SWR2 Wissen: Aula - Reimer Gronemeyer: Sterben ohne Apparatemedizin . Plädoyer für das, was wir uns wünschen
Sterben (R.Gronemeyer)
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SWR2 Wissen: Aula - Reimer Gronemeyer: Sterben ohne Apparatemedizin . Plädoyer für das, was wir uns wünschen
(Versorgungsprojekt / Zuwendungsprojekt)
Sendung: Ostersonntag, 5. April 2015, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch, Produktion: http://www.swr.de/swr2/
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Service:
ÜBERBLICK
Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung will nicht im Krankenhaus oder Heim sterben, das zeigen viele Umfragen. Doch selten ist das möglich. Die medizinische Versorgung kann zu Hause nicht gewährleistet werden, es fehlen Pflegekräfte, Angehörige, es fehlen Menschen, die trösten und begleiten. Deshalb werden die meisten alten, kranken Menschen in ihrer letzten Lebensphase ins Krankenhaus abgeschoben und der Apparatemedizin überlassen. Reimer Gronemeyer, emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Gießen, zeigt, wie eine neue humane Sterbekultur aussieht. (Produktion 2014)
Autor
Prof. Dr. Dr. Reimer Gronemeyer, geb. 1939, Studium der Theologie, Promotion zu den Paulusbriefen, lutherischer Pfarrer in Hamburg. Studium der Soziologie, Promotion zu Fragen der Demokratisierung in Institutionen; seit 1975 Professor für Soziologie an der Universität Gießen. Seine Forschungsarbeiten führen ihn nach Afrika und Osteuropa. Außerdem unterstützt er u. a. die deutsche Hospiz- und Palliativbewegung.
Bücher (Auswahl):
– Alt werden ist das Schönste und Dümmste, was uns passieren kann. Edition Körber-Stiftung. 2014.
– In Ruhe sterben: Was wir uns wünschen und was die moderne Medizin nicht leisten kann. (zusammen mit Andreas Heller). Pattloch-Verlag. 2014.
– Das 4. Lebensalter: Pattloch-Verlag. Demenz ist keine Krankheit. 2013.
– Der Himmel. Sehnsucht nach einem verlorenen Ort. Pattloch-Verlag. 2012.
INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: „Sterben ohne Apparatemedizin – Plädoyer für das, was wir uns wünschen“.
Mehr als 80 Prozent der Deutschen will nicht im Krankenhaus oder Pflegeheim sterben, sondern zuhause, im Kreis der Angehörigen. Das sagen jedenfalls viele Umfragen. Doch das bleibt eher ein Wunsch: Die medizinische Versorgung am Ende des Lebens kann zuhause oftmals nicht gewährleistet werden, es fehlen Pflegekräfte, ja und es fehlen oft auch Angehörige, die trösten und begleiten. Und so werden die alten Menschen ins Heim oder die Klinik abgeschoben, und das ist ein Skandal, sagt der emeritierte Professor für Soziologie an der Universität Gießen Reimer Gronemeyer.
Reimer Gronemeyer:
Ich bin vor kurzem von einer Forschungsreise in Tansania zurückgekommen, wo ich in einem kleinen Dorf im Süden gewesen bin, einem wunderschönen Dorf aus rot gebrannten Ziegeln und einem üppigen tropischen Grün, Bananenstauden, Mangos, Papayas – ein wunderbarer Kontrast zwischen dem Rot und dem Grün. Das Dorf ist sehr abgelegen, fließend Wasser, Elektrizität gibt es nicht.
Ich bin von Zeit zu Zeit durch dieses Dorf gegangen und habe mit den Menschen gesprochen. U. a. erinnere ich mich an ein Gespräch mit einem Mann, der in etwa so alt war wie ich, ich bin 74. Er saß, wie er erzählte, seit 50 Jahren an der Nähmaschine, die er mit dem Fuß antrieb, wie das früher auch bei uns üblich war. Er saß da, hatte noch zwei Zähne, einen grauen Bart, ein sehr heiteres Lächeln. Ich habe ihn gefragt, ob er das Gefühl habe, dass in seinem Dorf die alten Menschen von den Jüngeren respektiert werden. Das hat er sehr nachdrücklich bejaht. Im Laufe des Gesprächs habe ich ihn irgendwann gefragt: „Wie alt möchtest du werden?“ Er hat gar nicht lange überlegt, sondern sofort gesagt: „Das bestimmt Gott.“
Das war für mich eine überraschende Antwort, weil wir ja eigentlich gewohnt sind, sofort abzuwägen: vielleicht 70, 80 der 90, aber man will nicht krank sein, es soll einem gut gehen. Aber er hatte eine ganz klare Vorstellung davon, dass der Tod etwas ist, was kommt, dass Gott ihn aus dem Leben holt und dass deswegen die Frage, wie alt er werden möchte, gar nicht zu ihm gehört. Es gibt gewissermaßen eine ruhige Einfügung bei diesem Mann, und das habe ich auch in Gesprächen mit anderen alten Frauen und Männern an diesem Ort erlebt. Eine Einfügung, die natürlich auch, sagen wir mal, eine gewisse Gelassenheit nach sich zieht. Im Laufe des Gesprächs hat er mich dann gefragt, wie es den alten Menschen bei uns gehe. Ich habe ihm erzählt, dass sehr viele bei uns alleine leben und dass das Lebensende in den meisten Fällen in irgendeiner Institution stattfindet, im Krankenhaus, im Pflegeheim oder im Hospiz. Das hat ihn sehr erstaunt. Er hat gesagt: „Eine Gesellschaft, die so reich ist wie ihr in Deutschland, kann doch eigentlich nicht zu einer Notlösung greifen, in der man Geld dafür bezahlt, dass die alten Menschen den Rest ihres Lebens, die letzten Monate, Wochen, Tage in einer Einrichtung, wo sie nicht bei ihrer Familie sind, verbringen.“ Das hat mir die Differenz zwischen dem Leben dort und dem Leben, das wir führen, noch einmal sehr deutlich vor Augen geführt.
Vielleicht darf ich noch illustrieren, dass ich mich erinnere an einen Gang durch dieses Dorf, ich hatte meinen kleinen Rucksack auf dem Rücken mit meinem Notizblock usw. Ein junger Bauer kam vorbei und nahm mir diesen Rucksack wie selbstverständlich vom Rücken, weil es ganz undenkbar ist, dass ein alter Mann sein Gepäck selber trägt, wenn ein Jüngerer in der Nähe ist. Es gehört dazu, dass der Ältere begrüßt wird mit dem Suaheli-Satz „Shikamoo“ – „Ich falle dir zu Füßen.“ Und man antwortet: „Marahaba!“ – „Ich nehme das an.“ Es weist darauf, denke ich, dass die Menschen dort mit dem Alter ganz anders verbunden sind als bei uns. Die Alten sind wichtig, weil sie vieles wissen, was die Jungen nicht mehr wissen: wann man was auszusäen hat, welche Wolken ein Unwetter andeuten, was es mit der Geschichte des Ortes auf sich hat. All das Wissen, das bei uns verschwunden ist, das aber alte Menschen haben, ist ja im allgemeinen frühzeitig reif für den Müll, weil in unserer sehr schnell sich ändernden beschleunigten Welt das, was die Alten wissen, nicht mehr interessant und für niemanden mehr wichtig ist. Ich glaube, dass das eine Ahnung davon gibt, wie anders das Alter und auch das Lebensende bei uns inzwischen geworden ist.
Ich mache einen Sprung und erinnere mich an eine Untersuchung, die ich gemacht habe im Bundesland Hessen über die Frage, was Menschen, die sich ihrem Lebensende nähern, für besonders wichtig halten. Wir haben Betroffene befragt, aber auch ihre Angehörigen, Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger, und es ist ganz einmütig gesagt worden, das Wichtigste am Lebensende ist, dass jemand da ist, der Zeit hat. Also da sein für den Anderen. Wir wissen natürlich gleichzeitig, dass im hektischen Geschäft des Alltags die Möglichkeit des Daseins immer beschränkter wird. Es gibt Abteilungen im Pflegeheim, in denen für drei Stockwerke eine Krankenschwester zuständig ist. Pflegekräfte sind überarbeitet. Ihnen ist das nicht vorzuwerfen. Sondern der Druck in der Pflege, ob im Krankenhaus oder im Heim, ist in den letzten Jahren immer größer geworden, auch weil das Personal unglaublich viele Dokumentationen schreiben muss. Auch dadurch wird die Zeit, die eigentlich gebraucht würde, um am Bett eines Sterbenden zu sitzen und zuzuhören, immer weniger. Wenn ich an die Geschichte aus Tansania und an unseren Alltag denke und die Verschiedenheit wahrnehme, dann ist da sehr viel Armut in Tansania, aber auch sehr viel Einbindung in einen sozialen Zusammenhang. Während bei uns eher viel Geld da ist, der Apparat, der um das Sterben herum aufgebaut wird, wird immer größer und teuer, aber Zeit und Zuwendung werden immer dürftiger.
In den letzten 50, 60 Jahren haben wir einen fundamentalen Umsturz im Umgang mit dem Lebensende erfahren. Früher, das ist zwar etwas schwammig formuliert, aber so ist es wohl richtig, war das Lebensende in die Familie eingebunden. Man starb da, wo man gelebt hatte. Das ist nicht immer idyllisch und schön gewesen, um da keine Illusionen zu wecken, aber die Familie war der Ort, an dem man sein Lebensende erwartete. Und etwas Anderes war ebenfalls ganz selbstverständlich: dass die medizinischen Experten am Ende des Lebens aus dem Raum zu weichen und dem Priester oder Pfarrer Platz zu machen hatten. Am Ende des Lebens waren die Familie und die religiösen Experten diejenigen, die um das Bett des Sterbenden herumstanden. Das hat sich, wie wir alle wissen, fundamental verändert. Die Zahl der Menschen, die zuhause in der Familie sterben, ist klein. Man kann sagen, ungefähr 80 Prozent der Menschen in Deutschland wünschen sich zwar, zuhause zu sterben, aber nur 20 Prozent haben die Möglichkeit dazu. Die Mehrzahl der Deutschen stirbt tatsächlich in einer Einrichtung – 50 Prozent im Krankenhaus, 30 Prozent im
Pflegeheim und einige wenige auch im Hospiz, obwohl das mehr wird. Dazu gehört natürlich auch, dass der religiöse Ritus – die letzte Ölung oder das letzte Gespräch, die Reichung des Abendmahls – fast ganz verschwunden ist.
Insofern kann man sagen, wir leben in einer Zeit, in der sich der Umgang mit dem Lebensende so radikal verändert hat wie wahrscheinlich in den letzten Jahrhunderten nicht. Das ist eine richtige Revolution, ein Umsturz, und wie das so mit Umstürzen ist, hat er viel Ratlosigkeit und Unsicherheit produziert. Drei fundamentale Veränderungen haben stattgefunden. Ich habe sie schon anklingen lassen, aber ich fasse sie noch einmal zusammen:
Das eine ist die Institutionalisierung des Lebensendes, also man stirbt nicht mehr zuhause, sondern immer häufiger in Einrichtungen. Obwohl es dagegen Bewegungen gibt. Aber wenn wir in die Vereinigten Staaten schauen, die uns ja immer eine ganze Strecke voraus sind in solchen Punkten, dort ist das Ende des Lebens in einer Einrichtung eigentlich das ganz Normale und Selbstverständliche geworden. Das liegt natürlich auch daran, dass dieses Bild, fast möchte ich sagen, das Klischee vom Zuhause-Sterben ja auch schwierig ist. Was heißt das denn, zuhause sterben, wenn ich als 85-Jähriger irgendwo in einem Appartement im 3. Stock eines Mietblocks wohne und keine Freunde, keine Familie da sind? Dann kann ich zwar sagen, ich sterbe zuhause, aber das hat mit dem, was gemeint ist, nichts zu tun. Das zuhause Sterben ist immer unmöglicher geworden, weil die freundschaftliche Sorge, die dafür erforderlich wäre, immer seltener anzutreffen ist. Diese Verlagerung des Lebensendes in Institutionen ist der erste große Aspekt.
Der zweite ist die Medikalisierung des Lebensendes. Wir können uns ja heute gar kein Lebensende ohne medizinische Expertenbegleitung mehr vorstellen. Und man muss sich nochmal vergegenwärtigen, wie neu das ist. Hippokrates, der Urvater der Medizin, hat noch gesagt: Wenn die Zeichen des Todes auf dem Antlitz eines Menschen zu erkennen sind, hat der Arzt den Raum zu verlassen. Das hat bei uns bis ins 19. Jahrhundert hinein gegolten. Jetzt ist das ganz umgekehrt: Der Priester ist verschwunden, der medizinische Experte steht am Bett, und mit ihm eine ganze Reihe von weiteren Experten: Spezialisten für spirituelle Begleitung, Schmerzspezialisten usw., so dass man sich teilweise sogar schon entschlossen hat, einen Case-Manager, einen Fall-Manager, hinzuzuziehen, der all diese Experten miteinander in Verbindung bringt. Ob das das ist, wohin wir wollten, ist ja wohl sehr die Frage.
Der dritte Aspekt ist die Ökonomisierung des Lebensendes. Die Krankenkassen sagen uns, der letzte Lebensabschnitt ist der teuerste geworden. 80 Prozent aller Krankenhauskosten fallen im letzten Lebensabschnitt an. Das lässt einem eine Gänsehaut über den Rücken laufen, weil wir wahrscheinlich alle ahnen, dass Geld eigentlich nicht die Antwort auf die Fragen am Lebensende ist. Eine wachsende Zahl von Menschen stirbt auf Intensivstationen, und wahrscheinlich sind wir uns alle schnell darüber einig, dass das nicht der Ort ist, wo man seinen letzten Atemzug machen möchte. Aber es ist immer häufiger die Realität, wie im Übrigen auch eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Menschen in Ambulanzen stirbt. Ich habe das bei meinem eigenen Vater erlebt: Der Rettungswagen kam und mein Vater sagte: „Ich möchte zuhause bleiben.“ Aber das ist ja u. U. unterlassene Hilfeleistung. Also hat man ihn mitgenommen und er ist dann in der Ambulanz gestorben. Nicht weil das
eine Schurkerei war, sondern weil das etwas ist, was aus der Maschinerie hervorkommt.
Diese große Revolution mit dem Umgang mit dem Lebensende lassen wir gerade über uns ergehen und daraus entstehen natürlich eine Menge Fragen. Eine Antwort ist die Hospiz-Bewegung, die es seit den 1980er-Jahren bei uns gibt. Ursprünglich kam die Bewegung aus England. Cicely Saunders hat dort die ersten Hospize gegründet. Auch bei uns waren es Bürgerinnen und Bürger, vor allen Dingen Frauen, die gesagt haben, das Sterben im Krankenhaus kann nicht das Richtige sein. Und das gab es damals, ich habe das bei einer nahen Verwandten selbst erlebt, weil das Krankenhaus mit dem Phänomen des Sterbens überhaupt nicht zurechtkommen konnte. Das Krankenhaus war ja zum Heilen da, aber doch nicht zum Sterben, und deswegen gab es damals keinerlei Vorsorge oder Überlegung, wie ein Sterbeprozess begleitet werden könnte. Deswegen das Abschieben. Die Hospiz-Bewegung hat versucht, einen neuen Weg zu finden, sie ist damals sehr erfolgreich gewesen und hat eine neue Kultur im Umgang mit dem Lebensende in Deutschland begründet. Das hat bei uns inzwischen eine große Verbreitung gefunden. Es gibt stationäre Hospize, sehr viele ambulante Hospizgruppen, es gibt zunehmend auch eine spezialisierte ambulante palliative Versorgung. Das sind dann Gruppen von Menschen, PflegerInnen, ÄrztInnen, die auf das Thema besonders vorbereitet sind und die zu den Menschen nach Hause kommen.
Aber darin ist natürlich auch, wie man vielleicht ahnt, eine gewisse Gefahr. Die Hospizbewegung wollte eine neue Antwort finden, die hat sie auch gefunden. Aber gegenwärtig wird der Hospizbewegung gewissermaßen das, was sie da auf den Weg gebracht hat, ein Stück weit aus der Hand genommen. Im Grunde genommen scheint sich der palliative Apparat – palliativ heißt übersetzt „Ummantelung“ und ist ein Wort, das für den Bereich der Sterbebegleitung üblich geworden ist – für meine Begriffe zu sehr aufzublähen. Die Hospizbewegung wollte eine neue humane Begleitung. Was wir jetzt sehen, ist eigentlich die Entwicklung eines von der Medizin dominierten Apparates, der immer mehr die Züge einer neuen Abteilung der Versorgung im Krankenhaus gewinnt, die zwar immer raffinierter, immer flächendeckender und immer in gewisser Weise perfekter wird, aber doch manchmal den Eindruck erweckt, so etwas wie eine industrielle Sterbeversorgung am Horizont auftauchen zu sehen.
Wer jemals das Buch „Schöne neue Welt“, das in den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts geschrieben wurde, gelesen hat, weiß, dass dort berichtet wird, dass es Sterbekliniken gibt, in denen von Zeit zu Zeit Schulklassen Besuche machen, damit sich die Kinder rechtzeitig an den Anblick von Sterbenden gewöhnen. Sie werden mit Mocca-Eclairs, mit Kuchen, gefüttert, damit sie sich gleichzeitig wohlfühlen. Das Ganze ist auf einer verhaltenstherapeutischen Ebene konzipiert worden. Manchmal hat man den Eindruck, dass wir uns einer Situation nähern, die nicht allzu weit weg von der Gefahr solcher Versorgungsapparate ist, die eigentlich in ihrer Struktur eher von Erkenntnissen, die aus Fabriken gewonnen worden sind, als von einer Kulturinitiative, geprägt sind. Es gibt zunehmend Standards, es gibt den „Liverpool Path Care Way“ (Liverpool Pflegeweg), der eigentlich so etwas voraussetzt wie einen normalisierten Ablauf des Sterbens, an den man sich als Pfleger oder als Arzt halten kann und an den man „abhaken“ kann, was zu tun ist.
Es hat jetzt gerade darüber eine Untersuchung in Großbritannien gegeben. Dabei hat sich herausgestellt, wenn man so etwas macht, dann entstehen Brutalitäten. Denn irgendwann braucht ein Sterbender keine Flüssigkeit mehr, auch wenn es in den Standards so festgeschrieben ist. Und es stellt sich heraus, dass weil gerade Wochenende und schlechte Besetzung war, Dinge passieren können, die eigentlich an den Bedürfnissen der Menschen völlig vorbei gehen. Man könnte den Eindruck haben, dass insbesondere da, wo die Palliativmedizin das Zepter schwingt, sich ein Weg der Perfektion bei gleichzeitig zunehmender Kälte durchsetzt. Ich denke, wenn wir uns auf dem Weg zu einem „qualitätskontrollierten Sterben“ befinden, dann sind wir auf dem falschen Weg.
Die Medizin kann vieles leisten und sie ist zunehmend wichtig geworden im Umgang mit dem Lebensende. Aber zugleich müssen wir mit Vehemenz darauf pochen, dass die Medizin nicht alles kann. Und dass diese Grundfragen, die mit dem Lebensende verbunden sind – Was wird aus mir? Wem muss ich noch etwas verzeihen oder wen muss ich noch um Verzeihung bitten? – den Rahmen der Medizin sprengen. Ich würde mir eine Palliativmedizin, auch eine Hospizbewegung wünschen, die sich selbst begrenzt und deutlich sagt, was sie kann und was sie nicht kann.
Die freundschaftliche Sorge, die wir brauchen, die Zuwendung, die Menschen am Lebensende sicher dringlicher brauchen als noch eine neue therapeutische Möglichkeit, droht zu fehlen, wenn wir aus dem Lebensende ein expertokratisch überwachtes Projekt machen. Ohnehin scheint das „Versorgungsprojekt Lebensende“ mehr der Angst derjenigen zu entsprechen, die es organisieren, als den Bedürfnissen derer, die auf dem Sterbebett liegen.
Ich glaube, dass Menschen an ihrem Lebensende in unserer heutigen Zeit wahrscheinlich so verlassen sind wie in den letzten 2.000 Jahren nicht, weil für die meisten von ihnen ja jede Hoffnung auf etwas Metaphysisches danach verschwunden ist und dass deswegen natürlich auch das Lebensende eine dramatische Zuspitzung erfährt, weil da eigentlich noch einmal alles versucht werden muss, um einen Tag rauszuschinden, wenn dann sonst nichts mehr kommt.
Wir müssen der Palliativmedizin ihre Grenzen zeigen und sagen, es gibt vieles, was am Lebensende wichtig ist, was ihr, liebe medizinischen ExpertInnen, nicht beantworten könnt. Wir, die wir das vielleicht sehen, haben natürlich keine Trostpflästerchen, die wir aus der Tasche ziehen können. Sondern, wie es der Leiter eines Hospizes einmal zu mir gesagt hat: Wir stehen am Bett eines Sterbenden mit leeren Händen, und diese leeren Hände sind vielleicht tröstlich. Ich habe den Eindruck, dass der ganze palliative Apparat manchmal auch dazu dient, den Sterbenden bloß nicht zum Reden kommen zu lassen, damit wir, die wir noch nicht auf diesem Bett liegen, unsere Angst nicht spüren müssen.
Wir sollten in Zukunft sehr genau darauf achten, dass der palliative Apparat seine menschlichen Dimensionen nicht verliert, sondern dass wir im Gespräch mit den ExpertInnen darauf bestehen, dass der Mensch mehr braucht als medizinische Expertise, dass er freundschaftliche Sorge braucht und dass unsere Gesellschaft der einsamen, konsumistischen und konkurrenzorientieren Menschen es schwer hat, diese freundschaftliche Sorge auf die Beine zu stellen. Aber genau darum geht es.
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