Dr. Manfred Lütz: Gesund und gleichzeitig krank – Ein Plädoyer gegen den Fitness- und Wellnesswahn
SWR2 Aula
m.luetz@alexianer-koeln.de
SWR2 Aula; Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch; Erstsendung: Sonntag, 29. August 2004, 8.30 Uhr, SWR 2; Wiederholung: Sonntag, 6. Februar 2005, 8.30 Uhr, SWR 2.
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Überblick
Keine Frage, Deutschland hat eine neue Religion: die Gesundheitsreligion. Überall gibt es neue Priester, Apostel, selbst ernannte Päpste und Gläubige. Sie alle verkünden unisono die Botschaft der Gesundheit, sie träumen von Waschbrettbäuchen, niedrigen Cholesterinwerten und wöchentlichen Gesundheits-Checks beim Arzt.
Bei den Recherchen zu meinem Buch habe ich beim deutschen Fitness-Studio-Verband angerufen, und da teilte man mir mit, dass im Jahr 2000 die Zahl der Fitness-Studio-Mitglieder in Deutschland auf 4,59 Millionen hochgeschnellt ist (von etwa 100.000 im Jahr 1980). Die Deutsche Bischofskonferenz sagte mir, dass im gleichen Jahr die Zahl der katholischen Sonntags-Gottesdienst-Besucher auf 4,42 Millionen zurückgegangen ist. Die Gesundheitsreligion hat zumindest die katholische Variante des Christentums bei uns überholt, wobei es natürlich große Schnittmengen gibt: Pfarrer im Fitness-Studio usw.
Das Interessante ist: alle Welt redet von Gesundheit. Aber keiner weiß eigentlich genau, was das ist. Was Krankheiten sind, das weiß man einigermaßen. Aber was ist eigentlich Gesundheit?
Der „innere Mediziner“ Gross, Nestor der inneren Medizin in Deutschland, (Gross/Schölmerich: Das Lehrbuch der inneren Medizin), hat einmal sehr schön gesagt: „Ob Jemand gesund ist, hängt davon ab, wie viele Untersuchungen man macht. Macht man fünf Untersuchungen, sind 90 Prozent gesund, macht man zehn Untersuchungen, sind noch 80 Prozent gesund, macht man 20 Untersuchungen, noch 36 Prozent“. Er hat das genau untersucht.
Macht man 50 Untersuchungen, hat Jeder irgendeinen pathologischen Wert, so dass man zu dem Ergebnis kommt: Gesund ist eine Person, die nicht ausreichend untersucht wurde. Die Weltgesundheitsorganisation, die für derlei Fragen eigentlich zuständig ist, hat Gesundheit vor einigen Jahrzehnten folgendermaßen definiert: Gesundheit sei „völliges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden“. Wenn wir mal davon ausgehen, dass wir uns sozial wohlbefinden, wenn wir eine Millionen Euro auf dem Konto haben und andererseits hoffen, dass Millionäre alle psychische Probleme haben, ist unter dieser Definition niemand wirklich gesund.
In meiner Not habe ich einmal einen alten Hausarzt aus der Eifel gefragt: „Sagen Sie mal, 40 Jahre am Patienten – was ist aus Ihrer Sicht eigentlich gesund?“. Und da hat er mir gesagt: „Wissen Sie, Herr Kollege, gesund ist ein Mensch, der mit seinen Krankheiten einigermaßen glücklich leben kann.“ Und das scheint mir viel näher an der alten hippokratischen Tradition der Medizin zu sein. Für Hippokrates gab es nicht Krankheit oder Gesundheit. Für Hippokrates gab es den individuellen leidenden kranken Menschen.
Hans Georg Gadamer, Nestor der Philosophie in Deutschland hat kurz vor seinem Tod ein Büchlein publiziert mit dem Titel: „Über die Verborgenheit der Gesundheit“. Und in diesem Büchlein weist er von den Griechen her argumentierend darauf hin, dass für die Griechen Gesundheit ein Geheimnis war, ein Göttergeschenk, das gestört werden konnte durch Krankheiten. Diese Störungen zu beseitigen, das war die Aufgabe der Ärzte, damit dann wieder jene geheimnisvolle Kraft der Gesundheit wirken konnte, für die man den Göttern nur danken konnte.
Das ist aber weit weg vom heutigen Gesundheitsbegriff. Gesundheit gilt wie alles in unserer Gesellschaft als herstellbares Produkt. Man muss was tun für die Gesundheit. Von nichts kommt nichts. Wer stirbt, ist selber schuld. Und so rennen die Leute durch die Wälder, essen Körner und Schrecklicheres – und sterben dann doch.
In diesem Zusammenhang ist mir aufgefallen, dass inzwischen wirklich alle Phänomene der Religion restlos im Gesundheitswesen angekommen sind. Wir haben Ärzte als Halbgötter; wir haben Häresien, die mit inbrünstiger Gläubigkeit geglaubt werden; wir haben eine heilige Inquisition, die Bundesärztekammer. Blasphemisch kann man heutzutage nur noch im Bereich der Gesundheitsreligion sein. Über Jesus Christus kann man in unserer Gesellschaft jeden albernen Scherz machen. Aber bei der Gesundheit, da hört der Spaß auf.
Ich habe z. B. einen guten Freund, links-rheinischer Pfarrer. Mit ihm stehe ich neulich vor seiner Kirche, er geht zur Kirchentür zurück, macht die Kirchentür zu, kommt wieder zu mir, zündet sich eine Zigarette an mit der Bemerkung „Er muss ja nicht alles sehen“, zieht den Rauch tief in die Lunge ein und macht in die Ferne schauend die nachdenkliche Bemerkung „warum soll meine Lunge eigentlich älter werden als ich?“.
Meine Damen und Herren, wenn Sie eine solche Bemerkung in einem entsprechend gesundheitsreligiös bewegten Kreis machen, haben Sie mit allen Reaktionen zu rechnen, die im Mittelalter auf Gotteslästerung standen. „Das können Sie doch nun wirklich nicht sagen! Wenn das jemand mit Bronchialkarzinom hört!“ Oder die Bemerkung „Wer früher stirbt, lebt länger ewig“, die theologisch völlig präzise ist, führt in gewissen Kreisen zu blankem Entsetzen. Ich habe neulich einen Artikel im Wissenschaftsteil der Süddeutschen Zeitung gelesen über japanische Studien mit Würmern, nämlich dass Würmer Diät leben. Also Würmer, die quasi nichts essen oder nur Körner, werden wahnsinnig alt und man sei jetzt dabei, das aufs Menschenmodell zu übertragen. Aber wenn ich mir als Rheinländer vorstelle, ich dürfte quasi nichts mehr essen und wenn überhaupt, dann nur Körner, und könnte dann noch nicht mal sterben, das wäre für den Rheinländer die konkrete Beschreibung der Hölle. Aber heute gilt das als großer wissenschaftlicher Fortschritt.
Fitness-Studios entstehen an den Stellen, wo früher Marienkapellen entstanden, nämlich an Wegekreuzen. Jeder durchschnittliche Hausarzt kann einem durchschnittlichen AOK-Patienten Bußwerke auferlegen, das sind Lebensregeln von morgens bis abends: wann man morgens aufzustehen hat, wann man abends ins Bett zu gehen hat, wo das Bett zu stehen hat wegen der Erdstrahlen, was man zu essen hat und vor allem die große Liste, was man nicht zu essen hat. Dagegen ist die Benediktiner-Regel der reinste Schlendrian. Und der Ausdruck Sünde kommt bei uns auf der Kanzel weder in der evangelischen Kirche noch in der katholischen Kirche noch vor. Beobachten Sie selbst mal, liebe Hörerinnen und Hörer, wo der Ausdruck Sünde Ihnen noch begegnet. Ich sage es Ihnen: meistens im Zusammenhang mit Sahnetorte. „Da habe ich mal wieder ein bisschen gesündigt“, „kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort“.
Ein Architekt hat einmal die Krankenhäuser „die Kathedralen des 20. Jahrhunderts“ genannt, und insofern ist das Aachener Klinikum sozusagen der Petersdom Europas. Und in diesen Kathedralen finden eherne Riten statt. Wir beobachten bei uns im katholischen Rheinland den bruchlosen Übergang von der katholischen Prozessionstradition in die Chefarztvisite. Die Chefarztvisite ist ähnlich wie die katholische Prozession völlig zwecklos, aber höchst sinnvoll. Zwecklos ist sie deswegen, weil ein Chefarzt die Information viel besser kriegt, wenn er in die Kurve schaut oder den Assistenzarzt fragt. Aber nein, der Ritus muss sein, der Patient erwartet das – „War der Chef schon da?“ – und schon entspinnt sich die Prozession, voran die Schwesternschülerinnen als Ministrantinnen, dann die Schwestern, dann die Stationsschwester mit der heiligen Schrift, der Kurve des Patienten, die Assistenzärzte, der Oberarzt und schließlich Er – der Chef.
Der Chef ist meistens schon etwas älter, nicht mehr so orientiert in seinem Fach, kann aber seine Rechnungen noch gut lesen und wirkt vor allem sehr würdevoll. Im ersten Zimmer wird ihm der Name des ersten Patienten zugeflüstert – man kann ja mal was vergessen -, und dann kommt es zum Höhepunkt der Chefvisite, der Chefarzt wird sakralsprachlich. Die Sakralsprachen Griechisch und Latein sind aus dem katholischen Gottesdienst weitgehend entschwunden, aber in der Gesundheitsreligion sind sie wahnsinnig wichtig. Ein Chefarzt, den man komplett versteht, gilt als inkompetent. Und zum Höhepunkt der Chefvisite sagt der Chefarzt zum Oberarzt: „Wissen Sie, Herr Kollege, ich halte das doch am ehesten für eine ideopathische Störung“. Der Chefarzt hat „ideopathisch“ gesagt. Der Patient ist tief ergriffen, der Chefarzt schwebt aus dem Zimmer und schon ist der Patient am Telefon, ruft zuhause an und sagt: „Friedchen, er hat ideopathisch gesagt. Kannst du mal im Gesundheitslexikon nachgucken, was das eigentlich heißt?“. Friedchen geht ans Gesundheitslexikon, kommt zurück und sagt: „Ideopathisch heißt, wir wissen nicht, woran es liegt.“ Und deswegen rate ich immer dringend von der Anschaffung von Gesundheitslexika ab, weil sie den Placebo-Effekt verhindern.
Das Ganze hat aber dann sehr ernste politische Konsequenzen. Mein Buch ist in Berlin vorgestellt worden von Helmut Karasek, von Friedrich Merz von der CDU/CSU und Monika Knoche von den GRÜNEN, weil es ein hochpolitisches Thema ist. Wenn nämlich Gesundheit tatsächlich, wie alle Welt sagt, das höchste Gut wäre, dann wäre maximale Diagnostik und maximale Therapie für jeden Einzelnen von uns absolute Pflicht der Gesellschaft und des Staates. Das wäre erstens die Hölle für uns alle, wir kämen aus der Röhre gar nicht mehr raus; und zweitens wäre es natürlich der sofortige finanzielle Zusammenbruch des Gesundheitswesens. Dennoch darf kein Politiker, der noch gewählt werden will, im Gesundheitsbereich für irgendwelche Einsparungen sein. Man darf höchstens für Effizienzsteigerungen sein, aber Einsparungen im Gesundheitsbereich sind politisch absolut tödlich. Und so treibt der Riesentanker Gesundheitswesen vor sich hin und beim Blick auf die Kommandobrücke stellt man fest, dass sie leer ist. Niemand steuert das Gesundheitswesen. Der Kanzler schickt ab und zu Ulla Schmidt rauf zum Putzen, aber ans Steuerrad darf sie nicht. In der Kajüte wird „Schwarzer Peter“ gespielt und die üblichen Verdächtigen werden verhaftet (Methode Casablanca: „Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen!“), die angeblich schuld sind: die Pharmaindustrie, die Ärzte, die Apotheker, die Krankenhäuser, die Krankenkassen, die Politiker.
Meine Damen und Herren, es sind aus meiner Sicht auch nicht die Politiker schuld. Jede demokratische Gesellschaft hat die Politiker, die sie verdient. Und solange wir in allen Geburtstagsreden von Flensburg bis Passau Gesundheit als höchstes Gut preisen, müssen wir uns nicht wundern, dass Gesundheitspolitik de facto seit etwa 20 Jahren nicht mehr stattfindet. Politik ist nämlich die Kunst des Abwägens. Ein höchstes Gut kann man nicht abwägen. Dafür muss man alles tun.
Die Gesundheitsreligion erfasst natürlich auch irgendwie das ganze Leben wie jede gute andere Religion. Es gibt Menschen, die leben überhaupt nicht mehr, die leben von morgens bis abends nur noch vorbeugend und sterben dann gesund. Aber auch wer gesund stirbt, ist definitiv tot.
Es gibt Sendungen, die man abends sehen kann, wie Gesundheitsmagazine, wo man feststellen kann, dass man sich möglicherweise Jahrzehnte lang fälschlicherweise gesund gefühlt hat, obwohl man es gar nicht war. Sie kennen vielleicht diese Tragödie, dass Jemand sich fälschlicherweise 50 Jahre lang quietschvergnügt fühlt, ein Gesundheitsmagazin sieht und erkennt „mein ganzes Leben war ein Irrtum!“. Am nächsten Morgen ist er beim Hausarzt, und was passiert, wenn man zu viel untersucht wird, das habe ich am Anfang gesagt.
Dann gibt es natürlich einen Schönheitskult: schön, gesund und Wellness, das gilt irgendwie als Eins. Schönheit wird heute nicht mehr über Anmut definiert, sondern über den Hautbefund. Schön ist junge, knackige, leicht gebräunte Haut. Das gilt allgemein als schön. Es gibt bestimmte Fernseh-Sendungen, in denen nur noch solche Leute vorkommen. Aber mit dem Hautbefund ist das so eine Sache. Wir haben in der Dermatologie-Vorlesung gelernt, dass die Haut bis zum 18. Lebensjahr hässlich ist: Pickel. Und ab dem 23. Lebensjahr beginnt bereits die Hautalterung. Zwischen 18 und 23 hat man meistens Liebeskummer und kann das überhaupt nicht genießen. D. h. das ganze Konzept ist eine einzige Anleitung zum Unglücklich-Sein. Man ist das ganze Leben lang damit beschäftigt, einen Hautbefund vorzutäuschen, den man überhaupt nicht hat. Sie kennen ja vielleicht den Kalauer: „Ihre Frau sieht immer noch so aus wie vor 20 Jahren.“ – „Ja, aber es dauert länger.“ Da geht wahnsinnig viel Zeit und Geld hinein. Und auch bei Männern ist es heute üblich, dass der 70jährige Gigolo seinen Schönheitschirurgen inzwischen duzt und nur unangenehm bei der Beerdigung von Gleichaltrigen auffällt, weil er das Lächeln nicht mehr aus dem Gesicht bekommt. Das ist nämlich einoperiert.
Das Ganze, meine Damen und Herren, hat aber dann sehr ernste ethische Konsequenzen. Wenn nämlich der gesunde Mensch der eigentliche Mensch ist, dann ist der kranke, vor allem der nicht mehr heilbar kranke, der behinderte ein Mensch zweiter oder dritter Klasse. Die Gesundheitsreligion hat inzwischen ihren eigenen Fundamentalismus entwickelt. Das ist die Ethik des Heilens.
Die Ethik des Heilens ist das Ende der Ethik. Die Ethik war einmal der argumentative kontroverse wissenschaftliche philosophische Diskurs über Moral. Das nannte man Ethik. Sobald heute aber Jemand „Ethik des Heilens“ sagt, ist Ende der Debatte. Dann wird es sakral. „Wollen Sie etwa einem muskoviszidose-kranken Kind erklären, aus welchen absurden ethischen Gründen Sie nicht helfen wollen?“, so der ehemalige deutsche Bundespräsident Roman Herzog. Wenn Sie sagen, dass die scheinbar so absurden ethischen Gründe sind, dass man einen Menschen am Beginn seiner Existenz, einen Embryo, opfert, um einen anderen Menschen zu heilen, gelten Sie als zynisch. Das Ganze wurde im Zusammenhang mit den embryonalen Stammzellen immer wieder erwähnt. Und man hat behauptet, dass man über diese Forschungen irgendwann Parkinson heilen könnte. Ich bin auch Neurologe und weiß sehr gut, dass das sehr unwahrscheinlich ist. Aber es war damals ein sehr guter Werbegag. Wenn morgen Abend in der ARD ein Film käme über eine solche gelungene Heilung – Parkinson-Patient vor der Therapie sich nicht mehr bewegen könnend, im Bett liegend und dann nach der Therapie Tennis spielend -, meine Damen und Herren, das wäre das Ende der Debatte über embryonale Stammzellen in Deutschland.
Wer heilt, hat Recht. Dieser eigentlich sehr gute medizinische Grundsatz wird heute ethisch zynisch. Und auch am Ende des Lebens kann man inzwischen einem Menschen, den man nicht mehr heilen kann, sozusagen einen guten Tod vermitteln (euthanatos = ein guter Tod), wie das in Holland und Belgien inzwischen gesetzlich möglich ist. Die holländische Regierung lässt jedes Jahr Umfragen machen, die feststellen, wie dieses Gesetz sich auswirkt. Man weiß, dass etwa 250 Niederländer pro Jahr getötet werden, obwohl sie noch bei vollem Bewusstsein sind, und ohne zugestimmt zu haben. Das ist zwar gegen die Gesetzeslage, aber wenn der Damm mal gebrochen ist, dann passiert so etwas, und es kommt überhaupt nur heraus, weil diese Befragungen anonym sind. D. h. ich glaube, das Menschenbild unserer Gesellschaft hat sich inzwischen verändert. Ein Mensch, den man nicht mehr heilen kann, gilt als ein Mensch zweiter Klasse.
Deswegen glaube ich, dass die Gesundheitsreligion - ganz im Ernst - für das Menschenbild heute eine ganz entscheidende Bedeutung gewonnen hat. Und das ist ein anderes Menschenbild als das der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen oder das Menschenbild unseres Grundgesetzes. Ich glaube, dass das, was ich eingangs satirisch gesagt habe, inzwischen durchaus in einer geradezu totalitären Weise beherrschend ist. Und ich glaube, dass Vieles von dem, was ich satirisch dargestellt habe, unsatirisch gesagt geradezu erschreckend wirken würde.
Ich habe den Vortrag über dieses Buch auch im Osten Deutschland häufiger gehalten. Man hat mir bestätigt, dass man in totalitären Systemen – und die Gesundheitsgesellschaft ist ein solches totalitäres System – im Grunde die Wahrheit nur noch satirisch sagen kann.
Und dann gibt es natürlich ein Problem für uns Rheinländer: Die Gesundheitsreligion ist völlig humorlos. Es gibt höchstens inzwischen Lachgruppen, wo Menschen systematisch lachen, weil Lachen angeblich gesund ist. Für Rheinländer eine schreckliche Vorstellung. Und dann gibt es solche Ideen wie das Bonus-Malus-System. D. h. wenn Jemand auf Kosten der Solidargemeinschaft ungesund lebt, raucht, säuft und auch sonst ein schlechter Mensch ist, der soll mal gefälligst mehr Krankenkassenbeiträge zahlen als Jemand, der Körner isst, durch die Wälder rennt und auch sonst nicht viel Freude am Leben hat.
Meine Damen und Herren, im ersten Moment mag das plausibel wirken, aber es gibt zwei kleine Probleme dabei. Erstens: Wie wollen Sie das kontrollieren? Wie wollen Sie kontrollieren, ob der Bankdirektor Meier nicht abends heimlich hinter dem Rhododendron-Busch im Stadtpark raucht? Wie wollen Sie kontrollieren, ob der leitende Angestellte Müller nicht abends heimlich eine Rotweinflasche neben seiner Mülltonne immer leerer werden lässt? Sie werden von Ihrer Krankenkasse verpflichtet werden, Rauchmelder auf dem Klo anzubringen. Hinter dem Rhododendron-Busch im Stadtpark wird eine Kamera angebracht sein. D. h. wir werden den totalen Gesundheitsüberwachungsstaat bekommen.
Und ein zweites Argument gegen das Bonus-Malus-System hörte ich neulich von einem Wissenschaftler, der erzählte, er habe die gesamte Weltliteratur auf die Frage hin untersucht, ob eigentlich ein gesundes Leben zu weniger Krankheitskosten führt. Es gibt international keine einzige valide Studie, die das beweist. Im Gegenteil gibt es gewisse Hinweise, dass Jemand, der mit 41 Jahren am Bronchialkarzinom verstirbt, damit die Solidargemeinschaft weniger kostet. Denn er hat all die teuren Alterskrankheiten nicht; die Pflegeversicherung, die auch eine Solidargemeinschaft ist, muss er nicht in Anspruch nehmen; und er braucht auch keine Rente in Anspruch nehmen. D. h. möglicherweise ist es so, dass Jemand, der ungesund lebt, raucht, säuft und auch sonst ein schlechter Mensch ist, die Solidargemeinschaft schont! Und wenn das ernst genommen würde, müsste Jemand, der das nachweisen kann, weniger Krankenkassenbeiträge zahlen! Damit wird deutlich, das ökonomische Argument ist nur vorgeschoben.
Es handelt sich in Wirklichkeit um einen volkspädagogischen Ansatz. Man möchte die Deutschen zwingen, gesund zu sein. Ich halte ja ohnehin die Deutschen für ein Volk von Lehrern, durch unterschiedliche Berufe nur verkleidet, und das erkennt man an einem solchen Problem.
Und dann gibt es einen ganz wichtigen Ausdruck, der in keiner Festrede, in keinem Krankenhaus fehlen darf: Ganzheitlichkeit. „Dieses Krankenhaus ist ein ganzheitliches Krankenhaus, hier ist der Herr Müller nicht die Galle von Zimmer 5, nein, hier ist der Herr Müller der Herr Müller von Zimmer 5 mit seiner ganzen Lebensgeschichte, seinen Seelenproblemen usw.“. Beifall, Büfett. Das ist das Übliche. Das geht dann meistens gegen die Chirurgen, die mit Messern in bewusstlose Leute hinein schneiden und mit ihnen angeblich nicht reden.
Aber – dieser Aspekt der Ganzheitlichkeit ist ein Anspruch, den wir gar nicht erfüllen können. Wenn ich im Krankenhaus operiert werden soll, dann möchte ich nicht einen ganzheitlichen Kollegen, der einfühlsam mit mir redet, dann möchte ich einen Chirurgen, der wirklich technisch perfekt operiert. Dann möchte ich sehr gerne die Galle von Zimmer 5 sein, damit man mir nicht irgend etwas anderes heraus nimmt, was ja auch schon passiert sein soll. Diese Ganzheitlichkeit überfordert nämlich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Krankenhaus. Insbesondere Krankenschwestern klagen, sie haben viel zu wenig Zeit für Gespräche mit Patienten. Diese Klage ist üblich, da bekommt man immer Beifall. Aber ich meine, die Gespräche, die in der Familie, mit Freunden, mit den Nachbarn nicht mehr geführt werden, die kann jetzt nicht die Krankenschwester führen. Und deswegen glaube ich, dass das Gesundheitswesen inzwischen eine Rolle einnimmt, die es gar nicht erfüllen kann. Über Grenzsituationen menschlicher Existenz, wie Carl Jaspers sie nennt, hat der junge Assistenzarzt eigentlich überhaupt keine Lebenserfahrung. Was Leiden und Sterben bedeutet, das weiß ein altes Mütterchen aus der Eifel viel besser als ein junger Assistenzarzt, der gerade mal ein EKG ableiten kann. So dringt leise durch den ganzen Gesundheitstrubel der Satz des großen dänischen Philosophen Sören Kierkegaard, der einmal gesagt hat: „Der Spaß eines Menschen, Leben für einige Jahre zu retten, ist nur Spaß. Der Ernst ist selig Sterben.“
Die totale Heilssehnsucht der Menschen produziert heute eine totale Pathologisierung und Frustration. Wir leisten uns gewaltige Verdrängungsapparaturen, sprechen von einer medizinischen Überversorgung und einer emotionalen Unterversorgung. Je mehr Krankheiten wir bekämpfen, desto mehr chronische Krankheiten kommen heraus. Wir bekämpfen nicht den Krebs, sondern wir bekämpfen den Tod, denn den Krebs gibt es gar nicht. Es gibt nur verschiedene Formen pathologischer Zellalterung. Aber alle Welt spricht vom Kampf gegen den Krebs. Das aber ist ein religiöses Thema. Das Tragische ist, um den Tod zu vermeiden, nehmen wir uns das Leben. D. h. wir nehmen uns unwiederholbare Lebenszeit, um den Tod zu vermeiden – und sterben dann doch.
Es könnte so scheinen, als wäre ich der Auffassung, Gesundheit sei völlig unwesentlich. Hier muss ich Ihnen aber in gewisser Weise einen Salto mortale zumuten, denn ich glaube als Arzt, der ich bin, dass Gesundheit natürlich ein hohes Gut ist. Aber es ist eben nicht das höchste. Gesundheit ist nicht geeignet zur religiösen Aufladung. Wenn man also eine seriöse Religion hat, wenn man Christ, Muslim oder Jude ist oder einer sonstigen seriösen religiösen Orientierung nahe steht, dann kann man gelassener mit der Gesundheit umgehen. Nicht lässig, aber gelassener. Die Altreligionen können im Grunde emanzipatorisch wirken gegen die totalitären Zumutungen der Gesundheitsreligion, denn es gibt auch ein gesellschaftliches Problem bei der Gesundheitsreligion: Sie ist völlig egoistisch, ähnlich wie die Esoterik. Der Esoteriker ist nur an seinen Sternen und seiner Zukunft interessiert, und der Gesundheitsreligiöse interessiert sich für seine Laborwerte und seine Prognosen. Das macht viele Kämpfe in diesem Bereich so hart, kalt und herzlos.
Ich habe in meinem Buch mal zusammen gerechnet, wenn man all die Defizit-Zeiten der Gesundheitsreligion, also die Zeiten von Behinderung, Krankheit, Schmerzen, Leiden, Alter, Sterben, Tod wegrechnet von der gesamten Lebenszeit, dann bleiben noch 9,82 Prozent der Lebenszeit als lebenslustfähige Zone. Und in der Zeit muss man noch die Steuererklärung machen und so lästige Dinge. D. h. Lebenskunst kann eigentlich nur bedeuten, dass man auch in den Grenzsituationen menschlicher Existenz Quellen des Glücks eines Lebens findet. Behinderung kann z. B. eine Fähigkeit sein. Demosthenes war der größte Redner der Antike. Was war das Geheimnis der Redekunst des Demosthenes? Demosthenes hatte eine schwere Sprachbehinderung und hat mit Steinen im Mund gegen die Meeresbrandung angebrüllt. Er wurde der größte Redner der Antike. Homer war der größte Dichter der Antike, wunderschön seherisch in die Ferne schauend dargestellt. Und was war das Geheimnis der Seherkraft des Homer? Homer war blind. Die bedeutendsten Sinfonien hat Ludwig van Beethoven komponiert, als er taub war.
Ich glaube also, meine Damen und Herren, eine Gesellschaft ohne Behinderte wäre nicht nur eine weniger menschliche Gesellschaft, nicht nur eine weniger farbige Gesellschaft, sondern auch eine weniger leistungsfähige Gesellschaft. Krankheit kann auch ein Glücksfall sein. Mancher Manager, der zum ersten Mal ins Krankenhaus kommt, hat sich überlegt, „was mache ich eigentlich mit dem ganzen Stress meines Lebens?“ – und geht einen neuen Weg. Marcel Reich-Ranicki hat gesagt „jede gute Literatur hat mit Leiden zu tun“. Papst Johannes Paul II. hat zu Beginn seines Pontifikats ein eindrucksvolles Schreiben verfasst mit dem Titel „Salvifici Doloris“ – „Über den Heil bringenden Sinn menschlichen Leidens“. Sehr einfühlsam hat der Papst darin vom Leiden gesprochen - er hat ja viel pastorale Erfahrung -, und dass dieser Papst das, was er damals als junger dynamischer Papst schrieb, jetzt lebt, gehört für mich zum Eindrucksvollsten dieses Pontifikats. Für mich war die berührendste Szene im Heiligen Jahr 2000, als der alte kranke Papst im Yad Vashem stand, an der Holocaust-Gedenkstätte in Israel, und wie er da mit brechender Stimme das Entsetzliche dieses Völkermords zur Sprache brachte. Das war zutiefst berührend. Auch Alter ist nicht bloß eine Frage der Versorgung. Setzen Sie mal in einen Artikel über alte Menschen anstatt „alte Menschen“ den Ausdruck „Kaninchen“. Sie brauchen den Artikel kaum zu ändern. Wie viel Quadratzentimenter bzw. beim Menschen Quadratmeter pro altem Menschen, wie man sie versorgt, ihnen Essen gibt usw. Aber dass alte Menschen auch ein Schatz für die Gesellschaft sind, das geht aus dem Blick. Ein Kapitel meines Buches heißt „Sterben und Tod als Würze des Lebens oder was ein pompejianisches Bordell mit dem Heiligen Hieronymus verbindet“. Das bedarf natürlich einer Erklärung: Im pompejianischen Bordell sind Totenschädel an die Wände freskiert als Aufforderung „Mensch, denke daran, dass du stirbst und lebe jeden Tag lustvoll“, „Carpe Diem!“ – „Pflücke den Tag!“. Und der Totenschädel beim Heiligen Hieronymus in der Wüste heißt in gewisser Weise etwas Ähnliches: „Christ, denke daran, dass du stirbst und lebe jeden Tag ganz bewusst“ – natürlich nicht im Bordell. Das ist der Unterschied.
Wenn wir unendlich leben würden, dann könnten Sie jetzt irgend einem Mitmenschen etwas Böses tun und sich sagen „naja, in 500 Jahren werde ich mich wieder entschuldigen“. Einem anderen Menschen könnten Sie etwas Gutes tun und müssten sich sagen „wie ich mich kenne, in 1000 Jahren werde ich ihn wieder enttäuschen“. Es wäre alles gleichgültig, es wäre die totale Langeweile. Platon hat gesagt, „das wäre die Hölle“. Nur dadurch dass wir sterben, wird jeder Moment unwiederholbar wichtig. Wenn ich jedem von Ihnen jetzt im Moment sagen könnte, wann er/sie stirbt, dann bin ich sicher, dass Sie Morgen schon anders leben würden, weil Ihnen klar ist, das ist ein unwiederholbarer Tag weniger auf der Rechnung. Den kriege ich nie wieder. Nun ist es aber so, dass wir alle sterben und dass der morgige Tag ein unwiederholbarer Tag weniger auf der Rechnung ist. Wir leben ja immer in so einer Videomentalität, als könnte man alles wiederholen. Das ist Voraussetzung für fröhlichen Atheismus. Nichts kann man wiederholen. Ich glaube, dass, wenn man den Tod verdrängt, man im Grunde das Leben verpasst. Von daher – wo kann man Lebenslust wirklich erleben? Ich glaube im Bewusstsein der Unwiederholbarkeit jedes Moments. In Muße, wie die Alten gesagt haben, mal völlig zwecklos, aber höchst sinnvoll durch den Wald gehen, nicht mit einem Buch „Mein Wald gehört mir“ und auch nicht aus Gesundheitsgründen und auch nicht, um seiner Frau zu erzählen, dass man durch den Wald gegangen ist, sondern diesen unwiederholbaren Moment eines Lebens zu genießen. Oder eine wunderbare Melodie im Autoradio zu hören im Autobahnstau und nicht gleich zu fragen „wie kriege ich das auf CD, wie kann ich das wiederholen?“. Nichts können Sie wiederholen. Jeder Moment ist unwiederholbar. Und sich das bewusst zu machen ist Voraussetzung für Lust am Leben. Aber auch dass wir uns bewusst machen, dass wir selbst, jeder Einzelne von uns, unwiederholbar ist.
Es gibt viele Menschen, junge, ältere, die tun immer das, was man so tut, das was üblich ist. Die sind im Trend. Aber wenn man das ganze Leben tut, was man so tut, was üblich ist, dann heißt es nachher auf dem Grabstein „Er lebte still und unscheinbar. Er starb, weil es so üblich war.“ Und das wäre doch enttäuschend.
Die mittelalterlichen Menschen hatten einen faszinierenden Gedanken. Sie kannten Heiltümer. Das waren Bilder, vor denen man gesund werden konnte. Ein solches Heiltum ist der Isenheimer Altar in Colmar. Er stand früher im Antoniterhospital in Isenheim und alle Betten aller Kranken waren auf dieses beeindruckende Gemälde von Matthias Grünewald gerichtet. Die Menschen glaubten, wenn man das von morgens bis abends sah, dann konnte man gesund werden. Und ich glaube wirklich, obwohl ich schulmedizinisch ausgebildet bin, die mittelalterlichen Menschen hatten Recht. Vor dem Isenheimer Altar in Colmar kann man gesund werden. Vor dem Isenheimer Altar kann man auch religiös werden, so wie vor der Assunta von Tizian in Venedig und vor der Pietà von Michelangelo in St. Peter in Rom.
Ich habe mal eine Fernseh-Diskussion gesehen zwischen dem marxistischen Philosophen Ernst Bloch und dem katholischen Existenzphilosophen Gabriel Marcel. Beide alten Männer waren in allem unterschiedlicher Meinung, aber schließlich konnten sie sich auf eines einigen: Das Ewige, das Transzendente könne man schon in diesem Leben erleben, und zwar in der 9. Sinfonie von Beethoven. Und da lächelten die beiden alten Männer, die bald darauf starben, weil sie noch etwas gefunden hatten, worauf sie sich einigen konnten. Ich glaube wirklich, wer Sinn dafür hat und die Vespere Solemnes di Confessore von Wolfgang Amadeus Mozart hört, der erlebt Ewigkeit, die die Zeit sprengt. Der kann der Welt im Ganzen zustimmen. Und Heinrich Schipperges, der große Arzt und Philosoph aus Heidelberg, der leider vestorben ist, hat einmal gesagt: „Um gesund zu sein, muss man der Welt im Ganzen zustimmen“.
* Zum Autor:
Manfred Lütz, geboren 1954, Studium der Humanmedizin, katholischen Theologie und Philosophie, 1979 Approbation als Arzt, danach Diplom in katholischen Theologie; 1989 Facharzt für Nervenheilkunde, 1991 Facharzt für Psychiatrie; seit 1997 Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln.
Bücher:
- LebensLust. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und Fitness-Kult. Pattloch.
- Der blockierte Riese, Psycho-Analyse der katholischen Kirche. Pattloch
Manfred Lütz: Irre oder ganz normal? Über den Umgang mit psychisch Kranken
swr2-aula10-1Luetz-Irresein
SWR2 Wissen: Aula -
Sendung am Freitag, 01.01.2010, 08.30 bis 9.00 Uhr
Autor: Dr. Manfred Lütz *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Freitag, 1. Januar 2010, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
ÜBERBLICK
Wir sperren sie weg, weil sie uns verunsichern und Angst machen: die Schizophrenen, die Paranoiden oder die Manisch-Depressiven. Und wir stempeln diese Menschen als unnormal ab, obwohl wir intuitiv wissen, dass es nur eine schmale Grenze zwischen den Normalen und den angeblich Verrückten gibt. Deshalb stellt sich ja auch immer wieder die Frage: Wer ist in unserer Gesellschaft eigentlich verrückt, und besteht unser Problem nicht in der selbstverordneten Normalität? Manfred Lütz, Psychiater, Psychotherapeut, Theologe und Bestsellerautor, wirft einen ungewohnten, teilweise sogar humoristisch-ironischen Blick auf das Thema und zeigt, dass wir die Falschen behandeln.
* Zum Autor:
Manfred Lütz, geboren 1954, Studium der Humanmedizin, katholischen Theologie
und Philosophie, 1979 Approbation als Arzt, danach Diplom in katholischen
Theologie; 1989 Facharzt für Nervenheilkunde, 1991 Facharzt für Psychiatrie; seit
1997 Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln.
Bücher (Auswahl):
- Irre - Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere
Seelenkunde. Gütersloher Verlagshaus.
- Das Leben kann so leicht sein. Lustvoll genießen statt zwanghaft gesund. Carl-
Auer-Systeme Verlag.
- LebensLust. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und Fitness-Kult.
Pattloch-Verlag.
- Der blockierte Riese, Psycho-Analyse der katholischen Kirche. Pattloch-Verlag.
INHALT
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Ansage:
„Irre oder ganz normal – Über den Umgang mit psychisch Kranken“, das ist das
Thema der ersten Aula im neuen Jahr.
Wenn uns heute Nacht Außerirdische beobachtet hätten, hätten die wahrscheinlich
gedacht: Diese Erdlinge sind ganz schön meschugge, ballern rum, betrinken sich und
singen.
Haben Sie etwa Recht? Sind wir Normalen die eigentlich Verrückten und wissen es
nicht einmal? Sind wir Normalen auch deshalb verrückt, weil wir die angeblich
Verrückten wegsperren, weil sie uns verunsichern und Angst machen mit ihren
Psychosen oder Depressionen?
Manfred Lütz würde all diese Fragen beantworten, denn er meint: Es gibt nur eine
ganz schmale Grenze, die verrückt von normal trennt. Er als Psychiater,
Psychotherapeut und Theologe weiß, was wir alles von den Verrückten lernen
können. Was genau, das schildert er nun in der SWR 2 Aula mit einem
Augenzwinkern, und er bezieht sich auch auf sein neues Buch „Irre, wir behandeln
die Falschen“.
Manfred Lütz:
Wenn ich tagsüber als Chefarzt eines großen psychiatrischen Krankenhauses mit
meinen liebenswürdigen Patienten zu tun habe – mit rührenden Demenz-Kranken,
mit sensibeln Schizophrenen, dünnhäutigen Süchtigen, erschütternd Depressiven,
hinreißenden Manikern – und ich komme abends nach Hause und sehe die
Nachrichten im Fernsehen, dann sehe ich da Kriegshetzer, Wirtschaftskriminelle,
rücksichtslose Egomanen. Da kommt einem schon manchmal der ketzerische
Gedanke, möglicherweise behandeln wir die Falschen, unser Problem scheinen die
Normalen zu sein.
Andererseits habe ich den Eindruck, dass die Öffentlichkeit über psychische
Erkrankungen eigentlich wahnsinnig wenig weiß. Ich halte im Krankenhaus vor dem
Küchenpersonal immer einen Vortrag: die ganze Psychiatrie in zwei Stunden, alle
Diagnosen, alle Therapien, das Ganze ein bisschen lustig. Dann lachen die immer
und meinen: „Das geht doch gar nicht, Herr Doktor“. Und dann sage ich: „Die
Psychos sollen sich nicht immer so wichtig tun, natürlich geht das.“ Ich finde es
unheimlich, wenn jemand in der Psychiatrie arbeitet und sich gar nicht damit
auskennt. Womöglich denkt er, die Patienten sind alle ganz merkwürdig, was wird da
wohl alles passieren! Hier ist Aufklärung wichtig.
Wenn man bedenkt, dass ein Drittel der Deutschen irgendwann im Leben einmal
psychisch krank ist, dann ist dringend Aufklärung erforderlich im Bereich der
psychischen Krankheiten, doch hier gibt es eine große Lücke. Die Regale in
Buchhandlungen quillen über mit Psychologie-Literatur, wie man psychologisch gut
mit seinem Chef umgeht usw., aber die wirklich schweren psychischen Krankheiten:
Schizophrenie, Depressionen etc. kennen die Menschen nicht. Deswegen wollte ich
auf 185 Seiten mal die gesamte Psychiatrie und Psychotherapie, alle Diagnosen, alle
Therapien unterhaltsam und allgemeinverständlich darstellen.
Ich habe mein Buch lesen lassen von Deutschlands bekanntesten Psychiatern, die
fanden das gut, aber auch von unserem Metzger, und der fand das ebenfalls
verständlich. Und das war Ziel des ganzen Projekts. Das Ziel ist auch, dass im Fall
Enke zum Beispiel die Öffentlichkeit besser aufgeklärt sein müsste. Es war
beeindruckend, dass seine Frau und der behandelnde Psychiater vor die Presse
gegangen sind und mal aufgeklärt haben. Wenn schon zu diesem Zeitpunkt die
Menschen über Psychiatrie soviel Bescheid gewusst hätten wie über innere Medizin,
wenn man gewusst hätte, eine phasenhafte Depression klingt auch wieder ab und
dann ist man wieder gesund wie zum Beispiel nach einem Rheumaschub, dann wäre
es vielleicht auch Robert Enke leichter gefallen, sich anderen Menschen mitzuteilen.
Mein Wunsch ist, dass ein alerter Manager, der nie ein Psycho-Buch lesen würde,
dieses Buch einfach mal zur Hand nimmt, weil er gehört hat, es sei ein Bestseller und
ganz unterhaltsam, und am Schluss seinen schizophrenen Vetter anruft, weil er
festgestellt hat: „Der ist gar nicht so verrückt, wie ich gedacht habe.
Man muss ja sagen, der ganz normale Wahnsinn sind nicht die Verrückten, das sind
nicht die psychisch Kranken. War Hitler verrückt? Hitler war natürlich nicht verrückt.
Wenn Hitler verrückt gewesen wäre, hätte man mit ein paar Medikamenten und ein
bisschen Arbeitstherapie für einen arbeitslosen Künstler in München Millionen Tote
verhindern können. Aber Hitler war natürlich nicht verrückt. Hitler war normal,
schrecklich normal, er war böse, er war ein Verbrecher. Psychisch Kranke können
gar keine Kriege führen, weil sie die Ausdauer dafür im Grunde gar nicht hätten.
Es gibt aber nicht nur den ganz normalen Wahnsinn, es gibt auch die wahnsinnig
Normalen. Das sind die Mitläufer, die es zu allen Zeiten gegeben hat, die auch bei
Diktatoren mitlaufen. Und auch heute gibt es diese Ritter der political correctness, die
uns alle in Meinungsuniformen prügeln wollen, so dass man gar nicht mehr man
selbst sein kann. Und es gibt den ganz normalen Blödsinn. Keiner meiner Patienten
ist so abgedreht wie Dieter Bohlen und keine meiner Patientinnen so
übergeschnappt wie Paris Hilton. Aber Paris Hilton und Dieter Bohlen sind natürlich
gar nicht behandlungsfähig, weil sie normal sind.
Oft bestehen Normale auf ihrer Normalität. Ich habe nicht selten mit Paartherapie zu
tun. Zerstrittene Paare kommen zu mir, und oft sagte die Ehefrau ganz am Anfang zu
mir: „Wissen Sie, Herr Lütz, ein psychisches Problem haben wir nicht. Unser Problem
wäre gelöst, wenn mein Mann einsehen würde, dass ich recht habe.“ Und der Mann
meint, auch gleich am Anfang: „Ein psychisches Problem haben wir nicht. Unser
Problem wäre gelöst, wenn meine Frau wieder tun würde, was ich sage, wie das
früher einmal war.“ Als Therapeut sind Sie da in einer schwierigen Situation. Sie
wollen beide auf Ihre Seite ziehen, im besten Fall verbünden sich beide gegen Sie,
dann haben Sie wenigstens die Ehe stabilisiert. Dieses Bestehen darauf, normal zu
sein, die Tyrannei der Normalität, prägt ein bisschen unsere Gesellschaft. Was aber
ist eigentlich wirklich verrückt?
Als ich anfing in der Psychiatrie, war ich ganz erschüttert nach einem Gespräch mit
einem katholischen Psychiater, ein sehr netter, kompetenter, der mir sagte: „Wissen
Sie, was ich am Heiligen Franz von Assisi so bewundere ist, dass der mit seiner
Schizophrenie so gut klar gekommen ist.“ Darüber war ich total erschrocken. Ich
dachte, wenn die so bedeutende Leute wie Franz von Assisi für verrückt erklären,
dann werde ich lieber Chirurg oder noch Schlimmeres. Dann habe ich mir aber
überlegt, na ja, Franz von Assisi hat tatsächlich in dem kleinen Kirchlein San
Damiano in der Nähe von Assisi eine Stimme vom Kreuz gehört, die ihm gesagt hat:
„Bau meine Kirche wieder auf“, und er hat das kleine Kapellchen wieder aufgebaut.
Wenn in der Nähe meines Krankenhauses heutzutage ein junger Mann, der sich
gerade mit seinem Vater verkracht hat, in abgerissenen Klamotten ein kleines
Kapellchen wieder aufbauen würde, das ihm gar nicht gehört, und die Polizei fragt
ihn: „Warum machen Sie das hier?“, und er würde sagen: „Ich hab eine Stimme vom
Kreuz gehört“, dann hätten wir wahrscheinlich bald wieder ein belegtes Bett.
Oder auch nicht. Denn ich habe mir damals überlegt, was heißt das eigentlich? Wird
hier nicht die Psychiatrie hybride, überschreitet sie nicht ihre Grenzen? Wenn es
früher nur Menschen gegeben hätte wie Franz von Assisi, wäre die Psychiatrie nie
erfunden worden. Franz von Assisi war ein außergewöhnlicher Mensch. Aber die
Psychiatrie ist erfunden worden, weil Menschen gelitten haben. Wenn man unter
seiner Außergewöhnlichkeit leidet, dann ist man krank und dann versuchen Ärzte, mit
Diagnosen zu helfen. Diagnosen auf Leute anzuwenden, die nur außergewöhnlich
sind, ist ein Missbrauch von Diagnosen. Franz von Assisi war gesund, um das klar zu
sagen. Man sagt auch, Genie und Wahnsinn lägen nahe beieinander. Das stimmt
überhaupt nicht. Es gibt natürlich psychisch Kranke, die genial sind. Aber die sind
genial trotz ihrer Erkrankung, nicht wegen ihrer Erkrankung. Das ist schon ein
Unterschied. Salvatore Dali hat einen Aufsatz geschrieben über das Recht auf
Verrücktsein. Salvatore Dali war sehr merkwürdig, außergewöhnlich, ein brillanter
Künstler. Aber er war natürlich nicht wirklich psychisch krank.
In meinem Buch gibt es ein Kapitel über die Geschichte der Psychiatrie. Die
Psychiatrie gibt es noch nicht so lange, ein bisschen weniger als 200 Jahre. Die
deutsche Psychiatrie hat die psychischen Erkrankungen in drei große Gruppen
eingeteilt: die organischen Störungen, das sind die Störungen des Organs Gehirn;
dann gibt es das, was man früher Geisteskrankheiten nannte: Schizophrenie und die
manisch-depressive Erkrankung; und die Variationen seelischen Wesens: die
Persönlichkeitsveränderungen, Neurosen, Süchte usw. Aber wichtig ist es mir zu
sagen, es gibt gar keine Diagnosen, es gibt keine Schizophrenie, es gibt keine
Depression. Es gibt nur Menschen, die leiden. Das Wort Schizophrenie, das Wort
Depression ist von Psychiatern erfunden worden, damit man diesen Menschen auf
eine ganz spezifische Weise helfen kann. Der Sinn der Diagnose ist nur die
Therapie. Das hat schon Aristoteles gesagt. Unser Problem ist, dass wir einen
utopischen Gesundheitsbegriff haben. Die Weltgesundheitsorganisation hat einmal
definiert, Gesundheit sei völliges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden.
Das ist natürlich überhaupt nicht erreichbar. Und Klaus Dörner hat einmal in einer
überregionalen Tageszeitung zusammengerechnet, wie viel Prozent der Deutschen
psychotherapiebedürftig sind. Das sind seriöse Zahlen. Darunter fallen Menschen mit
Panikattacken, Angststörungen usw. Und dabei kam raus: 210 Prozent der
Deutschen sind Psychotherapie bedürftig, also krank! Deswegen brauchen wir
Zuwendung, sage ich dann immer scherzhaft.
Natürlich ist nicht jedes Tränchen gleich eine Depression, und es ist sehr wichtig,
dass wir nicht aus jeder Befindlichkeitsstörung große Diagnosen basteln. Im Zweifel
ist ein Mensch vielleicht merkwürdig wie ich und Sie, aber im Zweifel sind wir gesund.
Ein wichtiger Gesichtspunkt der modernen Psychiatrie und Psychotherapie ist, dass
wir schauen, was ist eigentlich das Gute am Schlechten? Was ist das Gute an der
psychischen Erkrankung? Natürlich ist die psychische Erkrankung ein Leiden. Aber
sie hat auch positive Aspekte. Ressourcen-orientierte Sichtweise nennen wir das
heutzutage. Die Kinderpsychiaterin Thea Schönfelder hat einmal gesagt: „Was mich
von meinen psychotischen Mitmenschen unterscheidet, ist meine Fähigkeit, ihn heiler
zu sehen, als er das selbst vermag.“
Wir können natürlich jede psychische Störung, aber auch jede psychisch gesunde
Reaktion unter ganz verschiedenen Perspektiven sehen. Man kann den Menschen
und seine Psyche unter biologischer Perspektive betrachten. Das ist völlig richtig.
Alles, was der Mensch macht, was er denkt, was er gesund oder krank denkt, hat
sicherlich irgendwelche biologischen Korrelate, irgendwelche Moleküle schlagen da
Kapriolen im Gehirn – wenn ich mich freue zum Beispiel. Das gilt für alle psychischen
Veränderungen. Und auch für die psychische Gesundheit. Man kann alles unter der
lebensgeschichtlichen Perspektive beleuchten. Oder unter der Perspektive der
frühen Kindheit, wie die Psychoanalyse das klassischerweise getan hat. Und man
kann alles unter gesellschaftlicher Perspektive sehen, und auch das ist richtig und
legitim.
Die wichtigste Perspektive jedoch ist die Perspektive der Freiheit. Und die gilt auch
für den psychisch Kranken. Manchmal ist seine Freiheit eingeschränkt, und die
Aufgabe von uns Ärzten und Psychotherapeuten ist es, diese Freiheit wieder zu
ermöglichen, dem Patienten nicht vorzuschreiben, was er zu tun hat mit seiner
Freiheit, sondern ihn wieder frei zu lassen von seiner Erkrankung. Es ist mir sehr
wichtig, dass auch bei uns im Krankenhaus das Ziel der Behandlung der Patient
bestimmt und nicht wir Psychiater. Ich habe das lernen müssen, als ich als junger
Assistenzarzt eine schizophrene Patientin behandelte, die Stimmen hörte. Ich hatte
gelernt, dass man mit bestimmten Medikamenten diese Stimmen weg bekommt. Die
Patientin bekam diese Medikamente, aber in zu geringer Dosis, wie ich fand. Ich
habe die Dosis erhöht, kam nach drei Wochen wieder, und die Patientin schaute
mich schon ganz verärgert an. Ich fragte sie, was denn los sei, ob die Stimmen weg
sein. Sie sagte, immer noch verärgert: „Ja, das ist genau das Problem!“ Sie habe
eine rührende Stimme von einer alten verstorbenen Lehrerin gehört, das habe ihr
den Tag versüßt. Und jetzt plötzlich sei die Stimme weg. Es sei einfach eine
Frechheit, was ich da gemacht hätte.
Dann habe ich ein paar Mal überlegt, will ich jetzt eigentlich, dass ich ein toller Arzt
bin, der alles weg macht, oder will ich tatsächlich einer Patientin helfen, glücklich zu
leben? Und ich habe in diesem Fall tatsächlich mit Einverständnis der Patientin die
Medikamentenration reduziert, so dass sie die Stimme wieder hören konnte. Die
Patientin war chronisch schizophren und gar nicht richtig heilbar. Aber es ist wichtig,
dass die Lebensqualität der Patientin gut ist.
Damit komme ich zu Therapieformen: Psychoanalyse, Verhaltenstherapie,
systemische Therapie usw., in all diesen Therapieformen arbeiten wir heute
ressourcen-orientiert. Wir schauen auf die Kräfte. Als Laie würde man einen
Patienten vielleicht fragen nach den Gründen für seine Depression, weil man denkt,
da kann er alles mal rauslassen, dann ist das draußen – eine hydraulische Form der
Depressionsbehandlung! Nur wird man dadurch die Depression möglicherweise
sogar verstärken. Denn wenn ein Mensch eine dreiviertel Stunde lang das ganze
Elend seines Lebens erzählt hat, dann geht es ihm nach dieser dreiviertel Stunde
nicht besser, sondern jetzt geht es ihm richtig schlecht und er weiß zudem, warum.
Sie haben also sozusagen die Symptomatik in der Vergangenheit auch noch
verankert. Wir fragen aber vielleicht etwas wie: „Wie haben Sie es denn diese lange
Zeit mit Ihrer Depression durchgehalten?“ Und der gleiche Patient wird ganz anders
antworten. Er wird Ihnen sagen, dass er immerhin noch ein bisschen malen konnte,
ein bisschen spazieren gehen, ein paar Freunde besuchen konnte – nicht soviel wie
sonst, weil er ja depressiv ist. Das heißt, er wird Ihnen von dem erzählen, was ihn
trägt, was ihm hilft. Denn womit wollen Sie denn Therapie machen, wenn nicht mit
den Kräften des Patienten. Das liebevoll auszubauen, ist Sinn moderner
Psychotherapie.
Der genialste Psychotherapeut des 20. Jahrhunderts war der Amerikaner Milton
Erickson. Milton Erickson saß schwer behindert im Rollstuhl, aber er hat deswegen
die Fähigkeit entwickelt, Menschen genau zu beobachten, er hatte eine brillante
Menschenkenntnis. Noch heute nimmt man Therapien von Milton Erickson zum
Vorbild. Eines Tages kam eine junge Patientin zu ihm, legte ein Bündel Dollarnoten
auf den Tisch und sagte, das sei ihr restliches erspartes Geld, dafür wollte sie nun
bei ihm, dem berühmten Psychotherapeuten, Psychotherapie machen, und wenn das
aufgebraucht sei, dann wolle sie sich umbringen. Es ist natürlich für jeden
Therapeuten unmöglich, unter dem Damokles-Schwert des sicheren Selbstmords zu
behandeln, aber Erickson hatte ja eine geniale Menschenkenntnis, und er nahm den
Fall an.
Die junge Patientin erzählte ihm, dass sie immer wieder Beziehungsstörungen habe.
Gerade sei wieder eine Beziehung kaputt gegangen, sie habe auch den Eindruck, sie
sehe abschreckend aus, sie hatte eine Zahnlücke. Die Kollegen am Arbeitsplatz
beachteten sie gar nicht, der Kollege, mit dem sie zusammen im Büro arbeitete,
behandelte sie sogar wie Luft, er grüßte sie noch nicht einmal. Als Erickson das
gehört hatte, forderte er sie auf, mit ihm auf den Hof zu gehen; auf dem Hof war ein
Brunnen. Er bat sie, Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen, es in den Mund zu
nehmen und nun durch die Zahnlücke hindurch auf einen bestimmten Punkt zu
spritzen. Die junge Frau tat das, und siehe da, sie hatte darin eine gewisse Fertigkeit
erlangt, über mehrere Meter hinweg einen bestimmten Punkt in einem scharfen
Wasserstrahl durch die Zahnlücke hindurch zu treffen.
Erickson forderte sie nun auf, den Kollegen, mit dem sie in einem Zimmer arbeitete,
plötzlich und unerwartet durch die Zahnlücke mit Wasser zu bespritzen und ohne
weitere Erklärung den Raum zu verlassen. An dieser Stelle muss ich Ihnen vielleicht
etwas erklären: Milton Erickson wusste, dass ein Mensch, der sich für abstoßend
aussehend hält, auf andere Menschen auch nicht sehr attraktiv wirkt. Andererseits
hatte er so eine Ahnung, dass die Tatsache, dass dieser Kollege sie nicht beachtete,
sie besonders kränkte. Aber mehr wusste er natürlich auch nicht.
Die junge Frau tat das, und zum ersten Mal kam es zu einem Gespräch zwischen ihr
und diesem Kollegen. In der Folgezeit kam es häufiger zu Gesprächen, schließlich
auch häufiger im privaten Rahmen. Die Therapie war längst beendet, als Jahre
später ein Brief bei Milton Erickson eintraf mit einem Foto: eine glückliche
amerikanische Familie mit vier Kindern, alle keep smiling, und man konnte deutlich
sehen, zwei der Kinder hatten eine Zahnlücke. Und unter dem Foto stand: „As you
see, Milton, two of my children are blessed with a space“ – „Wie du siehst, Milton,
zwei meiner Kinder sind gesegnet mit einer Zahnlücke“.
Ich bin immer wieder gerührt, wenn ich von diesem Fall erzähle, weil die Zahnlücke,
die beinahe Grund für einen Selbstmord gewesen wäre, zur Lösung wird, zum
Segen. Das ist wirklich geniale Psychotherapie, und das hat Milton Erickson immer
wieder verstanden.
Psychotherapie ist natürlich immer eine künstliche Beziehung auf Zeit für Geld. Wer
glaubt, in der Psychotherapie den Sinn des Lebens zu erfahren, der geht nicht zum
Psychotherapeuten, sondern zu einem Guru oder so. Es heißt, Psychotherapie sollte
möglichst kurz sein. Sie ist auch nur die zweitbeste Form der Kommunikation. Das
beste Gespräch, auch für Schizophrene, ist ein Gespräch mit Metzgern, Bäckern,
Verkäuferinnen. Erst wenn das nicht mehr geht, dann sind wir Psychos dran. Aber
auch nur solange, bis dieses Gespräch wieder möglich ist, und darum müssen wir
uns bemühen.
Ich kläre im Buch noch ein bisschen über Psychopharmaka auf. Darüber herrschen
ja heute auch dolle Vorstellungen. Man kann mit Psychopharmaka heute
Depressionen heilen, die Schizophrenie heilen. Das wissen viele Menschen gar
nicht. Nicht zu 100 Prozent natürlich, aber in sehr vielen Fällen. Und diese
Medikamente machen gar nicht abhängig. Es gibt andere, die abhängig machen,
aber die halten die Leute für harmlos: irgendwelche Schlafmittelchen oder so was.
In meinem Buch stelle ich außerdem alle psychischen Erkrankungen dar, das will ich
jetzt im Schnelldurchlauf Ihnen kurz vortragen: Es gibt die organischen Störungen.
Dazu erzähle ich Ihnen eine Geschichte: Eine Ehepaar kam zu mir. Die Frau hatte
ihren Mann gedrängt, mal bei mir anzurufen, weil er Alkoholiker sei. Sie kamen zu
mir, der Mann druckste herum – eine ganz typische Situation, wie wir das kennen,
und ich hatte in meinem Kopf schon ein Bett auf der Entgiftungsstation fertig. Dann
bat ich die Frau nochmal raus, um den Mann körperlich zu untersuchen – das gehört
zu einer psychiatrischen Untersuchung dazu. Und siehe da: auf der linken
Körperseite hatte er gesteigerte Muskelreflexe. Das spricht dafür, dass im rechten
Teil des Gehirns irgendetwas nicht stimmt. Ich habe ihn röntgen lassen und dabei
kam heraus, er hatte einen Hirntumor, der Gott sei Dank gutartig und operabel war.
Im Nachhinein habe ich dann die ganze Geschichte erfahren: Vor einem Jahr
begannen bei dem Mann Konzentrationsschwierigkeiten. Deswegen hat er sich in
den Frühruhestand begeben. Zuhause musste er dann immer für seine Frau
einkaufen, das hatte er auch früher immer gerne getan, aber er vergaß jetzt immer
sehr viel. Die Frau ärgerte sich und meinte, er höre ihr nicht zu. Er fing an, vermehrt
Alkohol zu trinken, weil ihn das so traurig machte, und er merkte, dass durch den
Alkohol auch die Kopfschmerzen, die er plötzlich hatte, weg gingen. Und so gab es
einen Teufelskreis. Durch die Operation aber war der Alkoholismus plötzlich weg,
nach einigen Monaten konnte er sich wieder konzentrieren, die Ehe war wieder
stabilisiert.
Daran sieht man, wie wichtig es ist, die richtige Diagnose zu finden. Ein Hirntumor
kann alle psychischen Störungen imitieren wie ein Chamäleon. In diesem Bereich
sind auch die Demenzen zu nennen. Ich finde es sehr wichtig, dass man respektvoll
mit diesen Menschen umgeht. Im Medizinstudium befragte der Assistenzarzt einen
Demenzkranken, der nur noch ein Sekundengedächtnis hatte und sofort vergaß, was
er gerade gesagt hatte. Das wurde ihm aber zunehmend peinlich. Danach fragte ich
den Assistenzarzt, ob man denn so eine Befragung überhaupt machen dürfe, wenn
das evident ist, wie peinlich das dem Patienten ist. Daraufhin meinte er, der Patient
habe das doch auch sofort vergessen. Aber das reicht für meine Begriffe nicht, denn
der Moment ist für den Patienten eben peinlich, und das darf man nicht einfach so
ausnutzen.
Und deswegen habe ich mir angewöhnt, immer besonders höflich mit diesen
Patienten umzugehen und die Leute auch nicht sofort nach dem Datum zu fragen
oder wo wir uns befinden, um die Orientierung zu prüfen. Eine ältere Dame, die mit
Verdacht auf Demenz zu uns kam, fragte ich, nachdem ich schon ein bisschen über
ihre Lebensgeschichte erfahren hatte: „Sagen Sie mal, was haben wir eigentlich für
ein Datum heute?“ Da kam wie aus der Pistole geschossen das richtige Datum und
sie sagte dann: „Auch ein bisschen durcheinander, Herr Doktor!“ Das ist der Preis für
eine gewisse Höflichkeit.
Es gibt ein Kapitel „Firma, Frau und Führerschein“, in dem geht es um Sucht. Darin
wird deutlich, wenn jemand bereit ist, seinen Beruf, seine Ehe, seinen Führerschein
aufs Spiel zu setzen, dann sind das Kriterien dafür, dass er tatsächlich eine stärkere
Beziehung zum Alkohol hat als zu seinem Beruf, zu seiner Frau und zu seiner
Freiheit, die ja auch mit dem Führerschein verbunden ist. Das ist auch ein viel
stärkeres Kriterien, um Menschen selbst klar zu machen, dass sie süchtig sind, als
wenn man nur Laborwerte hat oder irgendwelche Mengen, die meistens sowieso
nicht stimmen, wie sie genannt werden. Wir arbeiten heute in der Suchttherapie
kooperativ, wertschätzend mit den Patienten und machen sie nicht dauernd runter.
Wir versuchen auch da, den Patienten auf Augenhöhe zu begegnen und das Ziel die
Patienten bestimmen zu lassen.
Die Schizophrenie ist keine Persönlichkeitsspaltung, wie viele Leute glauben,
sondern sozusagen eine Verunsicherung vom Kern des Ich her. Ich kann das hier
nicht ausführlicher darstellen, aber wichtig ist zum Beispiel zu wissen, dass ein Drittel
der Schizophrenen gesund wird. Das wissen die meisten Menschen nicht. Ich habe
eine Gymnasiallehrerin behandelt, eine Religionslehrerin, die zwischenzeitlich
dachte, sie sei der Prophet Jona. Nach sechswöchiger Behandlung war sie davon
distanziert und wieder ganz normal und verstand gar nicht, warum sie so verrückte
Sachen gedacht hat. Ein Drittel wird also wieder gesund, ein Drittel wird wieder
berufsfähig, nur ein Drittel bleibt chronisch schizophren wie die Patientin, von der ich
vorhin sprach, die die Stimme ihrer Lehrerin hörte, aber auch die können heute
mitten in unserer Gesellschaft ein sehr gutes Leben führen.
Und schließlich: himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt – da geht es um
phasenweise schwere Depressionen, wie zum Beispiel Robert Enke sie wohl hatte,
und um Manien. Maniker sind übertrieben heitere Menschen. Sie sind eigentlich
sonst ganz normal, aber manchmal haben sie eine Phase, da gehen sie über Tische
und Bänke – das fällt bei uns im Rheinland gar nicht besonders auf, wird in
Westfalen aber immer stationär behandelt. Wir hatten ein Patientin, die war so
manisch, dass sie sogar bei uns im Rheinland stationär behandelt werden musste,
und als es ihr besser ging, bat sie um Ausgang im Krankenhausbereich. Ich fand das
völlig in Ordnung, hatte aber dabei nicht berücksichtigt, dass der
Krankenhausbereich für eine Manikerin erheblich weiter ist, als ich mir das eigentlich
gedacht hatte. Nach etwa einer Stunde kam ein Anruf aus der örtlichen
Bundeswehrkaserne, der wachhabende Offizier, mit den Nerven völlig am Ende,
sagte, hier sei eine entlaufende Patientin von uns, die tanze zur Zeit auf dem Tisch
des Wachhabenden, ob ich nicht ein paar Wärter (!) schicken könne, die die Patientin
in die Anstalt – damit meinte der uns – zu verbringen. Bundeswehrdeutsch.
Ich habe daraufhin die zartest gebaute Schwesternschülerin, 1,60 m und 40 kg, zur
Bundeswehr geschickt, die hat die Patientin bei der Hand genommen und zu uns
zurückgebracht. Die Patientin hat den Ausflug außerordentlich genossen, die
Bundeswehr war mit den Nerven am Ende. Jetzt überlegen Sie mal: 500 bis an die
Zähne bewaffnete Männer und eine unbewaffnete Patientin von mir – seitdem glaube
ich nicht mehr an die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland!
Dann gibt es noch ein Kapitel über menschliche Variationen wie Angststörungen,
Zwangsstörungen, Essstörungen usw., auch über merkwürdige Persönlichkeiten,
aber wichtig bleibt zum Schluss, dass nicht jeder, der leicht auffällig ist, gleich krank
ist, und wichtig bleibt, dass wir psychisch Kranke besser kennenlernen, damit wir sie
auch ins normale Leben wieder integrieren können.
Und so möchte im am Schluss aus meinem Buch „Irre – wir behandeln die Falschen:
Unser Problem sind die Normalen. Eine heitere Seelenkunde“ einen
Schlussabschnitt vorlesen:
Wenn man auf solche Weise erst einmal die unsichtbaren Schranken niedergelegt
hat, die immer noch die Normalen von den anderen trennen, wird der Blick frei für
diese liebenswürdige und bunte andere Welt, die chaotischer, aber auch
phantasievoller, die erschütternder, aber auch existentieller, leidvoller, aber auch
weniger zynisch ist als die glatt lackierte, allgemein herrschende Normalität.
Da sind die ehrgeizigen, eitlen Erfolgsmenschen, die als Demente zum ersten Mal in
ihrem Erwachsenenleben hilfsbedürftig, aber dadurch zugleich erstmals auch wirklich
echt und anrührend wirken.
Da sind die immer so korrekten, empfindsamen Süchtigen, die ihr Leben lang
unermüdlich auf der Suche sind nach einem Menschen, der sie nicht mehr beschämt,
verachtet, verletzt und die sich im Rausch hinaussehnen aus einer ihrer
Empfindsamkeit so rücksichtslos zusetzenden Welt.
Da sind die weisen Schizophrenen, die nicht bloß in einer, sondern in ganz vielen
fantastischen Welten leben, die sich jeder uniformierenden Zudringlichkeit ihrer
Mitmenschen höflich verweigern und ihr Geheimnis niemandem aufdrängen, die
dünnhäutiger sind als andere, aber dadurch auch sensibler für manches, das uns
nicht der Rede wert erscheint.
Da sind die erschütternd Depressiven, die angstvoll ins existentielle Nichts starren,
die für eine Zeit ihres Lebens unfähig geworden sind, ihren Blick von den alles in
Frage stellenden Urerfahrungen des Menschen weg zu wenden. Von auswegloser
Schuld, von existentieller Bedrohung, von hoffnungsloser Angst. Über sie hinweg
tanzt eine Gesellschaft am Rande des Abgrunds, die blind ist für die wirklich
wichtigen Fragen und diese Blindheit komischerweise für normal hält.
Da sind die hinreißenden Maniker, die in ihrer prallen und unmittelbaren Vitalität
mitten in eine in leblosen Riten erstarrte Normalgesellschaft hineinplatzen, die trotz
all ihres Größenwahns ganz hemmungslos die Wahrheit sagen, so wie Kinder es
manchmal tun, und dadurch plötzlich all die Verlogenheiten der Normalen
spektakulär entlarven.
Da sind die Menschen, die von Lebensereignissen aus der vorgezeichneten Bahn
geworfen wurden und die nun angeschlagen und vom Leben gezeichnet ihren
wirklichen Weg suchen, der oft durch Leidensphasen hindurch zu größerer Reife und
tieferer Gelassenheit führt.
Und da sind schließlich all diese schrillen Gestalten, die sich und andere immer
wieder nachhaltig beunruhigen, die so gar nicht normal, aber auch nicht eigentlich
krank sind. Sie bringen Farbe in ein dahinplätscherndes Leben. Das sind die
Aufreger, die Übertreiber, die allzu kantigen Gestalten, an denen man sich
gelegentlich verletzen kann und an denen man zugleich kaum vorbeikommt.
Hat der liebe Gott diese Menschen mit dem gewissen Etwas wirklich geschaffen,
damit man sich aufs Paradies noch freuen kann, weil es da keine solche
Psychopathen mehr gibt? Oder ist es nicht vielleicht ganz anders und wir regen uns
im Paradies bloß nicht mehr so auf? Vielleicht finden wir das ganz und gar
Außergewöhnliche dann sogar gut? Vielleicht gibt es im Paradies ein lustiges
Durcheinander von Schizophrenen, Manikern, Neurotikern und Psychopathen, aber
niemanden mehr, der darunter leidet. Und vor allem keine Psychiater, die die Fülle
des Außergewöhnlichen in biedere Diagnosen verpacken.
Und wenn nicht das Gewöhnliche, sondern das Außergewöhnliche
Ewigkeitscharakter haben sollte, dann mag es sogar sein, dass es im Himmel
vielleicht überhaupt nichts Normales geben wird, sondern nur Originales. Nichts
Serienmäßiges, sondern nur Echtes. Nichts Mittelmäßiges, sondern nur
Staunenswertes. Dann hätte sich der Münchner im Himmel vielleicht so richtig
wohlgefühlt und wäre nicht am ewigen Hallelujahsingen verzweifelt.
Die Tyrannei der Normalität lebt von der großen Illusion der ewigen Weiterexistenz
des Normalen und der Flüchtigkeit des Außergewöhnlichen. Dabei wird es wohl eher
umgekehrt sein. Denn das Normale ereignet sich nicht, es ist nur der Hintergrund für
das Eigentliche. Im Grunde existiert das Normale nicht, denn es hat keine Substanz.
Die Frage nach der Ewigkeit stellt sich erst angesichts der Unwiederholbarkeit eines
Menschen, und wer da genauer hinsieht, kann die Außergewöhnlichkeit eines jeden
Menschen gewahren. Dann kommen in hellen Momenten sogar hinter dem Schleier
der wohlanständigen Normalität all der Normopathen die längst vergessenen
lebendigen Farben zum Vorschein. Und an diese einmaligen Färbungen erinnert
man sich, wenn man sich an Menschen erinnert.
Sind Sie selbst, werden Sie jetzt am Schluss vielleicht fragen, normal oder
außergewöhnlich? „Wer hier normal ist, bestimme ich“, behaupte ich manchmal in
meinem Krankenhaus, nachdem ich mich freilich gründlich vergewissert habe, dass
die Zuhörer Humor haben. Ich erkläre also hiermit feierlich, dass ich Sie, lieber Leser,
nicht für normal halte. Sie müssen nach meiner festen Überzeugung zur Gruppe der
außergewöhnlichen Menschen gehören. Denn wer Bücher kauft, gehört schon zu
einer Minderheit. Und wer Bücher sogar liest und sie nicht nur verschenkt, der ist nun
wirklich nicht normal. Also keine Sorge! Wenn Sie es bis hierhin geschafft haben, ein
Buch zu lesen, dann sind Sie ganz sicher nicht normal. Mit anderen Worten: Wenn
es stimmt, dass unser Problem die Normalen sind, wegen Ihnen, lieber Leser, hat die
Menschheit keine Probleme.
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