Gespräch – Ralf Caspary im Gespräch mit Professor Claus Leggewie: Wanderer zwischen den Welten . Die neue Form der Migration

SWR2 AULA

Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 27. März 2011, 8.30 Uhr, SWR 2
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ÜBERBLICK
Globalisierte Gesellschaften basieren auf permanenten Migrationsströmen, was erhebliche Konsequenzen für Gesellschaften haben kann, die darauf nicht richtig vorbereitet sind, die in mentaler, sozialer und kultureller Hinsicht noch immer auf nationalstaatlichen Konzepten basieren, die die Migranten lediglich als Fremdkörper definieren. Dabei gilt in globalen Zeiten: Der Mensch kann überall wohnen und seine Zelte aufschlagen, es sei denn, dass er in Gesellschaften, bei denen er anklopft, nicht willkommen ist. Claus Leggewie, Soziologe und Leiter des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, zeigt, warum gerade Deutschland in Bezug auf die moderne Form der Migration noch viele Defizite aufweist.

Autor
Claus Leggewie ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung
Globale Umweltveränderungen, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen
und Professor für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er hat
das Zentrum für Medien und Interaktivität der Justus-Liebig-Universität Gießen
mitbegründet und lehrte an der New York University und der Université Paris-
Nanterre.
Bücher (Auswahl):
- (zus. mit Harald Welzer) Das Ende der Welt wie wir sie kannten: Klima, Zukunft und
die Chancen der Demokratie. Fischer Taschenbuch. Februar 2011.
- Der Kampf um die europäische Erinnerung: Ein Schlachtfeld wird besichtigt. Beck-
Verlag. Februar 2011.

INHALT
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Ansage:
Mit dem Thema: „Wanderer zwischen den Welten – Die neue Form der Migration“.
Auf der einen Seite gibt es Menschen, die aus ihrer Heimat flüchten, und dafür gibt
es viele Gründe: Politische – siehe etwa Libyen oder Tunesien – es gibt ökologische
Gründe – siehe die Klimaflüchtlinge, andere flüchten vor der Armut, der
Arbeitslosigkeit. Also: Es gibt permanente Migrationsbewegungen. Auf der anderen
Seite gibt es gerade in Deutschland die Furcht vor den Fremden, den Einwanderern,
die sich nicht an die Leitkultur halten wollen. Über diese beiden Aspekte wollen wir
reden, und zwar mit dem Soziologen Professor Claus Leggewie, der Leiter des
Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen ist.
Frage:
Guten Morgen, Herr Leggewie. Bitte helfen Sie mir zunächst bei der Definition: Was
sind wir nun – Zuwanderungsland oder Einwanderungsland?
Leggewie:
Das hat man mal unterschieden, als Deutschland kein Einwanderungsland im
klassischen Sinn sein wollte, also ein Land, wo sich Menschen in größeren Gruppen
definitiv hinbegeben, um dort ihren neuen Lebensmittelpunkt zu haben. Wir hatten ja
die Vorstellung einer Gastarbeiter-Rotation: Man kommt, arbeitet ein paar Jahre hier,
geht wieder zurück. Das kann man als Zuwanderung deklarieren, weil es sich dabei
ja sehr viel stärker um einen Prozess handelt, wo etwas dazu kommt und wieder
etwas abfließt. De facto sind wir ein Einwanderungsland, weil schon die erste
Generation der sogenannten Gastarbeiter ihre Familien nachgeholt haben, sich hier
angesiedelt und ihren Lebensmittelpunkt aufgebaut haben, hier ihre Kinder haben
aufwachsen lassen, so dass wir also de facto eines der größten
Einwanderungsländer Europas sind.
Frage:
Die Migrationsdebatte ist belastet von Ängsten und Feindbildern, siehe zum Beispiel
die Sarrazin-Debatte. Wir fokussieren zumeist – so ist mein Eindruck – auf den
bedrohlichen Fremden, der zu uns kommt, in einer Parallelgesellschaft lebt, der sich
nicht integriert, der seine Kultur nicht abschüttelt, der vielleicht auch latent
gewaltbereit ist. Ist das in irgendeiner Weise berechtigt oder ist das Ausfluss einer
xenophoben Gesellschaft, die Angst hat vor Fremden?
Leggewie:
Man muss erst mal unterscheiden zwischen Ängsten, die diffus sind und sich auf ein
sehr unklares Objekt beziehen, und Befürchtungen, die man hat, die sehr konkret
sein können. Man kann die Frage nicht einfach beantworten. Es gibt hier das
Einerseits – Andererseits. Auf der einen Seite gibt es in unserer Gesellschaft und
auch dort, wo es kaum Einwanderer gibt, Xenophobie, also Fremdenfeindlichkeit,
Ausländerfeindlichkeit, nicht gegen alle Ausländer, sondern gegen bestimmte
Gruppen. Und da ist es vollständig egal, wie sich diese Menschen verhalten, wie sie
sich integrieren oder nicht – es gibt einen xenophoben Grundbestand in jeder
Gesellschaft, der liegt bei 10 bis 15 Prozent, wenn wir bestimmten Umfragen glauben
dürfen. Im Großen und Ganzen ist das etwas, was relativ unabhängig ist von der
Quantität und Qualität von Einwanderung. Sie können zum Beispiel feststellen, dass
in Deutschland ausländerfeindliche Befürchtungen in Sachen Migration oder
Ausländerfeindlichkeit besonders dort verbreitet sind, wo es kaum Einwanderer gibt.
Es gibt sie auch dort, wo sich Ausländer und Einwanderer in einer bestimmten Weise
konzentrieren. Man muss hier immer sehr genau unterscheiden. Es gibt in unserer
Gesellschaft auch Parallelgesellschaften. Die werden nicht nur von Einwanderern
bevölkert, sondern die werden zum Beispiel von Bankern bevölkert, von bestimmten
Eliten, die werden von Leuten bevölkert, die sich in sogenannten „gated
communities“, in abgeschlossenen Wohnbezirken, absperren, aus Angst vor
Einbruch usw. Parallelgesellschaften gibt es in jeder Gesellschaft massenhaft. Die
haben die positive Funktion: Man ist unter sich, man ist unter seinesgleichen. Das ist
das Club-Verhalten, was wir alle haben. Wir möchten ja nicht mit jedem in unserer
Gesellschaft umgehen, sondern mit Leuten unserer Wahl. Und genau dieses
Verhalten praktizieren dann auch Einwanderer oder Zuwanderer, die sich erst mal an
ihre ethnische, religiöse, dörfliche oder wie auch immer bekannte Gemeinschaft
halten. Die Frage ist, wie offen ist eine Einwanderer-Gemeinschaft, wie offen ist eine
Gesellschaft, um hier einen größeren Austausch durch tägliche Begegnung, durch
Freundschaften, durch Beziehungen aller Art aufzubauen. Insofern gibt es eine Figur
des bedrohlichen Fremden, der hinter allem steht. Das ist etwas, was sehr viele
Menschen spontan empfinden; wenn man sich in eine Gesellschaft begibt, wo man
niemanden kennt, dann fremdelt man, es gibt eine Neugier gegenüber denjenigen,
die gekommen sind, weil sie vielleicht etwas erzählen können, was die, mit denen
man sonst immer zusammen ist, einem nicht erzählen konnten. In
Einwanderungsgesellschaften gibt es spezifische Mischungsverhältnisse: Es gibt
Zonen, in denen interkulturelle Kontakte gelingen. Es gibt Zonen, in denen so etwas
wie vollständige Indifferenz besteht, also man nimmt sich einfach nicht wahr, man
lebt aneinander vorbei, was übrigens für eine urbane Gesellschaft ganz typisch und
auch nützlich ist. Und es gibt Zonen, in denen man sich tatsächlich fremd oder auch
feindlich gegenüber steht. Man muss das sehr genau untersuchen, über welche
Zone wir gerade reden.
Frage:
Sollte man die Immigrationsdebatte entlasten von solchen Ängsten?
Leggewie:
Ja, unbedingt. Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Nehmen wir mal an, Herr
Sarrazin hätte in vielen Punkten recht, da wäre es ganz falsch, jetzt mit Panik, Angst
und dieser schlechten Laune zu reagieren. Ich meine, man muss sich das vorstellen,
dass der Bestseller des Jahres 2010 heißt: „Deutschland schafft sich ab“. Das ist
doch die inkarnierte schlechte Laune. Ein Land, das gleichzeitig sagt, wir brauchen
aber massiv Zuwanderung von gut ausgebildeten Leuten, macht einen solchen Titel
zum Bestseller. Das steht ja dann auch im „Economist“, diejenigen Leute lesen das,
die hier arbeiten sollen, und die sehen, der Bestseller in Deutschland heißt
„Deutschland schafft sich ab". Mit anderen Worten: Angst, Panik, Befürchtungen in
diesem massiven Sinn, die ja auch sehr schlecht begründet sind bei Sarrazin, sind
auf jeden Fall ein schlechter Ratgeber. Nehmen wir einmal an, er hätte in vielen
Punkten recht, seine Beobachtungen würden zutreffen, wobei er kaum
Beobachtungen gemacht hatte, sondern mehr Zahlen interpretiert, dann wäre Angst
jetzt genau das falsche, sondern man müsste sich jetzt sehr rational überlegen, was
tun wir denn da. Und übrigens, in den Büchern, die wir Soziologen vor 20 oder gar 30
Jahren schon geschrieben haben, in denen wir für eine rationale Einwanderung
plädiert haben, stehen die Probleme, die Herr Sarrazin und anderer Kritiker jetzt
auflisten, alle drin, und zwar entweder als bereits erkannte Probleme einer
Einwanderungsgesellschaft, die sich aber nicht als eine solche versteht, oder aber
als Probleme, die kommen werden, wenn man keine aktive Integrationspolitik
betreibt.
Frage:
Das Neue ist bei Sarrazin ist der krude, genetisch fundierte Rassismus. Eine Frage
noch zu Sarrazin, dann möchte ich das gleich wieder beiseite schieben: Er hat ja
immerhin eins geschafft: Er hat das Buch sozusagen erden können mit gerade
diesen diffusen Ängsten, die in der Bevölkerung herrschen, denn sonst ist das doch
nicht zu erklären, dass das gerade ein Bestseller geworden ist. Die Leute haben
praktisch mit der Angst abgestimmt?
Leggewie:
Ja, und das tun wir ganz häufig. Wir wissen, in unserem Lande - um ein analoges
Beispiel zu nehmen, mit denen sie gerade auch in den elektronischen Medien sehr
gut punkten können - es ist klar, dass bestimmte Gewaltphänomene permanent
abnehmen. Aber in einer Kultur der Angst, die wir produzieren, die genährt wird
durch dramatische Berichte in den Medien, wird der Eindruck erweckt, Gewalttaten,
Missbrauchstatbestände würden permanent zunehmen. Das Gegenteil ist der Fall.
Und genau auf dieser falschen Wahrnehmung, basiert der Erfolg des Buchs von
Sarrazin.
Frage:
Sie haben eben die Figur des bedrohlich Fremden ins Feld geführt. Dieser
bedrohliche Fremde ist interessanterweise bei uns hauptsächlich der Muslim,
warum?
Leggewie:
Ja, das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass in der Tat die deutsche
Gesellschaft, viele europäische Gesellschaften so etwas empfinden wie einen
Phantomschmerz. Wir definieren uns hier als eine christliche Gesellschaft oder
neuerdings als eine christlich-jüdische Gesellschaft, und zwar immer in Abgrenzung
zu anderen, zum Beispiel zu den Muslimen. Dabei ist schon eines Bemerkenswert:
die spontane Identität eines Menschen, der jetzt gerade –sagen wir- durch die
Fußgängerzone von Freiburg oder Essen geht, ist nicht die christliche. Je weiter sie
nach Osten und Norden kommen, desto weniger würde jemand sagen: ich bin bei
den vielen Identitäten, die ich so habe, als erstes Christ. Sondern man würde doch
alle möglichen anderen Identitätsmerkmale zuerst auflisten. In dem Moment, wo eine
fremde Religion, die auch sehr präsent ist, zum Beispiel durch das Kopftuch, zum
Beispiel durch Minarette, in dem Moment erinnert man sich plötzlich an seine
ursprüngliche historische kulturelle Identität und pocht plötzlich auf so etwas wie eine
christliche Identität, die keineswegs dadurch gedeckt wird, das die Menschen zum
Beispiel an Gottesdiensten teilnehmen, zum Beispiel ihre Kinder taufen lassen, zum
Beispiel ihre Kinder zum Konfirmationsunterricht bringen usw. Aber diese religiöse
Identität fungiert als ein Gegenentwurf gegenüber einer fremden Kultur, die wir als
sehr vital und deshalb als bedrohlich wahrnehmen. Genau das gilt gerade für unsere
christlichen Religionsgemeinschaften nicht mehr, wir nehmen sie gerade nicht als
vital wahr, deswegen nenne ich das einen Phantomschmerz.
Frage:
Kann man also sagen, dass die religiöse Identität immer ein Konstrukt ist, und zwar
ein relativ willkürliches?
Leggewie:
Ja, Soziologen reden permanent von der Konstruktion von Wirklichkeit. Wirklichkeit
stellt sich uns nicht so platt dar wie der Tisch, der vor uns steht und den wir anfassen
können. Wir sind permanent, gerade im interkulturellen Austausch, damit beschäftigt,
den anderen, unsere Umwelt zu konstruieren, uns ein bestimmtes Bild von ihr zu
machen. Und das ist sehr variabel, sehr subjektiv, es hängt von den Kontexten ab, in
denen wir uns befinden. Nun haben solche Konstrukte natürlich immer ein gewisses
reales Fundament. Es gibt den anderen, der einem gegenüber sitzt, er spricht eine
andere Sprache. Insofern ist es nicht ganz willkürlich, was wir da
zusammenkonstruieren. Aber in der Tat haben wir es eigentlich in Deutschland nicht
so sehr mit real begründeter Ausländerfeindlichkeit zu tun, sondern wir haben es mit
einer spezifischen Sorte von Fremdenfeindlichkeit zu tun, die sich jetzt sehr speziell
auf Muslime richtet. Das hat zweifelsohne auch damit zu tun, dass wir in einer Welt
leben, in der muslimische und christliche Kulturen in einem Konflikt stehen.
Frage:
Viele plädieren, gerade auch wegen der Ängste, über die wir geredet haben, zum
Beispiel für eine geregelte Migration. Wir haben es ja schon angesprochen: Wir
wollen die gut ausgebildeten, intelligenten, akademischen Menschen aus dem
Ausland haben, die dann vielleicht auch helfen, die demographischen Probleme in
den Griff zu bekommen. Ist das ein guter Ansatz?
Leggewie:
Das ist ein sehr rationaler Ansatz und genau das, worauf Einwanderung beruht. Es
gibt in Deutschland ein demographisches Problem, das betrifft den
Facharbeitermangel oder Mangel an hoch qualifizierten Menschen. Die haben wir
entweder selbst nicht ausgebildet oder wir haben zu wenig davon. In anderen
Ländern gibt es auf den Arbeitsmärkten, auf den Bildungsmärkten ein bestimmtes
Überangebot, und diese Menschen machen sich dann auf den Weg. Entweder weil
sie sich etwas vom Aufenthalt in unserem Land versprechen (pull factor), das kann
zum einen ein guter Job sein, das können zum anderen sozialstaatliche Leistungen
sein. Oder aber es gibt Faktoren in dem Auswanderungsland (push factor), die die
Menschen abstoßen: Armut, Krieg, es gibt auch Klimaflüchtlinge. Wenn man
versucht, solche globalen Wanderungsprozesse rational in den Griff zu bekommen,
dann wird man sich in der Tat Einwanderer genau aussuchen und fragen, wen man
im eigenen Land haben möchte. Man wird auf Qualifikation, Ausbildung,
Spracherwerb und dergleichen achten. Das ist völlig legitim und auch rational. Nur es
funktioniert nicht so, wie sich das das Sarrazin- und Brüderle-Bürgertum vorstellen:
Wir werben mal schnell welche an, die kommen dann hierher, leben hier und
arbeiten für unser Bruttosozialprodukt. So einfach ist das nicht. Die kanadische
Wirklichkeit, und ich nenne hier ein in vieler Hinsicht vorbildliches
Einwanderungsland, zeigt genau, dass man nicht sozusagen handverlesen Leute
aus dem Land X in das Land Y bringen kann. Auch in Kanada gibt es eine hohe Zahl
von nicht qualifizierten, von weniger integrierten, weniger integrationsbereiten
Menschen, zum Beispiel Chinesen oder Türken. Und bei diesen Gruppen, und das
ist eigentlich die Wirklichkeit einer Einwanderungsgesellschaft, müssen wir dann
gucken, dass wir über entsprechende Bildungsmaßnahmen deren Bildungsstandards
heben. Das haben wir nicht anders gemacht mit den Zuwanderern in der ersten
Generation in Deutschland. Das waren nämlich Flüchtlinge, Menschen, die aus dem
Osten kamen, Heimatvertriebene haben wir die genannt. Sie wurden aufgenommen,
dann in einen Bildungs-, Wohnungs-, Arbeitsmarkt integriert. Dasselbe haben wir
gemacht mit der ersten Gastarbeiter-Generation. Sarrazin und Co. tun so, als sei
unsere Integrationspolitik auf ganzer Breite gescheitert. Das ist ja gar nicht der Fall.
Die meisten Einwanderer in Deutschland haben sich wunderbar integriert.
Frage:
Bleiben wir kurz bei den gut ausgebildeten Migranten, die wir uns hier wünschen. Ist
für die eigentlich Deutschland attraktiv, gerade auch vor dem Hintergrund Ihrer
Erfahrungen, weil Sie ja auch oft zum Beispiel in den USA sind?
Leggewie:
Wir haben eine schwache Willkommens-Kultur. Wir haben zum Beispiel Angst vor
Parallelgesellschaften, vor ethnischen Nischen, in denen neue Einwanderer sich erst
mal ansiedeln, weil sie mit ihren Leuten, mit denen sie dieselbe Sprache und Kultur
teilen und teilweise auch Religion, zusammen sein wollen. Das ist ein wichtiger
Schritt für die Integration. Es ist nicht das pure Moslem-Sein, was Integration
scheitern lässt. Sie müssen sich doch einfach mal die hohe Zahl von iranischen
Ärzten oder anderen hoch qualifizierten Menschen in Deutschland ansehen, die seit
den fünfziger Jahren hierher gekommen sind, darunter sind auch Muslime und die
haben sich bestens integriert. Also man muss immer sehr genau die sozialen
Kontexte und Faktoren anschauen. In Deutschland gibt es, und ich habe ja schon auf
den Titel "Deutschland schafft sich ab" hingewiesen, diese schlechte Laune, diesen
Überschuss an Angst. Das schreckt ab. Wir sind mittlerweile kein
Einwanderungsland mehr, wir sind ein Auswanderungsland, weil niemand hierher
möchte und weil die qualifizierten Türkinnen und Türken, die wir haben, sich
mittlerweile auch überlegen, in die Türkei zu gehen, wo sie noch nie geliebt haben,
wo sie noch nie gearbeitet haben. Wir sind ein Land, das systematisch alles daran
setzt, entgegen unseren Erkenntnissen, Einwanderer abzuschrecken.
Frage:
Wie können wir die Einwanderer anziehen?
Leggewie:
Indem wir einfach mal aufhören, permanent nur von den Nachteilen von
Einwanderung zu reden. Wir sollten die Erfolgsgeschichten deutlich machen. Wir
reden ja, Helmut Kohl hat damit angefangen, von der "Einwanderung in unsere
Sozialsysteme". Es gibt in der Tat Einwanderer, die nichts anderes tun, als
Leistungen des Wohlfahrtsstaates in Anspruch zu nehmen. Aber ich kenne Dutzende
von Taxifahrern, die hochqualifizierte Abschlüsse Patente aus dem Sudan oder aus
einem asiatischen Land mitgebracht haben, die hier einfach nicht anerkannt werden.
Diese Leute fahren jetzt Taxi und hören dann zum Beispiel SWR 2 oder
Deutschlandradio Kultur. Da frage ich mich immer, was ist denn hier los. Das ist nur
eine kleine anekdotische Evidenz für das, was ich sagen möchte. Wir haben von den
kulturellen Strukturen her keine Willkommens-Kultur.
Frage:
Dabei ist doch eins klar, und ich frage das, weil Sie sich auch mit Globalisierung
auseinandersetzen: Die Globalisierung funktioniert ja nur aufgrund von ständigen
Migrantenströmen, richtig?
Leggewie:
Ja natürlich. Es gibt unglaublich viele Leute, die heute meinetwegen für die Firma
Siemens in China und übermorgen für die Firma RWE in Brasilien tätig sind. In den
globalen, transnationalen Arbeitsmärkten ist das normal, gerade für Hochqualifizierte.
Ich habe drei Jahre in den Vereinigten Staaten gearbeitet und bin deswegen noch
lange kein Auswanderer. Aber ich hätte natürlich auch dort bleiben können. Genau
so läuft das auf allen Ebenen der sozialen Hierarchie. Es gibt Armutswanderungen,
es gibt die Wanderungen von Hochqualifizierten, es gibt mittlerweile Millionen von
deutschen Pensionisten und Rentnern, die einen großen Teil des Jahres oder auch
das ganze Jahr zum Beispiel in Thailand, auf Mallorca oder in einem südlichen
Sonnengebiet verbringen, die sich dort eingekauft haben. Also Globalisierung heißt
transnationale Wanderung, aber nicht unbedingt permanente Ansiedelung, sondern
ein ständiges Hin und Her. Das ist etwas anderes als die Einwanderung Ende des
19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Man ist heutzutage nicht von A gekommen und
hat nun seinen Lebensmittelpunkt in B, sondern man verbringt sein Leben sowohl in
A als auch in B, je nachdem, wie die verschiedenen Kontexte und Ressourcen nun
gerade sind. Wir haben die Schwierigkeit, uns sozusagen zurückzubeamen in eine
Zeit, in der es den Nationalstaat, also den Staat, der Grenzen errichten konnte, noch
nicht gab. Dieser Nationalstaat existiert erst seit dem 19. Jahrhundert. Vorher gab es
natürlich jede Menge von Migrationsströmen, ganz massive Völkerwanderungen.
Und auch heute ist es so. In den ärmsten Ländern der Welt gibt es die stärksten
Migrations- und Flüchtlingsströme. Insofern ist Globalisierung gleich Migration und
Migration gleich Globalisierung. Und der Nationalstaat mit seinen fixen Grenzen,
seinen Aufenthaltsrechten und Arbeitsgenehmigungen hat die Fiktion entstehen
lassen, als könne man Bevölkerungen in einem Territorium kasernieren, wie in einem
Container. Die finanzielle und wirtschaftliche Globalisierung ist ja nichts, was über
uns gekommen ist, sondern sie wurde von großen und mittelständischen
Unternehmen, auch von den Staaten selbst aktiv betrieben. Und nun stellt man voller
Erstaunen fest, „wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen“. Das ist ein
schöner Spruch von Max Frisch, der ist immer noch wahr.
Es versteht doch jeder, dass heute die Menschen zum Beispiel aus Bangladesch aus
klimatischen Gründen, die Menschen aus Pakistan aus klimatischen wie politischen
Gründen auswandern möchten. Aus dem Irak sind in den letzten Jahren
Hunderttausende aufgrund von Verfolgungstatbeständen, weil sie den Bürgerkrieg,
den Krieg nicht ausgehalten haben, ausgewandert. Wir haben es jetzt mit einer
neuen Situation zu tun, wir können die Erde nicht mehr einfach als einen Planeten
definieren, in dem jeder Nationalstaat gewissermaßen die Verfügung über sein
Territorium hat. Wenn es denn stimmt, dass über die Folgen eines Klimawandels
massenhafte Migrationsprozesse ausgelöst werden, dann können wir in Deutschland
nicht einfach sagen, naja, uns geht’s ja gut und wir machen die Grenzen dicht. Das
ist eine Herausforderung, die Innen- wie Außenpolitiker bei uns überhaupt noch nicht
richtig begriffen haben.
Frage:
Besteht das ganze Problem im Grunde darin, dass wir kulturell und mentalitätsmäßig
noch im Nationalstaatlichen verhaftet sind. So scheint es mir, wenn wir über
Zuwanderung und Migration reden?
Wanderer zwischen den Welten – Die neue Form der Migration
Gespräch mit Professor Claus Leggewie
So ist es. Ich glaube, Helmut Schmidt hat mal davon gesprochen, dass
Hunderttausende Anatolier auf ihren gepackten Koffern sitzen, wenn wir die Türkei in
die EU aufnähmen. Das ist sozusagen wieder das Angstbild. Und auf der anderen
Seite gibt es das Wunschbild, dass wir uns handverlesen Migranten rauspicken. Das
sind alles völlig unrealistische Bilder von Migration, die gerade deswegen
verwundern, weil sie von Leuten kommen, die ansonsten vollständig auf die
unsichtbare Hand des Marktes, das heißt auf die Selbstorganisation, die
Selbstregulation von Gesellschaften setzen. Natürlich spielt der Nationalstaat noch
eine Rolle. Natürlich kann eine Einwanderungspolitik am besten europäisch reguliert
werden. Es ist keine Frage, dass man nicht einfach die Tore öffnet und alle
Menschen hereinlässt, die hineinwollen. Es ist auf der anderen Seite aber auch eine
Illusion zu glauben, man könnte nur den aufnehmen, den man möchte, und den
anderen nicht. Da gibt es ein riesiges Missverständnis, als wäre Integration die
Bringschuld der Fremden. Integration ist die Aufgabe moderner Gesellschaften, mit
Einwanderern klar zu kommen. Demgegenüber ist Identität etwas, was man
aushandeln muss, was man als Einwanderer nicht als etwas Gegebenes,
Unveränderliches definiert, sondern das ist etwas, was sich immer erst in der
Anerkennung durch den anderen zu bewähren hat. Insofern ist jede Einwanderung
verbunden mit Kulturwandel, mit Aufgabe bestimmter Gewohnheiten, mit Aufgabe
bestimmter kultureller Vorstellungen.
Frage:
Ist damit auch eine Aufgabe althergebrachter Identitätsmuster verbunden? Wenn ja,
wie könnte Identität heute zusammengesetzt sein?
Leggewie:
Herr Caspary, Sie sind vermutlich irgendwo geboren, das heißt, Sie sind Lokalpatriot
in Bezug auf diesen Geburtsort. Ich bin zum Beispiel Kölner. Sie fühlen sich
wahrscheinlich, wenn Sie durch Europa reisen, als Europäer. Sie fühlen sich – nach
1989 darf man das mehr als früher – als Deutscher, Sie fühlen sich hin und wieder
als Weltbürger. Sie sind vielleicht Angehöriger einer Sekte, Mitglied eines Vereins,
Sie sind vielleicht Taubenzüchter – Sie sind alles Mögliche. Und was man lernen
muss in modernen Gesellschaften ist, dass wir viele multiple Identitäten haben. Und
sobald wir beginnen – das ist die große Herausforderung –, bei uns oder bei anderen
ein einziges Identitätsmerkmal zu privilegieren, dann bekommen wir Probleme.
Frage:
Aber besteht die Gefahr Ihrer These nicht darin, dass wir in einen Relativismus
hineinkommen und alles für gleichberechtigt halten? Wenn man sich Identität
beliebig zusammenbasteln kann, wohin führt das?
Leggewie:
De facto ist das so. Biografische Muster sind immer ein bisschen zusammengesetzt
aus diesem und jenem. Ich stelle mir Menschen, die nur eine Identität haben, als
unendlich langweilig vor. Wenn jemand nur Briefmarkensammler ist, dann ist der
hochkompetent im Briefmarkensammeln, aber er ist sonst relativ uninteressant für
mich, und er ist auch sich selbst vermutlich zu wenig. Das war jetzt ein absurdes
Beispiel, was ich genommen habe, aber wir basteln alle an unseren Identitäten. Das
heißt nicht, dass es nicht bestimmte Identitätskerne gibt. Und das heißt auch nicht,
dass wir nicht fremdeln dürfen. Toleranz wird in unserer Gesellschaft missverstanden
als: ich nehme alles hin, was mir begegnet. Toleranz ist, etwas zu akzeptieren, mit
dem ich gerade nicht zurechtkomme. Das heißt, ich muss zum Beispiel einen
Moslem, den ich aus religiösen Gründen oder aus einer bestimmten säkularen
atheistischen Position heraus nicht akzeptiere, trotzdem dulden. Er genießt volle
Religionsfreiheit, obwohl ich das, was in dieser Religion vielleicht enthalten ist, nicht
teile. Wo wir im Grunde genommen heute stehen, ist nicht ein Einfronten-Kampf für
oder gegen Eiwanderung, sondern es ist ein Zweifronten-Kampf: auf der einen Seite
für die vollständige Gewährleistung von Religions- und Meinungsfreiheit in
multikulturellen und multireligiösen Gesellschaften; und auf der anderen Seite
natürlich dass wir darauf achten, dass wir offen aussprechen, wenn etwa eine
bestimmte muslimische Kultur Elemente enthält, die wir nicht tolerieren wollen, etwa
wenn Frauen unterdrückt werden.
Frage:
Sie können jetzt für eine Minute eine neue Identität annehmen, Sie bestimmen als
Innenminister in Deutschland die Zuwanderungspolitik. Wie würde die unter Herrn
Leggewie aussehen?
Leggewie:
Ich würde mich sehr stark an dem kanadischen Punktesystem orientieren, das offen
genug ist für die familiäre Zuwanderung, was auch ein Reservoir übrig hält von
Leuten, die sich überhaupt er in der Einwanderungsgesellschaft selbst zu
Qualifikation entwickeln können. Also eine realistische Politik. Ich würde die
Willkommenskultur vor allem auf der lokalen Ebene erhöhen, ich würde sehr viel
mehr Beispiele propagieren für die Erfolgsgeschichten von Migration, und ich würde
gegenüber denen, die man mit gutem Recht als Integrationsverweigerer bezeichnen
könnte, ziemlich deutlich machen, dass das etwas ist, was in unserem Land nicht
erwünscht ist.
Caspary:
Ich danke Ihnen für das Gespräch.