Die Erforschung der "Faszien" Von Silvia Plahl

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Stoßdämpfer des Körpers . Die Erforschung der "Faszien" Von Silvia Plahl
Sendung: Mittwoch, 15. Januar 2014, 08.30 Uhr
Wiederholung: Mittwoch, 4. März 2015, 08.30 Uhr
Redaktion: Sonja Striegl Regie: Autorenproduktion Produktion: SWR 2014
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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:
ÜBERBLICK
Faszien durchziehen als Teil des Bindegewebes unseren gesamten Körper. Wie Stoßdämpfer schützen sie Knochen, Muskeln und die inneren Organe, unterstützen zudem die Immunabwehr. Werden die Faszien über- oder unterbeansprucht, verkleben sie und verursachen Schmerzen. Manuelle Therapien wie beim "Rolfing" oder in der Osteopathie helfen dagegen. Und neue Befunde können so auch erklären, wie Akupunktur, Yoga oder Tai Chi wirken. (Produktion 2014)
MANUSKRIPT
O-Ton 1 - René Enders (Sportler):
Als ich das erste Mal von dem Faszientraining gehört hab, war ich genauso erst mal... doch so ne Art Skepsis. Aber im Nachhinein muss ich sagen, bin ich ein sehr großer Freund davon. Weil man dieses Faszientraining an sich selber sehr gut steuern kann.
O-Ton 2 - Christian Blisse (Trainer):
Man muss es als Kapital- und Körperpflege sehen. Wer Muskelverspannungen im Rücken, im Nacken hat - haben ja sehr viele heutzutage - kann da einfach in relativ kurzer Zeit viel erreichen.
O-Ton 3 - Robert Schleip:
Faszien können sich aktiv bewegen. Langsamer als Skelettmuskeln, aber sie können sich zusammenziehen und auch wieder entspannen. Und nicht nur das! Das ist ja ne neue Einsicht - sie haben auch Wahrnehmungssensoren.
Sprecherin:
„Stoßdämpfer des Körpers - Die Erforschung der ‚Faszien‘“ - eine Sendung von Silvia Plahl.
O-Ton 4 - Robert Schleip:
... dieses weiße Gewebe, was so unstrukturiert ist, also nicht klar in Einzelheiten zu trennen ist...
Autorin:
Faszien waren lange Zeit medizinisch vernachlässigt, uninteressant und unbekannt. - Das weißliche faserige Bindegewebe aus Kollagen, das den ganzen Körper durchzieht, wurde oft weg geschnitten, um an die dahinter liegenden Stellen zu gelangen. Bedauert der Ulmer Humanbiologe Dr. Robert Schleip.
O-Ton 5 - Robert Schleip:
Wir haben das die ganze Zeit weg präpariert! Ja und das ist so ein spannendes Material!
Autorin:
Faszien umhüllen Knochen, Muskeln und die inneren Organe wie ein Gitternetzwerk in 3D. Flächenartiges weißes Bindegewebe wie die Lumbalfaszie am Rücken oder die Nackenfaszie sind schon lange bekannt. Inzwischen werden zu den faszialen Geweben jedoch auch Gelenk- und Organkapseln gezählt, sowie bandartige Strukturen und das muskuläre Bindegewebe. Welche Bedeutung dieses Faszien-Netzwerk für die muskulären oder organischen Funktionen hat, wird in Deutschland erst seit wenigen Jahren erforscht. Robert Schleip, Biologe, Psychologe und Heilpraktiker - ist ein so genannter „Rolfer“. Über die Behandlungs-Methode des Rolfing kam er schon früh mit den Faszien „in Berührung“: Rolfer ertasten und lösen manuell Verspannungen im Gewebe, um den Körper aufzurichten und wieder ins Lot zu bringen. Jetzt zeigt sich: Mit einem nur esoterisch angehauchten „Energiefluss“ hat das nichts zu tun.
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O-Ton 6 - Robert Schleip:
In der Rolfing-Methode, also diese manuelle Therapie, wurden immer schon die Faszien als angeblich wichtigstes Medium betont, über die diese oft aber nicht immer spektakulären Veränderungen dann passieren. Also dass mal jemand, der bucklig ist, dass der sich wieder aufrichtet innerhalb von mehreren Sitzungen zum Beispiel. Und da war die Theorie, dass das nicht über die Muskeln passiert, sondern über dieses muskuläre Bindegewebe, genannt Faszien.
Autorin:
Dass die Rolfing-Therapeuten bei solchen Verspannungen Verhärtungen der Faszien aufspüren, sie mit den Händen stimulieren und wieder lockern, dieser Theorie fehlten bislang die Beweise. Heute sei die medizinische Forschung weiter, sagt Robert Schleip.
O-Ton 7 - Robert Schleip:
Faszien reagieren! Auf manuelle Manipulation, aber auch auf sportliche Belastung. Und vor allen Dingen können wir sie messen. Das war eben früher nicht der Fall.
Autorin:
Seit 2003 untersucht der Humanbiologe an der Universität Ulm, wie die Faszien beschaffen sind und wie sie wirken. Er gilt als deutscher Pionier in seinem Fachgebiet. Ergänzt durch in- und ausländische Forschungen stellt seine Arbeitsgruppe die Grundlagen über das Gewebe zusammen. Faszien geben dem Körper, den Knochen, Muskeln und Organen Form und Struktur, und sie verleihen dem Bewegungsapparat die nötige Spannung, da sie Muskelkräfte übertragen. Daneben konnten die Wissenschaftler in der Bindegewebshülle auch viele Sinnesrezeptoren nachweisen. Faszien wirken als zusätzliches Sinnesorgan im Körperinneren. Mit ihnen könne jeder Mensch seinen Körper in Ruhe und Bewegung wahrnehmen und steuern, meint Schleip:
O-Ton 8 - Robert Schleip:
Dass ich weiß: Wo befindet sich mein Kopf im Raum? Hab ich jetzt einen Rundrücken oder ein Hohlkreuz?
Autorin:
Einseitige oder mangelnde Bewegung allerdings können dazu führen, dass die Kollagen-Fasern im Bindegewebe auswuchern. Dann verfilzt, verhärtet und verdickt das Netzwerk. Darauf reagieren die Nervenzellen in den Faszien. Sie melden Schmerzen. Die Gewebehülle kann aber andererseits auch wie ein Stoßdämpfer Entzündungen verhindern, wenn ihre Spannkraft stimmt.
Atmo: Labor
O-Ton 9 - Heike Jäger:
Jetzt lass ich mal die hüpfen, die sehr elastisch ist (mit Hüpfen) und dazu im Vergleich eine, die eher einen Stoßdämpfereffekt hat, die hört sich so an:
Atmo: Gummikugel Stoßdämpfereffekt
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Autorin:
Die Neurophysiologin Dr. Heike Jäger demonstriert bewegliche Faszien - mit Hilfe einer Gummikugel.
O-Ton 10 - Heike Jäger:
Um zu sehen, wie ich diesen Effekt durch Sport, durch Ernährung, durch Behandlung wieder in den (Hüpfer) ändern kann. Beziehungsweise inwieweit ich an anderen Stellen im Körper diesen Effekt der Stoßdämpfung auch brauche, um keine Reibung zu erzeugen. Weil zu große Reibung im Körper bedeutet: Entzündung.
Autorin:
Heike Jäger ist unter anderem Expertin für chronischen Rückenschmerz. Sie ermittelt am Ulmer Zentrum für Faszienforschung Normwerte zu den sehr verschiedenen Faszien im menschlichen Körper. Sie misst ihre Elastizität.
O-Ton 11 - Heike Jäger:
Dazu haben wir kleine Handgeräte im Moment in der Testung, die aus der russischen Raumfahrtforschung kommen.
Autorin:
… so genannte Myometrie-Geräte: etwas größer als ein Handy, entwickelt von einem Startup-Unternehmen in Tallinn. Es gibt insgesamt nur rund 40 solcher Gewebemesser weltweit. Die Neurophysiologin drückt sich ein Exemplar an den Unterarm.
O-Ton 12 - Heike Jäger:
Wenn ich nen Anpressdruck von 0,1 Newton aufs Gewebe hab, löst das Gerät weitere Impulse aus... Geräusch... Infolge dieser Kraft auf das Gewebe … schwingt das Gewebe in den ersten 400 Millisekunden in ner bestimmten gedämpften Schwingung aus.
Autorin:
Ein schnelles Schwingen bedeutet: nicht so elastisch.
O-Ton 13 - Heike Jäger:
Damit kann ich feststellen, ob Sie rechts oder links oben an der Schulter Verspannungen haben und möglicherweise Ihre Kopfschmerzen daher kommen. Und das ist präzis genug, um das, was die sehr guten Therapeuten tasten können, in Zahlenwerte umzusetzen.
Autorin:
Solche Werte wollen die Ulmer Forscher gewinnen, um die Qualität eines Gewebes zu definieren. Faszien am Oberschenkelmuskel könnten zum Beispiel ganz andere Daten liefern als ein Wadenmuskel, erzählt Heike Jäger. Je nachdem, ob sie einen Mittelstreckenläufer oder einen 100-Meter-Sprinter vor sich habe: Beim 100-Meter-Lauf etwa brauche ein Sportler gerade zum Start eine enorme Elastizität und Schnellkraft. - Inwieweit spiegeln also die Faszien das Bewegungsverhalten in Sport und Alltag? Um das zu beantworten untersuchen die Wissenschaftler in einer laufenden Studie über 300 Probanden: gesunde Erwachsene, gleichmäßig über die Gesamtbevölkerung verteilt, einige treiben Sport, einige haben Rückenschmerzen.
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Vermessen werden ihre Schulter- und Halsmuskulatur, die Lumbalfaszie am Rücken, die Achillessehne und die Plantarfaszie in der Fußsohle.
O-Ton 14 - Heike Jäger:
Die Lumbalfaszie wegen des Rückenschmerz, die Schultermuskulatur wegen der häufig auftretenden Spannungskopfschmerzen, die Achillessehne im Sport bei zu hoher Belastung.
Autorin:
Hinzu kommen moderne bildgebende Verfahren. Forscher der Inneren Medizin der Uniklinik kooperieren bei der aktuellen Studie. Sie setzen ein spezielles Ultraschallgerät ein, das neben dem Ultraschall so genannte Scherwellen ins Gewebe abgibt. So kann auch die Faszienhülle um innere Organe genauer untersucht werden - die Ulmer Wissenschaftler werten gerade die Messdaten der Schilddrüse, der Bauchspeicheldrüse, Leber, Nieren und Milz ihrer Probanden aus.
Atmo: Ultraschallraum
Autorin:
Die Veränderungen der Faszien durch eine manuelle Behandlung lassen sich am besten durch Vorher-Nachher-Aufnahmen belegen. Heike Jäger zeigt zwei Ultraschallbilder.
O-Ton 15 - Heike Jäger:
(blättert) Das ist eine durch Tasten identifizierte, schmerzhafte verklebte Faszie am Unterarm und da sieht man, dass das ein relativ weißes Gewebe ist, komprimiert, das heißt verklebt, wasserfrei. Wenn man so eine Struktur zum Beispiel für zehn Minuten behandelt, mit Massage oder Wärme, dann bekommt man - das sieht man hier - ne Veränderung, dass dieses verklebte Faszienband ne andere Struktur aufnimmt. Bei solchen Unterschieden ist es dann eben sehr interessant, die Elastographiemessung auf solche Punkte zu setzen, und da sieht man dann, wie die Steifigkeit der Bereiche schön abnimmt.
Autorin:
Seit Robert Schleip 2007 den ersten Faszienkongress an der Harvard Medical School in Boston mit initiierte, tragen Forscher im In- und Ausland laufend neue Erkenntnisse zusammen. In Heidelberg konnten Biomediziner Nervenzellen in den Faszien nachweisen. Physiologen in Amsterdam behoben spastisch bedingte Wadenverkürzungen, ohne zu operieren, allein durch manuelle Therapie. Der Austausch zwischen Schulmedizinern und Physiotherapeuten, die sich sonst oft skeptisch beäugen, wächst. Ein Physiologe aus Harvard untersucht inzwischen die Hypothese einer kanadischen Massagetherapeutin, Verklebungen im Unterbauch etwa nach Operationen oder endoskopischen Untersuchungen könnten manuell gelöst werden. Und auch Schleips Team in Ulm forscht interdisziplinär weiter.
Atmo: Laborraum aufschließen und reingehen
Autorin:
Dr. Werner Klingler gehört der Arbeitsgruppe als Spezialist für neuromuskuläre Krankheiten an. Er untersucht Patienten, deren Muskeln aufgrund einer
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Stoffwechselstörung unter Narkose nicht entspannen können. Diese brauchen spezielle Medikamente. Im Labor untersucht Werner Klingler, welche Wirkung pharmakologische Substanzen auf die Faszien haben und welche Wirkung etwa eine Dehnung erzeugt: Ein zwei bis drei Zentimeter langes Gewebestück ist in einem eigens gefertigten Glasgefäß eingespannt. Das Glas enthält eine Elektrolytlösung. In diesem so genannten Organbad simulieren die Forscher die körperlichen Bedingungen für das Fasziengewebe - und experimentieren damit.
O-Ton 16 - Werner Klingler:
Hier wird dann das Fasziengewebe an so einen Kraftaufnehmer angeschlossen. Und hier haben Sie die Möglichkeit, die Temperatur zu kontrollieren. Der CO2-Wert wird kontrolliert, der Sauerstoffgehalt wird kontrolliert, die Glukose wird kontrolliert, die Elektrolyte werden kontrolliert. Man kann alle Variablen verändern. Und kann dann simulieren, was sich tut mit den Faszien.
Autorin:
Die Wissenschaftler wollen herausfinden, wie das Gewebe elastisch bleibt.
O-Ton 17 - Werner Klingler:
Wir konnten zum Beispiel zeigen, dass die Faszien ein so genanntes Strain Hardening haben. Das heißt: wenn man sie dehnt, dann wird erst mal der Wassergehalt reduziert und im Nachhinein, nach der Dehnung, saugen sie sich wieder voll mit Wasser. Und haben dann einen höheren Wassergehalt als vorher.
Autorin:
Der Wassergehalt lässt Rückschlüsse darauf zu, wie geschmeidig die Faszien sind: Ein Neugeborenes etwa hat 80 Prozent Wasser im Körper, was überwiegend im Bindegewebe gebunden wird. Neugeborene haben auch eine sehr gute Elastizität. Ein Senior hingegen kommt nur auf etwa 50 Prozent Wassergehalt. Das Fazit der Forscher: gedehnte Faszien gewährleisten Beweglichkeit.
O-Ton 18 - Werner Klingler:
Und die Faszien modulieren die Bewegungen, und das ist für mich eigentlich das Interessanteste, und das ist für mich auch das Gebiet, das ich am meisten erforsche. Das Zusammenspiel der Faszien mit der Muskulatur. Und die Faszien sind eben mehr als nur passive Kraftüberträger, die Faszien sind eher intelligente Komponenten unseres Bewegungsapparates und funktionieren so ein bisschen wie ein Servomechanismus beim Auto: Wenn man die Lenkung zum Beispiel einschlägt, nur ein bisschen, dann bewegt sich das Vorderrad, und ist abhängig von der Geschwindigkeit, abhängig vom Bedürfnis.
O-Ton 19 - Robert Schleip:
Das ist auch die neue Erkenntnis von unserem Labor: Faszien können sich aktiv bewegen. Langsamer als Skelettmuskeln, aber sie können sich zusammenziehen und auch wieder entspannen.
Autorin:
Dieses Wissen wenden Mediziner und Therapeuten im Sport bereits an. Die deutsche Fußballnationalmannschaft profitiert davon. Klaus Eder, Chef-Physiotherapeut des DFB und auch des deutschen Olympia- und Davis-Cup-Teams,
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setzt bereits seit Jahrzehnten auf die gezielte Behandlung des muskulären Bindegewebes. Da Faszien die Muskeln umhüllen und wie diese kontrahieren und erschlaffen können, wirkt eine Faszienmassage zurück auf die Muskulatur, löst dort Verhärtungen oder gleicht Überlastungen aus. Solche Techniken können die Aktiven sogar selbst einsetzen. Christian Blisse bezeichnet sie als „Muskelpflege durch Faszientraining“. Blisse, ein Berliner Trainingsberater, begleitet ebenfalls Leistungssportler. Auch er ist überzeugt, dass die Sportler mit einem individuell bestimmten Faszientraining ihre Muskelregeneration optimieren und Verletzungen vermeiden. Vor allem Läufer, Fußballer und Radsportler seien für diese Methode offen, hat Blisse beobachtet. Der ehemalige Radrennfahrer demonstriert dies gleich selbst.
Atmo: Treppenhaus Olympiastützpunkt
Autorin:
Blisse setzt sich im Olympiastützpunkt Berlin-Hohenschönhausen auf eine Hartschaumrolle, streckt beide Beine aus und rollt sitzend vor und zurück.
O-Ton 20 - Christian Blisse:
Ich roll jetzt gerade, so wie Sie sehen können, den hinteren Oberschenkel, das mache ich sehr sehr langsam. Wichtig ist, dass ich es kontrolliert mache und auch ein gewisses Körpergefühl habe. Ich versuch den Schmerz zu spüren oder dieses Wohlweh - so ein ganz kleiner Schmerz - und massier mich selbst. Ich selber such mir den Schmerz aus, und ich selber bestimme auch den Druck, den ich auf den Oberschenkel oder auf die jeweilige Muskulatur ausüben möchte.
Autorin:
Jetzt stützt er sich mit beiden Händen hinter dem Rücken auf dem Boden ab und stellt auch ein Bein zur Unterstützung auf.
O-Ton 21 - Christian Blisse:
Wenn ich ne verhärtete Stelle gefunden hab, dann bleib ich da drauf. Dann rolle ich ein bisschen hin und her, ich winkel vielleicht den Fuß etwas vor und zurück oder ich geh ein bisschen quer. Es sollen mir nicht die Tränen in die Augen schießen, sondern es ist ein Wohlschmerz, den ich auch bei einem Physiotherapeuten ertragen würde. Und die Beweglichkeit bekommen Sie ja auch dazu.
O-Ton 22 - René Enders:
Man muss sich da selber kennen lernen, vom Körper her, man kann das natürlich extrem intensiv gestalten, je nachdem, wie sehr man das Gewicht darauf verlagert, dann kann's natürlich schon mal zu blauen Flecken kommen. Aber man kann es auch ganz sanft einfach nur als ne Art Lymphdrainage machen. Und dann ist das auch ganz angenehm.
Autorin:
Der 26jährige René Enders ist aktiver Bahnradfahrer. Zweifacher Weltmeister sowie zweifacher Olympiamedaillengewinner im Teamsprint. Enders wurde von Christian Blisse beraten und praktiziert dieses Faszientraining seit zwei Jahren.
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O-Ton 23 - René Enders:
Wir sind ja nicht nur Bahnradsportler, sondern auch Kraftsportler. Wir bewegen sehr sehr viel Gewichte, somit kommt's immer zu ner Verhärtung der Muskulatur und auch in dem Bindegewebe herum. Und oftmals ist es notwendig, diese Muskulatur relativ schnell auch wieder zu entspannen, um auch wieder die Regeneration zu fördern.
Autorin:
René Enders benutzt die Massagerolle allerdings nicht nach einem festen Zeitplan.
O-Ton 24 - René Enders:
Das ist immer ne Gefühlssache. Es gibt Training oder Trainingsphasen, da möchte ich natürlich ein bisschen Spannung auf dem Muskel haben, bisschen Vorspannung für die nächsten Einheiten. Aber es gibt auch Einheiten, wo ich sage: Okay, jetzt muss ich mich wirklich mal regenerieren, ich muss jetzt wirklich mal nen ruhigen machen, und dann benutz ich das. Also man merkt natürlich dann schon, dass die Regeneration schneller funktioniert. Und man auch deutlich erholter ist. Aber auch das braucht natürlich seine Zeit. Also mit so nem Faszientraining kann man die Erholung auch nicht herbei zaubern, mit den Fingern schnippen und sagen: Jetzt ist das vorbei.
Autorin:
Der Radrennprofi wird seine Faszien auch weiterhin gezielt trainieren. In der Mittagspause, zuhause, auf der Couch. Mit der Hartschaumrolle, mit Tennisbällen oder einem Massage-Roller. Enders schätzt es, dass er dieses Training eigenhändig steuern kann. Von solcher Art der „Muskelpflege“ verspricht er sich nicht nur die schnelle Erholung, sondern auch bessere Wettkampfzeiten. - So wie alle Sportler will er seine Muskeln stark belasten, Verletzungen vermeiden und die Leistung steigern. Trainierte, elastische Faszien und ausgleichende Bewegungen scheinen dabei zu helfen. Bei Laien hingegen, die wenig Sport machen oder sich nur einseitig belasten, kommt es oft zu einem Faszien“schmerz“, erläutert der Mediziner Professor Matthias Fink:
O-Ton 25 - Matthias Fink:
Heißt immer, was rastet, das rostet. Aber hier rostet nichts, sondern es verklebt.
Atmo: Ambulanz
Autorin:
Matthias Fink leitet an der Medizinischen Hochschule Hannover eine Privatambulanz für Naturheilverfahren. Als Osteopath arbeitet er mit gezielten Handgriffen, welche die Selbstheilungskräfte des Körpers aktivieren sollen. Fink behandelt in Hannover viele Patienten nach dem so genannten Faszien-Distorsions-Modell nach Stephen Typaldos.
O-Ton 26 - Matthias Fink:
Was wir gut annehmen können ist, dass es im Bindegewebe so genannte Mikroverklebungen gibt. Und das was wir mit dieser Behandlung nach Typaldos machen, scheint nach bisherigen Einschätzungen so zu sein, dass wir bei einigen diese Mikroverklebungen lösen, um auf diese Art und Weise zum einen Schmerz zu
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dämpfen und zum anderen auch die Beweglichkeit wieder zu verbessern, sofern die Beweglichkeit eingeschränkt ist.
Autorin:
Der amerikanische Physiotherapeut Typaldos entwickelte sein Modell vor 20 Jahren. Er ging davon aus, dass Schmerzen im Bereich von Muskeln, Sehnen und Gelenken mit Fasziendistorsionen, also Verdrehungen im Bindegewebe, zusammenhängen. Derartige Schmerzen lassen sich ihm zufolge nach einem bestimmten Muster beheben.
O-Ton 27 - Matthias Fink:
Diese Behandlungstechniken werden manuell durchgeführt, und die Behandlungstechniken sind zum Teil entlehnt aus der klassischen Chirotherapie, aus der klassischen Osteopathie, es sind auch ein paar Massagegriffe dabei.
Autorin:
Eine solche manuelle Therapie, sei zunächst nichts Revolutionäres, so Matthias Fink. Doch all jene Techniken aus der Alternativmedizin, die das fasziale Bindegewebe elastisch machen, die Muskulatur lockern und am Ende Schmerzen vermeiden, könnten durch die neuere Forschung ein wissenschaftliches Fundament erhalten: Rolfing und Osteopathie oder auch Akupunktur, Tai Chi, Pilates oder Yoga. Denn die Wissenschaftler testen und belegen ihre Wirkung auf die Faszien im Sinne einer Schmerzverhinderung und Schmerzreduzierung. - Lars Adamiz, ein Bäckergeselle, 38 Jahre alt, kam nach einer längeren Ärzte-Odyssee mit Nackenproblemen, einem Hexenschuss und einem Tennisarm zu Matthias Fink in die Ambulanz.
O-Ton 28 - Lars Adamiz:
Da gibt’s dann bestimmte Positionen, wo er gegendrückt. Das ist ein kurzer Schmerz, aber auch ne Entlastung. Es ist eigentlich ein ziemlich angenehmes Gefühl.
Autorin:
Ein gezieltes Drücken, ein entlastender Schmerz - und eine große Erleichterung, so hat es der Patient erlebt. Schon nach dem ersten Mal sei er mit weniger Beschwerden nach Hause gegangen.
O-Ton 29 - Lars Adamiz:
Ich bin der Meinung, dass der Professor wahrscheinlich ein bisschen mehr ins Detail geht und vielleicht auch spürt, wie's bei den Menschen irgendwie knackt oder wo's zwickt oder so, dass er mehr jetzt auf den Punkt kommt als andere.
Autorin:
Professor Fink lehrt an der Medizinischen Hochschule Hannover Naturheilverfahren und Komplementärmedizin. Vor acht Jahren hat er die Wirkung des bis dahin kaum untersuchten Faszien-Distorsions-Modells nach Typaldos erforscht. Die Ergebnisse der Studie überzeugten ihn. Im Fokus standen 60 Patienten mit einer so genannten frozen shoulder.
O-Ton 30 - Matthias Fink:
Eine schmerzhaft eingeschränkte Schulterbeweglichkeit. Und das ist etwas, was Patienten oft mehrere Jahre begleitet und wo die konventionelle Schulmedizin nicht
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so recht Rat weiß. Das muss man einfach zugeben. Und auch mit den klassischen Behandlungsverfahren in meinem Fachbereich physikalische und rehabilitative Medizin lässt sich das auch nicht wirklich souverän in Griff bekommen. Das muss man einfach so sagen.
Autorin:
Fink und sein Team behandelten 30 Personen nach der Typaldos-Methode und verglichen die Effekte mit der konventionellen manuellen Therapie bei den anderen 30.
O-Ton 31 - Matthias Fink:
Das Hauptzielkriterium war das eingeschränkte Abspreizen vom Arm, also wenn Sie den Arm nicht über die Horizontale heben können. Und nach der vierten Behandlung war's halt so, dass in dieser Typaldosgruppe alle mehr oder weniger uneingeschränkt wieder den Arm bewegen konnten.
Autorin:
Dieses Ziel war in zwei Wochen bereits erreicht, nach vier Terminen à 30 Minuten. Zwar habe auch die klassische manuelle Therapie ihre Wirkung gezeigt, betont Fink,...
O-Ton 32 - Matthias Fink:
Nur es hätte dort wesentlich länger gebraucht, um das gleiche Ziel zu erreichen. Die Typaldos-Methode hat eben wesentlich, wesentlich besser abgeschnitten hier.
Autorin:
Allerdings sind die Behandlungsgriffe nach Typaldos für die Patienten oft unangenehm bis schmerzhaft.
O-Ton 33 - Matthias Fink:
Man könnte sagen, das ist ein akzeptabler Therapieschmerz, den der Patient toleriert und es auch intuitiv spürt, dass es quasi sein Gutes hat. Viele Patienten bekommen Hämatome, die sie dann durchaus ein paar Tage begleiten können. Und wenn das Schmerzareale waren, die sich über ne ganze Gliedmaß, über einen Arm oder ein Bein hinziehen, dann kann das schon sein, dass man ein paar Tage lang ganz bunt aussieht.
Autorin:
Der Schulterstudie in Hannover folgen zwei Untersuchungen zum akuten Rückenschmerz. Die Ergebnisse stehen noch aus. Falsche und einseitige Belastungen können Verklebungen, aber auch kleine Risse oder Wunden in den Faszien erzeugen und zu Entzündungen führen. Dann folgen Muskelstörungen und Verkrampfungen und am Ende womöglich ein chronischer Schmerz. Für diese enge Verbindung zwischen Schmerzempfinden, Faszien und Muskulatur interessiert sich auch die Ulmer Forschergruppe. Weil alle Nervenzellen vom Gewebenetzwerk umhüllt sind, werden sie eingeengt, sobald die Faszien verhärten, erklärt der Nervenspezialist Dr. Werner Klingler.
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O-Ton 34 - Werner Klingler:
Das äußert sich dann in Schmerzen, in Sensibilitätsstörung, Taubheitsgefühl, Kribbeln und letzten Endes auch in nem Funktionsverlust der Muskulatur. Und durch die Studien, die man an Leichenpräparaten durchgeführt hat, hat man festgestellt, dass überall eigentlich im Körper, wo es zu solchen Nervenkompressionen kommt, ne fasziale Verdickung eben vorzufinden ist, und diese fasziale Verdickung, die kann man chirurgisch lösen.
Autorin:
Der Anästhesist Klingler leitet das neuromuskuläre Labor der Universität Ulm - in Günzburg, wo sich auch die neurochirurgische Klinik der Universität befindet. Dort werden Faszienverdickungen operativ entfernt.
O-Ton 35 - Werner Klingler:
Man kann einerseits stumpf präparieren, das heißt einfach die Verklebung weg schieben, um somit den Nerv wieder frei zu machen, damit der Nerv wieder durchblutet ist. Und wenn das zu straff ist, dann kann man diese Verdickung auch durchtrennen mit ner kleinen Schere.
Autorin:
Doch hatten einige der Patienten auch nach solchen Operationen noch heftige Beschwerden. Neuere Studien zeigten nun, dass die schmerzhaften Faszienverengungen auch an anderen Stellen im Verlauf des Nervs vorkommen können - das wird erst dann sichtbar, wenn ein Mediziner einen betroffenen Nerv mit dem Endoskop bis etwa 15 oder zwanzig Zentimeter weiter in die Tiefe verfolgt.
Der Leiter der Fasziengruppe am Ulmer Klinikum, Dr. Robert Schleip wollte nun sehen, ob und wie er mit der manuellen Therapie des Rolfings auch diese tiefer gehenden Verspannungen im Gewebe lösen kann. Bei den ersten drei Behandlungen am OP-Tisch tat sich jedoch nichts.
O-Ton 36 - Robert Schleip:
Egal, was ich draußen gedrückt, gezerrt hab, das ist nicht an die Stelle rangekommen.
Autorin:
Erst als der Therapeut das so genannte Septum ertastete, eine leichte Einkerbung zwischen den Beugern und Streckern an der Außenseite des Oberarms...
O-Ton 37 - Robert Schleip:
… wo ich da so ne seitliche Scherbewegung gemacht habe, hat man gesehen: Mensch, das löst sich! Also das war jetzt so mein Lerneffekt. Ich hab fast jede Woche Leute, bei denen der ganze Arm kontrahiert ist. Die durch zu viel Klavierspielen, durch zu viel Sekretärinnenarbeit den Arm kaum noch bewegen können. Jetzt taste ich diese Septen wieder, und versuche dort, ohne Operation, diese Crosslings zu lösen. Und hab viel schnellere Resultate.
Autorin:
Das Ulmer Forscherteam will künftig Operationen am Bewegungsapparat vermeiden, indem man die Faszien manuell „vortherapiert“ oder mit Medikamenten Verdickungen
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löst. Parallel dazu entwickeln Therapeuten neue Konzepte für gezielte Faszien-Trainings. Denn von diesen können nicht nur Leistungssportler profitieren. Ein Faszientraining brauche kurze kräftige Bewegungen, erklärt Robert Schleip.
O-Ton 38 - Robert Schleip:
Wenn Sie fünf oder zehn Hopfer machen, wo Sie versuchen, auf eine zehn Zentimeter hohe Treppe hoch und runter zu springen, und wenn Sie auch versuchen, beim Abfedern wie eine Katze, wie eine Antilope möglichst wenig Geräusch machen - dann bringen Sie sehr sehr hohe Kräfte auf das muskuläre Bindegewebe drauf. Wenn Sie dann noch federnde Bewegungen machen, wo Sie versuchen, einen Rhythmus zu finden, der so eine Geschmeidigkeit hat, dann trainieren Sie die elastischen Elemente im kollagenen Bindegewebe.
Autorin:
Man müsse nur wenig tun, um seine Faszien zu pflegen, meint Schleip. Zweimal die Woche fünf Minuten federnde Bewegungen, zwei Wochen später vielleicht sieben Minuten. Nach drei Monaten sehe man noch keine Veränderung. Aber nach einem halben Jahr staune jeder beim Griff an Oberschenkel oder Rücken über die neue Spannkraft, prophezeit der Experte. Robert Schleip greift zu einer so genannten Swing-Hantel: einem dicken Holzgriff, umspannt von einem schweren sichelförmigen Lederbeutel.
O-Ton 39 - Robert Schleip:
Wenn ich das jetzt so wie hier über den Kopf schwinge oder unter den Beinen durch nach hinten, dass ich jeweils spüren kann, welche Stellen an meinem Rücken oder auch von vorne, wenn ich mit dem Kopf nach hinten gehe, werden angenehm gedehnt. Trotzdem kommen dann sehr große Zugkräfte nicht nur auf die Schulterkapsel drauf, sondern auch auf meine Brustmuskulatur, auf die Rückenfaszie hinten, und das wäre jetzt so eine typische Art, die wir empfehlen, dass man die in den sportlichen Alltag mit einbaut.
Autorin:
Diese Übungen sind im Grunde nicht neu. Im Yoga oder Tai Chi verbergen sich ganz ähnliche Bewegungen. Doch allmählich verstehen die Wissenschaftler die Zusammenhänge zwischen elastischen Faszien, Gesundheit und Wohlbefinden. Gelöste, frei gleitende Faszien können so auch das Immunsystem und die Psyche stärken.
Demnächst wollen die Forscher herausfinden, ob langsame, statische Dehnungen im Bindegewebe anti-entzündliche Botenstoffe freisetzen und somit Schwellungen und Entzündungen schneller abbauen. Die Hypothese dazu ist aufgestellt.
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Literatur:
°Fascia:
The Tensional Network of the Human Body: The Science and Clinical Applications in Manual and Movement Therapy. Robert Schleip, Thomas W. Findley u. a., Verl. Churchill Livingston 2012 (Englisch)
°Serge Paoletti:
Faszien. Anatomie, Strukturen, Techniken, Spezielle Osteophatie. 2. Aufl. Urban & Fischer Verl. 2011
° Gunda Slomka:
Faszien in Bewegung. Bedeutung der Faszien in Training und Alltag. Verl. Meyer und Meyer Sport, erscheint Mai 2014
° Astrid Geiger:
Faszien - Schlüssel zur Stabilität... (z. Faszien-Distorsion-Modell nach Typaldos), VDM-Verlag, 2009
° Frank Thömmes:
Faszientraining. Verlag Copress Sport, 2013
° Hubert Ritter:
Rolfing: Strukturelle Integration. Verlag Noema, 2012
Links:
http://fasciaresearch.de/
http://www.bkh-guenzburg.de/
http://www.uni-ulm.de/en/med/medzeseer.html
http://www.mh-hannover.de/23714.html
http://www.mh-hannover.de/23714.html (Ambulanz für Naturheilverfahren)
http://www.fascial-fitness.de/de/faszientraining
DVD:
Fascial Fitness. 2011