kann. Also kann man nur sehr indirekt und zögerlich einem Geist der Verzeihung zum Durchbruch verhelfen, indem man den ohnehin gegebenen Abstand zwischen Täter und Opfer wenigstens verringert.
Es waren Opfer des totalitären Staatsterrors, die die Frage gestellt haben, was es denn nütze, "die Feinde zu vernichten, wenn man dabei zu ebenso hassenswerten Bestien wird wie sie es sind?" (Germaine Tillion, zitiert nach Todorov, 239). Der Schriftsteller TzvetanTodorov (T. 242) bündelt diesen Gedankengang in seinem eindrucksvollen Buch „Angesichts des Äußersten“: "Wer keinerlei Ähnlichkeit zwischen sich und anderen erkennt, wer nur das fremde Böse, aber nicht das eigene sieht, der ist (tragischerweise) dazu verurteilt, seinen Feind zu imitieren. Wer hingegen das Böse auch in sich selbst zu erkennen vermag und folglich merkt, daß er dem Feind ähnlich ist, gerade der unterscheidet sich wirklich von ihm. (...) Halte ich mich für anders, bin ich vom gleichen Schlag; halte ich mich für gleich, bin ich anders (...)".
Einer der bedeutendsten Denker Israels war Jeshajahu Leibowitz. Dieser alte leidgeprüfte trug ohne eine Spur von Barmherzigkeitssentimentalität ständig Argumente vor, die indirekt die einzelnen Handelnden von der Totalbürde der Schuld entlasteten. Leibowitz zögert nicht, auf die Defizite in den öffentlichen Reaktionen Israels angesichts israelischer Verbrechen an arabischen Kindern hinzuweisen: "Wir haben keine Vernichtungslager errichtet (...), aber die Mentalität, die die Vernichtungslager ermöglichte, gibt es auch bei uns." (L. 100) Einer, der selbst Opfer der Geschichtsbarbarei geworden ist, bringt das über die Lippen. Ich als Deutscher verstehe diese Argumentationsstrategie als ein indirektes Zeugnis für einen Geist der Verzeihung, der allerdings furchtbar missverständlich und missbrauchbar würde, wenn er sich direkt artikulierte; Leibowitz wählt, so scheint es mir, deshalb einen Diskurs, der die allgemein menschliche Niedertracht betont und pseudo-moralische Überheblichkeiten nicht zulässt: "Was die Nazis auch immer gemacht haben, sie waren Menschen, und auch die Juden sind Menschen." (L. 101)
Welch ungeheure Macht der Verzeihung bekundet sich in solchen Feststellungen! Doch sogleich ist anzufügen: Welche Primitivität manifestierte sich, wollte eine(r) aus dem Volk, das die Mörder hervor brachte, mit dieser "Tatsachenfeststellung" sich selbst entschuldigen