Professor Ulrich Teusch: Falscher Umgang mit Gefahr. Die Krise der Katastrophengesellschaft
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SWR2 AULA - *
 Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
 Sendung: Sonntag, 26. Juli 2009, 8.30 Uhr, SWR 2
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 Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
 *Zum Autor:
 Prof. Dr. Ulrich Teusch ist freier Publizist und lebt in Kassel. Er arbeitet für verschiedene
 Rundfunkanstalten, Tageszeitungen und Zeitschriften zu kulturellen, politischen
 und zeithistorischen Themen. Zugleich lehrt er Politikwissenschaft an der Universität
 Trier.
 Bücher:
– Die Katastrophengesellschaft. Warum wir aus Schaden nicht klug werden. Rotpunktverlag.
– Was ist Globalisierung? Ein Überblick. Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
– Die Staatengesellschaft im Globalisierungsprozess. Wege zu einer antizipatorischen
 Politik. VS Verlag.
– Freiheit und Sachzwang. Untersuchungen zum Verhältnis von Technik, Gesellschaft
 und Politik. Nomos Verlag.
 ÜBERBLICK
 Die Welt ist sicher wie nie zuvor und zugleich katastrophenanfällig wie nie zuvor. Dies ist ein für die Moderne symptomatisches Paradoxon. Je technisierter unser Leben wird, desto mehr sind wir Störfällen ausgeliefert, je mehr wir die Natur ausbeuten, desto härter scheint sie mit Naturkatastrophen zurückzuschlagen. Die Katastrophengesellschaft ist fragil, verwundbar und statt auf Gefahren adäquat zu reagieren, oszilliert sie stets zwischen Hysterie und Verharmlosung. Der Soziologe und Buchautor Ulrich Teusch beschreibt, warum wir aus Schaden nicht klug werden.
 INHALT
 Ansage:
 Heute mit dem Thema: „Falscher Umgang mit der Gefahr – Die Krise der Katastrophengesellschaft“.
Wie, habe ich richtig gehört, werden Sie jetzt sagen: Katastrophengesellschaft, leben
 wir tatsächlich in einer solchen, obwohl wir doch das Gefühl haben, rundum abgesichert
 zu sein, auch die Finanzkrise hat sich doch schon längst weggeschlichen.
 Dennoch: Wir leben in einer Katastrophengesellschaft, das sagt der Publizist und Politikwissenschaftler
 Professor Ulrich Teusch, und diese Gesellschaft geht mit Katastrophen
 katastrophal um, sie denkt nämlich, sie können mit Technik alles lösen und in
 den Griff bekommen. Ein Irrglauben!
 Wie diese Katastrophengesellschaft genau aussieht, wie sie auf das Unvorhersehbare
 reagiert, erklärt Teusch in der SWR 2 AULA:
 Ulrich Teusch:
 Zum einen wird unsere Welt immer öfter von schweren Katastrophen heimgesucht,
 von Naturkatastrophen, technischen Katastrophen, aber auch von ökonomischen,
 sozialen oder politischen Katastrophen. Sodann ist unser Leben durch ein enormes
 Katastrophen-Potential gekennzeichnet. Und schließlich: Viele von uns sind unfähig
 oder unwillig, diese Lage mit nüchternen Augen zu betrachten. Wir neigen zu extremen
 Ausschlägen, entweder zur Verdrängung und Beschwichtigung oder zur Dramatisierung
 und Hysterie. Die Katastrophengesellschaft laviert zwischen Panikmache
 und Verharmlosung. Eine Gesellschaft der Extreme also – und das hat fatale Folgen:
 Auf manchen Problemfeldern tut sie zu viel, auf anderen zu wenig, auf allzu vielen
 auch gar nichts. Vor allem aber, so meine These, tut sie das Falsche. Denn sie versucht
 ihre Probleme mit denselben Mitteln zu lösen, die sie verursacht haben. Sie
 glaubt allen Ernstes, mit Hilfe moderner Technik Sicherheit erlangen zu können.
 Betrachten wir zunächst das eine Extrem, diejenigen, die sich die Welt schön reden.
 Katastrophen, sagen sie, sind nichts Neues unter der Sonne. Es hat sogar Zeiten
 gegeben, allen voran das Europa des 14. Jahrhunderts, in denen die Menschen weit
 mehr von schweren Katastrophen gebeutelt wurden als heute. Unsere Gegenwart
 wiederum sei nicht primär durch ihre katastrophischen Züge gekennzeichnet, sondern,
 im Gegenteil, durch den historisch einzigartigen Grad an Sicherheit, den man
 dank moderner Technik und Medizin in vielen Weltteilen erreicht habe. Und stimmt
 es denn etwa nicht? Die durchschnittliche Lebenserwartung ist in der Tat höher als je
 zuvor. Was an Gefährdungen des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit noch
 verblieben ist, lässt sich meist den individuellen, oft bedenkenlos und wider besseres
 Wissen eingegangenen Risiken zuschreiben: Nikotin, Alkohol, unvorsichtiges Verhalten
 im Straßenverkehr fordern weit mehr Opfer als die nur selten auftretenden Katastrophen.
 Eine typische „Erste Welt-Perspektive“ sei das, protestieren andere, mit der Lebenswirklichkeit
 etwa in den Hunger- und Elendszonen unseres Planeten habe sie wenig
 zu tun. Und dann zählen sie die Bedrohungen auf, denen wir ausgesetzt sind. Es
 sind derer so viele, dass man sich schon bald fragt, wovor man sich denn nun am
 meisten fürchten soll. Ist es die Klimakatastrophe? Oder sind es die Seuchen, die
 angeblich allerorten auf dem Vormarsch sind: AIDS, SARS, BSE, Vogelgrippe? Ist
 das ungebremste Wachstum der Weltbevölkerung die Crux? Sind es Migrationsströme,
 Megacitys, Verelendung? Oder Artensterben, Vernichtung der Regenwälder,
 Ausbreitung der Wüsten? Ist am Ende doch die industrielle Großtechnik das Hauptübel,
 die von Tschernobyl bis Harrisburg, von Bhopal bis Seveso und bis hinein in
 unsere Gegenwart eine Spur der Zerstörung zieht? Oder müssen uns die ganz neuen
 Bedrohungen am meisten beunruhigen, etwa das Katastrophenpotential des globalen
 Terrorismus?
 Natürlich stehen sich Schönredner und Schwarzmaler nicht so idealtypisch gegenüber,
 wie ich es hier gerade suggeriere. Die meisten von uns sind nämlich Schönredner
 und Schwarzmaler in einer Person – eine ideologisch bedingte Schizophrenie,
 wenn man so will. Da plädiert der eine vehement für den Bau neuer Kernkraftwerke,
 läuft aber beim ersten Anzeichen von Schweinegrippe mit Mundschutz durch die Gegend.
 Da begegnet der andere dem Klimawandel mit stoischer Ruhe, wird aber angesichts
 des globalen Terrorismus regelmäßig von Panikattacken heimgesucht. Und
 so weiter. Ein mehr oder weniger fest gefügtes Weltbild bestimmt, worüber man sich
 aufregt und worüber nicht.
 Dabei ist das, was Schönredner und Schwarzmaler im Einzelnen zu sagen haben, ja
 keineswegs falsch. Es ist in der Tat so: In einigen Weltteilen hat unser Leben einen
 historisch einzigartigen Grad an Sicherheit erreicht. Und es ist ebenso wahr, dass wir
 es gegenwärtig mit einem vermutlich noch nie da gewesenen Katastrophenpotential
 zu tun haben. Unsere Welt ist so sicher wie nie zuvor – und zugleich so katastrophenträchtig
 wie nie zuvor. Warum fällt es so schwer, dieses Paradoxon, dieses Dilemma
 anzuerkennen und nach seinen Ursachen zu forschen? Warum fällt es so
 schwer, die eben aufgelisteten Bedrohungen wie auch die Sicherheiten nüchtern in
 ihrer tatsächlichen Bedeutung zur Kenntnis zu nehmen und in Rechnung zu stellen?
 Vielleicht sogar Zusammenhänge zwischen einzelnen Phänomenen zu erkennen?
 Warum muss man die einen herunterspielen und die anderen hochspielen? Und warum
 muss man sie gegeneinander ausspielen?
 Mitunter gleicht die Katastrophengesellschaft einem Wettbüro. Die Spieler treffen
 Aussagen über die Zukunft, die diametral entgegengesetzt und obendrein anmaßend
 sind. Sie stellen Behauptungen auf, die derart weit in die Zukunft reichen, dass es
 sich nicht länger um seriöse Prognosen, Hochrechnungen, Modellierungen oder
 Szenarios handelt, sondern um Prophezeiungen, um wissenschaftlich verbrämte
 Formen der Wahrsagerei. Es gibt Leute, vermeintliche oder tatsächliche Experten,
 die zu wissen vorgeben, worauf unser gegenwärtiges Tun und Lassen am Ende hinauslaufen
 wird, auf so etwas wie eine finale Großkatastrophe nämlich, und es gibt
 andere, die versichern, dass genau dies nicht geschehen wird. „Es ist bereits zu
 spät“, sagen die einen. „Nein, noch können wir es schaffen“, entgegnen die anderen.
 So erschrecken und beruhigen sie ihr Publikum schon seit Jahren und Jahrzehnten.
 Dennis Meadows zum Beispiel, berühmt geworden durch seine „Club of Rome“-
Studien zu den Grenzen des Wachstums, zeigte sich schon Ende der 1980er Jahre
 resigniert. Die Menschheit verhalte sich wie ein Selbstmörder, sagte er damals, und
 es habe keinen Sinn mehr, einem Selbstmörder gut zuzureden, wenn er bereits aus
 dem Fenster gesprungen ist. Andere verbreiten unterdessen unentwegt Optimismus.
 Vor ein paar Wochen konnte man es wieder schwarz auf weiß lesen. Eine große
 deutsche Tageszeitung brachte ein Interview mit Ex-Umweltminister Töpfer und Vattenfall-
Chef Josefsson zur Klimaentwicklung. Auf die Eingangsfrage, ob wir denn die
 von Wissenschaftlern geforderte Kehrtwende – also: 90 Prozent weniger klimarelevante
 Emissionen in den Industriestaaten bis 2050 – erreichen können, antwortete
 Josefsson: „Ja, das ist machbar.“ Und Töpfer fügte hinzu: „Das wird auch so kommen.“
Leider lieferte das ganzseitige Interview dann wenig konkrete Anhaltspunkte
 für solcherlei Optimismus.
 Wie auch immer: Die Behauptung, dass wir es „noch“ schaffen können, ist ebenso
 spekulativ wie die, dass es bereits „zu spät“ sei. Denn wer will das wissen? Wir haben
 so gewaltige Probleme aufgetürmt, dass sich zur Frage, ob wir sie noch rechtzeitig
 werden entschärfen können, allenfalls vage Vermutungen anstellen lassen. Die
 Vorstellung, wir könnten heute ein einigermaßen realistisches Bild der Welt im Jahr
 2050 oder gar 2100 entwerfen, wäre reine Hybris.
 Was immer man unter einer Katastrophe auch genau versteht, sicher ist, dass im
 Zuge des katastrophischen Geschehens etwas in großem Stil außer Kontrolle gerät.
 Es entzieht sich der Kontrolle durch den Menschen oder es verliert die „Selbst-
Kontrolle“. Eine Katastrophe ist ein Phänomen sui generis, ein fundamentaler Einschnitt,
 der zunächst keinerlei Entwicklungsrichtung erkennen lässt. Katastrophen
 können ganze Gemeinschaften vernichten oder zerrütten. Für die Betroffenen gerät
 die Welt aus den Fugen. Aus ihrer subjektiven Perspektive scheinen die Götterdämmerung,
 die Apokalypse, die letzten Tage der Menschheit angebrochen.
 Manche Katastrophen kommen plötzlich und unerwartet; andere bauen sich langsam,
 fast unmerklich auf – als „schleichende Katastrophen“. Es gibt Katastrophen,
 die vermeidbar gewesen wären, und es gibt solche, die unvermeidbar sind, gegen
 die man sich lediglich wappnen kann oder hätte wappnen können. Manchmal werden
 Katastrophen noch rechtzeitig abgewendet, wobei das Glück oft eine größere Rolle
 spielt als der Verstand; man spricht von „Beinahe-Katastrophen“. Wenn Katastrophen
 bereits im Gange sind, muss man retten, was zu retten ist; vor allem muss man
 sie räumlich und zeitlich überschaubar und abgrenzbar halten, ihr „Übergreifen“ verhindern.
 Wenn das nicht gelingt, können sie Kettenreaktionen und Schockwellen
 auslösen, die nur schwer oder gar nicht zu bremsen sind.
 Eine verbreitete Auffassung besagt: Auch wenn Menschen als Verursacher mitbeteiligt
 sind, geschehen Katastrophen immer unbeabsichtigt. Im Vorfeld einer Katastrophe
 mögen Fehler passieren, es mag Fahrlässigkeit, billigende Inkaufnahme und
 somit Schuldige geben, zumindest Verantwortliche. Aber es gibt keine Täter, die das
 Desaster vorsätzlich herbeigeführt haben, es gibt keine Hintermänner und Drahtzieher.
 Niemand hat – zum Beispiel – die Katastrophe von Tschernobyl gewollt. Das
 klingt einleuchtend. Und doch behaupte ich, dass es auch absichtsvoll herbeigeführte
 Katastrophen gibt. Insbesondere glaube ich, dass der Terrorakt des 11. September
 2001 als Katastrophe begriffen werden kann, mehr noch: dass der Terrorismus des
 21. Jahrhunderts sich die katastrophenträchtigen Eigenheiten unserer Gesellschaft
 zunutze macht und damit zugleich deren katastrophische Züge verstärkt. 9/11 ist
 zugleich Symptom und Menetekel der Katastrophengesellschaft. Davon später mehr.
 Wann gilt uns ein Ereignis als Katastrophe? Wenn die Zahl menschlicher Opfer besonders
 hoch ist? Offenkundig nicht. Denn es gibt viele opferreiche Geschehnisse,
 die keinen Eingang in die Katastrophengeschichte gefunden haben. Und umgekehrt
 bezeichnen wir manches Ereignis als Katastrophe, obwohl es nur eine vergleichsweise
 geringe Zahl menschlicher Opfer gefordert hat. Das ist besonders dann der
 Fall, wenn es sich um technische Katastrophen handelt; hier scheint die Opferzahl
 zuweilen fast nebensächlich zu sein. Wie sonst ließe sich erklären, dass die Explosion
 der Raumfähre „Challenger“ im Januar 1986, bei der sieben Astronauten umkamen,
 als „Challenger-Katastrophe“ in die Geschichte eingegangen ist, während viele
 Flugzeugabstürze oder Schiffsuntergänge, bei denen weit mehr Opfer zu beklagen
 waren, längst vergessen oder allenfalls als Unglücke, Unfälle, Havarien oder Ähnliches
 im Gedächtnis geblieben sind? Es gab Zugunglücke, bei denen mehr Menschen
 starben als 1998 im niedersächsischen Eschede; dennoch gilt die damalige
 Entgleisung des hochmodernen ICE als Katastrophe, viele der anderen Unglücke
 hingegen nicht.
 Technische Katastrophen bemessen sich also nicht allein und nicht in erster Linie an
 der Opferzahl. Wenn sie als Katastrophen rubriziert werden und ins kollektive Gedächtnis
 eingehen, dann vor allem, weil die jeweilige Technik mit einem enormen
 Anspruch verknüpft war, weil sie ein Versprechen, eine Vision verkörperte – um dann
 in der Praxis spektakulär zu scheitern. Je größer das Prestige eines technischen Projekts,
 desto tiefer der Absturz, desto größer die Fallhöhe. Darum lässt der Untergang
 der „Titanic“ die Menschen bis heute nicht los, darum bleiben uns die brennenden
 Challengers und Zeppeline in Erinnerung, während viele Autobahn-Schlachtfelder
 längst in Vergessenheit geraten sind.
„Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt. Die Natur kennt keine
 Katastrophen.“ Das hat der Schriftsteller Max Frisch gesagt. Worauf Frisch mit seiner
 Aussage abzielt, scheint klar zu sein. Wenn die Natur sich selbst überlassen bleibt –
ohne den Menschen also –, dann ist, was auch immer in ihr geschieht, keine Katastrophe.
 Auch Erdbeben oder Vulkanausbrüche nicht; sie werden es erst, wenn der
 Mensch von ihnen betroffen ist – und sie als Katastrophen bezeichnet.
 So gilt es uns nicht als Katastrophe, wenn irgendwo in der Arktis eine große Eiswand
 ins Meer stürzt. Weil der Vorgang mit großer Wahrscheinlichkeit unter Ausschluss
 menschlicher Beobachter stattfindet, erfahren wir nicht einmal etwas davon; die abstürzende
 Eiswand ist ein Nicht-Ereignis. Auch wenn zufällig ein Touristenschiff in
 der Nähe kreuzt und die Reisenden den Vorgang aus sicherer Entfernung beobachten
 können, nehmen sie das Ereignis nicht als Katastrophe, sondern als ein grandioses
 Naturschauspiel wahr. Sie filmen und fotografieren es. Erst wenn das Touristenschiff
 von den herabstürzenden Eismassen erfasst, zerschlagen und im Polarmeer
 versenkt wird, würde aus dem Naturschauspiel eine Naturkatastrophe.
 Ich habe gegen Frischs These zwei Vorbehalte: Zum einen glaube ich, dass Menschen
 bestimmte Ereignisse auch dann als Katastrophen wahrnehmen können – und
 wahrnehmen sollten! –, wenn sie selbst davon nicht betroffen sind. Menschen sind
 empathie-fähige Wesen, und diese Empathie muss sich keineswegs bloß auf Artgenossen
 beschränken, sondern kann auch anderen Lebewesen gelten.
 Zum anderen leistet Frischs Bemerkung dem Eindruck Vorschub, als existiere da
 noch eine weithin intakte Natur, die hin und wieder über die Stränge schlage und in
 Gestalt von Katastrophen den Menschen bedränge. Tatsächlich ist es aber so: Der
 Mensch hat im Laufe seiner Geschichte große Teile seiner natürlichen Lebensgrundlagen
 technisch durchdrungen, verändert, vernichtet. Er hat die Natur so „nachhaltig“
umgeprägt, dass man sie nur noch sehr bedingt als „Natur“ ansprechen kann. Soll
 heißen: Es gibt keine unberührte Natur mehr, nur noch berührte. Sie ist so weitgehend
 vom Menschen funktionalisiert worden, die Eingriffe in sie sind so gravierend,
 dass sie längst zum Hybrid geworden ist, der nicht mehr als Gegenbegriff zu
„Mensch“, „Gesellschaft“ oder „Technik“ taugt. Durch seine Eingriffe hat der Mensch
 zwar seine unmittelbare, alltägliche Abhängigkeit von der Natur reduziert, doch das
 Problem seiner grundsätzlichen Abhängigkeit drastisch verschärft. Er hat die Natur in
 die Defensive gedrängt – und mit ihr sich selbst.
 Wenn nun aber die Natur nicht mehr bloße Natur ist, sondern einen Hybrid-Charakter
 angenommen hat, dann sind selbstverständlich auch die Natur-Katastrophen hybride
 Phänomene. Auch bei ihnen hat der Mensch seine Hände im Spiel. Vor diesem Hintergrund
 wird die Feststellung, dass die Natur keine Katastrophen kenne, unzutreffend
– oder behält allenfalls im historischen Rückblick eine gewisse Gültigkeit. Auf
 Gegenwart und Zukunft bezogen, handelt es sich hingegen immer öfter um die
 menschlich durchdrungene, veränderte Natur und folglich um Katastrophen, die vom
 Menschen verursacht oder mitverursacht werden.
 Man könnte nun aus diesen Beobachtungen den Schluss ziehen, dass Katastrophen
 dann besonders zu fürchten seien, wenn der Mensch als Verursacher beteiligt ist.
 Doch so einfach ist es nicht. Nehmen wir die Klimakatastrophe als Beispiel: Dass der
 Mensch offenkundig maßgeblichen Anteil am aktuellen Klimawandel hat, macht die
 Sache an sich nicht bedrohlicher. Sie liefert, im Gegenteil, sogar Ansatzpunkte für
 ein Handeln, das darauf abzielt, den Temperaturanstieg zu drosseln. Wäre die Erderwärmung
 ein rein natürliches Phänomen, besäßen wir kaum eine Handhabe.
 Sodann bekommt die Menschheit die Folgen eines Klimawandels nicht zum ersten
 Mal zu spüren. Entscheidend ist aber nicht so sehr, dass sie ihn diesmal selbst verursacht
 hat, sondern dass die Bedingungen, unter denen er stattfindet, sich gründlich
 verändert haben. Im frühen Mittelalter zum Beispiel, zwischen dem vierten und siebten
 Jahrhundert, stieg der Meeresspiegel um etwa zwei Meter, Folge einer längerfristigen
 Erwärmung, aber auch tektonischer Veränderungen. In jener Zeit wurden die
 nordwesteuropäischen Küstengebiete von schwersten Sturmfluten heimgesucht und
 weiträumig überschwemmt. Allerdings war die Nordseeküste nur äußerst dünn besiedelt;
 zudem bot das Landesinnere den bedrohten Menschen noch freie Rückzugsräume.
 Irgendwelche Analogieschlüsse zwischen damals und heute sind daher völlig
 verfehlt. Die Nordseeküste vor 1500 Jahren ist mit der heutigen Küste nicht einmal
 entfernt zu vergleichen. Und diese Aussage gilt generell: Auf dem Planeten Erde leben
 aktuell mehr Menschen als aufaddiert während der gesamten Zeit vor der Industrialisierung
 geboren wurden. Und sie leben nicht zuletzt in dicht bebauten und oft
 hoch industrialisierten Küstenregionen. Genau hier liegt denn auch das eigentliche
 Katastrophenpotential. Denn: Nicht der Klimawandel ist neu – neu ist die Welt, auf
 die er trifft! Nicht der Klimawandel als solcher ist katastrophenträchtig, sondern die
 Welt, in der er stattfindet, ist katastrophenanfällig. Wir haben uns zwar gegen alle
 möglichen Gefahren und Risiken gewappnet, dennoch ist unser natürlicher und
 künstlich geschaffener Lebensraum – und das ist nur scheinbar paradox – weit weniger
 belastbar, weit störanfälliger, fragiler, verwundbarer als ehedem. Um zu funktionieren,
 ist unsere Welt auf ein hohes Maß an Normalität und Stabilität angewiesen.
 Mit unangenehmen Überraschungen kommt sie schlecht zurecht. Als wir unsere Welt
 so konstruiert haben, wie sie sich heute darbietet, sind wir offenbar recht unbekümmert
 zu Werke gegangen. Um die ökologischen oder sozialen Folgen unsere Handelns
 haben wir uns kaum gesorgt. Was den Klimawandel angeht, so haben wir an
 eine solche Eventualität schlechterdings nicht gedacht: weder an einen natürlichen
 Klimawandel noch an einen anthropogenen, schon gar nicht an einen drastischen. Er
 ist einfach nicht vorgesehen. Wer an die Einsichts- und Lernfähigkeit des Menschen
 glaubt, mag sagen: Hätten wir die Möglichkeit solch klimatischer Veränderungen
 frühzeitig in Rechnung gestellt, würden wir vielleicht eine ganz andere, eine weit weniger
 verwundbare Welt konstruiert haben. Aber solche Betrachtungen sind müßig.
 Die Klimadebatte ist übrigens ein Musterbeispiel für meine eingangs formulierte These,
 dass die Katastrophengesellschaft vor allem auf technische Problemlösungen
 setzt. Fast täglich kann man die Ankündigungen in den Zeitungen lesen: Schon bald
 werden wir in Sachen CO2-Reduktion nicht mehr kleckern, sondern klotzen! Wir werden
 Europa mit Solarstrom aus Nordafrika versorgen, sogenannte Ökoautos bauen,
 Glühbirnen durch Energiesparlampen ersetzen und – wer weiß – vielleicht vergraben
 wir ja doch irgendwann unser Kohlendioxid unter der Erde. Auch Klaus Töpfer setzt
 voller Zuversicht auf technische Innovation. Im schon zitierten Interview zeigt er sich
 sicher, dass wir in den kommenden Jahren insbesondere in den USA – ich zitiere –
„ein Feuerwerk technologischer Veränderungen“ erleben werden. Diese würden nicht
 nur dem Klimaschutz nützen, sondern selbstverständlich auch – ein schöner Nebeneffekt
– dem wirtschaftlichen Wachstum Impulse geben. Womit wir dann auch schon
 bei einem weiteren Credo des innovationsfreudigen Teils der Katastrophengesellschaft
 angelangt wären. Es lautet, dass sich Ökonomie und Ökologie ohne weiteres
 miteinander vereinbaren lassen. Als hinlänglicher Beweis gilt vielen die Tatsache,
 dass mit relativ umweltverträglicher Technik wirtschaftliche Erfolge zu erzielen sind.
 Nach dem Motto: Wir werden immer sauberer und zugleich immer reicher. Ist da vielleicht
 so etwas wie die Quadratur des Kreises gelungen?
 Nicht ganz. In Wirklichkeit ist alles viel profaner. Die moderne Technik – also die
 Technik, die sich seit der ersten industriellen Revolution beschleunigt entwickelt hat –
ist ein Mittel zur Effizienzsteigerung. Was als „effizient“ gilt, hängt vom jeweiligen
 technischen Entwicklungsstand und den gesellschaftlichen Problemlagen ab. Derzeit
 wird aus unmittelbar einsichtigen Gründen großer Wert auf die „Energieeffizienz“ oder
„Ökoeffizienz“ von Technik gelegt. Niemand wird die Erfolge leugnen. Zweifellos
 wurden einige Probleme durch technischen Fortschritt entschärft oder gemildert. Und
 nichts spricht dagegen, dieses Fortschrittspotenzial noch entschiedener zu nutzen.
 Aber es braucht schon einen ziemlich verwegenen Optimismus, um zu glauben, dass
 sich auf diese – technische – Weise der Widerspruch zwischen globaler Ökologie auf
 der einen und der auf Wachstum programmierten kapitalistischen Weltökonomie auf
 der anderen Seite lösen ließe. Dieser Widerspruch ist fundamental, und er wird sich
 in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten weiter verschärfen. Er ist vor allem deshalb
 so fundamental, weil die moderne Technik nicht lediglich ein „Problemlöser“,
sondern mindestens ebenso sehr ein „Problemerzeuger“ ist.
 In der öffentlichen Wahrnehmung steht jedoch nach wie vor nicht diese grundlegende
 Ambivalenz der Technik, sondern ihre historische Rolle als Problemlöser im Vordergrund.
 Und die präsentiert sich zweifellos als eine beeindruckende Erfolgsgeschichte.
 Ohne diese Geschichte, ohne den technischen Fortschritt also, wäre ja
 auch die menschliche Evolution schlechterdings nicht vorstellbar. Denn diese
 braucht, soll sie gelingen, vor allem Sicherheit, also einen Schutzraum gegen äußere
 Störfaktoren und innere Unwägbarkeiten. Und nichts hat die Sicherung unserer Lebensverhältnisse
 so befördert wie die Technik. Sie sichert uns vor den Launen der
 Natur und sie hilft uns, den Frieden zu sichern, sie sichert unseren Konsum und unsere
 Energieversorgung, sie sichert unsere Mobilität und unsere Gesundheit.
 Insbesondere die vergangenen anderthalb Jahrhunderte sind eine Zeit machtvollen
 technischen Fortschritts gewesen. Aber dieser Fortschritt hat einen Preis verlangt –
und tut das nach wie vor. Die Schattenseiten manifestieren sich gewiss nicht allein in
 Gestalt von Katastrophen, doch diese ragen wie die Spitzen der Eisberge aus der
 Technisierungsepoche heraus. Die Geschichte der Technik ist eben nicht nur die
 Geschichte genialer Erfindungen und Ingenieurleistungen, sondern immer auch die
 Geschichte katastrophalen Scheiterns, die Geschichte einstürzender Brücken und
 Gebäude oder abstürzender Flugzeuge, entgleisender oder kollidierender Züge, die
 Geschichte von Chemiefabriken, die ihre Umwelt vergiften, von pharmazeutischen
 Produkten, die krank machen, die Geschichte von zerbrochenen Öltankern, geborstenen
 Staudämmen, havarierten Kernkraftwerken oder explodierten Raumkapseln.
 Besonders störanfällig und damit katastrophenträchtig sind technische Systeme, die
 mit gefährlichen Substanzen hantieren oder komplizierte Transformationsprozesse
 bewerkstelligen. Die inneren Abläufe dieser Systeme sind notwendigerweise durch
 eine Vielzahl von Interaktionen gekennzeichnet, weisen also eine hohe Komplexität
 auf. Das ist so lange unproblematisch, wie der Betriebsablauf funktioniert und nur die
 geplanten Interaktionen stattfinden. Die Probleme beginnen, wenn unabhängig voneinander
 Störungen auftreten. Bereits zwei unabhängige Störungen genügen, um
 überraschende, ungeplante Interaktionen in Gang zu setzen. Unversehens sind die
 Betreiber der Anlage mit Verzweigungen, Sprüngen oder Rückkopplungen konfrontiert,
 die sie nicht vorhergesehen haben. Sie können zu komplizierten Verwicklungen
 führen, zum Ausfall weiterer Komponenten oder des ganzen Systems, zu schweren
 Unfällen oder Katastrophen. Selbstverständlich versuchen die Betreiber solch komplexer
 Systeme, die Sicherheit zu erhöhen, indem sie möglichst viele Eventualitäten
 vorhersehen oder rückblickend die Abläufe rekonstruieren, um ihre Wiederholung
 auszuschließen. Das tun sie in der Regel durch technische Problemlösungen, also
 durch den Einbau von Sicherungssystemen, Puffern oder Redundanzen – doch damit
 erhöhen sie selbstverständlich abermals die Zahl der möglichen Interaktionen
 und damit die technische Komplexität des Systems. Was für einzelne technische
 Systeme gilt, lässt sich analog für größere technische Zusammenhänge sagen: Denn
 auch der mögliche Kollaps großer Infrastrukturen, wie der Strom- oder Kommunikationsnetze,
 hätte katastrophale Folgen, wenn er sich länger als ein paar Stunden hinziehen
 würde. Nichts anderes gilt schließlich für den sich ständig intensivierenden
 Prozess der Technisierung im Allgemeinen. Er zeitigt Folgen, die sich immer deutlicher
 erkennbar zu ökologischen und sozialen Bedrohungen globaler Dimension aufschaukeln.
 Die großen, global ausgreifenden Umweltschädigungen gehören insoweit
 zum technischen Lauf der Dinge, sie sind unbeabsichtigte Folgen absichtlicher Eingriffe
 in natürliche und gesellschaftliche Prozesse. Aufs Ganze gesehen sind sie
 längst nicht mehr einzelnen Verursachern zuzurechnen, sondern unvermeidbare Begleiterscheinungen
 eines anonymen Prozesses.
 Im Angesicht dieser und anderer Katastrophen und Katastrophenpotentiale vertrauen
 wir nach wie vor und in manchen Bereichen mehr denn je auf einen technischen
 Zugriff. Wir setzen unsere Technik immer öfter dazu ein, die von ihr selbst erzeugten
 Probleme zu lösen, wohl wissend oder ahnend, dass die vermeintlichen Problemlösungen
 ihrerseits neue, abermals technisch zu lösende Probleme hervorbringen
 werden. Wohin soll das führen? Wird dieser Prozess irgendwann zu einem Ende
 kommen? Das ist derzeit schwer vorstellbar. Denn die Zahl der durch technischen
 Zugriff gelösten Probleme steigt zwar; doch die Zahl der im Zuge dieses Lösungsprozesses
 neu geschaffenen Probleme steigt schneller – und vermutlich werden die
 Probleme auch größer.
 Einzelne weit blickende Beobachter haben dieses Dilemma schon früh erkannt und
 beschrieben, ohne freilich auf sonderliche Resonanz zu stoßen. Schon 1912 bemerkte
 der Soziologe Julius Goldstein - Zitat: „Es hat den Anschein, als ob, wie in der
 Wissenschaft, so auch in der Technik, mit jedem Problem, das gelöst wird, neue
 Probleme entstehen. Es scheint, als ob der Fortschritt mehr in dem Herausarbeiten
 neuer Probleme als in dem Vermindern der Probleme bestände.“ Auf gesellschaftlicher
 Ebene sieht Goldstein ein Ergebnis, das den um Rationalität und Problemlösung
 bemühten einzeltechnischen Handlungen Hohn spricht: „Je mehr die eine Epoche
 das Dasein technisch rationalisiert, um so größer wird die Summe der Irrationalitäten
 in der nächsten.“ Ähnlich das Urteil des Ökonomen Otto Veit 1935: „Durch die
 Technik sind alle Dinge extremer geworden, und alle Extreme sind verstärkt – die
 negativen sowie die positiven. Die Höhepunkte sind herrlicher geworden und die Abgründe
 fürchterlicher.“
Wie der technische Fortschritt ständig Probleme löst, die vermeintlichen Lösungen
 jedoch immer wieder neue, technisch zu lösende Probleme hervorbringen, so produziert
 er immer größere Sicherheit und zugleich immer größere Gefahrenlagen. Den
 Gefahren versucht man durch immer neue und aufwändigere sicherheitstechnische
 Maßnahmen beizukommen, ohne doch je wirkliche Sicherheit zu erlangen. Mehr
 noch: das exzessive Sicherheitsstreben gebiert permanent neue und größere Unsicherheit.
 Der gesamte Prozess führt mit Notwendigkeit in eine Vielzahl von Aporien,
 unter denen ein immer auswegloseres Sicherheitsdilemma hervorsticht. Dieses Sicherheitsdilemma
 hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts beständig verstärkt, was, je
 nach Perspektive, sowohl die Beobachtung zulässt, dass unser Leben sicherer geworden
 sei, als auch die Bobachtung, dass es unsicherer geworden sei. Doch beide
 Beobachtungen geben nur die halbe Wahrheit wieder. Sicherheit und Unsicherheit
 sind zwei Seiten derselben Medaille.
 Am Beispiel der Klimaentwicklung hatte ich schon dargelegt, dass deren Katastrophenpotential
 vor allem daher rührt, dass sie auf eine Welt trifft, die auf klimatische
 Veränderungen dieser Dimension nicht vorbereitet ist, auf eine hoch technisierte
 Welt also, die nicht allein von innen, sondern auch von außen gefährdet ist, die nicht
 nur zerbrechlich ist, sondern auch verwundbar. Genau hier liegt auch das schon angesprochene
 Katastrophenpotential des globalen Terrorismus. Der 11. September
 2001 hat die Gefährdung unserer zivilisatorischen Errungenschaften in einem kollektiven
 Schockerlebnis zu Bewusstsein gebracht. An diesem Tag wurde demonstriert,
 wie – im buchstäblichen Sinne – einsturzgefährdet unsere technischen Sicherheitskonstruktionen
 sind. Die moderne technische Welt ist für diejenigen, die Desaster
 größten Ausmaßes herbeiführen wollen, geradezu eine Einladung. Die technische
 Zivilisation bietet jenen, die sich der von ihr geforderten Rationalität widersetzen, Angriffspunkte
 im Übermaß.
 Gegen eine solche Bedrohung sicherheitstechnisch aufzurüsten, wie in den vergangenen
 Jahren geschehen, kann keine wirkliche Sicherheit schaffen. Vielmehr käme
 es darauf an, die Welt so zu gestalten, dass sich möglichst viele Menschen in ihr zu
 Hause fühlen, sie als ihre Welt begreifen und sich den angesprochenen Rationalitätsstandards
 aus innerer Überzeugung fügen. Das freilich ist eine Aufgabe, die mit
 Technik allein gewiss nicht zu bewältigen ist und einen viel breiteren, multidimensionalen
 Ansatz verlangt, einen Ansatz also, der auch politische, soziale, ökologische
 und kulturelle Aspekte berücksichtigt. Diese Einsicht lässt sich mit etwas Phantasie
 ohne weiteres auch auf andere Katastrophentypen übertragen. Und das heißt: Wer
 Wege aus der Katastrophengesellschaft finden will, braucht kein „Feuerwerk“ technischer
 Innovationen, sondern ein neues Verständnis von Sicherheit.