SWR2 Wissen: Aula Rainer Holm-Hadull: Der zündende Funke im Kopf . Geheimnis Kreativität
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Kreativität - Geheimnis ?!
SWR2 Wissen: Aula Rainer Holm-Hadull: Der zündende Funke im Kopf . Geheimnis Kreativität
Sendung: Sonntag, 4. September 2016 Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2015
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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
AUTOR
Prof. Dr. med. Rainer M. Holm-Hadulla studierte Medizin und Philosophie in Marburg, Rom und Heidelberg und arbeitete als Arzt an der an der Psychiatrischen, Psychosomatischen und Neurologischen Universitätsklinik Heidelberg, wo er auch eine wissenschaftliche und Lehrtätigkeit hatte. Seit 1986 ist er Leitender Arzt der Psychosozialen Beratungsstelle des Studentenwerks und lehrt und forscht an der Universität Heidelberg. Er ist Mitglied mehrerer Fachgesellschaften, darunter bei der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie (DGPPN) und der Deutschen Psychoanalytische Vereinigung (DPV). Wissenschaftliche Schwerpunkte: Beratung, Coaching, Kreativität.
http://www.holm-hadulla.de
Bücher (Auswahl):
•Integrative Psychotherapie, Verlag Klett-Cotta, 2015.
•Die vielen Gesichter der Depression (Hg., zus. mit A. Draguhn), Universitätsverlag Winter, 2015.
•Kreativität zwischen Schöpfung und Zerstörung, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2011.
ÜBERBLICK
Wir wissen zwar viel über die Produkte von Genies, seien es nun Gemälde, Sonaten, Romane oder Plastiken. Aber wir wissen immer noch wenig darüber, wie Kreativität entsteht und genau funktioniert, wie die psychologischen, die genetischen und neurowissenschaftlichen Grundlagen aussehen, warum der eine äußerst kreativ, der andere aber immer nur mittelmäßig ist. Professor Rainer Holm-Hadulla, Kreativitätsforscher und Professor für Psychotherapeutische Medizin an der Universität Heidelberg, zeigt und analysiert die vielen Gesichter der Kreativität. (Produktion 2015)
INHALT
Ansage:
Mit dem Thema: "Der zündende Funke im Kopf – Geheimnis Kreativität".
Wir wissen zwar viel über die Produkte von Genies, seien es nun Gemälde, Sonaten, Romane oder Plastiken. Aber wir wissen immer noch wenig darüber, wie Kreativität entsteht und genau funktioniert, wie die psychologischen, die genetischen und neurowissenschaftlichen Grundlagen aussehen, warum der eine äußerst kreativ, der andere aber immer nur mittelmäßig ist. Professor Rainer Holm-Hadulla, Kreativitätsforscher und Professor für Psychotherapeutische Medizin an der Universität Heidelberg, zeigt und analysiert die vielen Gesichter der Kreativität.
Rainer M. Holm-Hadulla:
Kreativität ist in aller Munde: Wir hören, dass wir sie von der frühen Kindheit bis ins hohe Alter fördern sollen. Das Schöpferische ist nicht länger den Künsten vorbehalten, sondern auch in Politik und Wirtschaft sind kreative Problemlösungen gefragt. Selbst die Alltagsgestaltung wird zur kreativen Aufgabe. Wie wir unseren morgendlichen Espresso trinken, ob wir ihn eilig herunterschütten und einen sauren Magen bekommen oder ob wir seinen Duft einatmen, an den Traum aus der vergangen Nacht denken oder an das Lächeln eines lieben Menschen: Das ist gelebte Kreativität, sie ist ein Lebenselixier. Diese alltägliche Kreativität unterscheidet sich von außergewöhnlicher Kreativität durch einen Umstand: Außergewöhnliche Kreativität führt zu Werken, die auch für Andere bedeutungsvoll sind.
Allerdings sind die Vorstellungen, wie Kreativität entsteht, oft unklar. Es wird leicht ignoriert, dass sie Licht- und Schattenseiten hat. Sie stellt sich nicht von selbst ein und löst oft Spannungen aus, die schwer erträglich sein können. Man muss sie sich erarbeiten und viele Hindernisse auf dem Weg zu einem schöpferischen Leben bewältigen. Auch wird gerne übersehen, dass sich kreative Prozesse in Wissenschaft und Kunst, Ökonomie und Politik sowie im Alltagsleben erheblich unterscheiden. Deswegen möchte heute ich das derzeit verfügbare neurobiologische, psychologische und kulturelle Wissen zusammenfassen und daraus Konsequenzen für die praktische Förderung der Kreativität ziehen.
Die am häufigsten zitierte Definition der Kreativität bezieht sich auf die "Erschaffung neuer und brauchbarer Formen". Daraus folgt, dass Kreativität eine Eigenschaft lebender Systeme ist, die sich in einem beständigen Austausch mit ihrer Umwelt befinden. In diesem dynamischen Austauschprozess entwickeln und verändern sie ihre Form. Dabei sind sie inneren und äußeren Zerstörungsprozessen ausgesetzt.
Dies ist auch eine kulturelle Leitidee. Eine kurze kulturgeschichtliche Überlegung verdeutlicht, dass das Schöpferische nicht aus spannungsloser Muse entspringt, sondern aus einem Kampf zwischen widerstreitenden Mächten. In Mythen, Religionen und Weisheitslehren, in denen sich Menschen über sich selbst und ihre Stellung in der Welt verständigten, erscheint das Schöpferische als Kampf zwischen konstruktiven und destruktiven Regungen. Ich habe dies in meinem Buch "Kreativität zwischen Schöpfung und Zerstörung" ausführlich beschrieben. Zum Beispiel bekämpft im alten Ägypten der Mensch durch Arbeit und religiöse Rituale eine beständige Gravitation zum Chaos. In China verbindet sich mit Konfuzius die Vorstellung, dass beständige menschliche Aktivität notwendig sei, um die Tendenz
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zum sozialen und sittlichen Verfall zu verhindern. In den indischen Hochkulturen ist die Leitidee vorherrschend, dass widerstreitende Mächte die Welt in Bewegung halten. In der Bibel gibt es nicht nur einen Gott, der das Seiende erschafft, sondern auch ein zerstörerisches Prinzip, verkörpert im Teufel. Goethe fasst dies mit feiner Ironie zusammen: "Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen/ Er liebt sich leicht die unbedingte Ruh/ Drum geb’ ich gern ihm den Gesellen zu/ Der reizt und wirkt und muss als Teufel schaffen". Das Kreative wird also nicht nur als schöne Gabe, sondern als Ausdruck eines ewigen Konflikts aufgefasst.
Die Bewältigung dieses Konflikts geschieht in einem Wechselspiel zwischen aktivem Gestalten und passivem Geschehen-Lassen. Creavit – er schuf – das erste Verb der Bibel, intoniert die Vorstellung von Kreativität als Schöpfungsakt, der individuell, unabhängig und einzigartig ist. Diese Vorstellung hat sich besonders in der westlichen Welt zu einer Leitidee entwickelt: Geniale Menschen schaffen – vom göttlichen Funken beseelt oder den Musen geküsst – außergewöhnliche Werke. Wortgeschichtlich klingt in Kreativität aber noch eine andere Vorstellung an: Crescere, das so viel wie Wachsen und Geschehen-Lassen bedeutet. Menschen sind nicht nur durch ihre einzigartige Aktivität schöpferisch, sondern fügen sich durch ihr kreatives Tun in einen natürlichen und gesellschaftlichen Prozess ein. Im Gegensatz zu westlichen Idealen der kreativen Individualität und Originalität herrscht zum Beispiel im Alten China die Vorstellung, dass sich Kreativität in einem kollektiven und imitatorischen Prozess ereignet. Nicht der ist ein erfolgreicher Künstler, Gelehrter oder Politiker, der individuell und originell ist, sondern derjenige, der sich am besten in die Tradition einfügt und der Gemeinschaft unterordnet. Philosophisch ist die Dialektik von aktivem Tun und passivem Geschehen-Lassen in der westlichen Welt spätestens seit Heraklit einflussreich. Die Vergänglichkeit gewohnter Ordnungen wird nicht nur als bedrohlich erlebt, sondern verheißt auch Entwicklung und Fortschritt.
Neurobiologisch weiß man heute Folgendes: Embryonen und Säuglinge empfangen beständig Eindrücke aus ihrer Innen- und Außenweltwelt. Diese Reize werden nicht nur passiv gespeichert, sondern das Gehirn entwickelt sich in einer dynamischen Interaktion mit der Umwelt. Es ist keine metaphorische Übertreibung zu sagen, dass jedes Baby seine Welt komponiert. Aus der Säuglingsforschung wissen wir, wie wichtig für die Entwicklung des werdenden Selbst das Angeschaut- und körperliche Beantwortet-Werden ist. Diese frühen Anerkennungsprozesse sind von lebenslanger Bedeutung. Sie sind allerdings niemals vollkommen und Frustrationen führen, wenn sie nicht zu stark ausgeprägt sind, zu kreativen Aktivitäten.
Neuronale Netzwerke entstehen durch die Selbstorganisation des Gehirns in engem Zusammenspiel mit der körperlichen Innenwelt und sozialen Umwelt. Dabei werden Ereignisse neuronal geordnet und als Erinnerungen abgespeichert. Im kreativen Prozess werden diese Ordnungen, ohne die nichts Neues entstehen kann, labilisiert und neu kombiniert. Wahrnehmen, Erinnern, Denken, Phantasieren und Träumen sind kreative Prozesse, die die Reifung des Gehirns stimulieren und in enger Wechselwirkung mit einer fördernden Umwelt stehen. Selbst im hohen Alter lässt sich nachweisen, dass kreative Tätigkeiten die Hirnfunktion anregen und die neuronale Plastizität begünstigen.
Neurobiologisch lässt sich Kreativität als "Neuformierung von vorhandenen Informationen" definieren. Diese Informationen müssen neuronal gespeichert sein, damit sie neu und originell kombiniert werden können. Es genügt nicht, wenn sie
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irgendwo im Internet vorhanden sind. Selbst das Singen eines einfachen Lieds benötigt musikalische Kenntnisse und sprachliche Fähigkeiten, die erlernt und aus neuronalen Erinnerungssystemen abrufbar sind.
Neben gespeichertem Wissen und Können benötigt kreatives Denken und Handeln ruhige Freiräume, in denen das Erlernte neu kombiniert werden kann. Im Ruhemodus des Gehirns finden selbstorganisierende Prozesse statt, die gespeicherte Information zu neuen Mustern kombinieren. Dieser Modus geht oft mit Unlustgefühlen einher, besonders, wenn die erwartete Lösung noch nicht gefunden ist. Lustgefühle und Flow stellen sich erst ein, wenn diese Spannungen überwunden werden und zu neuen und brauchbaren Ergebnissen führen. Dies ist eine neurobiologische Entsprechung zu der vielbeschriebenen Erfahrung, dass kreative Tätigkeiten nicht nur Spaß machen, sondern mit Anstrengung und oft auch inneren Zerreißproben verbunden sind.
Die psychologische Kreativitätsforschung unterscheidet nun fünf Grundlagen der Kreativität: Begabung, Wissen, Motivation, Persönlichkeitseigenschaften und Umgebungsbedingungen.
Erstens: Begabungen. Sie lassen sich nicht züchten, sondern man muss sie entdecken. Das gelingt nur, wenn Spielräume zu ihrer Entfaltung vorhanden sind. Formale oder kristallin genannte Intelligenz ist nicht unwichtig. Andere bedeutsame Faktoren sind besondere Denkstile, zum Beispiel assoziatives Denken sowie spezielle Talente. Das subtile Zusammenspiel von konzentriertem mit assoziativem Denken bei der Realisierung von Begabungen geschieht meist unbewusst. Es kann aber auch, z. B. durch Achtsamkeitsübungen, gezielt trainiert werden.
Ohne Wissen und Können werden keine neuen Werke erschaffen. Allerdings hängt deren Bedeutung von den spezifischen Erfordernissen der kreativen Domänen ab. Mathematische Höchstleistungen sind schon in frühen Lebensphasen möglich, komplexe kulturwissenschaftliche Werke benötigen viel Wissen und werden deswegen oft erst im mittleren und höheren Lebensalter erschaffen. Je komplexer das Werk, desto wichtiger ist ein gutes Gedächtnis. Auch psychologisch ist es offensichtlich, dass nur das in Erinnerungssystemen Gespeicherte kreativ neu kombiniert werden kann. Dies bestätigen kulturelle Erfahrungen: Mozart verfügte über ein wunderbares Gedächtnis für musikalische Formen, Goethe konnte schon als Kind Predigten frei rezitieren und Picasso war ein Meister im akribischen Kopieren des einmal Gesehenen. Deswegen ist die Schulung des Gedächtnisses so wichtig. Es ist eine narzisstische Illusion zu glauben, dass Kreativität aus dem Nichts entstehe. Deswegen sind gerade auch außergewöhnlich Kreative besonders fleißig.
Als dritte psychologische Grundlage der Kreativität folgt nach Begabung, Wissen bzw. Können die Motivation. Das intrinsische Interesse, d. h. die Motivation, sich einer Sache leidenschaftlich um ihrer selbst willen zu widmen, ist ein Schlüsselbegriff. Durch viele Untersuchungen wurde bestätigt, dass die Erfüllung einer anspruchsvollen Aufgabe in sich eine größere Befriedigung darstellt als äußere Belohnung. Um sich auf eine Aufgabe einzulassen, muss man es ertragen können, sich selbst zu vergessen. Die Fähigkeit allein zu sein, um Einfälle geduldig auszuarbeiten, leitet über zu den kreativen Persönlichkeitseigenschaften.
In biografischen Analysen kreativer Individuen fällt immer wieder ein Wechselspiel von Eigensinn und Anpassungsfähigkeit auf. Albert Einstein ist eines von vielen
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Beispielen, die ich in dem Buch "Kreativität – Konzept und Lebensstil" beschrieben habe. Er konnte abwechselnd konzentriert, um nicht zu sagen akribisch arbeiten und sich dann wieder träumerisch seinen Einfällen überlassen. Auch bei Dichtern, bildenden Künstlern und Musikern findet sich ein eigentümliches Wechselspiel von Neugier und Offenheit gegenüber Eigensinn und Abschottung. Widerstandsfähigkeit, in der modernen Psychologie als Resilienz bezeichnet, ist ein wesentliches Charakteristikum kreativer Persönlichkeiten. Entwicklungspsychologisch wissen wir, dass sich Widerstandsfähigkeit ohne – lösbare – Stresserfahrungen nicht entwickelt.
Damit kommen wir zu den kreativen Umgebungsbedingungen. Eine günstige Umgebung erlaubt die Entfaltung von Talenten, indem sie Strukturen zur Verfügung stellt, in denen Wissen und Fertigkeiten erworben werden können. Gleichzeitig bietet sie Freiräume, in denen das Gelernte neu kombiniert werden kann. Dabei helfen anerkennende Begleiter. Mit dem aus der frühen Kindheit stammenden und bis ins hohe Alter sich erhaltende Bedürfnis nach Anerkennung ist nicht das Streben nach oberflächlicher Belobigung, sondern der elementare Wunsch nach Bindung und Resonanz gemeint. Mozart, Goethe und Picasso fanden diese Resonanz reichlich. Ihre Mütter und Väter gaben ihnen emotionalen Rückhalt, stellten aber auch erhebliche Anforderungen. Die Pädagogik schwankt seit ihrem Beginn zwischen strukturierender Erziehung und freier Entwicklung. Von beidem ist es leicht zu viel oder zu wenig. Deswegen müssen Eltern, Kitas, Schulen und die weiteren Bildungseinrichtungen das Gleichgewicht zwischen Struktur und Freiraum für jeden immer wieder neu austarieren. Das gilt auch für die individuelle Arbeitsorganisation.
Selbstverständlich setzen sich auch viele Talente in widrigen Umgebungsbedingungen durch. Die Pop-Ikone Madonna erlebte als kleines Mädchen, wie ihre Mutter während der sechsten Schwangerschaft an Brustkrebs erkrankte und kurz nach der Geburt des Kindes starb. Die damals fünfjährige Madonna reagierte auf ihr schweres Schicksal mit leidenschaftlichem Tanztraining, weil sie nicht anders überleben konnte. In "Like a Prayer", einem ihrer ersten Songs, transformiert sie kreativ ihren Schmerz in eine frühkindliche Näheerfahrung. "Life is a mystery, everyone must stand alone" – "das Leben ist ein Rätsel, jeder steht allein. Aber wenn du meinen Namen rufst, fühle ich mich zu Hause. Es ist wie ein kleines Gebet, ich knie nieder, bin bei Dir und kann Deine Kraft spüren. Du klingst wie ein seufzender Engel und es ist als würde ich fliegen …"
Die Verwandlung von Verzweiflung und Chaos in Poesie, Wissenschaft oder praktische Tätigkeit ist ein die Kulturgeschichte prägendes Thema. Aus einer tiefen Depression erwacht, dichtet Rilke "Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir gerade noch ertragen können". Selbst die extrovertierte Rebellion eines Mick Jagger ist getragen von der melancholischen Verarbeitung von Enttäuschung und Schmerz: In "Paint it black" besingt er die schwarze Melancholie, und in Songs wie "Love in vain" verleiht er, getragen von sehnsüchtigen Blues-Akkorden, Liebesschmerzen Ausdruck, wie es die großen Dichter vor und nach ihm getan haben. Die Transformation leidvoller Erfahrungen in Text und Musik ermöglichen anerkennende Begleiter. Bei Mick Jagger waren es zunächst die Eltern, später sein Künstlerfreund Keith Richard und Musen wie Marianne Faithful.
Nachdem ich die Grundlagen Begabung, Wissen, Können, Motivation, Persönlichkeitseigenschaften und Umgebungsbedingungen beleuchtet habe, möchte ich nun den kreativen Prozess schildern. Dieser lässt sich in fünf Phasen
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untergliedern, und zwar: Vorbereitung, Inkubation, Illumination, Realisierung und Verifikation.
Die Vorbereitungsphase beinhaltet den Erwerb des für eine kreative Erneuerung notwendigen Wissens und Könnens. Sie unterscheidet sich in verschiedenen kreativen Domänen erheblich. Ein Gedicht kann man schon mit 18 Jahren schreiben, das sprachliche Vermögen ist meist ausreichend, um seinen Emotionen kreativen Ausdruck zu verleihen. Um eine wissenschaftliche Innovation hervorzubringen, muss man hingegen lange studieren, im geeigneten Forschungslabor unter geeigneten Bedingungen jahrelang arbeiten. Erst dann kann man den Artikel schreiben, der möglicherweise zu einem kreativen wissenschaftlichen Mosaikstein wird. Diese Einsicht muss man ertragen können. Ähnlich lange Wege müssen politisch aktive Persönlichkeiten gehen. Die künstlerische Kreativität ist in dieser Hinsicht meist leichter, in anderen Hinsichten aber auch schwieriger, z. B. in der nächsten Phase, der Inkubation.
Fast alle Kinder sind spontan kreativ. Sie phantasieren, bilden schon als Säuglinge eigene Töne, später malen sie und basteln. Um etwas Außergewöhnliches zu produzieren, gerät man jedoch in Spannung. Man stößt auf Schwierigkeiten und scheitert gelegentlich. Manchen gelingt es, die Spannung des Noch-Nicht, häufig unterstützt von verständnisvollen Begleitern, zu ertragen und sich der kreativen Inkubationsphase auszusetzen. In ihr entwickelt sich das Gelernte unbewusst zu neuen Formen, etwas Neues und Brauchbares wird ausgebrütet. Unterbricht man diese mitunter quälende Suchbewegung durch mediale Ablenkung oder sucht die Spannung durch übermäßigen Alkohol oder Drogen zu manipulieren, wird die kreative Inkubationsphase, die von einem ungestörten neuronalen Ruhemodus abhängig ist, unterbrochen oder gar zerstört. Deswegen ist für die kreative Entwicklung sowohl der kompetente Umgang mit Medien als auch das Bewusstsein wichtig, dass es keine Kreativität fördernde Drogen gibt. Kreative Leistungen kommen nicht wegen, sondern – manchmal – trotz Drogenkonsums zustande.
Die dritte Phase, die kreative Illumination, verbindet man gerne mit dem "Heureka" und "Aha-Erlebnis". Sie wird häufig überschätzt. Neue Ideen entstehen ständig, die meisten bleiben unbewusst. Es kommt darauf an, den geeigneten Einfall auszuwählen und auf die anderen zu verzichten. Noch wichtiger ist, die ausgewählte Inspiration auch auszuarbeiten. Dies geschieht in der vierten, der Realisierungsphase.
Die Realisierungsphase ist zumeist die schwierigste. Die Ideenproduktion ist für viele kein Problem, aber der Verzicht auf die Beschäftigung mit anderen Dingen und die konzentrierte Arbeit verlangen Geduld. Wir wissen, dass es Zeit benötigt, um in einen Zustand des Arbeits-Flow zu kommen. In dieser Spannung ist es verführerisch, sich ablenken zu lassen, z. B. schnell einmal die Mails zu checken oder im Internet zu surfen. Dabei geht das Thema verloren und wir kommen nicht weiter. Große Studien zeigen, dass die Abnahme von kreativem Denken in den letzten zwanzig Jahren mit dysfunktionalem Mediengebrauch korreliert. Außergewöhnlich Kreative können die Spannungen der anstrengenden Realisierungsphase ertragen und sich diszipliniert auf die kreative Herausforderung einlassen. Goethe fasste das wieder einmal prägnant zusammen: Es gibt kein Genie ohne produktiv fortwirkende Kraft. Kreative Talente, die nicht diszipliniert arbeiten und den kreativen Stress durch übermäßigen Alkohol und Drogen lindern, scheitern früh: Tragische Beispiele sind Amy Winehouse und Jim Morrison.
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Die fünfte Phase des kreativen Prozesses, die Verifikation, bezeichnet die Bewertung und Veröffentlichung des Produkts. Auch sie kann krisenhaft sein, wenn wir nicht die Resonanz und Anerkennung finden, die wir benötigen. Mangel an Anerkennung, aber auch Angst vor dem eigenen Erfolg und dem Neid der anderen führen zum Rückzug. Oberflächlicher Hedonismus, z. B. durch Cannabiskonsum, ist beliebt, um diesen Spannungen auszuweichen. Der Preis ist hoch, die Kreativität leidet, aber man merkt es nicht.
Die Kreativitätsentwicklung bedarf je nach Lebensalter unterschiedlicher Anreize und Umgebungsbedingungen. Im Säuglings- und Kleinkindalter sind sichere Bindungen und Zuwendung von elementarer Bedeutung. Bei sicheren Bindungen beginnen Kinder schon früh in ihrem Leben frei und eigenständig zu phantasieren und zu spielen. Sie benötigen hierfür geschützte Freiräume und kompetente Anerkennung. Kompetente Anerkennung ist die beste Begabungsförderung: Sie unterbreitet angemessene Angebote und fördert die sichtbar werdenden Talente. Der liebevolle und anerkennende Blick der Mutter und anderer Betreuungspersonen ist ein wesentliches Stimulans der kreativen Entwicklung. Diese verinnerlichten Beziehungserfahrungen werden später weiterentwickelt und modifiziert.
Die Pubertät ist eine Phase des kreativen Umbruchs, die junge Menschen und ihre Umgebung häufig vor Zerreißproben stellt. So wie sich das Gehirn neu organisiert, Nervenfasern alte Strukturen verlieren und neue aufbauen, so bildet sich das körperliche und soziale Selbst in neuer Weise. Auch in dieser Phase geht es darum, Begabungen, Wissbegierde und Motivationen flexibel zu fördern. Die Freiräume für eigensinnige Intuition wie auch diszipliniertes Denken müssen immer wieder neu ausbalanciert werden. Das setzt sich fort in Ausbildung und Studium und kulminiert im reifen Erwachsenenalter in einem Übermaß an Verpflichtungen: Die berufliche Karriere wird geschmiedet, Beziehungen werden verbindlicher und Familien gegründet. In dieser Zeit verlieren Personen häufig ihre kindliche Spielfreude und ihre adoleszentäre Originalität. Sie werden persönlich gefestigter und sozial integrierter, zahlen jedoch oft den Preis, dass ihre kreativen Ressourcen versiegen. Wenn es gut läuft, finden sie jedoch Freiräume und können diese auch nutzen.
Das Älter-Werden sollten wir nicht nur als einen Verlust von körperlichen und geistigen Fähigkeiten auffassen. Es ist eine Chance, die schöpferischen Dimensionen des Lebens achtsam zu genießen. Untersuchungen zeigen, dass ältere Menschen häufig zufriedener sind als junge. Sie können die Wirklichkeit mit ihren traurigen und schönen Seiten gelassener verarbeiten. Kreatives Altern geht mit verbesserter neuronaler Plastizität und gesteigertem Wohlbefinden einher. Außerdem sind komplexe Werke wie z. B. Opern erst im fortgeschrittenen Alter möglich. Wenn Guiseppe Verdi und Richard Wagner wie Jannis Joplin und Jimmy Hendrix bereits mit 27 Jahren gestorben wären, wüsste man heute kaum etwas von ihnen. Sie haben zwar früh begonnen, ihre großen Werke aber erst in mittlerem Lebensalter erschaffen und dann noch jenseits der sechzig zu weiterer künstlerischer Vollendung gefunden. Mein philosophischer Lehrer Hans-Georg Gadamer hat seine besten Aufsätze zwischen dem 60. und 80. Lebensjahr geschrieben.
Die Konsequenzen für die Förderung von Kreativität möchte ich abschließend zusammenfassen: Kreativitätsförderung geschieht immer in einem Wechselspiel von strukturiertem Lernen und freiem Gestalten. Disziplin kann über Motivationstiefs hinweghelfen und die Widerstandfähigkeit stärken. Achtsamkeit für individuelle
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Eigentümlichkeiten ist wichtig. Schon kleine Kinder haben originelle Denkstile, die man ihnen bitte nicht austreiben sollte. Das sich selbst steuernde System des Gehirns ist so kostbar, dass wir es nicht manipulieren, sondern frei funktionieren lassen sollten. Deswegen ist es wichtig, uns gegen einen Überfluss von Informationen, die wir nicht verarbeiten können, zu schützen. Jede wichtige Erfahrung benötigt Nachdenken und Nachempfinden. Dies geschieht im Ruhemodus des Gehirns oder anders ausgedrückt in der gelassenen Aufmerksamkeit der Psyche. Beim freien Assoziieren und Träumen, beim Spazierengehen, Joggen und Schwimmen und in sonstigen Freiräumen kann das bestehende Wissen am besten neu kombiniert werden. Für die Realisierung des Neuen und Brauchbaren sind anerkennende Umgebungen nötig. Das beginnt mit einfühlsam interessierten Eltern und kompetenten Erziehern. Sie geben Strukturen vor, lassen aber auch Freiräume für originellen Eigensinn, selbst wenn sie diesen nicht nachvollziehen können. Der neunjährige Albert Einstein wurde von seinem Kindermädchen als der "Depperte" bezeichnet, weil er verträumt auf der Couch liegend darüber nachsann, warum die Kompassnadel nach Norden zeigt. Später erlaubten ihm sein Eigensinn, aber auch das erlernte Wissen und seine Disziplin, sich die euklidische Geometrie selbständig zu erarbeiten.
Wir sollten unsere Kinder nicht überfordern, aber auch den Mut haben, ihnen Zeiten der Eigeninitiative abzuverlangen, in denen sie ihre Erfahrungen ungestört von Außenreizen durch Lesen, Malen, Musizieren und Bewegung verarbeiten. Das gilt auch für Erwachsene, denn Erziehen bedeutet Sich-Selbst-Erziehen. Dazu gehört auch die Bekämpfung von Kreativitätskillern: mangelnde Strukturen und fehlende Anleitungen, destruktive Kritik und ständige Medienpräsenz. Bill Gates, der unverdächtig ist, etwas gegen moderne Medien zu haben, wurde einmal gefragt, ob er seinen Kindern Computer geben würde. Er antwortete, dass er ihnen zunächst Bücher anbiete. Bewegung, Literatur, Musik, bildende Kunst und Wissenschaft sind lebenswichtig, um Geschehnisse zu verarbeiten, damit Sie uns nicht überfluten.
Kreativität ist spannungsreich, aber auch heilsam. Sie spielt mit dem Chaos und stellt immer wieder emotionale und intellektuelle Ordnungen her, ein Spiel, das wir als schön erleben. Dann kommt etwas zustande und wir können den Augenblick genießen. Allerdings stellt sich dieses Gefühl ästhetischer Erfüllung nur für mehr oder minder kurze Augenblicke ein. Es muss immer wieder neu entdeckt werden. Kreative Lebenskunst entsteht, wenn wir das Wechselspiel von Freuden und Leiden annehmen und durch konzentriertes Arbeiten und freies Spielen immer wieder neu gestalten. Goethe drückt dies am Ende seines Gedichts "Selige Sehnsucht" folgendermaßen aus: "Und solang’ du dies nicht hast,/ Dieses: stirb und werde!/ Bist du nur ein trüber Gast/ Auf der dunklen Erde".
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