Professor Jürgen Oelkers : Utopie adé . Ist die Reformpädagogik am Ende?
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 Autor und Sprecher: Professor Jürgen Oelkers *
 Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
 Sendung: Sonntag, 13. Juni 2010, 8.30 Uhr, SWR 2
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 ÜBERBLICK
 Auch einige reformpädagogische Einrichtungen sind wegen sexuellen Missbrauchs in die Schlagzeilen gekommen.
 Kritiker sprechen von systemischen Mängeln, vom Ende der Reformpädagogik. Doch stimmen die Vorwürfe?
 Hat die Reformpädagogik in Deutschland eine Chance? Jürgen Oelkers, Professor für Pädagogik, gibt Antworten.
 * Zum Autor:
 Jürgen Oelkers, geboren 1947, Studium der Erziehungswissenschaft, Germanistik,
 Geschichte an der Universität Hamburg, 1979 - 1987 Professor (C4) für Allgemeine
 Pädagogik an der damaligen Hochschule (jetzt: Universität) Lüneburg, ordentlicher
 Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Bern von 1987-1999,
 Ordentlicher Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich seit 1.
 März 1999. Visiting Professor an der University of Hiroshima (2006).
 Forschungsschwerpunkte: Historische Bildungsforschung, vor allem des 18. und 19.
 Jahrhunderts, Reformpädagogik im internationalen Vergleich, Analytische
 Erziehungsphilosophie, Inhaltsanalysen öffentlicher Bildung, Bildungspolitik.
 Bücher von Jürgen Oelkers (Auswahl):
- Historisches Wörterbuch der Pädagogik (zus. mit Dietrich Brenner). Verlag Beltz.
 2010
- John Dewey und die Pädagogik. Verlag Beltz. 2009.
- Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. Verlag Juventa. 2005.
 Literaturquellen:
 (Die Textteile in eckigen Klammern konnten aus Zeitgründen nicht gesendet werden).
 Andreesen, A.: Gutachten in der Strafsache gegen von Lützow. Berlin: Verlag Hensel&Co. 1926. (=
 Die neue Erziehung Beihefte 1)
 Der Pestalozzi der Deutschen. Hermann Lietz in Anekdoten, Briefstellen, Kernworten dem deutschen
 Volke ein Führer aus der Erniedrigung. Denk- und Dankschrift zum 28. April 1924. Veckenstedt am
 Harz: Verlag des Land-Waisenheims 1924.
 Dr. K.M.: Der Eros und die Landerziehungsheime. In: Der Eigene. Ein Blatt für männliche Kultur. Jg.
 10, Heft 7/8 (1924), S. 318-323.
 Ebermayer, E.: Gustav Wyneken. Chronik einer grossen Freundschaft. 2. Aufl. Frankfurt am Main:
 Dipa-Verlag 1982.
 Ehrentreich, A.: Pädagogische Odyssee. Im Wandel der Erziehungsformen. Weinheim/Ratingen:
 Verlag Julius Geltz, A. Henn Verlag 1967.
 Erdmann, O.: Die Arbeitsorganisation der Odenwaldschule. In: Die Tat Band 5, Heft 12 (März 1914),
 S. 1284-1288.
 Geheeb, P.: Koedukation als Lebensanschauung. In: Die Tat V. Jahrgang, Heft 12 (März 1914), S.
 1238-1249.
 Geheeb, P.: Briefe. Mensch und Idee in Selbstzeugnissen. Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1970.
 Grunder, F.: Land-Erziehungsheime und Freie Schulgemeinden. Aus vieljähriger Praxis in
 Deutschland, England, Frankreich und der Schweiz. Leipzig: Verlag von Julius Klinkhardt 1916. (=
 Pädagogium. Eine Methoden-Sammlung für Erziehung und Unterricht, hrsg. v. O. Messmer/A.
 Fischer, Band VII)
 Hildebrandt, E.: Hermann Lietz. In: Die Tat XIII. Jahrgang, Heft 3 (1921), S. 186-193.
 Hoffmann, H.: Gemeinsame Erziehung von Knaben und Mädchen. Programm des
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 Hoppe, O.F. (Hrsg.): Neuzeitliches Schulwesen. Unter Mitarbeit von Professor Dr. Gastpar und
 Direktor E. Henschen herausgegeben. Stuttgart: Verlag von Felix Krais 1913.
 Lietz, H.: Lebenserinnerungen. Neu hrsg. u. erg. durch Briefe und Berichte v. A. Andreesen. 4./5. Aufl.
 Weimar: Hermann Lietz Veruag 1935.
 Reddie, C.: Modern Miseducation. In: Today (October 1888), S. 114-120.
 Samuel, R.: Theatres of Memory, Vol. II: Island Stodies: Unravelling Britain. Ed. by S. Alexander/G.
 Stedman Jones/A.Light. London/New York: Verso 1999.
 Wyneken, G.: Soziale Erziehung in der Freien Schulgemeinde. In: Wickersdorfer Jahrbuch 1909-1910.
 Abhandlungen zum Programm der Freien Schulgemeinde, herausgegeben von G. Wyneken und A.
 Halm. Jena: Eugen Diederichs 1910, S. 1-73.
 Wyneken, G.: Schule und Jugendkultur. Zweite Auflage. Jena: Eugen Diederichs Verlag 1914.
 Darstellungen:
 Arnold-Brown, A.: Unfolding Character: The Impact of Gordonstoun. London: Routledge&Kegan Paul
 1962.
 Crossley, R.: William Olaf Stapledon: Speaking for the Future. Syracuse, N.Y.: Syracuse University
 Press 1994.
 Holroyd, M.: Lytton Strachey: A Biography. Harmondsworth, Middlesex: Penguin Books.
 100 Jahre Reformschule Heidehof 1908-2008. Festschrift. Stuttgart: Evangelisches Heidehof-
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 Kerchner, B.: „Sexualdiktatur“. Macht und Gewalt in den Gerichtsverfahren der Weimarer Republik In:
 Chr. Künzel (Hrsg.): Unzucht - Notzucht – Vergewaltigung. Definitionen und Deutungen sexueller
 Gewalt von der Aufklärung bis heute. Frankfurt am Main/New York: Campus-Verlag 2003, S.137-163.
 Näf, M.: Paul Geheeb. Seine Entwicklung bis zur Gründung der Odenwaldschule. Weinheim:
 Deutscher Studien Verlag 1998. (= Internationale Pädagogik - Reformpädagogik. Schriftenreihe des
 Weltbundes zur Erneuerung der Erziehung, hrsg. v. Horst Hörner/Hans-Christoph Berg, Band 4)
 Priebe, A.: Vom Schulturnen zum Schulsport: Die Reform der körperlichen Ausbildung in den
 Deutschen Landerziehungsheimen und der Freien Schulgemeinde Wickersdorf von 1898 bis 1933.
 Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt 2007.
 Stark, Chr.: Idee und Gestalt einer Schule im Urteil des Elternhauses. Eine Dokumentation über die
 Odenwaldschule zur Zeit ihres Gründers und Leiters Pauk Geheeb (1910-1934). Diss. Paed.
 Pädagogische Hochschule Heidelberg. Ungedr. Ms. Heidelberg 1998.
 Ward, B.M. Reddie of Abbotsholme. Intr. by J.J. Findlay. London: George Allen&Unwin 1934.
 INHALT__________________________________________________________________
 Ansage:
 Mit dem Thema: „Utopie ade – Ist die Reformpädagogik am Ende?“
Natürlich: Es geht um die Odenwaldschule, um die Fälle sexuellen Missbrauchs, die
 in den letzten Monaten öffentlich gemacht wurden. Und es geht um die
 Kardinalfrage: Sind diese Fälle Ausdruck und Folgen eines bestimmten
 pädagogischen Systems, des Systems der Landerziehungsheime, die für eine
 Richtung der Reformpädagogik stehen?
 Jürgen Oelkers ist Professor für Pädagogik an der ETH Zürich und er bejaht diese
 Frage. Für ihn steht fest: Von Anfang an wurde die Pädagogik der
 Landerziehungsheime geprägt von einer kruden Mischung aus erotischen,
 autoritären und sogar militärisch-nationalen Elementen. Hören Sie dazu die SWR2
 Aula von Jürgen Oelkers.
 Jürgen Oelkers:
 [Es gibt nicht „die“ Reformpädagogik. Zur Reform von Erziehung und Schule haben
 seit Beginn des 19. Jahrhunderts sehr verschiedene Ansätze und Erfahrungen
 beigetragen, die keine einheitliche Größe darstellen. Mit der Entwicklung der
 Industriegesellschaft veränderte sich auch das Bildungswesen, das geschah
 zunächst langsam und unmerklich, dann aber mit steigendem Tempo und etwa
 zeitgleich in allen modernen Gesellschaften. In diesem breiten Verständnis ist
„Reformpädagogik“ ein internationales Phänomen, das von der zunehmenden
 Intervention des Staates geprägt wurde.
 In Deutschland ist die Reformpädagogik sehr stark von kleinen Alternativschulen her
 wahrgenommen worden, den so genannten „Landerziehungsheimen“, die zu Beginn
 des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Gemeint sind damit private Internatsschulen,
 die einen besonderen pädagogischen Anspruch vertreten haben. Die Idee stammte
 aus England, genauer: aus der englischen Lebensreform im letzten Drittel des 19.
 Jahrhunderts und betonte den großen Vorteil einer zurückgezogenen ländlichen
 Umgebung für den Erziehungsprozess. Damit sollte vermieden werden, dass Kinder
 und Jugendliche den Gefahren des Großstadtlebens ausgesetzt werden. Dass diese
 Schulen selbst Risiken darstellen könnten, ist nie erwogen worden.
 Das „Land“ nahm auch eine symbolische Bedeutung ein. Führende Vertreter der
 deutschen Reformpädagogik haben die ländliche Abgeschiedenheit geradezu
 verklärt und als Erziehungsidylle beschrieben, mit dem Effekt, dass ihre Schulen
 immer wieder als „Musteranstalten“ einer neuen Pädagogik hingestellt und
 hervorgehoben wurden.]
 In Landerziehungsheimen sollte „ganzheitlich“ gelernt werden, die Heime sollten
 durch eine besondere Beziehungskultur zwischen den Lehrern und den Schülern
 ausgezeichnet sein und sie sollten „Lebensschulen“ sein – im Gegensatz zu den
 Staatsschulen, die verächtlich als „Lern-“ oder „Buchschulen“ bezeichnet wurden.
 Ein bekannter Name dieser alternativen Pädagogik ist der von Paul Geheeb. Er und
 seine Frau Edith Cassirer waren die Gründer der heute so umstrittenen
 Odenwaldschule, die wegen zahlreicher Missbrauchsfälle in der deutschen
 Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt hat und offenbar nachhaltig diskreditiert
 worden ist. Dieser Skandal führte in den letzten Monaten zu einer grundsätzlichen
 Diskussion über die deutsche Reformpädagogik.
 Die Odenwaldschule ist am 14. April 1910 eröffnet worden, sie ist also genau
 einhundert Jahre alt. Sie zählt sich selbst zu den „Landerziehungsheimen“ und galt
 bis vor kurzem als untadelige Vorzeigeschule der deutschen Reformpädagogik. Vor
 dem Ersten Weltkrieg war die Schule allerdings nur eine von vielen. Im Deutschen
 Reich gab es Hunderte von Privatschulen, deren Zweck es war, auf Prüfungen
 vorzubereiten oder andere Marktnischen zu bedienen. Das geschah im Wesentlichen
 nicht auf dem Lande, sondern durch städtische Angebote nahe bei den Kunden.
 Auch Schulen mit einem anspruchsvollen Programm wie die Reformschule Heidehof
 in Stuttgart oder das Landerziehungsheim Laubegast bei Dresden wurden wegen der
 Nähe zur Stadtkultur gegründet (Hoffmann 1903, S. 24). [Die Heidehofschule sollte
 eine „moderne Großstadtschule“ sein und gerade keine Idylle auf dem Lande (Hoppe
 1913, S. 1-16).]
 Die meisten dieser Schulen wurden vergessen. Die Odenwaldschule agegen ist in
 der deutschen Lehrerbildung immer als pädagogisch-didaktisches Vorbild verstanden
 und mit der Aura einer großen Tradition verbunden worden. Erzählt wurde eine
 heroische Geschichte, die keinen Vorbehalt erlaubte und Distanz nicht zuließ.
 [Vorbilder in der Erziehung müssen makellos sein. Jeder Verdacht würde sie
 belasten, also durfte erst gar keiner aufkommen. Doch hundert Jahre Geschichte
 können nicht makellos gewesen sein, und dann gibt es auch keine „Tradition“ der
 Reformpädagogik ohne dunkle Seiten. Die Frage ist nur, ob und wie sie
 wahrgenommen werden.
 Keine einzige Schule der Reformpädagogik hat je den eigenen Ansprüchen genügen
 können, aber genau dieser Eindruck sollte entstehen und wird bis heute kolportiert.]
 Es ist immer wieder von „pädagogischen Laboratorien“ die Rede, aus denen die
„moderne Schule“ hervorgegangen sein soll, während es sich tatsächlich um wenige,
 hoch konflikthafte, innerlich zerstrittene und ganz kleine Schulen handelte, die nie die
 staatliche Schulentwicklung beeinflusst haben und das oft auch gar nicht wollten.
 Wer sich auf sie beruft und gar noch eine besondere pädagogische Tradition
 konstruiert, die bis heute unverändert Gültigkeit haben soll, muss wissen, was er tut.
 Bei den Landerziehungsheimen handelt es sich um abgeschlossene, teure Internate,
 die von den Eltern bezahlt wurden, oft aus Notlagen heraus und zugänglich nur für
 Begüterte. Das kann in einem demokratischen Staatswesen nicht die Zukunft der
 Schule sein.
 Aber gab es nicht doch eine vorbildliche Pädagogik, auf die man sich heute noch mit
 gutem Grund beziehen kann? Die Ideen verbinden sich mit Namen und Namen
 werden im Zusammenhang mit den Landerziehungsheimen immer wieder besonders
 hervorgehoben und stilisiert, neben Paul und Edith Geheeb der Leiter der Freien
 Schulgemeinde Wickersdorf, Gustav Wyneken, sein Nachfolger Martin Luserke, dann
 Hermann Lietz, der eigentliche Begründer der „Deutschen Landerziehungsheime“,
und schließlich auch Cecil Reddie, an dessen Schule in England 1889 alles
 begonnen haben soll.
 Namen wie diese werden in der vorliegenden Literatur fast immer als untadelig
 hingestellt und als vorbildlich für die Gegenwart verstanden. Doch die Geschichten,
 die sich mit den Namen verbinden, sehen anders aus; sie sind wenig heroisch und
 geben keinen Anlass für Idealisierung. [Eine Haltung der kritiklosen Verehrung liegt
 nur dann nahe, wenn nicht genauer untersucht wird, wie die Praxis der Schulen
 tatsächlich ausgesehen hat und sich die Wahrnehmung immer nur auf die
 Selbstbeschreibungen bezieht.]
 Das Problem lässt sich bereits sehr deutlich am Grundmodell der
 Landerziehungsheime zeigen, der „New School of Abbotsholme“ von Cecil Reddie,
 einem winzigen Internat in den englischen Midlands, das nie mehr als neunzig
 Schüler hatte und gleichwohl zum Ursprung einer pädagogischen „Bewegung“
stilisiert werden konnte. Doch diese angebliche Bewegung der Landerziehungsheime
 bestand aus gut gerechnet nicht viel mehr als fünfzig Schulen, die weder einem
 gemeinsamen Konzept folgten noch über eine eigene Organisation verfügten. Sie
 waren nicht einmal alle auf dem Lande.
 Die Schulen waren wie gesagt teure Privatschulen, sie nannten sich „neu“ oder
„modern“ und machten mit Konzepten der Erziehung auf sich aufmerksam, die gut
 klangen, aber noch gar nicht ausprobiert waren, weil sie einen Markt bedienen
 mussten und dafür ein gut klingendes Label brauchten. Dieses Label orientierte sich
 sehr stark auch an der zeitgenössischen Medizin und deren Vorstellungen von
 Gesundheit. Landerziehungsheime wären nie plausibel gewesen ohne die
 medizinischen Postulate der Lebensreform, also Körperkultur, Abstinenz, Rohkost,
 naturgerechte Kleidung, Luftbäder oder eben Landleben.
 Am 1. Oktober 1889 eröffnete Cecil Reddie seine Schule, die der Ausbildung der
 männlichen Eliten dienen sollte. Jungen zwischen zehn und neunzehn Jahren
 besuchten die Schule, die eine lebensreformerische Ausrichtung hatte und damit ein
 besonderes Publikum ansprechen wollte, ohne zu sagen, was die Schulen den
 Jungen tatsächlich zumutete. [Die Stichworte waren tatsächlich wohl klingend,
 gesunde Ernährung, tägliche Bewegung, einfache Kleidung oder auch das
 erzieherische Zusammenleben in einer Gemeinschaft.]
 Konkret hieß das: Das Essen in der New School of Abbhotsholme war strikt
 vegetarisch, Fleisch galt als sexuell stimulierend und war ebenso verboten wie
 Alkohol. Die täglichen Portionen waren schmal bemessen, [Hunger war eine Art
 Selbstzucht;] als besonders gesund galt Porridge, aber nur mit Wasser und ohne
 Zusatz. Als Bekleidung war nur „gesunde“ Wollkleidung zugelassen. Generell sollten
 die Jungen nur so viel anziehen, wie gesundheitlich geboten war; Unterwäsche zu
 tragen, war ebenfalls verboten (Samuel 1999, S. 304). Nur in ganz kalten Wintern
 durften die Fenster geschlossen werden, und dies auch nur auf Anweisung der
 Schulleitung.
 Nach kurzer Zeit hatte Reddie seine Mitbegründer vertrieben und konnte die Schule
 in autokratischer Form allein leiten. ]Der Gründung der Schule war eine Artikelserie
 vorausgegangen, die Reddie im Oktober 1888 in der englischen Zeitschrift „Today“
veröffentlichte und die den Titel trug: „Modern mis-education“ (Reddie 1888). Das
 lässt sich auf ihn übertragen: Reddies eigener Unterrichtsstil wird beschrieben als
 eine Art Verhörmethode, auf den Kopf zu direkt, kleinlich und keinen Widerspruch
 duldend.
 Eine andere Quelle beschreibt Reddie als Pedanten und Exzentriker, der in
 Abbotsholme wie ein „absoluter Monarch“ geherrscht habe. Nur er gab die Gesetze,
 aber nicht nur das, er legte auch in detaillierten Instruktionen genauestens fest, wie
 das richtige Verhalten der Jungen auszusehen hat, und diese Herrschaftstechnik
 reichte von der Heuernte über das Verhalten in den Schlafsälen bis zu den Regeln
 der richtigen Kleidung und sogar den nächtlichen Schlafstellungen im Bett (Arnold-
Brown 1962, S. 4/5).]
 Reddie wäre in keiner öffentlichen Schule tragbar gewesen. Er konnte nicht zuhören
 und monopolisierte jede Konversation, ohne es zu merken (Ward 1934, S. 30). Er
 war komplett unfähig, andere Meinungen zu akzeptieren, auch solche, die die Eltern
 seiner Schüler äußerten, die immerhin die Kunden seiner Schule darstellten. Er wies
 rundheraus jegliche Intervention von außen zurück, wenn erst einmal ein Junge
 seiner Herrschaft unterstellt war. Die Haltung war dann kompromisslos: „Take it or
 leave it”.
Unter den Schülern gab es eine strikte Hierarchie[, die nach Graden eingeteilt war].
 Den untersten Rang bildeten die „fags“, darüber standen die „mids“ und ganz oben
 waren die „Präfekten“, die die Strafgewalt über ihre Mitschüler innehatten. Sie durften
 körperlich züchtigen und mussten sich darüber nur einig werden.[ Gelegentlich strafte
 der Schulleiter auch persönlich und dies in demütigender Form vor der versammelten
 Schule, also den Schülern und den Lehrern gleichermaßen (Holroyd 1971, S. 88).]
 Abbotsholme hieß wegen der aristokratischen Herrschaft von Reddie auch das
„kleine Königreich“ (miniature kingdom), aber es war ein ausschließlich männliches
 Reich; wenn Lehrer heiraten wollten, wurden sie entlassen (Crossley 1994, S. 58).
 Die einzig zugelassene Sozialform war „Kameradschaft“ (camaraderie) unter Jungen,
 begründet als platonische Gemeinschaft (ebd., S. 58/59). Die Schulhymne hieß frei
 nach Walt Whitman „The Love of Comrades“ und beschwor die lebenslange
 Freundschaft unter Männern. [In der Kapelle der Schule und an den Wegen auf dem
 Gelände standen nackte Statuen, auch das War Memorial zeigte einen nackten
 Knaben, die Schüler badeten im Sommer nackt und Reddie ließ griechische
 Theaterstücke aufführen, in denen Jungen Frauenrollen übernahmen.]
 In der deutschen Literatur wurde die Existenz der Schule in den ersten Jahren kaum
 beachtet. Das änderte sich, als Hermann Lietz, der ein Jahr lang in Abbotsholme als
 Lehrer tätig gewesen war, eine eigene Schule gründete, die er programmatisch
„Deutsches Land-Erziehungs-Heim“ nannte. Der englische Erziehungsstaat von
 Abbotsholme sollte mit ähnlichen Herrschaftsformen wie dem Präfektensystem ein
 deutsches Äquivalent finden. Das erste Landerziehungsheim ausschließlich für
 Jungen wurde am 28. April 1898 in Ilsenburg am Harz eröffnet, mit sieben Schülern,
 zwei Lehrern neben Lietz sowie Fräulein Dieser, der „Hausdame“ (Andreesen 1934,
 S. 89).
 Lietz heiratete erst 1911. Bis dahin war die Hausdame die einzige Frau in den
 Heimen; beschäftigt wurden wie in Abbotsholme ausschließlich männliche und
 unverheiratete Lehrkräfte. Seine Frau hieß Jutta von Petersenn, mit ihr hatte er drei
 Kinder. Die Kinder wurden 1924 in einer Denkschrift erwähnt, die „Hermann Lietz,
 dem Pestalozzi der Deutschen“ gewidmet war. Hier wird eine aufschlussreiche
 Episode mitgeteilt, die dem Brief eines Schülers aus dem Jahre 1917 entnommen ist.
 Der Brief schildert ein Zusammensein im Haus der Familie mit Jutta und Hermann
 Lietz. Dabei kommt es zu einem Vorfall: Die kleinere Schwester stößt ihren
 vierjährigen Bruder im Streit plötzlich die Steintreppe hinunter. Der Junge stürzt mit
 dem Kopf voran in die Tiefe, überschlägt sich zum Schrecken der Beteiligten, steht
 unten aber wieder auf, reibt sich den Schädel und sagt kein Wort. Der Vater nimmt
 ihn auf und lobt seine Tapferkeit, „wie es sich für einen deutschen Jungen geziemt“.
Der Schüler kommentiert den Vorfall so: „Sieh, das ist deutsche Erziehung. Wir
 brauchen keine Waschlappen“ (Der Pestalozzi der Deutschen 1924, S. 50).
 Der Zuschnitt des Männlichen in den Landerziehungsheimen zeigte sich auch im
 paramilitärischen Unterricht. In allen drei Landerziehungsheimen, die Lietz bis 1904
 gründete, gab es eine geregelte Schießausbildung und in Haubinda existierte sogar
 ein eigenes Regiment, in dem exerziert wurde und auch Angriffsübungen einstudiert
 werden konnten (Priebe 2007, S. 62f.). Daher fanden die Landerziehungsheime auch
 bei deutschen Militärs Beachtung. [Rückblickend berichteten Ehemalige, die am
 Ersten Weltkrieg teilgenommen hatten, wie gut die Vorbereitung auf den Krieg
 gewesen war (ebd., S. 48). Tatsächlich war ein hoher Blutzoll zu zahlen, denn viele
 ehemalige Schüler kehrten aus dem Krieg nicht zurück.]
 Hermann Lietz war ein deutscher Nationalist und im Weltkrieg auch Chauvinist, der
 sich nicht scheute, in den Aufnahmebedingungen seiner Heime eine Arier-Regel zu
 führen. Lietz hatte sich im Oktober 1914 mit 46 Jahren aus Solidarität zu seinen
 Schülern freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet. In seinen Kriegsbriefen schreibt er,
 der „schönste Tod“ sei der für „die große, hehre Sache unseres Volkes im gerechten
 Krieg“ (Lietz 1935, S. 202). Und seiner Frau schreibt er im Oktober 1917, am Tag der
 Völkerschlacht bei Leipzig, es sei „ehrlos“, daheim zu bleiben und kränkend, nicht an
 die Front zu kommen (ebd., S. 205).
 Seine Schulen zogen oft die Verlierer des Bildungssystems an, die hier eine zweite
 Chance erhielten, doch noch das Abitur zu machen. [Die Eltern schickten die Kinder
 nicht einfach „der Idee willen“ in die Landerziehungsheime (Hildebrandt 1921, S.
 188). Was den Heimen die Geschäftsgrundlage sicherte, war nicht die Pädagogik
 von Hermann Lietz, sondern das hoch selektive deutsche Gymnasium.] Die Heime
 selbst stellten eine bestimmte Herrschaftspraxis dar, die in der pädagogischen
 Rhetorik nicht sichtbar wurde.
 Die Abgeschiedenheit des Ortes erlaubte die totale Kontrolle des sozialen Lebens,
 jeder Tag war genauestens geplant, die Kinder und Jugendlichen hatten so gut wie
 keine Freizeit und mussten ständig nicht nur lernen, sondern auch arbeiten, in einer
 Gemeinschaft, die sie nicht verlassen konnten. Schon Hermann Lietz führte das „Du“
ein, nannte seine Schüler „Kameraden“ und organisierte das Zusammenleben in
 kleinen „Familien“, in denen eine hohe emotionale Abhängigkeit entstand, auch weil
 kein Rückzug möglich war. Für den Besuch dieser Heime musste ein hohes
 Schulgeld bezahlt werden.
 Auch die Odenwaldschule war ein privater Wirtschaftsbetrieb, der hohe Kosten
 verursachte und daher sehr teuer war. Vor dem Ersten Weltkrieg lag der Satz
 zwischen 1.500 und 1.700 Mark pro Schüler und Jahr. Das durchschnittliche
 Jahreseinkommen betrug 1913 in Deutschland 726 Mark. Niemand mit einem
 solchen Einkommen konnte seine Kinder an die Odenwaldschule schicken. 1.700
 Mark wären heute umgerechnet 8.684 Euro. In der Reformschule Heidehof in
 Stuttgart zahlten die Eltern zwischen 400 und 500 Mark, und bereits dieser Satz
 erschien der Schulaufsicht als zu hoch (100 Jahre Reformschule 2008, S. 41f.).
 Die Nachfrage musste immer neu erzeugt werden und war nach Überwindung der
 schwierigen Anfangsphase nie wirklich stabil. Zudem verlangten das pädagogische
 Konzept und der Unterhalt von insgesamt 12 Häusern einen hohen
 Personalaufwand. Zeitweise waren für 175 Schülerinnen und Schüler 70 Angestellte
 tätig, die auf der Lohnliste standen (Stark 1998, S. 14). Für sie musste ein jährliches
 Budget gesichert sein. [Aus dem Briefwechsel mit den Eltern lässt sich entnehmen,
 dass jede Preiserhöhung dieser „Luxusschule“ (ebd., S. 17), wie sie genannt wurde,
 von scharfen Protesten begleitet war. Seitens der Kunden der Schule wurde immer
 wieder energisch auf eine Kostenreduktion und mehr Effizienz im Einsatz der Mittel
 gedrängt. Die tatsächliche Reduktion fand bei den Lehrkräften statt, die weit unter
 Tarif bezahlt wurden und von denen trotzdem Idealismus erwartet wurde.
 Sie sollten die Vertreter einer sehr ambitionierten Pädagogik sein, die von einer
 Mission kaum zu unterscheiden war. Das Sendungsbewusstsein, eine „neue“ und
„ganz andere“ Pädagogik der Nähe begründet zu haben, führte zu einer maßlosen
 Selbstüberschätzung. Die Landerziehungsheime wähnten sich an der Spitze des
 pädagogischen Fortschritts, obwohl ihre Zahl klein, ihre Mischung bunt, die Konflikte
 heftig und die Leistungsbilanz durchaus bescheiden war. Nähe macht abhängig und
 Familien sind selten harmonisch, weil sie keine Distanz zulassen.]
 Die Landerziehungsheime pflegten [wie Reddie] einen elitären Griechenkult und
 beriefen sich auf den „pädagogischen Eros“, der in einer abgeschiedenen
 Gemeinschaft gelebt werden sollte, mit Folgen, die erst heute klar werden. Zwar
 wurde von Anfang an eine „positive Sexualpädagogik“ ins Auge gefasst, die
 zwischen „Freundschaft und sexueller Leidenschaft“ scharf zu unterscheiden weiß
 (Geheeb 1914, S. 1242), aber das war offenbar ein sehr heikles Unterfangen, das
 mit der bewusst angestrebten „Nähe“ der Beziehung zwischen den Schülern und den
 Erwachsenen (ebd., S. 1241) nicht leichter wurde. [Das gilt gerade dann, wenn
„keine Heimlichkeiten“ gepflegt werden sollen (ebd.). Nähe macht zugleich
 abhängig.]
 Paul Geheeb hatte unter den Mitarbeiterinnen und älteren Schülerinnen immer
 Lieblinge. Der Umgang mit den Schülerinnen und Mitarbeiterinnen wird als
„übergriffig“ bezeichnet (Näf 2006, S. 182), wobei auch in der neueren Literatur
 unklar bleibt, wie weit diese Übergriffe gingen. [Geheebs „allzu große
 Aufdringlichkeit“ hat bei den Betroffenen offenbar durchaus Abwehr ausgelöst, aber
 was genau darunter vorgestellt werden muss, wird bis heute ausgeklammert.
 Bestritten wird, dass es sich um „direkte sexuelle Belästigung“ gehandelt hat, ohne
 dass die Grenzen im Umgang mit den Lieblingen genannt werden.]
 1914 beschrieb Paul Geheeb das Prinzip der „Familien“ in der Odenwaldschule. Sie
 müssen so organisiert sein, dass jedes Kind mindestens einen „erwachsenen
 Freund“ hat, „zu dem es Vertrauen“ findet. Zu ihm kommt es mit allen seinen
 Problemen, zumal jenen, die während der Pubertät auftreten. Ein solches
 Vertrauensverhältnis „unbedingter Offenheit zu einem verständnisvollen älteren
 Freude“ wird verstanden als „die einzige wirklich sichere Prophylaxis gegen
 schlimme Gewohnheiten auf sexuellem Gebiete“ wie auch gegen die Neigung, „sich
 unsauberen Empfindungen und Gedanken über geschlechtliche Dinge hinzugeben“
(Geheeb 1914, S. 1241).
 Der erfahrene und taktvolle Erzieher, so Geheeb, wird nicht nur in dieser Hinsicht „im
 rechten Augenblick den rechten Ton finden“ (ebd.). Das lässt sich auf ihn selbst
 anwenden. Die Quelle sind Briefe, die an Eltern und Schüler adressiert waren. Am 4.
 September 1930 schrieb Paul Geheeb einer Schülerin, die an eine staatliche Schule
 wechseln wollte, weil ihr das erste Jahr an der Odenwaldschule nicht viel gebracht
 hatte, dass dies die „kapitalste Dummheit“ wäre, die sie begehen könnte. Sie, die
 Schülerin, sei von ihrem Charakter her „ganz und gar egozentrisch und sozusagen
 von Natur aus asozial“; nur in der Odenwaldschule könne sie das „ABC ihrer
 Menschwerdung“ lernen (Geheeb 1970, S. 68/69).
 Der Mutter eines dreizehnjährigen Schülers, den er als „ungewöhnlich träge und
 phlegmatisch“ einschätzt, empfiehlt Geheeb „etwas mehr von der alten
 Dressurmethode“ (ebd., S. 92). [Ein anderer Schüler wurde fristlos entlassen, weil er
 seinen Eltern von Scharlacherkrankungen berichtet hatte und vorzeitig in die Ferien
 abreisen wollte (ebd., S. 93). In den Augen Geheebs hatte er damit die Schule in ein
 schlechtes Licht gerückt und war für die Gemeinschaft nicht mehr tragbar.]
 In einem weiteren Brief wurde einer Mutter geschildert, dass ihre dreizehnjährige
 Tochter auf einer Bahnfahrt mit Geheeb fremden Jünglingen Blicke zugeworfen und
 sich ihnen gegenüber „in ekelhaftem Grade herausfordernd“ benommen habe (ebd.,
 S. 94/95). Eine verwitwete Mutter muss in einem Brief lesen, es sei eine „nicht zu
 erschütternde Tatsache“, dass „ein einzelnes Kind in den Händen seiner verwitweten
 Mutter nicht gedeihen kann“ (ebd., S. 105). Wer das tue, könne nichts weniger als
„ein Verbrechen begehen“ (ebd., S. 106). Ihr Kind, schrieb Geheeb der Mutter,
 brauche Gemeinschaft, am besten die der Odenwaldschule.
 Paul Geheebs Persönlichkeit wird so beschrieben: Er war „gegen jede Art von Kritik
 immun“, ignorierte „skeptische Rückfragen und Einwände“ oder reagierte darauf „mit
 einer unendlichen Reihe von Rechtfertigungen“, unter der „jede Art von Diskussion
 erstirbt“. Dabei war es egal, ob es um sachliche Fragen ging oder um Beziehungen.
 Ein persönlicher Dialog war nicht möglich, das musste sogar seine Frau erkennen.
 Wenn er nicht als der über den Dingen stehende „Weise“ gesehen wurde, war das
 für ihn wie ein Zusammenbruch. „So sanft und leicht beeinflussbar Geheeb äußerlich
 erscheinen mochte, so hart und kalt konnte reagieren, wenn jemand diese Grenze
 nicht anerkannte“ (Näf 1998, S. 379). Also, er war ein Guru, den die heutige
 Erziehung sicher nicht benötigt.
 Begründungen, warum ausgerechnet „Eros“ das Leben in den
 Landerziehungsheimen prägen sollte, konnten in den zwanziger Jahren an
 verschiedenen Stellen gelesen werden (etwa: Dr. K.M. 1924). Meistens geschah das
 unter Rückgriff auf das griechische Konzept der platonischen „Knabenliebe“, die
 theoretisch von manifesten sexuellen Handlungen abgegrenzt wurde (ebd., S. 318).
 Nur so konnte von einem „pädagogischen Eros“ die Rede sein, der sich nicht gleich
 vom Begriff her verdächtig macht und als „notwendige Forderung einer wirklich
 modernen Erziehungsanstalt“ hingestellt werden kann, deren Ort einzig die
 Landerziehungsheime sein können (ebd., S. 319).
 Aber Missbrauchsfälle kamen in der verzweigten Szene der Landerziehungsheime in
 Deutschland immer wieder vor. Es waren nicht nur Gerüchte und auch nicht nur
 Begebenheiten, die vertuscht werden konnten. Manche Fälle wurden
 gerichtsnotorisch und von denen spielten einige in der Freien Schulgemeinde
 Wickersdorf, die von dem promovierten Philosophen und Schriftsteller Gustav
 Wyneken als Stätte der „geistigen Kultur“ und „sozialen Erziehung“ (Wyneken 1910,
 S. 31/32) konzipiert worden ist. Es sollte eine Art Ordensburg für die geistige Elite
 sein. Der pädagogische Eros und der Kult der Nacktheit spielten dabei eine
 entlarvende Rolle.
 Die offizielle Begründung war Prävention. In der medizinischen Fachliteratur wurden
 die Landerziehungsheime als besonders probates Mittel gegen sexuelle Lust und für
 eine Erziehung zur „Selbstbeherrschung“ betrachtet, zu der Nacktheit beitragen
 sollte. Einer der Besucher der Heime schrieb 1916: Nur Verhüllung erregt und
 deshalb bieten die Landerziehungsheime „den Schülern häufige Gelegenheit, sich
 bei Bad und Dusche nackt zu sehen, was die berechtigte natürliche Neugierde in
 solchen Dingen befriedigt und die Sinne beruhigt“ (Grunder 1916, S. 150). Ob die
 Kinder das wollten oder nicht, spielte keine Rolle.
 Die verzweigte Debatte über die „sexuelle Frage“ vor und nach dem Ersten Weltkrieg
 wird von den Gefährdungen her gedacht, allerdings nur im Blick auf die Kinder, nicht
 auf die Lehrer. Es gibt in den zahllosen Beiträgen zur neu erfundenen
„Sexualpädagogik“ nicht einen Hinweis, was gegen Verfehlungen und Übergriffe
 seitens der Lehrkräfte getan werden kann. „Sexuelle Perversitäten“ sind ein Thema
 allein für die Schüler, denen drastisch nahe gelegt wird, dass und wie sie dagegen
 ankämpfen müssen.
 1919 wurde Gustav Wyneken zum zweiten Male Leiter der Freien Schulgemeinde
 Wickersdorf. In diesem Jahr hatte die Schule 120 Schüler und beschäftigte 12
 Lehrkräfte. Wyneken ist im Laufe des Jahres von dem zwanzigjährigen Studenten
 und Hilfslehrer Kurt Hoffmann wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt worden.
 Wyneken stellte sich der Polizei, nachdem er zuerst [ins Ausland] geflohen war. Die
 Opfer waren der zwölfjährige Heinz Herrmann und der siebzehnjährige Viktor
 Behrens, beide Mitglieder von Wynekens „Kameradschaft“, also der Gruppe von
 Schülern, mit denen er zusammen lebte. Der Vorfall ist in den Gerichtsakten genau
 beschrieben und basiert auf den Aussagen der beiden Opfer. Wyneken ist dann auch
 verurteilt worden, wenngleich gefolgt von einer Amnestie, die offenbar politisch
 gemeint war.
 Von „erotischer Hörigkeit“ zweier anderer Schüler war schon vorher die Rede
 (Ebermayer 1982, S.112 ). Auffällig ist auch Wynekens ständige Agitation gegen die
 Institution der Familie, die er als pädagogisch überholt hinstellen konnte. „Eine
 gewissenhafte Erziehung“, schrieb er 1914, ist den Eltern „direkt ein Dorn im Auge“,
weil sie die Kinder moralisch machen würde, während die Eltern das Gegenteil
 bewirken. Familienerziehung sei nur „Noterziehung“ (ebd.); wohl dem Jugendlichen,
 dem „ein gütiges Geschick“ einen „Freund und Lehrer“ verleiht, der ihn in die „höhere
 Welt“ des Geistes einführt und ihn dadurch verwandelt (ebd., S. 20). Auch wer das
 als große pädagogische Tradition versteht, muss wissen, was er tut.
 Die soziale Konstruktion der Landerziehungsheime läuft auf eine Isolation der Familie
 hinaus und so auf das Regime einer bestimmten Pädagogik, die sich der öffentlichen
 Kontrolle entzieht und der sich die Kinder unterwerfen müssen. Sie wurden nicht
 gefragt, ob sie mit dem Regime der „neuen Erziehung“ einverstanden waren oder
 nicht, sondern sie mussten ihm folgen, im Namen einer „höheren“ Idee von
 Erziehung, die alles, was Eltern bieten können, weit in den Schatten stellen sollte. Zu
 dieser Idee gehörte auch die Nacktheit, die verordnet wurde und auf Scham keine
 Rücksicht nahm.
 Nacktheit war das Synonym für eine gesunde Erziehung, die „Körperkultur“ diente
 der Abhärtung und sie wurde männlich gedacht. In einer „tüchtigen Gemeinschaft“,
so Wyneken, werden sich die Mädchen nicht dem „Magnetismus ihrer männlichen
 Kameradschaft“ entziehen können. „Männlichkeit, Geradheit und Kraft“ werden sie
 lieb gewinnen, vielleicht noch ehe sie „einen Mann“ lieb gewinnen. Dem Knaben geht
 es im Blick auf den „Magnetismus der Männlichkeit“ ähnlich, nur ist er „im Vergleich
 zum Mädchen der weniger Abhängige“ (Wyneken 1914, S. 55). Die Lehrer konnten
 dabei den „pädagogischen Eros“ im Kopf haben. Zumindest einige von ihnen haben
 die zulässige Trennungslinie überschritten.
 Früh am Morgen war in Wickersdorf ein Dauerlauf angesetzt, der mit gymnastischen
 Übungen auf einer Waldlichtung verbunden war. Die Jungen waren nur mit einer
 Turnhose bekleidet und mussten den Lauf je nach Jahreszeit noch vor der
 Dämmerung antreten. Im Winter ließ die „Intensität der Gymnastik“ auch bei Frost
„kein Kältegefühl“ aufkommen, schreibt einer der Lehrkräfte (Ehrentreich 1967, S.
 93). Erreicht werden sollte damit eine „gute Haltung,“ die Abhärtung voraussetzte,
 gegen die sich die Schüler kaum wehren konnten. Anders wären sie Schwächlinge
 gewesen, was in einer männerbündischen Organisation einem Selbstausschluss
 gleichkommt.
 Für die morgendliche Gymnastik gab es eine Probezeit, der sich die neu
 eingetretenen Schüler unterziehen mussten. Die Übungen der Jungen leitete der
 Schulleiter Martin Luserke. Nach einem Vierteljahr ließ er sie „nach alter
 Germanenweise“, wie es heißt, ein Gelübde für einen gymnastischen Männerbund
 ablegen. Die Jungen mussten von einer Waldhütte aus einen Stein ins Tal werfen
 und dabei eine Eidesformel sprechen. Nur wer seinen Stein wiederfand, konnte in
 den Bund aufgenommen werden. „Wer also entschlossen ist, mit uns zu gehn“, sagte
 Luserke seinen Schülern, „der trete nackt vor die Berge dort drüben und werfe seinen
 Stein hinab“. Einer der kleinen Jungen fragte: „Ganz ausziehen?“. Luserke
 antwortete: „Natürlich, wir wollen uns doch kennen!“ (ebd., S. 94)
 Das Motiv von Abwehr und Selbstschutz der Landerziehungsheime zeigte sich früh.
 Am 25. November 1924 wurde beim Berliner Landgericht der Prozess gegen den
 Leiter eines Landerziehungsheims eröffnet, der Jahre lang Mitarbeiter von Hermann
 Lietz in Haubinda gewesen war. Diesem Mann wurde Gewalt gegen Schüler und
 sexueller Missbrauch in 75 Fällen vorgeworfen. 117 Zeugen sagten vor Gericht aus,
 zum Teil mehrfach, am Ende jedoch wurde der Angeklagte freigesprochen, trotz
 erdrückender Beweislast. Das Gericht hatte verschiedene Gutachter beauftragt,
 darunter auch Alfred Andreesen, den Oberleiter der Deutschen
 Landerziehungsheime (Kerchner 2003).
 Sein Gutachten (Andreesen 1926) grenzte die Praxis des Angeklagten einerseits
 scharf von der „modernen Erziehungskunst“ der Deutschen Landerziehungsheime ab
 und erklärte andererseits die Aussagen von 75 Kindern und Jugendlichen für
 unhaltbar und wertlos, auch weil es sich bei ihnen um „ausgesprochen schlechtes
 Schülermaterial“ gehandelt habe (ebd., S. 9). Die Praxis des ständigen Prügelns wird
 damit erklärt; man könne, so Andreesen, dem Angeklagten nicht nachweisen, „dass
 seine Prügelstrafen pädagogisch nicht motiviert waren“ (ebd.). Die Schuld wird
 verschoben: „Wenn Eltern verlangen, dass für ihr gutes Geld ihr missratener Sohn
 eine ‚höhere Bildung‘ erhält, sich aber über Prügel beklagen, so liegt hierin wohl eine
 unlösbare Antinomie“ (ebd.).
 Die Beispiele zeigen, dass die große Tradition der Landerziehungsheime in sich
 zusammen fällt, sobald man genauer hinschaut. Gilt das nun auch für die gesamte
 Reformpädagogik? Der deutsche Ausdruck „Reformpädagogik“ ist geprägt worden,
 um besondere „Bewegungen“ zu beschreiben, von denen behauptet wurde, sie
 hätten für entscheidende Modernisierungen gesorgt und müssten daher als
 herausgehobene Experimente verstanden und gewürdigt werden. Aber zum einen
 sah die Praxis immer anders als die Rhetorik der Heime und zum anderen lässt sich
 die Stilisierung der „Reformpädagogik“ als besondere Epoche nicht halten.
 Es gibt einfach eine permanente Reformpädagogik in der Schule selbst, die nicht von
 der Polemik lebt, sondern von der Problemlösung bestimmt wird. Zudem entstehen
 wirksame Reformen aus der Mitte des Systems und nicht am Rande. Der historische
 Grundprozess der Schulreform ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts die
 Verstaatlichung. Die „verwaltete Schule“ ist wohl der Lieblingsfeind der deutschen
 Reformpädagogik, die schon gegen die Bürokratie anschrieb, als es fast noch gar
 keine gab. Aber von der „neuen“ und „ganz anderen“ Erziehung konnte erst die Rede
 sein, nachdem die staatliche Entwicklungspolitik bestimmte Probleme gelöst hatte.
 Es ist wenig bekannt, dass die Verstaatlichung der Marktorganisation nachfolgte.
 Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es in den meisten deutschen
 Städten mehr private als öffentliche Schulen. Erst danach setzte eine
 flächendeckende Entwicklung des staatlichen Sektors ein, die innerhalb weniger
 Jahrzehnte das moderne Schulsystem aufbaute. Erst unter staatlicher Aufsicht war
 zunehmend Spielraum gegeben, das System weiterzuentwickeln. Gute Ideen und
 brauchbare neue Lösungen wurden im europäischen Umfeld überall adaptiert und
 dies nahezu zur gleichen Zeit, ohne sich auf das zu beschränken, was
„Reformpädagogik“ genannt wird.
 Schulgärten, Unterricht im Freien, Erlebnisaufsätze, Waldschulen, Sitzkreise,
 Schullandheime, kindgerechte Lesefibeln oder versenkbare Wandtafeln sind
 Errungenschaften einer anhaltenden Schulentwicklung, die aus der Mitte des
 Systems vorangetrieben wurde und die zahllose Namen kennt, ohne dass diese
 heute noch hervorgehoben werden. Das gilt auch für die Schulhygiene, die
 medizinische Betreuung durch eigene Schulärzte, die Einrichtung von
 Schulbibliotheken und Lesehallen, die naturkundlichen Sammlungen, den Unterricht
 in Realien und die allmähliche Ablösung des geometrischen Zeichnens durch
 neuartigen Kunstunterricht.
 Die Einführung von Jahrgangsklassen war ebenso ein Reformdatum wie die
 Abschaffung des erhöhten Lehrerpultes und die Gruppierung der Schüler in
 Hufeisenform statt in militärischen Zweierreihen. Wandkarten sorgten für eine
 Erweiterung des Unterrichts über das Lehrbuch hinaus[, die Unterscheidung
 zwischen Lehrmitteln für die Schüler und Handbüchern für die Lehrkräfte gibt es seit
 Mitte des 19. Jahrhunderts]. Die Abschaffung der mechanischen Rezitation und die
 Loslösung von der Katechese waren vermutlich die zentralen Ereignisse einer
 langgestreckten inneren Schulreform, die das Lernen der Schülerinnen und Schüler
 grundlegend verändert hat.
 Der lange Kampf gegen das Schulgeld gehört zur Reformpädagogik der Schule
 ebenso wie die Durchsetzung der Ganzjahresbeschulung, die Aufhebung der
 Einklassenschulen oder die professionelle Gleichstellung der Lehrerinnen und Lehrer
 und so die Beseitigung des pädagogischen Zölibats. Koedukation ließ sich auf breiter
 Basis nur mit staatlichen Schulen durchsetzen und die egalitäre Mädchenbildung trug
 wesentlich zur Schrumpfung des Privatschulmarktes bei. Schließlich entfielen auch
 die konfessionelle Schulaufsicht und die christlichen Bekenntnisschulen, die
 Gymnasien verloren ihre Vorschulen, die Präparandenanstalten für die Lehrerbildung
 verschwanden und seit 1945 gibt es in Deutschland kein eigenes Militärschulwesen
 mehr.
 So gesehen lag – und liegt – die „Reformpädagogik“ in der Mitte des Systems und ist
 nicht die große und am Ende gar die einzige Alternative, die bis heute immer wieder
 behauptet wird. Aber es geht bei der Schulentwicklung einfach um die Suche nach
 besseren Problemlösungen und nicht um eine pädagogische Mission. Und damit
 sollte man es bewenden lassen.
Dr. Steffen Schlüter: Lernen und Leben im Sinne des Kindes . Warum die Reformpädagogik nicht zu Ende ist
SWR2 AULA - >>
 Autor und Sprecher: Dr. Steffen Schlüter *
 Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
 Sendung: Sonntag, 20. Juni 2010, 8.30 Uhr, SWR 2
 Bitte beachten Sie:
 Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
 Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
 Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
 ÜBERBLICK
 Das Ziel der Reformpädagogik ist Kinder vor autoritären Erwachsenen zu schützen
 Im Zuge der nach und nach ans Licht gekommenen Missbrauchsfälle und -vorwürfe, 
 die besonders die Odenwaldschule betreffen, ist eine öffentliche Diskussion entstanden 
 über das Für und Wider der Reformpädagogik, über die Frage, ob diese Richtung nicht 
 viele Systemfehler aufweist, die dann zum sexuellen Missbrauch geführt hätten. 
 Doch die Reformpädagogik kann man nicht so einseitig beleuchten, 
 es geht in ihr auch um so etwas wie ein Rousseausches Ideal, das zum Ziel hat, 
 die Kinder gerade vor dem autoritären Erwachsenen zu schützen, um ihre Selbstentfaltung 
 zu ermöglichen. Steffen Schlüter vom Institut für Erziehungswissenschaft der 
 Universität Koblenz-Landau zeigt diese wichtige Tradition der Reformpädagogik.
 * Zum Autor:
 Dr. Steffen Schlüter, geb. 1966, studierte Archivwissenschaften, Geschichte
 und Philosophie in Berlin und promovierte 1999 im Fach Philosophie. Bis 2004
 war er Lehrbeauftragter an der HU Berlin und den Universitäten in Jena und
 Flensburg und wechselte dann an die Universität Koblenz-Landau (Campus
 Landau), wo er am Institut für Erziehungswissenschaften lehrt. Seine
 Arbeitsschwerpunkte sind: Geschichte der Philosophie und Pädagogik 18.-20.
 Jahrhundert, Ethik, Pädagogik, Anthropologie im deutschen Idealismus und
 Realismus und im amerikanischen Pragmatismus und Philosophien der
 Demokratie.
 Bücher/Publikationen des Autors (Auswahl):
- „Individuum und Gemeinschaft. Sozialphilosophie im Denkweg und im System
 von Charles Sanders Peirce“. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000.
- „Philosophie – Pädagogik – Wissenschaft. Neue Beiträge zur
 Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“. Hrsg. mit Alfred
 Langewand. (Themenheft „Pädagogische Rundschau“, Heft 1, Bd. 62, Januar-
Februar 2008).
 Weiterführende Literatur:
- Eichelberger, Harald/Laner, Christian (Hrsg.): Zukunft Reformpädagogik. Neue
 Kraft für moderne Schule. Innsbruck u.a. 2007.
 - Kamp, Johannes-Martin: Kinderrepubliken. Geschichte, Praxis und Theorie
 radikaler Selbstregierung in Kinder- und Jugendheime. Opladen 1995.
- Skiera, Ehrenhard: Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart. Eine
 kritische Einführung. München 2010.
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 INHALT
 Ansage:
 Heute mit dem Thema: „Lernen und Leben im Sinne des Kindes – Warum die
 Reformpädagogik nicht zu Ende ist.“
Im Zuge der ans Licht gekommenen Missbrauchsfälle gerade an der
 Odenwaldschule, wird öffentlich und kontrovers über die Frage diskutiert, ob die
 Reformpädagogik damit nicht ans Ende gekommen sei, ob sie nicht ein System
 sei, das auf falschen Voraussetzungen basiere, etwa auf einem viel zu intimen
 Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, auf hermetischer Abgeschlossenheit
 gegenüber der Gesellschaft.
 Der Erziehungswissenschaftler Steffen Schlüter von der Universität Koblenz-
Landau, verneint diese Fragen. Er meint: Es gibt eine reformpädagogische
 Tradition, die sich erstens am Kind orientiert und die zweitens in keiner Weise
 verantwortlich gemacht werden kann für sexuellen Missbrauch, also für ein
 pervertiertes Schüler-Lehrer-Verhältnis, für einer krude Theorie des
 pädagogischen Eros.
 In der SWR2 Aula beruft sich Schlüter bei seiner Argumentation auf zwei
 wichtige Repräsentanten der Reformpädagogik.
 Steffen Schlüter:
 Das überlieferte Merkmal reformpädagogischer Schulen seit ihrer Entstehung
 ist eine Pädagogik vom Kinde aus. In staatlichen Schulen dagegen müssen
 traditionell Lernen und Erziehung im Interesse der gesamten Gesellschaft an
 erster Stelle stehen. Heute wirken im öffentlichen Schulwesen beide Merkmale
 konkret zusammen. In der Praxis existiert dennoch fraglos eine Alternative.
 Reformpädagogische Schulen folgen heute nicht einfach subjektiven
 Vorurteilen. Zu ihren Voraussetzungen gehören Kritiken gegenüber staatlichen
 Schulen sowie alternative Konzepte des Unterrichts und der Erziehung. Sie sind
 weder leistungsschwach, noch randständig oder undemokratisch.
 Reformpädagogik rechtfertigt keinen Missbrauch von Kindern, sondern
 Erziehung und Unterricht vom Kinde aus. Ihm soll die Möglichkeit für seine freie
 Entwicklung gegeben werden. Alternative Schulen stehen nicht außerhalb von
 Gesellschaft und Staat, sondern kommen Eltern entgegen, welche negative
 Erlebnisse ihrer Kinder an einzelnen staatlichen Schulen erfahren haben.
 Eine Verkennung gesellschaftlicher Wirklichkeit wäre es daher heute, wenn
 erstens alternative gegenüber staatlichen Schulen unter dem Leistungskriterium
 abgewertet werden, denn Reformschulen messen Qualität des Unterrichts zwar
 scheinbar oder vordergründig weniger an kognitiven Leistungen, jedoch
 verstehen sie lediglich die Lebensqualität im Unterricht und in der Schule als
 Voraussetzung für körperliches sowie emotionales Wachstum, und dieses als
 Bedingung normaler kognitiver Leistungsentwicklung; wenn zweitens staatliche
 und alternative Schule pauschalisierend entgegengesetzt werden; und wenn
 drittens die Wünsche von Eltern und Lehrern nach alternativen Schulen
 unterschätzt werden.
 Die gegenwärtige Reformpädagogik geht aus einer historischen Entwicklung
 hervor. Um 1900 entstand eine Kritik an alter Schule und Unterrichtsmethodik.
 Sie richtete sich konkret gegen frontalen Unterricht, autoritäre Lehrer, einseitige
 Bildung des Intellekts, Lehrbücher, starre Lehrpläne, emotionale Distanz oder
 Missachtung der individuellen Gefühle und Neigungen eines Kindes.
 Die Schule, hieß es, zerstöre Kinder, mache sie krank, unglücklich, zu Sklaven
 einer den einzelnen Menschen verachtenden, autoritären Gesellschaft. Manche
 Formulierungen wirken heute übertrieben, doch vor hundert Jahren waren
 Rohrstock in Familien und Schulen, Lohnsklaverei in Fabriken und
 Bürohäusern, Heldentod auf Schlachtfeldern, Hunger und anderes
 Massenelend durch Gesellschaft, Erziehung und Unterricht soziologisch
 programmierte Entwicklungsziele für viele, vor allem für viele nicht privilegierte
 Kinder der damaligen Zeit.
 Antiautoritär zu unterrichten und zu erziehen, um sich dadurch zugleich auch
 gesellschaftskritisch zu verhalten, sollte damals einfach damit beginnen, auf
 Gewaltanwendung zu verzichten und einem Kind keine Angst einzuprügeln.
 Keine Furcht einzujagen wirkte schon wie ein erster Schritt, ein Kind lieben zu
 lernen und ihm dadurch mehr gesundes Selbstvertrauen für sein späteres
 Leben zu ermöglichen. Sein Verhalten galt nicht bloß als Ausdruck eines
 unausgebildeten Intellekts, sondern vor allem eines Menschen mit eigenen
 emotionalen Bedürfnissen.
 Seit Ende des 19. Jahrhunderts gründeten Reformpädagogen zahlreiche neue
 Schulen, Internate und Heime. Diese Einrichtungen sind es vor allem, die
 seither als Geschichte der Reformpädagogik bekannt sind. Seit den 70er
 Jahren entsteht neben den reformpädagogischen eine Vielzahl freier
 alternativer Schulen. Gemeint sind Einrichtungen mit besonderer
 pädagogischer Prägung. Diese gehen häufig aus Elterninitiativen hervor,
 verwenden reformpädagogische Vorlagen und verstehen sich ebenfalls als
 Alternative zu staatlichen Schulen. Seit mehr als hundert Jahren ist diese
 reformpädagogische Bewegung keine typisch deutsche, sondern eine
 internationale Bewegung.
 Der Einfluss internationaler Reformpädagogik gehört auch zu den
 Entstehungsfaktoren deutscher Bildungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. In
 Begründungen der Alliierten für das Reeducation-Programm in den westlichen
 Besatzungszonen hieß es 1946 auf Seiten der Amerikaner, dass eine
 demokratische Regierungsform auf Dauer nicht ohne eine demokratische
 Lebensform existieren könne.
 Da in der deutschen Gesellschaft, hieß es damals weiter, eine demokratische
 Lebensform in der Zeit der Weimarer Republik instabil, sowie unmittelbar nach
 dem Zweiten Weltkrieg wenig verbreitet war, sollte die zukünftige Entwicklung
 einer demokratischen Lebensform in der deutschen Gesellschaft durch Bildung
 an den Schulen gefördert werden. 1946 hieß es auch, die Deutschen würden
 glauben, Demokratie sei primär eine Regierungsform, doch in viel höherem
 Maße sei sie aber eine Lebensform.
 Interessanterweise beinhaltet diese damalige Argumentation auf Seiten der
 Amerikaner eine gewisse Entgegensetzung zwischen demokratischer Bildung in
 der Schule und Lebensformen in der Gesellschaft, einschließlich einer
 verständlichen Kritik dieser Lebensformen. Diese Argumentation überrascht
 nicht, da sie an dieser Stelle im Geiste der Reformpädagogik des Amerikaners
 John Dewey geschrieben wurde.
 Seit rund 20 Jahren nun erscheinen wissenschaftliche Darstellungen über die
 Geschichte der Reformpädagogik mit kritischen Interpretationen. Die Gründe
 der Kritik liegen in irrationalen Rettungsphantasien bei einigen
 Reformpädagogen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
 Der Titel beispielsweise eines Buches der schwedischen Schriftstellerin Ellen
 Key „Das Jahrhundert des Kindes“ aus dem Jahre 1900, wurde damals zu
 einem Schlagwort der Reformpädagogik. In diesem Buch jedoch entwickelte
 Key auch Vorstellungen, wie mit Hilfe der Eugenik die Höherentwicklung der
 Menschheit stattfinden könne. Sie schlägt in ihrem Buch u. a. vor, dass man
 psychisch oder physisch unheilbar kranke Kinder einem schmerzlosen Tod
 zuführe.
 Solche und ähnliche Vorstellungen sind nicht relativierbar, ihre Kritik ist fraglos,
 auch wenn sie Erscheinungen der damaligen Zeit gewesen sind, deren
 menschenverachtende Konsequenzen sich jedoch spätestens in den Diktaturen
 des 20. Jahrhunderts zeigten. Man kann die Reformpädagogik angesichts
 solcher Pseudovisionen nicht dadurch rechtfertigen, indem man sie von diesen
 zu reinigen versucht.
 Worum es aber seit 20 Jahren in der wissenschaftlichen Diskussion über
 Reformpädagogik geht ist keine Begründung für ihr Ende. Vielmehr tendieren
 die Untersuchungen eindeutig zu ihrer Weiterentwicklung unter den
 gesellschaftlichen Bedingungen von heute.
 In neueren Darstellungen zur Geschichte der Reformpädagogik wird die
 Erziehung vom Kinde aus als gemeinsame Überzeugung ihrer Vertreter
 hervorgehoben. Kinder sollen sich nach dieser Auffassung frei entwickeln und
 im Unterricht selbsttätig lernen können. Verwiesen wird hierbei zur Erläuterung
 beispielsweise auf das vom polnischen Reformpädagogen Janusz Korczak in
 den 20er Jahren formulierte „Recht des Kindes auf Achtung“. Ein Kind habe das
 Recht, von Erwachsenen auch als Mensch respektiert zu werden. Es ist zwar
 nicht erwachsen, doch deshalb kein unvollständiger Mensch.
 Dieses Recht führt jedoch nicht nur zur Schlussfolgerung, das Kind frei
 wachsen oder gewähren zu lassen. Pädagogik vom Kinde aus heißt nicht nur
 Unterstützung eines Heranwachsenden zur Entfaltung seiner Freiheit, sondern
 auch zur Entwicklung seiner Achtung gegenüber der Freiheit anderer Kinder
 und der Erwachsenen. Korczak betonte daher, dass die Umsetzung des Rechts
 des Kindes auf Achtung an einer neuen Schule von der Einrichtung einer
 Versammlung und eines Gerichts von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen
 abhängt.
 Auch Ellen Key entwickelte 1900 keine Pädagogik vom Kinde aus, die als
 Plädoyer für eine „laissez faire“-Erziehung zur egoistischen Isolierung
 gegenüber dem gesellschaftlichen Leben interpretiert werden müsste.
 Sucht man ein reformpädagogisches Ideal von Key, so könnte hierfür ihr
 folgendes Zitat dienen: „Das Kind nicht in Frieden zu lassen, das ist das größte
 Verbrechen der gegenwärtigen Erziehung gegen das Kind. Dahingegen wird
 eine im äußeren sowie im inneren Sinne schöne Welt zu schaffen, in der das
 Kind wachsen kann, es sich darin frei bewegen zu lassen, bis es an die
 unerschütterliche Grenze des Rechts anderer stößt, das Ziel der künftigen
 Erziehung sein.“
Key ging es also nicht darum, Kinder bloß wachsen oder gewähren zu lassen.
 Stattdessen ist eine Umgebung zu gestalten, in der sie sich zwar frei von der
 Autorität der Erwachsenen entfalten, jedoch auch lernen können, ihre eigene
 Freiheit in Übereinstimmung mit der Freiheit anderer zu leben.
 Diesen Gedanken, dass ein Kind lernen könne, freiwillig sein Leben in Freiheit
 zugleich in Übereinstimmung mit der Freiheit anderer zu führen, versuchten
 damals viele Reformpädagogen praktisch zu verwirklichen.
 Im Folgenden werden zwei Vertreter aus der Geschichte der Reformpädagogik
 vorgestellt: John Dewey und Alexander Neill. Hierbei geht es um konkrete
 Theorie und Praxis aus traditionellen Perspektiven der Reformpädagogik, denn
 aufgrund solcher konkreten Perspektiven wird künftig mit zu entscheiden sein,
 ob Missbrauch von Kindern tradierte Reformpädagogik ist oder ob eventuell
 Pseudovisionäre in der Vergangenheit und Gegenwart diesen Missbrauch
 reformpädagogisch zu legitimieren versucht haben.
 John Dewey beteiligte sich von 1896 bis 1904 an einer reformpädagogischen
 Laborschule an der Universität von Chicago. Er selbst war zu dieser Zeit
 Universitätsprofessor und Mitbegründer dieser Schule, die später als Dewey-
Schule bezeichnet worden ist. Die Laborschule gestalteten aber zunächst ihre
 Lehrerinnen. Erst durch Reflexionen über pädagogische Erfahrungen an der
 Laborschule entstand das Schulkonzept von Dewey.
 Bildung verstand er als demokratisches Losungswort. Ihr konkretes Ziel sollte
 das individuelle Glück sein. Damit meinte Dewey die Übereinstimmung
 zwischen den natürlichen Interessen eines Menschen und den
 gesellschaftlichen Erwartungen institutionalisierter Berufstätigkeit. Für diese
 Bildungsaufgabe versuchte er, eine Schule der Zukunft zu konstruieren.
 Aus seiner Sicht mussten damals für den Aufbau einer solchen Einrichtung vier
 grundlegende Probleme gelöst werden: erstens eine Verbindung der Schule mit
 dem Leben des Kindes; zweitens eine Sammlung von Lehrstoffen, die einen
 sinnvollen Wert für die Entwicklung des Kindes beinhalten; drittens die
 Umstände und Erfahrungen eines Kindes aus seinem alltäglichen Leben als
 Grundlage des Schulunterrichts; und viertens Förderung der individuellen
 Entfaltung jedes Schülers.
 Der Unterricht in der Schule müsse in Verbindung stehen mit dem
 gesellschaftlichen Leben. Das Ziel aber sollte keine Unterwerfung gegenüber
 sozialen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt sein. Schüler entwickeln
 stattdessen eine pragmatische Intelligenz, mit der sie selbständig ihre
 Wechselwirkung zwischen der eigenen Freiheit und der gesellschaftlichen
 Umwelt gestalten lernen. Ausgangspunkt hierfür im Unterricht ist daher nicht
 der Lehrstoff, sondern die persönliche außerschulische Erfahrungswelt der
 Kinder.
 Schüler lernen weiterhin mit dieser Voraussetzung im Unterricht Lehrinhalte, die
 sie in ihrem Leben außerhalb der Schule anwenden können. Die Erfahrung
 eines Kindes also, durch Unterricht sein außerschulisches Leben qualitativ
 erfolgreicher gestalten zu können, ist seine innere Motivation zu Leistungen in
 der Schule. Sinn des Lernens ist dadurch schon von Anfang an, zukünftig als
 Erwachsener eine glückliche Berufstätigkeit innerhalb sozialer Arbeitsteilung
 der Gesellschaft auszuüben.
 Zur inneren Leistungsmotivation gehört diszipliniertes und gemeinsames
 Lernen. Dewey begründet das mit alltäglich beobachtbaren und
 wissenschaftlich erkennbaren Bedürfnissen von Heranwachsenden.
 Kinder beschäftigen vier natürliche Bedürfnisse: Erstens sind sie von Natur aus
 gesellig, möchten sich mitteilen, über ihre Erfahrungen und Gedanken
 sprechen, sich mit anderen austauschen. Um sinnvolle Gedanken handelt es
 sich für sie dann, wenn sie empfinden, dass es auch ihre Gedanken sind und
 nicht die eines Lehrers, der passives Zuhören und Einpauken von Lehrstoff
 verlangt. Zweitens zeigen Kinder ein natürliches Verlangen, etwas zu
 entdecken, also zu forschen. Drittens möchten sie durch Arbeit selbst etwas
 herstellen. Viertens zeigen sie den Wunsch, kreativ tätig zu sein.
 Diese Darstellung von vier Bedürfnissen beschreibt natürliche Antriebe zu
 individueller und sozialer Selbsttätigkeit von Kindern. Sie sind durch ihre
 Selbsttätigkeit motiviert, die Welt gemeinsam mit anderen zu erfahren und zu
 lernen. Der Lehrer braucht sie nur indirekt durch anregende Lernumgebungen
 für Richtungen zu interessieren, die Kinder in ihrer freien Entwicklung
 unversehrt weiterführen. Selbsttätigkeit soll pädagogisch in Richtungen geführt,
 jedoch nicht durch Aufforderung oder Autorität erzwungen werden. Kinder
 lernen dann schrittweise, selbst zu entscheiden, um Intelligenz, verbunden mit
 Verantwortung für die Folgen eigener Handlungen, zu entwickeln.
 Schüler erlernen eine solche Intelligenz durch gemeinsame praktische Arbeit im
 Unterricht. Hier geht es nicht darum, beliebige praktische Vorhaben zu
 inszenieren, sondern Schüler sollten diese vorschlagen oder darüber
 entscheiden. Andernfalls ist praktischer Erfahrungsunterricht von Beginn an
 langweilig.
 Eltern, Lehrer und Schulverwaltung gestalteten damals gemeinsam an der
 Laborschule ein Zusammenleben und einen Unterricht, in denen sich die
 Schüler glücklich, d. h. normal, entwickeln sollten. Hierfür ist nicht Konkurrenz,
 sondern Zusammenarbeit unter den Kindern Voraussetzung. Das galt auch für
 die Lehrer. Sie konnten individuell über Methoden und Material ihres Unterrichts
 entscheiden. Sie bereiteten den Unterricht durch eine an ihren Kindern
 orientierte, effektive und flexible Planung vor. Jede Woche gab es ein formelles
 Treffen und täglich informelle Absprachen unter den Lehrern, wo man sich über
 Ergebnisse im Unterricht gegenseitig austauschte. Im Mittelpunkt der
 Gespräche standen stets Entwicklungen einzelner Kinder. Jeder Lehrer konnte
 im Grunde jeden Schüler unterrichten. Die Kinder suchten sich entsprechend
 ihren Interessen die Lehrer selbst aus.
 Von Beaufsichtigung der Lehrer durch Inspektoren, Ursache vieler Fehler an
 Schulen, hielt Dewey nichts. Als wichtige Voraussetzungen für erfolgreiche
 Lehrer nannte er einerseits die Freiheit eines Lehrers und andererseits seine
 Mitverantwortung für jedes Kind gegenüber Eltern und Kollegen. Lehrer
 müssten so unabhängig sein wie Hochschullehrer. Dewey als
 Universitätsprofessor war an der Laborschule formell nur ein Kollege neben
 anderen.
 Die Kinder der Schule wurden nach deren Interessen, sowie nach ihrer
 Sozialverträglichkeit untereinander entsprechend ihres altersgemäßen
 Entwicklungsstandes eingeteilt, also nicht formal nach Jahrgängen. Diese
 Einteilung ersetzte die Selektion nach Schulnoten. Die Leistungen der Schüler
 wurden durch kein Ranking miteinander verglichen. Den Unterricht gestaltete
 man so, dass den Kindern ihr Erfolg oder Misserfolg selbsttätig bewusst werden
 konnte. Für jeden Schüler gab es außerdem irgendetwas, worin er besonders
 gut und erfolgreich war. Selten baten Kinder von sich aus um Noten, um ihren
 Leistungsstand nach außen zu objektivieren. Entscheidend blieb für die Schüler
 ihre Freiheit und Freude im Unterricht.
 Es gab Wochen- und Tagespläne. Das Lehrerkollegium gestaltete die Zeiten
 und allgemeinen Ziele für einzelne Fächer. Entscheidend hierbei war der
 Ausgleich zwischen intellektuellen und handwerklichen Tätigkeiten im
 Unterricht.
 So sah beispielsweise der Plan für die neun- bis zwölfjährigen Schüler vor, dass
 sie rund 23 Stunden in der Woche oder 4 ½ Stunden täglich Unterricht hatten.
 Die Fächer hießen Geschichte, Geographie, Wissenschaft, Technik, Kochen,
 Wirtschaft, Kunst, Musik, Turnen und moderne Sprachen. Zum wichtigen
 Bestandteil des Schulprogramms gehörten auch Exkursionen. Die konkreten
 Inhalte des Unterrichts planten Schüler und Lehrer am Beginn stets
 gemeinsam. Hierbei ging es den Lehrern grundsätzlich immer um die konkreten
 Interessen ihrer Schüler.
 Eine Schule der Zukunft sollte nach Dewey reich ausgestattet sein. Dazu
 gehören Werkstätten, Sammlungen, Garten- und Parkanlagen, Küche,
 naturwissenschaftliche Laboratorien, Bibliothek, Räume für Musik und
 darstellende Künste. Daneben sollten verschiedene Materialien wie Holz,
 Metall, Musikinstrumente, Kostüme, Theaterkulissen u. v. a. zur Verfügung
 stehen.
 Weiterhin dürfte nach Dewey eine Schülergruppe nicht mehr als zehn Kinder
 umfassen. Der Unterricht sollte sehr familiär erfolgen, damit Kinder gern zur
 Schule gehen und dort glückliche Stunden verbringen können. Von
 Bedürfnissen der Kinder ausgehende emotionale Beziehungen im Schulleben
 sind Voraussetzung für eine freiwillige oder normale Leistungsbereitschaft der
 Schüler im Unterricht.
 Durch Spiel und Arbeit entwickeln sie Erfahrungen, Gespräche, soziales
 Handeln, Wissen, Intelligenz, Leistung, Talente sowie gemeinsame
 Verantwortung für Misserfolg oder Erfolg. Verstärkung der Lernleistungen
 entstehen hier nicht durch äußere Anreize zu Egoismus und Konkurrenz,
 sondern durch äußere Veranlassung innerer Antriebe zu Individualität und
 Hilfsbereitschaft gegenüber Schwächeren.
 Mittelpunkt des Lernens sollte eine Schulbibliothek sein. Sie ist weniger ein
 Raum für einsame Leser, sondern ein Ort für Gespräche zwischen Schülern
 über interessante Fragen. Bücher werden nicht als Lernmittel abgelehnt,
 sondern als vom Lehrer vorgeschriebene Lehrmittel. Kinder arbeiten dann nicht
 nur beim praktischen Lernen mit Dingen gern zusammen, sondern auch beim
 theoretischen Lernen über Büchern.
 Dewey verstand also demokratische Bildung vom Kinde aus als Gegensatz zum
 Eintrichtern des Lehrstoffs vom Lehrer aus. Unterricht soll zur Entwicklung
 eigener Gedanken durch das Kind führen. Etwas anderes zu versuchen
 tendiere zur Dressur und Konditionierung eines Sklaven. Zur Erläuterung eines
 Sklaven bezog sich Dewey auf Platon: „Platon spricht vom Sklaven als von
 einem Menschen, welcher in seinen Handlungen nicht seine eigenen Ideen
 ausdrückt, sondern die eines anderen.“
In diesem Zitat hatte Dewey, wie er weiter ausführte, konkret das Bild eines
 Arbeiters an einer Maschine vor Augen. Die Maschine ist nicht das Problem,
 sondern die Fremdbestimmung eines Menschen. Ein Arbeiter funktioniere
 damals meist nur als Teil der Maschine. Dewey verstand Fremdbestimmung als
 etwas Charakteristisches für die Qualität der Arbeit in modernen
 Gesellschaften.
 Einseitige Dienstleistung für die Gesellschaft war Deweys Schule nicht.
 Demokratische Bildung sollte der Passivität entgegen wirken, der
 Gleichgültigkeit von Menschen gegenüber den Folgen ihres Handelns für die
 Freiheit anderer. Die Passivität aber schadet vor allem dem Einzelnen selbst.
 Lernen vom Kinde aus soll einen Menschen befähigen, später den richtigen
 Beruf zu finden, um glücklich leben zu können. Bei Dewey heißt es:
„Herauszufinden, wozu einer geeignet ist, und ihm die Möglichkeit geben, dies
 zu tun, ist der Schlüssel zum Glück. Nichts ist tragischer, als seinen wahren
 Lebenslauf zu verfehlen oder zu entdecken, dass man durch den Zwang der
 Umstände in einen unpassenden Beruf geraten ist.“
Nach Dewey also sollte ein Kind lernen, sich später nicht bloß dem
 Arbeitsmarkt anzupassen, sondern seinen individuell passenden Beruf zu
 finden, der seinen Interessen entspricht. Zwang der Umstände, der sonst das
 Unglück für einen Einzelnen soziologisch vorbestimmen kann, beginnt in der
 Schule, wenn ein Kind dort unfrei durch Lehrer fremdgesteuert lernen lernt. Ein
 nicht vom einzelnen Schüler ausgehender Unterricht sei undemokratisch, weil
 er Menschen dazu dressiert, sich später unfrei beruflichen Erwartungen
 anzupassen und damit erheblich unglücklich zu machen.
 Erziehung ist nach Dewey eine soziale Funktion der Gesellschaft, weil es um
 das Glück des Einzelnen im sozialen Leben geht. Eine schlechte Lebensqualität
 im Unterricht mindert nicht nur die Leistungsbereitschaft der Kinder, sondern
 behindert später ihre persönliche Lebensqualität und die in der Gesellschaft
 insgesamt. Außerdem lernen sie Freiheit im und Verantwortung für ihr Leben zu
 trennen. Die Demokratie in der Gesellschaft und das Glück für einen Einzelnen
 sollte man daher nicht soziologisch dual, d. h. ohne Zusammenhang,
 betrachten.
 Ein Element demokratischer Erziehung jedoch thematisierte Dewey für seine
 neue Schule damals kaum, nämlich die Selbstregierung in Schulen. Hierfür ist
 eine andere Einrichtung ein wichtiges Vorbild geworden:
 Die 1921 von Alexander Neill gegründete, bis zu seinem Tod 1973 geleitete und
 heute weiterhin arbeitende Summerhill-Schule aus Großbritannien ist vermutlich
 die berühmteste Schule mit demokratischer Selbstverwaltung von Kindern,
 Jugendlichen und Erwachsenen. Neill bezeichnete diese Form als den
 Schlüssel zu jeder am Kind orientierten Erziehung. In Summerhill werden auf
 einer wöchentlichen Schulversammlung die internen Probleme des
 Zusammenlebens besprochen und wenn notwendig durch gemeinsame
 Beschlussfassungen neu geregelt. Schüler und Erwachsene diskutieren
 gleichberechtigt und haben jeweils eine Stimme.
 Nach Neill könne man den erzieherischen Wert der direkten demokratischen
 Selbstverwaltung einer Schule nicht hoch genug bewerten. Wenn eine
 antiautoritäre Erziehung ohne die Autorität von Erwachsenen möglich bleiben
 soll, dann ginge das nicht ohne die Autorität von Regeln, die durch eine
 Schulversammlung beschlossen worden sind. Verzichtet man auf dieses
 Gremium, dann würde antiautoritäre Erziehung nicht zur Freiheit führen,
 sondern zur Zügellosigkeit von Kindern und Jugendlichen und zum Egoismus
 bei Erwachsenen. Aus Neills Sicht hätte das die antiautoritäre Erziehung der
 68er-Bewegung damals nicht verstanden.
 So überrascht es nicht, dass VertreterInnen aus der 68er antiautoritären
 Erziehungsbewegung Neill Anfang der 70er Jahre vorwarfen, er würde seine
 Kinder zur Anpassung an die bestehende Gesellschaft erziehen, so dass sein
 Summerhill-Konzept für eine antiautoritäre Erziehung nicht in Frage käme.
 Neills Pädagogik beabsichtigt in der Tat keine Erziehung zur sozialistischen
 Revolution, sondern zur demokratischen Freiheit.
 Zur Freiheit eines Kindes formulierte Neill zwar einfache, aber auch klare
 pädagogische Vorstellungen. An verschiedenen Stellen heißt es hierüber bei
 ihm: „Leben nach eigenen Gesetzen, das ist das Recht des Kleinkindes auf
 freie Entfaltung, ohne äußere Autorität in seelischen und körperlichen Dingen.
… Es ist falsch, irgend etwas durch Autorität zu erzwingen. Das Kind sollte
 etwas so lange nicht tun, bis es selbst überzeugt ist, dass es das tun sollte.“
Aber Freiheit heißt eben auch, „tun und lassen zu können, was man mag,
 solange die Freiheit der anderen nicht beeinträchtigt wird. … Ein Mensch ist …
nicht nur er selbst. Er ist eine Kombination aus allen Menschen, mit denen er zu
 tun gehabt und von denen er viele Wertbegriffe übernommen hat.“
Neill meinte, man müsse besonders kleinen Kindern ein Leben nach eigenen
 Gesetzen ermöglichen. Sie sollten sich seelisch und körperlich frei entfalten
 können. Das bedeutet jedoch nicht, in der nachfolgenden Entwicklung ein
 Leben ohne Grenzen zu lernen. Sondern ältere Kinder und Jugendliche
 müssten lernen, untereinander und auch gegenüber Erwachsenen die eigene
 Freiheit mit der Freiheit anderer Menschen zu verbinden.
 Der Ort, wo Kinder und Jugendliche in der Schule das gemeinsam mit
 Erwachsenen üben können, ist nach Neill die Schulversammlung. Hier lernt ein
 Heranwachsender seine Bedürfnisse und Überzeugungen zu vertreten, über
 Gegensätze mit anderen zu diskutieren, um dadurch gemeinsam Regeln zu
 entwickeln, die für betreffende oder alle Schüler und Pädagogen gleichermaßen
 verbindlich sein sollen.
 Die demokratische Schulversammlung war für Neill also ein antiautoritäres
 Erziehungsmittel, durch welches Schüler demokratische Lebensform lernen
 können. Sie üben hier ihre Konflikte untereinander und mit Pädagogen durch
 Diskussion, Perspektivenwechsel, Verständnis und Übereinkunft zu lösen, sich
 freiwillig der Autorität gemeinsamer Regeln unterzuordnen, also nicht der
 Autorität einer Person.
 Die Zuneigung eines Pädagogen besonders zu Kindern in der Schule war für
 Neill von entscheidender Bedeutung. Ein Kind zu lieben hieß für Neill als
 Erzieher und Lehrer, auf der Seite des Kindes zu sein. An verschiedenen
 Stellen schrieb Neill hierüber: „Kinder brauchen Liebe und Verständnis nötiger
 als Unterricht. Sie brauchen Anerkennung und Freiheit, um ihrer Natur
 entsprechend gut zu sein.“ Der Pädagoge soll „auf Seiten des Kindes stehen.“
Aber: „Kinder verlangen mehr nach Liebe, als sie selbst lieben. … Sie bemühen
 sich [also] nie um meine persönliche Anerkennung“, heißt es bei Neill, sondern
„sie wollen nur von der ganzen Schulgemeinschaft anerkannt werden.“ Die
„soziale Anerkennung [ist] die Hauptsache bei einer Reformschule.“
Neill als Pädagoge beabsichtigte also nicht, dass die Kinder oder Jugendlichen,
 egal in welcher Art und Weise, ausgerechnet seine Anerkennung anstreben.
 Ein eitler Pädagoge war Neill gegenüber Schülern nicht.
 Der Unterricht in Summerhill ist nicht obligatorisch, sondern freiwillig. Kinder,
 die zuvor an anderen Schulen waren, bräuchten in der Regel einige Monate, bis
 sie eine Lernverdrossenheit überwunden haben und den Unterricht freiwillig
 besuchen. Neill zumindest beobachtete, dass Kinder von sich aus sehr gern
 lernen, wenn man sie nicht zum Lernen nötigt. Dann erübrigen sich auch viele
 Fragen der Unterrichtsmethode.
 Seit zehn Jahren gibt es in Summerhill zwei Berater in Fragen der
 Lehrplangestaltung. Es zeigte sich aber, dass Schüler weniger von modernen
 Versuchen halten würden, wenn ihre Lehrer versuchen, ihnen den Unterricht zu
 garnieren oder schmackhaft zu machen. Wer freiwillig den Unterricht besucht,
 will lernen und weiß, dass Anstrengung und Leistung dazu gehören. So gibt es
 normale Unterrichtsklassen mit konventionellem, um nicht zu sagen
 traditionellen Methoden des Lehrens und Lernens. Entscheidend aber bleibt,
 dass die Interessen der Schüler die thematischen Inhalte des Unterrichts
 bestimmen.
 Verhaltensprobleme von sogenannten „hyperaktiven Kindern“ versucht man in
 Summerhill zunächst mit Hilfe der individuellen Selbstregulation solcher Kinder
 durch die Möglichkeiten einer demokratischen Gemeinschaft im Unterricht und
 in der Schule zu lösen. Für das Lernen im Unterricht hilfreich ist hierbei die
 Freiwilligkeit.
 Gelernt jedenfalls wird seit den 20er Jahren in Summerhill, obwohl, ähnlich wie
 in der Laborschule von Dewey zuvor, die Teilnahme am Unterricht freiwillig
 bleibt. Beide führten die Leistungsbereitschaft ihrer Schüler auf deren
 Freiwilligkeit zurück. Ähnlich wie Dewey beobachtete Neill im Unterricht
 Freiwilligkeit und Freude am Lernen als Voraussetzung für eine natürliche und
 glückliche Entfaltung oder eben einfach normale angstfreie Entwicklung von
 Anstrengung und Leistung.
 Reformpädagogen von damals wollten eine Schule, wo Kinder für ihr Leben
 gern lernen. Autoritäre Verhaltensweisen von Lehrern im Unterricht, so meinte
 man, hemmen Leistungen von Schülern, indem sie ein Lernen lehren, durch
 das Kinder geringe freiwillige Leistungsbereitschaft entwickeln, somit viele ihrer
 Fähigkeiten verkümmern, die später einem Erwachsenen gelegentlich nicht nur
 fehlen, sondern manchmal auch als verlorene Möglichkeiten für ein gelungenes
 oder glückliches Leben empfunden werden. Das könnte besonders für
 individuelle Freiheiten in einer modern entwickelten, demokratischen
 Leistungsgesellschaft zu regressiven Folgen führen. Daher ist die
 Reformpädagogik nicht zu Ende.