SWR2 Wissen: Aula - Jürgen Wertheim: Flucht und Vertreibung . Das Motiv des Exodus
Diskurs SWR2 Kooperation
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SWR2 Wissen: Aula - Jürgen Wertheim: Flucht und Vertreibung . Das Motiv des Exodus
Charakteristika
Kultur ist ihrem Wesen nach transkulturell
-- auch bei Exodus- Flucht - Vertreibung
Sperre I : man ist gegen Klugheit & den Realitätssinn der Literatur (pop/ulistisch-kulturelle Ausgrenzung, Prankl)
-- Grenzziehungen & Manöver der Abschottung , Mauern & Zäune stauen. erhöhen (bis zu todbringende) Konflikte
-- Vorstellung vom Anderen, den Fremden, Feindlichen
Literatur I 'Die Brücke' (Ödön von Horvath) bewohnbar besiedeln (Wertheimer, Prankl)*
-- Aufbruchsnotwendigkeit & imaginärer Rückkehrplan der Ankommenden
Literatur II 'Das Vaterland an den Schuhsohlen' (Büchner ), im Rucksack (Prankl) mittragen
Laboratorien I* statt Lager -Stätten bis Städte auf Zeit in Europa oder Nordafrika
-- Es gibt Ansässige,die in monokulturellen Wertekosmen leben & anstelle 'Vielfalt'' nach 'Ihrer Lei/d/tkultur' (Prankl) streben
Sperre II : wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da
Literatur III Jelinek stöbert diesen Unrat (Floskeln &Sprachregelungen, die Niederungen der konkreten Wirklichkeit) auf und befördert ihn ins Rampenlicht
Exodus 'Fremder'? Aktuell geht um a/sozialmedial zerhackte kleine Einzelschicksale (Wertheimer, Prankl)
Quintessenz von Jürgen Wertheimer:
'Kein Medium weist den Weg hierzu besser als das der Literatur, die nur von fragilen, komplizierten Geschichten lebt und großen Geschichtsentwürfen aus Prinzip skeptisch gegenübersteht. Europa braucht derzeit keine große Narration – wohl aber den Mut, den vielen Einzelstimmen zuzuhören.' m+w.p16-11
*) http://www.kultur-punkt.ch/Lebensraum/urbane-muster-stadt.html
AUTOR
Jürgen Wertheimer studierte Germanistik Komparatistik, Anglistik und Kunstgeschichte an den Universitäten München, Siena und Rom, promovierte (summa cum laude) und habilitierte sich an der LMU München, wo er auch zum Privatdozenten ernannt wurde. Er folgte einem Ruf an die Universität Bamberg und 1991 an die Universität Tübingen. Dort hat er den Lehrstuhl für Internationale Literaturen/Neuere deutsche Literatur inne. ^
Bücher (Auswahl):
– Vertrauen: Ein riskantes Gefühl (zus. mit Niels Birbaumer). Ecowin-Verlag. 2016.
– Die Venus aus dem Eis: Wie vor 4.000 Jahren unsere Kultur entstand (zus. mit Nicholas Conard). Btb-Verlag. 2013.
INHALT
Sendung: Sonntag, 13. November 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service:
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ÜBERBLICK
Der Begriff "Exodus" hat Hochkonjunktur. Er taucht immer wieder in verschiedenen Kontexten auf, etwa wenn es heißt: Das Land leidet unter einem Exodus der Akademiker. Ein Exodus ist die massenhafte Flucht der Syrer aus ihrem eigenen Land während des anhaltenden Bürgerkriegs. Der Exodus europäischer Musiker in die USA nach 1933 war vielleicht der größte Talenttransfer der Weltgeschichte. Professor Jürgen Wertheimer, Literaturwissenschaftler an der Universität Tübingen, geht dem Wandel des Begriffs in der Kultur- und Literaturgeschichte nach.
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MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: "Flucht und Vertreibung – das Motiv des Exodus".
Der Begriff hat Hochkunjunktur, leider: Er taucht in verschiedenen Kontexten auf, etwa wenn es heißt: "Das Land leidet unter einem Exodus von Akademikern", oder: "die massenhafte Flucht der Syrer aus ihrer Heimat ist ein Exodus", oder: "der Exodus der europäischen Musiker in die USA nach 1933 war der vielleicht größte Talent-Transfer der Weltgeschichte".
Der Literaturwissenschaftler Professor Jürgen Wertheimer von der Universität Tübingen, zeigt in seinem Vortrag, erstens die Bedeutungen dieses Begriffs, und zweitens macht er deutlich, dass gerade die Literatur Wege aufzeigt, um mit dem Exodus auf produktive Weise umzugehen.
Jürgen Wertheimer:
Es ist wahr, die Literatur bietet keine einfachen Lösungen im Powerpoint-Format an. Sie legt Ambivalenzen, Doppeldeutigkeiten und Widersprüche frei. Sie ist hautnah an der Wirklichkeit orientiert und nicht an utopischen Idealkonstruktionen oder plumpen Diabolisierungen.
Sie macht uns nicht unbedingt überlegen aber klüger, stärker und belastbarer im Umgang mit komplexen Situationen. Deshalb brauchen wir eine Art permanentes Laboratorium zur Erforschung des Phänomens "Exodus" in einer Phase, in der der Exodus im Stau und Europa in der Krise steht. Wir sollten den Mut haben, den Dingen so wie sie sind und nicht so wie wir sie uns wünschen gegenübertreten, ohne Panikmache, ohne Verklärung. Dazu gehört es, die innere Widersprüchlichkeit, die Ambivalenz der Phänomene als Realität zu begreifen. Und zu verstehen, dass das Gestalten von kulturellen und soziologischen Übergangssituationen als Dauerzustand, nicht als Ausnahmeregelung zu verstehen ist . Denn genau darauf werden wir uns darauf einzustellen haben.
Wir haben die Dynamik des Weltgeschehens ein halbes Jahrhundert von uns ferngehalten und geglaubt das Andere/die Anderen als Elemente unseres ökonomisch grundierten Masterplans einbauen zu können. Erst jetzt beginnt uns die Wirklichkeit einzuholen. Der Fremde ist nicht mehr der, der heute kommt und Morgen geht. Und die Fremde ist auch kein Fantasiegebilde mehr, in das wir uns gelegentlich zurückziehen. Der Fremde steht in der Tür und geht vielleicht nie wieder. Europa macht nun selbst genau die Erfahrung, die sie der gesamten Welt in der Phase der Kolonisation zumutete.
Eine Erfahrung, eine Wirklichkeit , der sich die Literatur seit je nicht nur gestellt hat, sondern deren ureigenstes Arbeitsfeld sie ist.
Alles begann – in jenen Tagen. In jenen Tagen, als man an den sprichwörtlichen "Wassern von Babylon" festsaß und der Widerstand zu erlahmen begann, weil die
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verschleppten Hebräer sich in diesem recht urbanen Exil einigermaßen wohl zu fühlen begannen. Da erinnerten sich ein paar findige Ideologen eines beinahe vergessenen Vorfalls, damals von 1000 Jahren, noch im alten Ägypten. Ein paar Flüchtige, Renegaten hatten sich abgesetzt. Möglicherweise – der Ägyptologe Jan Assmann hält diese Lesart für durchaus plausibel – verbirgt sich hinter dem sogenannten "Auszug aus Ägypten" in Wirklichkeit nur der verzweifelte Ausbruchsversuch von ein paar Dutzend Marodeuren oder fanatisierten Echnaton-Anhängern . Aber was will das schon heißen: in Wirklichkeit? Hunderte von Jahren nach diesem Auszug jedenfalls fand er ein zweites Mal statt – in Form einer biblischen Geschichte. Und erst jetzt wurde der Rauswurf zum Aufbruch, zum Exodus, das Pariatum zur Auserwähltheit, der Gottesbund zur alles überlagernden Lebensform. Die findigen Autoren der Heiligen Schrift machten aus einem möglicherweise marginalen Vorkommen etwas ganz Anderes, völlig Neues. Sie erfanden "Den Exodus" – den großen, heroischen, programmatischen Auszug, um die Leute wieder um sich zu sammeln, siezu einem Kollektiv zu binden, einen politischen und religiösen Bund zu etablieren und ein Land, Kanaan, zu besetzen bzw. militant zurückzugewinnen:
"Da erschlugen die Israeliten Og und seine Söhne und sein ganzes Volk; keiner von ihnen konnte entrinnen. Die Israeliten aber besetzten sein Land" (AT Numeri 21.33).
Exodus ist faktisch oft auch Invasion unter den Vorzeichen der Notwehr oder einer höheren Art der Gerechtigkeit. Obwohl aus einer Notsituation geboren, wurde die Geschichte des auserwählten Volkes zur Mutter aller zukünftigen Exils- und Exodus Fantasien – denn Gemeinschaftsgefühle machen stark, auch wenn sie anscheinend nur aus der Retorte der Philologen stammen – in diesem Fall der Retorte der griechischen Übersetzer, die den Begriff des "Exodos" überhaupt erst erfanden. Ein Begriff der im positiven wie im negativen Sinn Furore machen sollte.
Ridley Scotts monumentaler biblischer Blockbuster "Exodus. Gods and Kings" von 2014 steht für die heroische, die Geschichte des Flüchtlingsschiffs "Exodus 1947" für die erbärmliche Seite des Prinzips "Exodus". Die Irrfahrt der "Exodus" und ihrer Passagiere auf dem Weg aus dem Lager in das Lager ist eine der beschämendsten Episoden der jüngeren europäischen Geschichte und auch sie spielt auf dem Hintergrund des Exodus-Mythos.
Die wenigen Juden , die das KZ überlebten , werden 1947 beim Versuch, in das "gelobte Land" zu kommen von der englischen Marine aufgebracht und mit brachialer Gewalt nach Deutschland – wiederum in ein Lager – zurückgeführt. Und dennoch: die internationale Medienaufmerksamkeit, die diese heroische Irrfahrt erregt, war so groß, dass die Engländer kapitulieren müssen und der Staat Israel – aus weltweitem Abscheu über diesen Vorfall – bereits im Folgejahr geboren wird. Der US-amerikanische Bestsellerautor Leon Uris verwandelte die im Kern alles andere als erbauliche Geschichte unter dem schlichten Monumentaltitel "Exodus" 1958 in ein anrührendes "großes Epos um die Gründung Israels" und unterlegte die Story an allen besonders dramatischen Stellen mit biblischen Zitaten.
Der Kampf um das Schiff "Exodus" wird zum Fanal für die Besatzungsmacht und zum Triumph der neuen jüdischen Gemeinde. Das Lager und alle bitteren Erfahrungen des Debakels spielen keine Rolle mehr, und die alte Sederabendfrage,
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warum dieser Abend anders sei als alle anderen kann endlich – triumphierend, so triumphierend wie am Ende des Romans von Leon Uris – beantwortet werden:
"Der heutige Abend ist anders als alle anderen, weil wir heute den wichtigsten Augenblick in der Geschichte unseres Volkes feiern. An diesem heutigen Abend feiern wir den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten, ihren Aufbruch aus der Sklaverei in die Freiheit."
Man sieht, der Exodus-Mythos schirmt die Wahrnehmung auf eine sehr spezifische Weise von der Wirklichkeit ab, macht mutiger, entschlossener, stärker – freilich auch rücksichtsloser. Er gibt der Wirklichkeit einen doppelten Boden. Das macht ihn zugleich gefährlicher und faszinierender: Er vermag es sogar, malträtierte Opfer in siegreiche Helden zu verwandeln.
Die Geschichte dieses Exodus belegt, wie sinnlos und kontraproduktiv sich materielle Grenzziehungen und Manöver der Abschottung und Abdrängung über kurz oder lang erweisen. Nicht starre Abgrenzung, sondern flexible Durchlässigkeit erweist sich als Mittel der Wahl. Hätte England die historische Chance benutzt, sich als Mittler darzustellen, wäre möglicherweise der bis jetzt anhaltende Konflikt zwischen Israel und Palästina im Keim seines Entstehens wenn nicht erstickt, so doch zumindest gebannt worden. Stattdessen wurde in einer höchst unglücklichen Operation versucht, Härte zu zeigen. Man ermutigte dadurch trügerische Hoffnungen auf arabischer Seite, verletzte die Gefühle der jüdischen Menschen, um sich dann, im entscheidenden Moment, aus der Verantwortung zu stehlen.
Die taktischen aber auch atavistischen Momente, die unser Handeln noch immer bestimmen, kommen bei dieser ebenso grausamen wie sinnlosen Geschichte auf geradezu erschreckende Art zum Ausdruck. Sie führen mittelfristig zu einer Verstetigung, Versteinerung der Stereotypien und Feindbilder. Man muss sich in aller Offenheit fragen, ob wir nicht geradezu süchtig nach diesen Feindbildern sind, einfach weil sie uns klare Koordinaten und ein duales Weltbild versprechen, d.h. die Komplexität und Unübersichtlichkeit, die Veränderungen mit sich bringen müssen, bannen.
Auch wir stellen uns häufig dem natürlichen Verlauf der Dinge bis zur Obsession in den Weg, bauen Dämme, Mauern, Selbstschutzanlagen bis zur Paranoia. In seiner kleinen aber ungeheuer aufschlussreichen Geschichte über den "Bau der chinesischen Mauer" macht Franz Kafka das Prinzip Grenze in seiner Sinnlosigkeit und Effizienz klar: Im Niemandsland lückenhaft gebaut erschafft sie durch ihre bloße Präsenz Hoheitsgebiete und Machträume. In Kafkas "Der Bau" wird die Paranoia des Prinzips des sich in mentalen und faktischen Mauern Eingrabens noch systematischer und eindringlicher dargestellt. Gleich ob der Feind tatsächlich existiert oder nicht – der tierartige Ich-Erzähler orientiert sich an einer vermutlich eingebildeten Bedrohungslage, ganz so als ob diese faktisch vorhanden wäre. Der sicherheitsbesessene Bewohner des Baus reflektiert über seinen fiktiven Gegner den er auch und gerade dann zu erkennen glaubt, wenn dieser weder hör- noch sichtbar ist:
"In beider Hinsicht wird entscheidend sein, ob und was das Tier von mir weiß. Je mehr ich darüber nachdenke, desto unwahrscheinlicher scheint es mir, dass das Tier mich überhaupt gehört hat, es ist möglich, wenn auch mir unvorstellbar, dass es
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sonst irgendwelche Nachrichten über mich hat, aber gehört hat es mich wohl nicht. Solange ich nichts von ihm wusste, kann es mich überhaupt nicht gehört haben, denn da verhielt ich mich still; wenn es mich aber gehört hätte, hätte doch auch ich etwas davon bemerken müssen, es hätte doch wenigstens in der Arbeit öfters innehalten müssen und horchen. – Aber alles blieb unverändert."
Im schlimmstmöglichen Fall dominiert also die Vorstellung des Anderen, Fremden, Feindlichen unser konkretes Verhalten.
Der Versuch, Grenzen zu überwinden, setzt ungeheure mentale und auch ethische Energien frei. Erst die Grenze macht aus dem Wunsch ein Begehren und lässt ihre Überwindung zum Sieg werden. Kein "Lob der Grenze" ist hier zu singen, wohl aber ein Lob auf alle Grenzgänger, auf die Realität des kleinen Grenzverkehrs, die allmähliche Verwandlung der Grenze in eine Passage und einen belebbaren Zwischenraum, wie Ödön von Horvath, der Mann auf der Grenze, – er sah sich als "österreicheich-ungarisch-kroatisch-deutsch-tschechisches" Mischwesen – es in seiner wunderbaren Burleske "Die Brücke" darstellt. Horvath zeigt darin, dass die Grenzzone ein derart hochaufgeladener, emotionsbesetzter Raum ist, dass jede noch so kleine Bewegung in ihm, Panik auf Seiten der Mächtigen auslösen kann. Oder wenn man es positiv sehen möchte: Jede überwundene Grenze ist ein großer politischer und menschlicher Sieg.
Wenn einer die Grenze überschritten hat, beginnen die Probleme. Jedenfalls neue Probleme. Für den Ankommenden wie für diejenigen, die sich mit ihm von jetzt an auseinander zu setzen haben.
Vor noch nicht allzu langer Zeit, in den 60er-Jahren, begriff sich das Einwanderungsland Deutschland noch als "Nicht-Einwanderungsland". Wiederum einige Jahrzehnte zuvor artikulierte sich der politische Wille, längst Eingewanderte und Integrierte exkludieren zu wollen: Nahezu alle deutschen Juden werden trotz ihrer Assimilations- und Integrationsanstrengungen "enttarnt" und – im günstigsten Fall – vertrieben. Die Überlebenden mussten begreifen: Anpassung lohnt nicht, denn sie wird als Schwäche oder Heimtücke interpretiert. Bewusstes Außenseitertum ist paradoxerweise der sicherere Weg. Hannah Arendt beschreibt ihn. Auf der Basis dieser Erkenntnis muss auch das derzeit nahezu dogmatisch verkündete Programm der "Inklusion" bzw. "Integration" als vermeintlicher Königsweg zur Lösung der anstehenden Probleme ernsthaft angezweifelt werden: Menschen werden auf absehbare Zeit im Transit leben.
Warum in aller Welt sperren wir uns gegen die Klugheit und den Realitätssinn der Literatur, die wieder und wieder darstellt, dass Grenzen, Mauern und Zäune Konflikte nicht dämmen, sondern stauen? Warum stellen wir uns nicht der Zukunftsaufgabe, fluide Transiträume lebenswürdig zu gestalten und verantwortbar zu verwalten? Ansiedlungen auf Zeit, entsprechen dem Realitätssinn und den wahren Bedürfnissen der Flüchtenden weit mehr. Sie als Schutzsuchende abzustellen, sie kaltzustellen, ist so ziemlich das Törichteste, was man ihnen wie der aufnehmenden Kultur antun kann.
Lange Zeit dominierte das Bild der Brücke als Metapher für eine neue Daseinsform zwischen den Kulturen. Dann bemerkte man: Diese Brücke führt weder hin noch her, man findet nach beiden Seiten keinen Anschluss. Vielleicht kann man es sich für
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einige Zeit selbst auf einer Brücke wohnlich machen – aber auf längere Frist kann das keine Lösung sein. Neuerdings bevorzugt man das Bild der Schwelle als einer gleitenden Übergangszone zwischen zwei Räumen. Was verbirgt sich hinter diesen Bildern? Führen Sie konkret weiter? Man kann die Brücke als Lebensraum entdecken und sie nach zwei Seiten begehbar machen. Und mit einem Mal erschließen sich neue Räume, entstehen ungeahnte Verbindungen. Wie damals, 1945, als alle Grenzen zerfielen und ein ungeheurer und unfreiwilliger Exodus im großen Stil einsetzte.
Obwohl das am Boden liegende Deutschland nach dem zwei Weltkriegen mit drei Millionen aus ihrer Heimat Vertriebenen förmlich überflutet wurde und das Problem mit Bravour meisterte, ging man mit dem Thema der Heimatvertriebenen, der Zwangsausgesiedelten eher zurückhaltend um. Erst seit der Wende wird offener darüber geredet. Dabei würde sich das, was sich ab 1945 in Tschechien, Polen und Deutschland ereignete, geradezu als Laboratorium für die Lösung auch der Gegenwartsprobleme anbieten: Entschiedene Förderung von Selbstorganisation statt Integrationswut, behutsame Vermischung statt ethnischer Trennung könnten die Lehren aus diesem europäischen Fiasko sein.
Büchners Satz, wonach man "das Vaterland an den Schuhsohlen mitnehme", ist mehr als ein Aphorismus. Er beschreibt die Tatsache, dass Exilanten oft die engagiertesten Patrioten des Landes sind, das sie gezwungen waren zu verlassen. Ihre Gefühle und Gedanken leben über Jahrzehnte in zwei Ländern. Aufbruchsnotwendigkeit und Rückkehrplan gehören häufig eng zusammen. Ein Blick auf die Biographien vieler Emigrierter und Flüchtlinge zeigt, dass im mentalen Gepäck der Meisten bereits eine imaginierte Rückfahrkarte steckte. Viele lauerten förmlich auf den Moment der Rückkehr, – das Vaterland an den Rändern von außen umkreisend. Im Kopf aber bereits einen Plan, das unter Zwang verlassene Territorium neu zu gestalten. Ob Exilregierungen oder Familienzusammenführungen – Flucht ist keine Einbahnstraße und darf keine sein.
Mit den alten Mitteln, Integration oder Rückführung, ist die Situation nicht zu meistern. Es muss über dritte Wege jenseits dieser beiden ausgetretenen Pfade nachgedacht werden. Zwischenlösungen und "Dazwischenlösungen" sind nichts Verwerfliches in Zeiten der Provisorien und des Improvisierens. Heute mehr denn je. Manche derer, die noch hier zu sein scheinen, bewohnen ihr Heimatland bereits mental wieder und sitzen gleichsam auf gepackten Koffern. Ihnen kann man helfen, den riskanten Vorgang des Zurückkehrens psychisch, physisch und materiell zu begleiten.
Für andere ist der Reflex der Rückkehr angesichts der Realität in ihren Ländern noch reine Utopie. Aber auch sie haben andererseits nicht die Absicht, hier Wurzeln zu schlagen. Was spricht dagegen, kleine temporäre Siedlungen, in denen Eigenverantwortlichkeit, nicht Überwachung, und Betreuung gefragt ist, zu errichten. Im 17. Jahrhundert als nahezu eine halbe Million andersgläubiger Hugenotten nach Deutschland flüchteten, war man offenbar flexibler als heute. Immerhin entdeckten einige Landesherren diese Menschen als wichtige Ressource, investierten in sie und siedelten sie dort an, wo man sie brauchen konnte und wo sie weiterhin in ihrer Sprache und nach ihren Regeln verkehrten. Daniel Cohn-Bendit hat einmal zu Recht davon gesprochen, dass die Entwicklung Berlins von einem gottverlassenen
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Provinznest zur Kapitale ohne die Leistungen der ketzerischen Neuankömmlinge nicht möglich gewesen wäre.
In einer Periode, die sich auf allen Ebenen damit schmückt, global zu denken und transkulturelle Phänomene und Projekte zu fördern, sollte darüber hinaus die Idee über transnationale Zwischen-Lösungen nachzudenken plausibel sein. Von Menschen, die im Stau der Migration stecken kann man keine Eindeutigkeit verlangen. Vieles ist angedacht, die Gefühle hinken voraus oder hinterher, alles formiert sich neu, Unerwartetes geschieht. Ich könnte mir solche Städte auf Zeit in Europa oder Nordafrika geradezu als Laboratorien vorstellen, um sowohl uns wie die Migranten fit für eine noch unbekannte Zukunft oder sogar für eine Rückeroberung der notgedrungen verlassenen Regionen zu machen. Sie resilient, d.h. körperlich und mental widerstandsfähig zu machen. Man weiß, jede Rückkehr stellt ein hochriskantes Manöver dar. Man weiß es nicht erst seit Kafka, aber durch ihn sieht man es vielleicht eine Spur klarer. Wie in seinem kleinen Text "Die Heimkehr":
"Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen? Was in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir waren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will?"
Kultur ist ihrem Wesen nach transkulturell –auch wenn sich das paradox anhören mag. Übergangszonen, Überlappungen und Vermischungen, Überlagerungen sind ihre Qualität eine Schule für all jene, die noch immer in monokulturellen Wertekosmen leben und das Wort "Vielfalt" wie ein exotisches Fremdwort benutzen. Vielleicht werden wir in naher Zukunft dazu kommen, aus dem Provisorium eine Lebensform zu machen. Besser eine wirklich gut ausgestattete Enklave, einen autonomen, geschützten Bereich als eine Rückkehr unter fragwürdigen oder ein Bleiben unter Unsicherheiten.
Das verlangt natürlich nach einer Neuordnung bisher weitgehend national definierter Rechtsräume. Ein echtes Zukunftsprojekt mit dem Ziel der "Neuvermessung der Welt". Die Transkulturalitäts- und Hybriditätstheoreme der Kulturwissenschaftler Homi Bhaba oder Wolfgang Welschs liegen auf Halde oder werden akademisch diskutiert, statt konkret umgesetzt zu werden. Dabei böte sich jetzt die Chance, den transkulturellen Raum Europas neu zu gestalten und ihn als kulturelles Gemisch, als faszinierende Treibsandzone zu sehen, die er ist.
Die Wirklichkeit lässt sich weder mit den antiquierten Modellen der Integrationsverschulung bewältigen noch mit den Populismen der Ausgrenzung und Abschiebung. Die neuere Migrationsliteratur von Aras Ören und Emine Sevgi Özdamar bis hin zu Feridun Zaimoglu, Ilja Trojanow, Yoko Tawada und Fatih Akin zeigen unseren täglichen Balanceakt zwischen unterschiedlichen Identitätsentwürfen eindringlich. Sie zeigen ihn in all seinen Facetten und sie zeigen die Alltäglichkeit dieser gegenwärtigen Alltagserfahrung.
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Die Politik sollte mit ihrem Kampf gegen das, was sie "Parallelgesellschaft", "Multikulturalismus" etc. nennt, nicht permanent hinter die Standards der gelebten Realität zurückfallen. Nicht im kontrollierten Nebeneinanderher-Leben, sondern in der Verhinderung belastungsfähiger und zugleich durchlässiger sozialer Strukturen liegt eine der Wurzeln dessen, was uns neuerdings in Gestalt von Terrorismus und fundamentalistisch motivierten Anschlägen buchstäblich um die Ohren fliegt. Kein Medium als das der Literatur bereitet besser, wirklichkeitsnäher auf die hohe Kunst des Aushaltens von Ambivalenzen, inneren Widersprüchlichkeiten und komplexen Situationen vor. Und macht damit resistenter gegen simplifizierende Vereinnahmungen jeder Richtung.
Die Odysseen der Gegenwart und ihre filmische, visuelle und literarische Verarbeitungensind Legion. Die Ikonographien der Flucht und des Exodus bestimmen unser Verhalten genauso wie die Wörter und die Geschichten.
Die Beispiele reichen von Theodore Gericault bis Sebastiao Salgado: Literatur, Film, Malerei und Theater spielen eine gewichtige Rolle beim Herstellen und Verbreiten der Bilder, die uns bewegen und unsere Haltungen und Einstellungen oft wirkmächtiger als Worte bestimmen. Gericaults berühmtes Gemälde "Das Floß der Medusa" erschreckte seine Zeitgenossen durch die Darstellung ertrinkender Europäer vor Afrikas Küsten. Das Foto des toten syrischen Jungen am Strand grub sich nicht weniger intensiv in das kollektive Bewusstsein ein und setzt große emotionale Energien frei, die auch politische Konsequenzen nach sich zogen. Wenngleich man sich in der Welt unserer ikonomanischen Bulimie natürlich nicht auf die Nachhaltigkeit ihrer Wirkung verlassen sollte.
Dennoch: Was ihre Struktur betrifft, so unterscheiden sich Vorkommnisse, wie sie vor 200 oder 2000 Jahren oder eben erst jetzt geschahen nur wenig voneinander. Und unsere Reaktionsweisen sind im Verlauf dieser Zeit erstaunlich konstant geblieben: den Fremden als Bedrohung zu empfinden, ihn als monströs oder gefährlich zu zeichnen. Ebenso konstant bleiben die Zonen und Linien unserer inneren Bilder: Bereits Aischylos Drama "Die Schutzflehenden" orientiert sich an einer Art der Fremdheitserfahrung, die uns noch heute zu lenken scheint. 50 dunkle verschleierte Mädchen aus Syrien stranden an Griechenlands Küsten und lösen größte Verwirrung in der Polis aus. Erst eine Volksabstimmung bringt den Entscheid pro Asyl und garantiert zumindest eine Rettung auf Zeit. Immerhin bereits damals nicht neben einer Deponie oder in einer hastig freigeräumten Turnhalle, sondern integriert in Gastfamilien. Was im 5. Jahrhundert vor unserer Zeit Recht war, sollte uns allemal billig sein: Elfriede Jelineks Stück "Die Schutzbefohlenen" von 2013 ist wie eine Antwort auf die antike Vorlage. Sie greift Elemente der klassischen Tragödie auf und setzt sie kongenial in die Gegenwart um: aus Schutzflehenden werden bei ihr "Schutzbefohlene", die vehement aufbegehrend ihren Platz im Gastland suchen, – allen Widerständen und Ressentiments zum Trotz:
"Doch nein. Sie wenden sich ab! Schauen woanders hin, das aber scharf wie immer. Die Begier nach Jagen, die ist stärker, ist immer stärker, doch sie sehen uns nicht, Das Verschwinden. Das Wegwenden von uns, und zwar beidseitig, nach der einen Seite wenden und dann nach der anderen. Das hält uns beweglich. Dass uns Recht geschieht, darum beten wir, das erfülle mein Gebet um freies Geleit, um ein Los, das gewinnt, um ein besseres Los, aber es wird nicht geschehen. Es wird nicht
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geschehen. Es ist nicht. Wir sind gar nicht da. Wir sind gekommen, doch wir sind gar nicht da."
Jelineks Text ist aufgebracht. Die Menschen sind angespannt. Und nur wer diese Hochspannung anerkennt, wird diesem Text, in dem es wirklich um Sein oder Nicht-Sein geht, und die Entscheidung über Leben und Tod mehrfach am seidenen Faden hängt, halbwegs gerecht werden können, weil er dann die kaum zu ertragende Anstrengung und Beherrschung spürt, die diese Schutzflehenden aufbringen, aufbringen müssen, um die Extremsituation ihrer Flucht, die einer Selbstauslieferung gleichkommt, mental durchstehen zu können. Damals wie heute.
Ja, zugegeben, es sind die Äußerungen einer besessenen theatralen Wutbürgerin. Aber was sonst als Wut könnte man in dieser Zeit einer kaltblütigen professionellen Überformung und Ausblendung der Wirklichkeit anderes empfinden. Und diese Wut ist weder hilflos, noch sprachlos, noch blind.
Der Text sammelt, subsummiert vielmehr alle Sprüche und Widersprüche, alle Klänge und Dissonanzen, die sich zwischen unseren Floskeln und Sprachregelungen auf der einen und den Niederungen der konkreten Wirklichkeit auf der anderen Seite eingenistet haben. Jelinek stöbert diesen Unrat auf und befördert ihn ins Rampenlicht der Bühne – so wie das die griechischen Theaterleute im Übrigen vor zweieinhalb Jahrtausenden auch schon getan haben. In diesem Sinne ist es freilich zu erhoffen, dass es ihrem Text wieder und wieder gelingt, zu emotionalisieren und damit auf das Skandalon aufmerksam zu machen. Gerade im Vergleich beider Texte wird fast schmerzhaft deutlich, dass wir im Moment dabei sind, die letzten Rudimente des "ethischen Projekts" Europa systematisch abzubauen. Legalistisch und stets profitorientiert argumentierend bauen und perfektionieren wir unsere kulturellen Ausgrenzungen – häufig ohne uns dessen bewußt zu sein.
Ganz offenbar ist die Zeit der großen Exodus Mythen zu Ende. Das muss kein Nachteil sein. Allzu oft hat sich das Projekt "Exodus" als elaborierter Irrweg erwiesen. In der gegenwärtigen Phase tauchte das alte Sujet in geradezu kurioser Form kurzfristig wieder auf – fast wie ein parodistisches Zitat seiner selbst. Als eine kleine Gruppe von Flüchtlingen an der griechisch-mazedonischen Grenze bei Idomeni versuchte, im Konvoi die Grenze zu überwinden, benannte die Presse dieses zum Scheitern verurteilte Unterfangen merkwürdigerweise einen Exodus – vermutlich nur deshalb weil dahinter das Programm eines "Kommandos Norbert Blüm" zu stehen schien und ein entsprechendes Flugblatt kursierte. Fast die Spaßvariante des ursprünglichen Mythos.
Das große Narrativ eines "Exodus" im ursprünglichen Sinn indes existiert gegenwärtig kaum mehr. Völlig in der ausgenüchterten Wirklichkeit angekommen, geht es nicht mehr um große Geschichte, sondern um viele kleine Einzelschicksale. Vielleicht liegt gerade darin ein Stück Hoffnung. Weil wir uns weniger um Entwürfe als um Wirklichkeiten kümmern. Kein Medium weist den Weg hierzu besser als das der Literatur, die nur von fragilen, komplizierten Geschichten lebt und großen Geschichtsentwürfen aus Prinzip skeptisch gegenübersteht. Europa braucht derzeit keine große Narration – wohl aber den Mut, den vielen Einzelstimmen zuzuhören.
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