SWR2 Wissen: Konkrete Poesie : Von Buchstaben, Lauten und Wörtern .Von Cara Wuchold und Ute Bongartz
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Poesie - konkret
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SWR2 Wissen: Konkrete Poesie : Von Buchstaben, Lauten und Wörtern .Von Cara Wuchold und Ute Bongartz
Sendung: Donnerstag, 12. April 2012, 8.30 Uhr, SWR 2
Wiederholung: 14.01.2016, 08.30 Uhr, SWR 2
Redaktion: Anja Brockert
Regie: Günter Maurer
Produktion: 2012
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service.
ÜBERBLICK
Schon ein Dialog aus "ping" und "pong" ist ein Gedicht, sagen die Konkreten Poeten. Eugen Gomringer, Franz Mon, Gerhard Rühm und Carlfriedrich Claus sind im deutschsprachigen Raum wichtige Wegbereiter dieser experimentellen Dichtkunst. Unabhängig voneinander entwickelten sie in den 1950er- und 60er-Jahren neue sprachkritische und sprachspielerische Formen. Sie ließen sich nicht vom Vers verführen, sondern zerlegten die Sprache in ihre Bestandteile. Ihre Ästhetik umfasst nicht nur Text, sondern auch Bild und Laut. Lange führte die Konkrete Poesie ein Nischendasein - und inspirierte doch Dichter und bildende Künstler der nachfolgenden Generationen. Heute versuchen verschiedene Einrichtungen, das Vermächtnis der inzwischen über 80-jährigen Konkreten Poeten zu bewahren. (Produktion 2012)
INHALT
Ton 1: (Poesiefestival)
Please welcome one of the key figures of the concrete poetry movement, please Eugen Gomringer: (Applaus, darüber: )
O-Ton 2: (Gomringer)
Guten Abend meine Damen und Herrn, es ist gut zu wissen, dass es Konkrete Poesie gibt. (Publikum lacht) Ich präsentiere Konkrete Poesie. Die kann man auf zwei Arten erleben. Als gedruckte Sprache, mit Buchstaben, mit Zeichen. Oder man kann sie auch sprechen, hören.
Sprecher:
Eugen Gomringer hat der Konkreten Poesie ihren Namen gegeben. Im Sommer 2011 gab der 87jährige Schweizer beim Poesiefestival in Bremen einen seiner spannenden Schnellkurse in dieser experimentellen Dichtkunst.
O-Ton 3: (Gomringer)
Ping pong, das ist vielleicht 1951 das erste internationale oder übernationale Gedicht gewesen. (Publikum lacht) Ja, ja, das ist es! Sie können überall, wenn sie mit ping irgendwo einen Saal betreten, da können Sie sicher sein, dass die andere Hälfte antwortet mit pong (Lachen)
Ansage:
Konkrete Poesie. Von Buchstaben, Lauten und Wörtern. Eine Sendung von Cara Wuchold und Ute Bongartz.
O-Ton 4: (Gomringer)
(Publikum lacht) Eine der interessantesten Aufgaben des Konkreten Poeten ist eigentlich die Vereinfachung, das heißt zu sehen, was ist eigentlich, was ist das Elementare an einem Gedicht, was ist in diesem Gedicht eigentlich drin. Das ist meine Aufgabe und auch die Aufgabe vieler meiner Kollegen.
Sprecher:
Neben Eugen Gomringer gehören Gerhard Rühm, Franz Mon und Carlfriedrich Claus zu den deutschsprachigen Pionieren der Konkreten Poesie. Diese Dichtkunst entstand Anfang der 50er Jahre und zelebriert die Reduktion von Sprachzeichen auf das absolut Notwendige – wie in diesem Gebet von Gerhard Rühm von 1954:
O-Ton 5: „Gebet“
Sprecher:
Der heute 82jährige Österreicher Gerhard Rühm ist ein Tausendsassa, der als Dichter, Komponist und Maler eigene Kunstgenres wie die „bleistiftmusik“ erfand. Für Gerhard Rühm ist Spiel Ernst - und Ernst Spiel. In den Werken der Konkreten Poesie sieht er Sprach- und Gesellschaftskritik
O-Ton 6: (Rühm)
Weil die Konkrete Poesie sich eigentlich gegen die Pseudo-Informations-Inflation wendet, der wir pausenlos ausgesetzt sind. Es ist wieder der Versuch sozusagen, das Wort aus diesem Strom von Pseudo-Informationen rauszunehmen und wieder
seine volle Bedeutung zu geben und wieder auf den Kern einer Aussage zu kommen.
Sprecher:
Rühms Kollege Franz Mon beklagt darüber hinaus die Versteinerung der Gebrauchssprache. Er entreißt die Wörter ihrem herkömmlichen Kontext, setzt sie neu zusammen und lässt sie im Geist und auf der Zunge tänzeln, um den Leser auf mehr zu stoßen als das, was er schon weiß. Wie hier in der SWR-Sendung „Poetik der Wörter“ von 2007:
O-Ton 7: Mon liest (Poetik der Wörter)
Sprecher:
Franz Mon ist 85 und kommt aus Frankfurt am Main. Mit seiner Dichtkunst begann auch er in den 50er Jahren. Ihm reicht sogar schon ein einzelner Buchstabe, ein Laut als Gedicht.
O-Ton 8: (Mon)
Ein O oder ein A oder ein K oder ein R, ist eine Vollzähligkeit, ist eine Gestik, ein Gebäude, eine Figur und so weiter.
O-Ton 9:
Mon liest seinen Lauttext „Tu du´s“, geht über in
O-Ton 10:
Michael Lentz interpretiert Lauttext „Tu du´s“
O-Ton 11: (Mon)
Das Alphabet ist natürlich für uns oder für mich das Basismaterial. Die 26 Buchstaben, die wir haben, da hängt natürlich alles dran.
Sprecher:
Franz Mon und seine Mitstreiter spielen mit Worten – ganz im Sinne des Sprachspiels des Philosophen Ludwig Wittgenstein. Demnach hat Sprache keine von der Wirklichkeit vorgegebene Struktur, sie wird allein durch ihren Gebrauch bestimmt. Die Konkreten Poeten manipulieren und erfinden Sprachregeln, formen aus Buchstaben Texte, die auch Bilder sind.
Sprecher:
Gerhard Rühm schränkt allerdings ein:
O-Ton 13: (Rühm)
Es muss immer so sein, dass ein kontrapunktischer Effekt entsteht, das ist z.B. für mich ein Grundprinzip der Konkreten Poesie, dass es keine Verdoppelung in der Aussage geben kann. Also ich beziehe mich da, immer wenn ich erklären soll, was Konkreten Poesie ist, nämlich als ein Beispiel, das immer wieder als typisches Beispiel der Konkrete Poesie angeführt wird, das für mich aber das Beispiel ist, was Konkrete Poesie gerade nicht ist, nämlich von Reinhard Döhl das Apfelgedicht, wo er das Wort Apfel mehrfach nebeneinander und untereinander schreibt und dann in
Apfelform ausschneidet. Und das ist die Verdoppelung, das ist tautologisch, und genau das muss die Konkrete Poesie vermeiden.
Sprecher:
In seinen eigenen Werken arbeitet Gerhard Rühm zwar auch mit Text und Bild - aber eben nicht tautologisch. Oft ergänzen seine handschriftlichen Zeichnungen subtil die Bedeutung der Worte. Sinn oder Unsinn stiftet er auch durch die optische Anordnung der Buchstaben auf dem Papier. Eine Geschichte, gar mit Anfang und Ende, sollte man nicht erwarten.
O-Ton 14: Text Rhythmus R (1)
O-Ton 15: (Rühm)
Das ist der Rhythmus R, das ist ein zentrales Werk von mir aus dem Jahr 1958, wo ich versucht hab die Konkrete Poesie aus dem Einblatt-Betrieb sozusagen herauszubringen und zu einem durchgestalteten Buch zu kommen und da geht es dann sozusagen um eine schrittweise Veränderung und Weiterentwicklung eines Textes.
O-Ton 16: Text Rhythmus R (2)
O-Ton 17: (Gerhard Rühm)
Es sind alles Begriffe, die mit R beginnen, drum heißt es auch Rhythmus R und mein Name beginnt ja auch mit R.
O-Ton 18: Text Rhythmus R (3)
O-Ton 19: (Rühm)
Es gibt eine Seite, wo nur R da ist, das R, das ja leider in der gesprochenen Sprache zunehmend verloren geht, also z.B. das Wort warten wird zunehmend zu waten, also man watet dann im Dreck herum, sozusagen im akustischen (lacht), das R ist weg, und das finde ich sehr schade, denn das R ist eines der ausdrucksvollsten Konsonanten.
O-Ton 20: Text Rhythmus R (4)
O-Ton 21: (Gerhard Rühm)
...und dann gibt es z.B. eine rote Seite, da brauche ich natürlich dann nicht mehr den Begriff rot, denn der ist gegeben durch die rote Seite, als die Sache selbst. So ist also auch Bild, Wort und Ding an sich in diesem Buch vereinigt.
Sprecher:
Ein einzelner Buchstabe als Leitfaden für ein ganzes Buch? Dahinter steckt nicht nur die Lust am Spiel mit den Lettern. Die Konkreten Poeten reflektieren das Sprachmaterial und damit auch die Gesellschaft, denn die ist von Sprache geprägt.
Allein durch Feinheiten in der Tonlage wird Wirkung erzielt - und die Sprache gleichzeitig kritisch untersucht. Franz Mon tut dies ganz sprichwörtlich, denn in seinem Hörtext „Das Gras wies wächst“ macht der Ton die Musik.
O-Ton 23: Text Gras wies wächst
Regie:Ggf. Akzent
Sprecher:
Ein Sprachforscher war auch Carlfriedrich Claus aus Annaberg-Buchholz in der früheren DDR. Er bezeichnete sich selbst als „Existenz-Experimentator“, sein wichtigster Untersuchungsgegenstand war er selbst. Zurückgezogen im Erzgebirge setzte er sich bis zu seinem Tod 1998 immer neuen Versuchsanordnungen aus. Claus widmete sein ganzes Leben radikal der Kunst. Er zeichnete beidhändig oder machte Resonanzübungen mit seiner Stimme und lotete so die Grenzen des Sagbaren, Darstellbaren aus.
O-Ton 24: Basale Sprech-Operationsräume
Sprecher:
Carlfriedrich Claus‘ Gedanken waren geprägt vom Mystizismus, von der Kabbala und der marxistischen Philosophie. Die Theorien tauchen in den feinen handschriftlichen Geweben seiner visuellen Arbeiten auf. Darin formt sich Geschriebenes zu Bildhaftem, das kaum mehr zu entziffern ist. Doch der Querdenker wünschte sich keinen Betrachter, sondern einen Leser seiner organischen Skizzen auf transparentem Papier, berichtet sein Kollege Franz Mon:
O-Ton 25:(Mon)
Und deshalb hat der seine Arbeiten lebenslänglich wie genannt? Sprachblätter. Und er hat sogar den ästhetischen Zugang abgewehrt und gesagt: Ich möchte, dass meine Sprachblätter gelesen werden. Er hat sich auch nie dagegen gewehrt, dass das vergrößert wurde. Dass ne Galerie drauf kam, die vergrößerte und ausstellte. Er fand das wunderbar. Er sagte, dann kann man das deutlicher lesen als auch diesen kleinen Dingern. Er ist dann kritisiert worden: Ja, aber die Sensibilität, die Feinheit, das geht ja alles verloren, wenn man das vergrößert, diese Dinger. Das war ihm wurscht.
Sprecher:
Bei einer Lautpoetischen Performance an der Akademie der Künste in Berlin im Jahr 2011 rezitierten die Lautdichter Michael Lentz und Valeri Scherstjanoi die „Sprach-Körper-Denkprozesse von Carlfriedrich Claus:
O-Ton 26: AdK-Lesung (1)
Sprecher:
Was Claus mit Konkreten Poeten wie Franz Mon, Gerhard Rühm oder Eugen Gomringer eint, ist die Forderung nach einem Leser, der seine Beziehung zum Text und zur Sprache erneuert. Nach einem Leser, der aktiv mitarbeitet und Offenes zu Ende denkt. In den Werken der Konkreten Poeten werden Worte und Laute nicht von der Grammatik und der Syntax gezähmt oder vom Sinnzusammenhang vereinnahmt. Trotzdem übermitteln sich dem Leser und Hörer mehr als verrückte Sprachspiele oder sonderbare Lautmalereien, sagt Gerhard Rühm:
O-Ton 28: (Rühm)
Im Grunde ist das nämlich nicht eine abstrakte Angelegenheit, die mit der Realität nichts zu tun hat, sondern ganz im Gegenteil es ist eine unglaubliche Versinnlichung von Sprache. Und das hängt damit zusammen, dass das Material eine so große Rolle spielt. Das Material ist ja das Sinnliche, das Abstrakte ist der Begriff, aber das Sinnliche am Begriff, ist, ob er zu hören ist oder ob er zu sehen ist. Und in dem Sinne ist es eine absolute Versinnlichung, was die Konkrete Poesie betreibt.
Regie: Ggf. Akzent
Sprecher:
Eine zweite Generation von deutschsprachigen Künstlern ist den Pionieren der Konkreten Poesie in ihren Sprachspielen gefolgt. Ein Forum für den Austausch war das Bielefelder Colloquium – ein Autorentreffen zur Neuen Poesie. Hier traf man sich zwischen 1978 und 2003 einmal im Jahr, las Texte vor und diskutierte, ähnlich wie einst die Gruppe 47, nur ohne Verleger, Kritiker und: ohne Publicity. Der bildende Künstler Timm Ulrichs, Jahrgang 1940, gehört zu dieser zweiten Generation. Ein Autodidakt, der seine künstlerische Arbeit in Auseinandersetzung mit der Sprache begann. Ihn reizt die Radikalität der Konkreten Dichtung.
O-Ton 29: (Ulrichs)
Die konkrete oder visuelle Poesie vermag es, sich einzuschleichen in die Sprache und deren Strukturen aufzubrechen. Und Aneignungsformen zu präsentieren, die zeigen, dass wir die Herrscher der Sprache sind. Wir können die Sprache manipulieren, im positiven Sinne, wir können sie beherrschen und können mit ihr machen, was wir wollen. Wir können sie auseinander nehmen, wir können die Buchstaben umstellen, und erkennen darin Anagramme, den geheimen Sinn. Also ich habe z.B. aus Natur Unrat werden lassen oder umgekehrt. Und wenn man solche Sachen erfindet oder findet, dann zeigt sich doch die Souveränität des Geistes mehr, als wenn man so mühsam eine Geschichte erzählt.
Sprecher:
Das Werk „herzzero“ von Franz Mon hat 164 Seiten. Es ist zweispaltig gedruckt, aber kein Gedicht. Im Vorwort wird der Leser aufgefordert, beide Seiten stereo zu lesen, Wiederholungen im Text zu streichen und auch sonst zu korrigieren, was er für verbesserungswürdig hält. Da sich kein Erzählstrang entwickelt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Sätze wörtlich zu nehmen.
O-Ton 30: Text herzzero (1)
O-Ton 31: (Mon)
Ich wähle ja dann ganz bestimmte Wörter deshalb aus, weil ich überzeugt bin, dass diese Letternkombination was damit zu tun hat, mit dem was mir im Sinn ist.
O-Ton 32: Text herzzero (2)
O-Ton 33: (Mon)
Ich hab’ so das Wort innehaben. Also innehaben ist für mich ein Denkvorgang, den ich aber nicht unmittelbar in Sprache überführen kann. Ich weiß das, und bin sicher, dass das so ist, ganz rational, ganz bewusst, dass eine Sache so ist, aber einer
anderen Person kann ich das nicht mitteilen. Das ist das Geheimnis des Individuums. Das hat jeder, nicht nur ich, jeder hat das Innehaben.
O-Ton 34: Text Schweigen (ggf. nach ca. 14 Sek. abblenden)
O-Ton 35: (Mon)
Zur Konkreten Poesie gehört auch die Abgeschlossenheit, das Gebilde was in sich steht. Gomringer. Schweigen.
O-Ton 36: (Gomringer)
Das silencio, das ist eigentlich mein Markenzeichen. Das Schweigen, das man nicht sehen kann, das man sehen kann, aber nicht aussprechen kann. Es wird vierzehn Mal ausgesprochen und man weiß ganz genau, das in der Mitte, das ist eigentlich das Schweigen. Das ist der Karpfen, der verschwindet im Teich ganz unten. Das ist das Schweigen an sich.
Sprecher:
Schon 1968 erklärte Eugen Gomringer seinem Publikum, was ein konkretes Gedicht vermag, damals in einem Dokumentarfilm mit dem Titel „Konkrete Poesie“.
O-Ton 37: (Gomringer)
Eine Konstellation wie ‚Schweigen’ ist eine bestimmte Form der konkreten Poesie. Sie ist kein Gedicht über einen realen Gegenstand, sondern ein Stück Sprachstruktur, das auf den interessanten, oft überraschenden Bezug zwischen Sachverhalt und Sprachverhalt hinweist. Konkrete Poesie kann Assoziationen erwecken, sie kann Meditationsgegenstand sein.
Sprecher:
Meint die Lücke im Schweigen das Unaussprechliche? Oder anders: Hat man das Schweigen einmal aufgeschrieben, ist dann danach vielleicht alles möglich? Das Schweigen-Gedicht entstand 1954 und lässt dem Leser große Deutungshoheit. Eugen Gomringer hat dazu eine Theorie:
O-Ton 38: (Gomringer)
Die Konstellation entsteht aus dem freigesetzten Wort, durch diese Freisetzung entsteht dann eine Kommunikation mit den nächsten zwei Wörtern, wenn man Konstellation macht, und damit etwas passiert, tritt die Inversion ein, die Umstellung, das ist für mich ein ganz wichtiges Prinzip. Also das man a b sagt und b a prüft. Man kann nicht immer nur a b sagen, linear, vorwärts, sondern man muss es auch einmal umstellen, und dadurch entsteht eine Frage.
Sprecher:
Einzelne Wörter, herausgehoben aus dem Satzzusammenhang, sind also bereits ein Gedicht, eine sogenannte Konstellation. Mit ihrer Reihenfolge ändert sich auch der Sinn. Den Begriff der Konstellation hat Gomringer dem großen Symbolisten Stéphane Mallarmé entlehnt. Mallarmé gilt als Säulenheiliger der Konkreten Poesie. In seinem Würfelwurf-Text von 1897 wird der visuelle Umgang mit Sprache Teil der poetischen Konzeption. Der Text läuft nicht einfach von links nach rechts. Mallarmé verstreut ihn über die Seiten, Art und Größe der Buchstaben wechseln, der Text sieht aus wie eine Wortpartitur.
Franz Mon spricht nicht wie Eugen Gomringer von Konstellationen, sondern von Artikulationen und stellte bereits 1959 fest, womit es der Konkrete Poet zu tun hat.
O-Ton 39: (Franz Mon)
Ich bin vermutlich dadurch drauf gekommen, dass ich befreundet war mit Malern, vor allen Dingen mit Karl Otto Götz, und mir dort der Begriff des Materials nahegekommen ist. Das sind die Lettern, die Buchstaben, die Schrift, sei es mit der Hand, sei es mit der Schreibmaschine, dann meine Stimme, sei es gesungen, sei es gesprochen, sei es live, sei es übers Mikrofon oder das Tonbandgerät, was ja damals in den späten 50er Jahren zugänglich wurde. Die Artikulationsbewegungen der Mundorgane, also Zunge, Lippen, Gaumen, Nase, Atem. Und dann entdecke ich, der ganze Körper hängt an den Mundorganen dran. Und das war eigentlich meine Ausgangsentdeckung, und deswegen heißt mein erstes Buch auch „Artikulationen“.
O-Ton 40: Text Artikulationen
Sprecher:
Kombinationen wiederum nannte der deutsche Autor und Essayist Helmut Heißenbüttel 1954 die Grundformel der Konkreten Poesie. Er montierte vorgefundene Satzfetzen, um die Wirklichkeit darin festzuhalten. In der Rückbesinnung auf die Bruchstücke der Sprache sah er eine neue Möglichkeit, sich auszudrücken. Auf diese poetische Spur brachte ihn ein Erweckungserlebnis, berichtet Franz Mon:
O-Ton 41: (Mon)
Er besuchte Gomringer in Ulm. Er kannte die Konstellationen oder er lernte die kennen, damals, und besuchte Gomringer und war da angetan und beschreibt, was es heißt, ein Gedicht einfach zu machen aus ping pong, ping pong, ping pong…und da sagt er, da hatte ich die Einsicht, ich kann machen was ich will. Also eine unglaubliche Freiheit.
Sprecher:
1921 geboren, teilte Helmut Heißenbüttel die Skepsis gegenüber traditionellen Gedichtformen. Er gehört mit in die Reihe der Konkreten Poeten. Als ihm 1969 der renommierte Georg-Büchner-Preis verliehen wurde, sah die Frankfurter Allgemeine Zeitung darin auch eine erste Anerkennung dieser Dichtkunst insgesamt:
Zitator:
Diese Literatur des kombinatorischen Spiels mit dem noch Sagbaren hat bisher hierzulande nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden. Ihre [...] stupende Lesbarkeit gilt es zu entdecken; möglicherweise unter Anleitung des Mottos von Boris Eichenbaum, das Helmut Heißenbüttel seinem Aufsatz vorangestellt hat: „Die Literatur kämpft um ihr Bestehen. Sie ist auf der Suche nach neuen Gattungen. Das muss der Leser begreifen, der verwundert auf die Wüste unseres zeitgenössischen Schrifttums blickt.“
Regie: Ggf. Akzent
Sprecher:
Tatsächlich hat die experimentelle Literatur in Deutschland immer eine Art Schattendasein geführt und wurde bisweilen heftig kritisiert. Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger nannte sie einmal „harmlosen Mumpitz“ und „puren Quatsch“, „Der Spiegel“ schimpfte 1960 der über den „Mischmasch der Kunstgattungen und Theorien.“ Franz Mon erinnert sich:
O-Ton 42: (Franz Mon)
Ich hab mal so einen Aufsatz geschrieben: Literatur zwischen den Stühlen (lacht) genau so! Hihi.
Sprecher:
Warum aber hat es die Konkrete Poesie so schwer, wahrgenommen und anerkannt zu werden? Ein Grund könnte sein, meint der Künstler Timm Ulrichs, dass sie auf den ersten Blick nicht eindeutig zuzuordnen ist, weil sie mit mehreren Medien arbeitet. Und vielleicht liegt es auch an der Fülle von Begleittexten seiner Kollegen zu ihrer Kunst, die fast im Widerspruch zur Einfachheit der Gedichte steht.
O-Ton 43: (Ulrichs)
Das Problem ist ja auch, dass viele der konkreten Poeten immer so einen Berg an Theorie vor sich her geschoben haben und das hat schon viele abgeschreckt. Also wenn man nicht schon im Vorhinein die Sachen als so anspruchsvoll annoncieren würde, sondern so als Möglichkeitsform einfach offerieren würde, und die Theorie mehr im Hintergrund behielte, das wär schon besser. Man könnten angesichts von Theorie und Werk ja sagen, der Berg kreiste und gebar eine Maus.
Sprecher:
Kritik gab es nicht nur in Deutschland. Auch in Österreich stießen die experimentellen Poeten auf erbitterten Widerstand. Wie Gerhard Rühm mit seinem Autorenkreis der Wiener Gruppe.
O-Ton 44: (Rühm)
Also nach dem 2. Weltkrieg, das können sich junge Leute überhaupt nicht vorstellen, wie reaktionär das alles war. Wir galten als Wahnsinnige, als Außenseiter und als Verrückte, ja sozusagen als Volksschädlinge, weil wir nur lauter Unsinn produzieren und provozieren wollen. Und daher stammt auch dieser Ruf, den ich nicht sehr schätze, dass man sagt, ja, die Wiener Gruppe, das waren Provokateure. Man hat damals provoziert mit Harmlosigkeiten schon, also aus heutiger Sicht. In der Kunst musste es alles gegenständlich sein und in der Literatur musste es alles möglichst glatt runtererzählt werden, so wie das leider heute auch wieder üblich ist, in den unzähligen Romanen, die pausenlos verfasst werden.
O-Ton 44/1: Gedicht „Scheissen und brunzen“
Sprecher:
Uneinig war man sich auch mit den Schriftstellern der Gruppe 47, die die so genannten „Ismen“, etwa den Dadaismus oder den Surrealismus, als vorgestrig abtaten. Den Konkreten Poeten dagegen galten sie als Quelle der Inspiration. Franz Mon war 19 Jahre alt, als der Krieg endete und suchte damals nach literarischen Anknüpfungspunkten.
O-Ton 45: (Mon)
In der Literatur war gar nichts mehr vorhanden in den 50er Jahren, das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Da gabs die Gruppe 47 mit ihrem radikalen Realismus und das war für meine Generation, war das uninteressant, langweilig und wir hatten ja dann für uns Futurismus entdeckt, Dadaismus, Surrealismus. Surrealismus war für mich sehr wichtig.
O-Ton 46: (Rühm)
Ich wollte in der Dichtung etwas Ähnliches machen wie beispielsweise Anton Webern in der Musik. Es gibt keinen Komponisten aus dieser Zeit bis Anton Webern, wo der sozusagen Einzelton in der Beziehung zum anderen Ton so eine elementare Bedeutung hat wie bei Anton Webern.
O-Ton 47:
Musik Anton Webern (Ave Regina aus Opus 18, Drei Lieder, 1925)
O-Ton 48: (Franz Mon)
Das fing bei jedem anders an. Bei Gerhard Rühm so, und bei Gomringer so, völlig anders, Gomringer hat ja diesen Kaspar Hauser-Effekt überhaupt nicht, der ist ja in der Schweiz groß geworden, da war alles da. Künstler, Maler der konkreten Malerei, die waren ja da, die hat er erlebt, mit denen hatte er Kontakt.
O-Ton 49: (Gomringer)
Als die erste Gruppe da in Bern, die erste Szene die Auge öffnete und sich umschaute, da war eben die Konkrete Kunst da. Seit 1944 habe ich die Kunst betrachtet und war betroffen eigentlich von diesen Ereignissen, die da möglich waren auf einer weißen Leinwand, mit einfachen Mitteln, ich hatte den Eindruck, das könnte man auch machen mit der Sprache.
Sprecher:
Was in den frühen 50er Jahren begann, bezeichnen die Protagonisten selbst inzwischen als historisch abgeschlossen. Auch wenn es experimentelle Formen gab und gibt, die im Rückgriff darauf die Dichtkunst weiterentwickelten. Doch der Konkreten Poesie im engeren Sinn ist seit den späten 60er Jahren nichts Bedeutendes mehr hinzugefügt worden. Vielmehr kam es zu Verwässerungen, Aufweichungen, sagt Franz Mon:
O-Ton 51: (Franz Mon)
Durch die Jahrzehnte, seit ungefähr den 50er Jahren, seitdem es den Begriff Konkrete Poesie als Hilfsinstrument der Verständigung unter Poeten gibt, ist das Wort Konkrete Poesie so durch alle Gassen gejagt worden, der deckt heute das ab, was man irgendwie unter ungewöhnlicher Art von moderner Literatur bezeichnet.
Sprecher:
Doch ihre Hauptvertreter Eugen Gomringer, Franz Mon, Gerhard Rühm sind auch mit ihren über 80 Jahren immer noch künstlerisch aktiv. Sie folgen Einladungen zu Poesiefestivals und bestücken Ausstellungen mit ihren visuellen Werken.
Sprecher:
Aktuell sind die Ansätze der Konkreten Poeten bis heute. Die Informationsflut, die Rühm, Mon und Gomringer schon in der Nachkriegszeit beklagten, unterliegt seitdem einer Aufwärtsspirale ohne sichtbares Ende. Gleichzeitig werden Kommunikation und Sprache stetig verknappt – eine Beobachtung, die diese Künstler schon in den 50er Jahren zur Vereinfachung in der Poesie veranlasste. Sie selbst halten die Erinnerung an die Errungenschaften der Konkreten Poesie wach, ebenso wie verschiedene Einrichtungen. Eugen Gomringer hat im oberfränkischen Kunsthaus Rehau ein Archiv und eine kleine Sammlung aufgebaut.
O-Ton 53: (Eugen Gomringer)
Also Konkrete Poesie, da sind wir eigentlich fast die Einzigen, die institutionell so was machen. Wir sind ja gut ausgerüstet damit. Seit 1944 hab’ ich peinlich genau kleine Kataloge und alles gesammelt. Also insofern kann man institutionell was machen, aber es passiert nicht so oft. Es gibt einige Sammler, sehr gute Sammler von konkreter Poesie und konkreter Kunst, das gibt es.
Sprecher:
Das Museum Weserburg in Bremen archiviert Künstlerpublikationen und hat engen Kontakt zu den Konkreten Künstlern. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach fühlt sich zuständig für die text- und tonbasierten Arbeiten, Museen zeigen vereinzelt Interesse an den visuellen. Auch eine Institution, die Werke in Schrift, Bild und Ton vereinen könnte, ist bereits angedacht. In der Literaturwerkstatt Berlin schmiedet man Pläne für ein Deutsches Zentrum für Poesie, dass das Vermächtnis der Konkreten Poeten in Zukunft sichern könnte. Auch das von Franz Mon, das er über die Jahrzehnte in seinem Archiv gesammelt hat:
O-Ton 54: (Mon)
Hier sind über 1.000 Arbeiten drin und was geschieht damit, wenn ich nicht mehr da bin? Solange ich da bin, ist egal, kann das da stehen bleiben, ne. Aber irgendwann muss das hier geräumt werden, denn niemand lebt ewig und wohin dann damit, ne?
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