Kaltes Leben .Über die Renaissance des Begriffs "Verdinglichung" . Gespräch: Ralf Caspary mit Axel Honneth

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Verdinglichung (R. Caspary, A. Honneth )
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Kaltes Leben .Über die Renaissance des Begriffs "Verdinglichung" .  Gespräch:  Ralf Caspary mit Axel Honneth


Erst-Sendung: Sonntag, 17. Januar 2016, 8.30 Uhr . Wiederholung: Sonntag, 8. Januar 2017, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary Produktion: SWR 2015
http://www.swr.de/swr2/programm/
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
 


AUTOR
Prof. Axel Honneth, geb. 1949, studierte Philosophie, Soziologie und Germanistik in Bonn und Bochum, danach an der FU Berlin; 1982 - 83 Forschungsstipendium durch Prof. Habermas, Max-Planck-Institut für Sozialwissenschaften in München; 1983 Hochschulassistent am Fachbereich Philosophie an der Goethe-Universität,1990 Habilitation im Fach Philosophie. Seit 1996 ist Honneth C 4-Professor für Sozialphilosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und seit 2001 geschäftsführender Direktor des renommierten Instituts für Sozialforschung.
Forschungsschwerpunkte u. a.: Theorie der Anerkennung, Fortentwicklung einer kritischen Gesellschaftstheorie, Reaktualisierung des Begriffs "Verdinglichung".
Bücher (Auswahl):
– Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung. Berlin: Suhrkamp. 2015.
– Vivisektionen eines Zeitalters. Porträts zur Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Edition Suhrkamp. 2014.

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ÜBERBLICK
In den 20er- und 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts war "Verdinglichung" ein Leitmotiv der Sozial- und Kulturkritik. Verbunden waren damit zugleich folgende Diagnosen: Menschliche Beziehungen werden dominiert vom nüchtern-pragmatischen Zweckdenken, die Liebe zu den Dingen macht einer kalten Verfügbarkeitsideologie Platz, eine Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Bereiche lässt Empathie kaum mehr zu. Und genau dieser Begriff "Verdinglichung" erfährt heute wieder eine Aktualisierung. Professor Axel Honneth, Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, erläutert diesen Zusammenhang. (Produktion 2016)

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MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: "Kaltes Leben – Über die Renaissance des Begriffs 'Verdinglichung'.
In den 20er- und 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts war "Verdinglichung" ein Leitmotiv der Sozial- und Kulturkritik. Verbunden waren damit zugleich folgende Diagnosen: Menschliche Beziehungen werden dominiert vom nüchtern-pragmatischen Zweckdenken, die Liebe zu den Dingen macht einer kalten Verfügbarkeitsideologie Platz.
Der Begriff "Verdinglichung" hat in den letzten Jahren eine Aktualisierung erfahren, vor allem von Professor Axel Honneth, Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Er hat Verdinglichung in Zusammenhang gebracht mit einer bestimmten Form der Anerkennungsphilosophie. Ich begrüße Axel Honneth zum SWR2 Aula-Gespräch.
INTERVIEW:
Caspary:
Guten Morgen, Herr Honneth. Was meinen Sie genau mit dem Begriff "Verdinglichung"? Das ist ja ein bekannter Begriff, z.B. aus der kritischen Theorie von Adorno und gehörte zum Basis-Vokabular der kritischen Linken.
Honneth:
Das ist richtig. Der Begriff "Verdinglichung" ist in sich ziemlich mehrdeutig. Man kann darunter etwas, was ich versuche, im ganz strikten Sinn verstehen, nämlich eine Art von "zum Ding machen", sei es von Menschen, Personen, überhaupt aller Sachverhalte. Man kann darunter aber auch in einem weniger strikten Sinn so etwas verstehen wie Instrumentalisierung, etwas als ein Ding behandeln – was weniger ist, glaube ich. Ich denke, man nimmt den Begriff dann ernst, wenn man tatsächlich davon ausgeht, dass er meint, etwas, was nicht-dingliche Qualitäten besitzt, zu einem Ding zu machen, sei es in der Wahrnehmung oder im Verhalten.
Caspary:
Etwas zu einer Sache, zu einem Objekt zu machen – betrifft das unser Naturverhältnis, unser Verhältnis zu anderen Menschen, auch unser Verhältnis unseres Ichs zu uns selbst?
Honneth:
Die beiden letzten von Ihnen genannten Beziehungen in jedem Fall, denke ich. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass etwas, was bereits in einer gewissen Weise Ding ist, obwohl auch das bestimmte Philosophen bezweifeln, nämlich Naturgegenstände, dass wir das noch einmal zum Ding machen können. Wir können es natürlich reduzieren in seiner Bedeutungsvielfalt. Wir können, ganz trivial gesprochen, den Baum, der für uns vielleicht eine symbolische Bedeutung besitzt, als das, was uns bestimmte Erinnerungen erlaubt, als das, was Früchte trägt, all dieser Bedeutungen entreißen und damit zu einem bloßen Objekt machen. Das ist vorstellbar. Viel
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konkreter wird die Verdinglichung aber dann, wenn wir von Menschen sprechen, von Beziehungen zwischen Menschen, bei denen es ja durchaus möglich ist, andere zum Ding zu machen. Zumindest können wir uns in gewisser Weise etwas darunter vorstellen. Wir können uns auch vielleicht etwas darunter vorstellen, wenn wir sagen, wir können uns selbst zu Dingen machen, obwohl das auch erläuterungsbedürftig ist, was das eigentlich im Einzelnen bedeuten soll.
Caspary:
Mir würde es prinzipiell schwer fallen, Sie zu verdinglichen. Wir sitzen uns gegenüber, und ich weiß genau, dass Sie kein Ding sind, sondern ein menschliches Wesen mit Emotionen, Gedanken, Würde, Selbstbestimmung. In welchen Situationen wäre das außer Kraft gesetzt, dieses Modell, das ich an Sie herantrage?
Honneth:
Das ist die Herausforderung für die Verwendung des Begriffs Verdinglichung, wenn man ihn nicht ganz locker verwenden möchte. Ich kann ihn ganz locker verwenden, wenn ich behaupte, Verdinglichung ist schon gegeben, wenn ich Sie instrumentalisiere. Ich sage Ihnen also: Bitte holen Sie mir doch ein Glas Wasser. Das ist instrumentalisieren. Ich verwende Sie als Mittel für einen Zweck, den ich mir selber gesetzt habe. Das ist aber nicht die tatsächliche Bedeutung des Begriffs der Verdinglichung, glaube ich, die ja viel stärker ist und genau das beinhaltet, was Sie gesagt haben. Ich muss mir dann vorstellen können, dass es Situationen gibt, in denen ich Sie zum Ding mache, Ihnen also all die Eigenschaften oder Qualitäten nehme, die zum Menschsein normalerweise, auch in unserer ganz alltäglichen Wahrnehmung, gehören. Und dann stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen soll das überhaupt möglich sein. Lukács, Gründer der Idee der Verdinglichung, dessen berühmter Aufsatz über die Verdinglichung ein klassisches Werk und sicherlich eine Geburtsurkunde des westlichen Marxismus und der kritischen Theorie ist, war der Überzeugung, dass die kapitalistischen Verhältnisse solche Verdinglichungen bereits produzieren. Das halte ich für problematisch und irgendwie auch kontra-intuitiv. Nehmen wir mal einen Unternehmer, der einen Arbeiter einstellt, warum sollte ich diesen Arbeiter zum Ding machen, wenn ich ihn doch deswegen einstelle, weil er bestimmte menschliche Qualitäten besitzt. Ich mache ihn zum Arbeitnehmer oder Arbeiter mit Hilfe eines Vertrages, der gezwungen oder nicht gezwungen sein kann, weil ich voraussetze, dass er über nur menschliche Fähigkeiten verfügt. Also mache ihn auch nicht zur Sache. Die problematische Verwendung des Begriffs lag daran, dass Lukács da nach meiner Auffassung ein bisschen willkürlich verfahren ist und in seiner Begriffsverwendung geschwankt hat zwischen dem, was ich vorher Instrumentalisierung genannt habe, und dem, was im strikten Sinn Verdinglichung heißt. Also muss man die Situation doch viel genauer benennen, unter denen tatsächlich so etwas stattfindet wie Verdinglichung im strikten Sinn.
Caspary:
Sie würden das also nicht wie Lukács auf das kapitalistische System zurückführen?
Honneth:
Nein.
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Caspary:
Lukacs hat ja gesagt, das kapitalistische System führt dazu, dass wir nicht mehr zwischen Person und Ding, zwischen jemand und etwas unterscheiden können. Das würden Sie weiter fassen – und gleichzeitig strikter? In welcher Hinsicht?
Honneth:
Weil es bedeutet, den anderen tatsächlich als ein Ding, wie ein Ding wahrzunehmen. Mir kommen in den Sinn, und ich versuche, das auch zu erläutern, bestimmte Zustände der Massenvernichtung im Krieg, die wir uns vielleicht nur so erklären können, dass die Ausführenden durch die Routinisierung und Wiederholung bestimmter Verhaltensformen es regelrecht verlernen, an anderen noch die menschlichen Eigenschaften wahrzunehmen. Auf jeden Fall kann ich mir kaum anders erklären, wie es möglich sein soll, sein sollte oder gewesen ist, dass junge Soldaten mit der Zeit den "Job", könnte man ja beinahe zynisch sagen, der massenhaften Tötung bis hin zu kleinen Kindern am Ende scheinbar ohne größere psychische Belastung ausüben. Das heißt, da muss so etwas stattfinden wie eine durch Routinisierung zustande gekommene Verlernung der Wahrnehmung der menschlichen Eigenschaften. Wenn ich in dem Menschen vor mir, der Mutter, dem Kind noch die menschlichen Eigenschaften sehe, wie uns das in der normalen Wahrnehmung gegeben ist, dann ist es sehr schwer verständlich, finde ich, dass so etwas stattfinden kann. Also ist vielleicht die aus bestimmten Kriegszuständen resultierende Massenvernichtung, die wir ja nicht nur aus dem Holocaust kennen, sondern die wir auch in anderen Formen längst kennengelernt haben, vielleicht eine Form oder eine Folge von Verdinglichung, eine bis ins Verhalten, eine in Wahrnehmungsschemata eingesickerten Routinen.
Caspary:
Das ist eine Extremsituation, über die wir hier sprechen. Wie ist es mit Folter?
Honneth:
Möglicherweise so: Ich muss mich als Folterer einüben in die Abschirmung der menschlichen Eigenschaften dessen, den ich foltere. Das glaube ich schon. Ich wüsste nicht, wie sonst der Folterer seinen Job ausüben kann, ohne mit der Zeit zu lernen, den anderen bloß noch als ein behandelbares Objekt wahrzunehmen, aus dem bestimmte Wahrheiten herauszupressen sind. Das scheint mir auch so ein Fall zu sein. Sicherlich sollte man sich klar machen, dass der Kapitalismus Züge annehmen kann, die vielleicht auch so etwas mit befördern. Das will ich gar nicht ausschließen. Denken Sie an Frauenhandel. Das finde ich ein moralisch zutiefst verwerfliches Phänomen. Aber auch da kann ich mir nur vorstellen, dass diejenigen, mit denen „gehandelt“ wird, natürlich in Eigenschaften gehandelt wird, die wiederum menschlicher Natur sind, wo ich aber gewissermaßen das Menschliche an diesen Eigenschaften mir selber nicht zu stark vor Augen führen darf, um diesen Handel betreiben zu können. Die junge Prostituierte aus Osteuropa, die zur Prostitution gezwungen wird, wir alle kennen diese Fälle, an der müssen die, die handeln – so zynische das klingt – auf der einen Seite die Eigenschaften vor Augen haben, die sie zu diesen Objekten werden lassen. Bestimmte menschliche Eigenschaften der Sexualitätsfähigkeit z.B. Auf der anderen Seite müssen sie sie auch wieder abschotten, um das Geschäft überhaupt durchführen zu können. Insofern lädt der Kapitalismus sicherlich dazu ein, solche Phänomene immer auch mit abzuschotten, um sich nicht des Ungeheuren bewusst zu werden. Aber ich würde sagen, im
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Allgemeinen haben Sie vollkommen recht mit der Behauptung, dass Verdinglichungen eigentlich zu Extremsituationen gehören und Randphänomene, erschreckende, aber sehr ernst zu nehmende Phänomene unserer gegenwärtigen Gesellschaft darstellen.
Caspary:
Hat der Begriff Verdinglichung für Sie bestimmte graduelle Stärken?
Honneth:
Das ist eine interessante Frage, die ich mir nicht gestellt habe. Bisher rede ich so, als sei etwas Verdinglichung oder nicht. Aber wenn ich mir andererseits klar mache, dass es vielleicht Grade der Abschottung menschlicher Eigenschaften gibt, sollte man vielleicht auch solche Graduierungen zulassen. Das wäre sogar interessant. Vielleicht wäre es fruchtbar, sich zu fragen, welche Praktiken laden ein zu welchen Graden der Abschottung. Eine produktive Frage, finde ich.
Caspary:
Sie haben eine spezifische Anerkennungsphilosophie formuliert. Damit hängt der Begriff Verdinglichung eng zusammen.
Wie sieht der Zusammenhang aus?
Honneth:
Richtig. Auch das ist mir erst in der Analyse vollständig klar geworden. Natürlich wollte ich immer hinaus auf so etwas wie die Behauptung, dass Verdinglichung so etwas wie das Gegenteil, also das Fehlen der Anerkennung, sei. Das Resultat der Überlegungen war dann zunächst einmal die Behauptung, dass mit unserer Sozialisation in die menschliche Lebensform – ich glaube, mit einer gewissen Zwangsläufigkeit oder Notwendigkeit – die Wahrnehmung des anderen Menschen als Menschen gehört. Vielleicht lernen wir überhaupt nur, in unsere Lebensform hineinzuwachsen, indem wir schon als Kleinkind genau den anderen unwillkürlich als Menschen wahrnehmen. Und ihn damit auch als Menschen zu behandeln. Wir machen früh schon – das habe ich mir erst nachträglich klar gemacht – als kleine Kinder Unterschiede zwischen verschiedenen Klassen von Objekten: zwischen menschlichen Subjekten, Tieren, z.B. Haustieren als zweite Klasse und sachlichen Objekten.
Caspary:
Das ist die erste Form der Kategorisierung...
Honneth:
Genau. Die erste Form der Kategorisierung der Welt ist, die Welt in solche Klassen von Objekten zu zerlegen. Das heißt aber auch, menschliche Subjekte werden sehr schnell, und zwar in einer Art und Weise, die, glaube ich, mit einer gewissen elementaren Form der Anerkennung zusammengeht, als Menschen wahrgenommen und dementsprechend in ihren menschlichen Eigenschaft wahrgenommen, die eine bestimmte Verhaltensweise nahelegen. Und, sagen wir mal, von deren Verhaltensweise wir auch in irgendeiner anderen Weise betroffen sind als vom Sein der Dinge. Das klingt jetzt nach Heidegger.
Caspary:
Sie haben an der Stelle auch ganz viel von Heidegger aufgenommen.
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Honneth:
Vom frühen Heidegger, das ist richtig. Das hat auch z.B. Sartre gesagt: In dieser ursprünglichen, elementaren Anerkennung, wie ich das gerade erwähnt habe, sind wir vom Menschen, von denen, die wir als Menschen wahrnehmen, in einer anderen stärkeren Weise betroffen. Wir können auf sie nicht neutral reagieren. Das ist etwa der Befund von Sartre. Wenn uns ein Mensch begegnet, und das heißt ja, wir nehmen ihn als Menschen wahr, so sagt uns das etwas im Hinblick darauf, dass und wie wir reagieren müssen. Ich sage nicht, wir müssen darauf immer nur gut reagieren – also moralisch zuvorkommend oder so etwas. Ich sage nur, wir können uns nicht neutral verhalten. Und das macht die ursprüngliche Form von Anerkennung aus, die mit der Wahrnehmung menschlicher Subjekte als menschliche Subjekte, glaube ich, gegeben ist. Und das unterscheidet die Wahrnehmung von Dingen von der Wahrnehmung von menschlichen Subjekten.
Caspary:
Würden Sie sagen, diese Anerkennung ist präreflexiv, sozusagen schon immer da als sozialer Bezugsraum?
Honneth:
Ja, ich glaube, das ist ein richtiger Begriff an dieser Stelle. Das ist das Resultat einer Reflexion. Dem Kleinkind wird das gewissermaßen „ein-sozialisiert“, mitgegeben, dass der Bezug auf menschliche Subjekte ein anderer ist und zu sein hat als der auf physische Objekte. Selbst der auf Tiere. Das mag sich im Übrigen in der Zukunft ändern. Unsere Lebensform ist ja offen im Hinblick darauf, welche Objekte nun derart wahrgenommen werden, dass sie wie menschliche Objekte von sich aus eine bestimmte Intentionalität etwa besitzen. Da gibt es keine starren Grenzen, würde ich sagen. Wir ziehen sicherlich die Haustiere immer mehr in diesen Bereich mit ein, vielleicht in Zukunft auch andere Klassen von Tieren, denen wir Intentionalität zuschreiben, damit die Eigenschaft, die den Kern des menschlichen Daseins oder der menschlichen Subjektivität ausmacht.
Caspary:
Hat das auch etwas mit dem Willen, mit der Diskussion über den freien Willen zu tun?
Honneth:
Ja, aber es hat natürlich damit zu tun. Der Mensch als ein sich selbst bestimmendes Wesen.
Caspary:
Nehmen wir an, wir kennen keinen freien Willen, was würde das für unser Verhältnis bedeuten?
Honneth:
Ein Ding der Unmöglichkeit für unsere Interaktion, denke ich. Ich muss immer unterstellen, dass Sie die Intention haben, auf meine Intention zu reagieren und sie zu verstehen. Und verstehen impliziert, den anderen als ein der Bedeutung zugängliches, fähiges Subjekt wahrzunehmen.
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Caspary:
Wäre die Anerkennung dann auch so etwas wie ein Verstehens-Horizont?
Honneth:
Ja, das ist richtig. Wobei ich sagen würde, das ist aus meiner Sicht die elementarste Form der Anerkennung. Es gibt ja andere Formen: Ich kann jemandem einen rechtlichen Status zuschreiben. Dem Kind, wenn es 16 oder 18 Jahre alt geworden ist, räumen wir den Status eines Erwachsenen ein und damit eine bestimmte zusätzliche Qualifikation. Die elementare Anerkennung besteht genau in dem, was Sie als Verstehens-Horizont bezeichnet haben.
Caspary:
Können Sie noch einmal erklären, inwieweit dieses Anerkennungskonzept ein Instrument für Gesellschaftskritik sein könnte oder ist? Oder haben Sie das gar nicht intendiert.
Honneth:
Doch, immer schon. Das geht allerdings der Verdinglichungsanalyse vorher.
Aber das ist eine komplexe Frage. Ich glaube, dass man verschiedene Formen gerade der Anerkennung unterscheiden kann. Wir haben eben von der elementaren Anerkennung gesprochen, dieser ganz grundsätzlichen, ohne die wir, glaube ich, die menschliche Lebensform uns gar nicht angemessen vorstellen können. An sie lagern sich aber, glaube ich, anspruchsvollere Formen der Anerkennung an. Eine habe ich gerade schon genannt: die rechtliche Anerkennung, die in früheren Gesellschaften als solche vielleicht noch gar nicht existierte. Ich erkenne den anderen wie alle anderen als ein rechtsfähiges Subjekt an, wir sagen auch: als ein mündiges Subjekt. Es gibt aber auch die Anerkennungsform der Liebe. Auch das ist eine besondere Form der Anerkennung, die bereits aufbaut auf dieser elementaren Anerkennung. Lieben kann ich nur den, der mich zurückliebt.
Caspary:
Ein Resonanzphänomen eigentlich.
Honneth:
Ja, auch. Das ist der Ansatz von Hartmut Rosa.
Caspary:
Ein Ansatz, der für Sie keine so große Tragfähigkeit hat. Aber er ist ähnlich. Rosa kritisiert Entfremdungszustände in der modernen Gesellschaft als Resonanzverlust. Und Herr Honneth analysiert Verdinglichungsphänomene als Anerkennungsverlust?
Honneth:
Richtig, oder sogar – das borge ich mir von Heidgger, vielleicht in problematischer Weise – als Anerkennungsvergessenheit.
Caspary:
Heidegger hat von Seinsvergessenheit gesprochen und Sie von Anerkennungsvergessenheit.
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Honneth:
Ja, das heißt, um zu analysieren, wie es zu den Phänomenen kommen kann, das wir vorhin als Extremsituation beschrieben haben, dass Menschen tatsächlich dazu in der Lage sind, andere nur noch als Objekte, Dinge wahrzunehmen, muss man sich ja klar machen, dass sie etwas, was sie zuvor gelernt haben, und zwar präreflexiv gelernt haben, nämlich den anderen gerade als Menschen mit menschlichen Qualitäten wahrzunehmen, wieder verloren haben. Und diesen Verlustprozess beschreibe ich als Vergessenheit. Es ist schwer zu erklären, wie wir eigentlich dazu in der Lage sein sollen, und ich habe vorhin schon ein Stichwort genannt, das vielleicht helfen kann, das zu erklären: die Routinisierung. Durch die routinisierte Ausübung bestimmter Arten von Vollzügen oder Tätigkeiten, Kriegshandlungen, kann so etwas, glaube ich, in Gang gebracht werden wie der allmähliche Verlust meiner selbstverständlichen Anerkennung des anderen.
Caspary:
Es gibt ja auch bestimmte Arten von Psychopathologien, die die Anerkennungsvergessenheit beinhalten?
Honneth:
Das ist richtig. Das sind andere, häufig endogen verursachte Phänomene, die aus bestimmten psychischen Störungen des Subjekts stammen. Aber mich interessieren die möglicherweise sozial verursachten, also durch die Routinisierung bestimmter Handlungstypen, Formen der Verdinglichung und damit der Anerkennungsvergessenheit.
Caspary:
Sie waren Assistent bei Habermas, stehen in der Linie der kritischen Theorie – und operieren dann mit Heidegger und solchen entwicklungspsychologischen Dingen. Das finde ich interessiert. Haben Sie damit Kritiker auf den Plan gerufen?
Honneth:
Ich finde, die Verwendung entwicklungspsychologischer Annahmen ist nicht so ungewöhnlich. Schon Habermas hat sich sehr mit Entwicklungspsychologie beschäftigt, um bestimmte seiner Annahmen begründen zu können. Aber es finden sich auch bei Adorno und Horkheimer, wenn man in die Dialektik der Aufklärung schaut, bestimmte entwicklungspsychologische Hypothesen vertreten. Schwieriger ist das Verhältnis zu Heidegger, das ist keine Frage. Ich war da vielleicht immer ein weniger unbefangener als Habermas, der mein Vorgänger war und dessen Assistent ich lange war, der aus einer Zeit stammte, in der es eine Errungenschaft war und für ihn auch eine persönliche Herausforderung, an Heidegger das politisch Schreckliche – den Antisemitismus, über den wir uns heute überhaupt keine Illusionen mehr machen können – das war eine mühsame Arbeit gerade für die, die von Heidegger noch in ihren Anfängen beeinflusst waren, und das war Habermas, sich davon zu lösen und sich diesen ganzen Sachverhalt in aller Schärfe und Brutalität vor Augen zu führen, dass das zu einer Haltung geführt hat, sich mit Heidegger nicht länger zu beschäftigen. Da bin ich unbefangener. Ich finde "Sein und Zeit" ein wirklich wichtiges Werk des 20. Jahrhunderts. Ich finde, da steckt eine Analyse drin, von der wir weiterhin lernen können. Und deswegen habe ich anders als die Vorgänger in der Tradition da keine Berührungsängste mehr. Adorno hat interessanterweise Heidegger immer umgangen, hat ihm den Jargon der Eigentlichkeit vorgeworfen,
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auch das Raunen, und selbst da könnte man – und es gab Versuche- immer noch zeigen, dass es vielleicht sogar bestimmte Berührungspunkte gibt.
Caspary:
Kritiker bemängeln immer wieder, das habe ich in mehreren Artikeln gelesen, Sie würden mit dem Konzept der Anerkennung eine Art Rousseauschen Urzustand idealisieren, also der Mensch ist von Natur aus gut und die Gesellschaft hat ihn böse gemacht. Und er ist von Natur aus, das würde ich jetzt auf Sie ummünzen, zur Anerkennung geradezu prädestiniert, und nachher kommt die Sozialisation oder das Hineinwachsen in die Gesellschaft und macht alle schlecht. Herr Honneth ist eigentlich ein Romantiker?
Honneth:
Ich glaube, dass das falsch ist. Das hängt natürlich sehr stark damit zusammen, was man alles in die elementare Form der Anerkennung, über die wir gesprochen haben, hineindenkt. Wenn ich mir diese elementare Form der Anerkennung, von der sowohl bei Heidegger als auch bei Wittgenstein und bei vielen großen Philosophen des 20. Jahrhunderts die Rede ist, wenn ich mir die so vorstelle, dass sie die moralische Rücksichtnahme auf den anderen bereits beinhaltet, dann wäre es Rousseauismus, dann wäre es eine Art optimistischer Anthropologie. Von Geburt an mit der Sozialisation werden wir dazu angehalten, lernen präreflexiv den anderen moralisch zu achten, und das geht dann irgendwie durch soziale Prozesse verloren. Das will ich auf jeden Fall vermeiden. Mir scheint ein solcher Rousseauismus problematisch. Ich glaube, wir haben keine guten Gründe anzunehmen, dass der Mensch von Natur aus gut oder böse ist. Ich will das dadurch vermeiden, dass ich sage, was ich vorhin versucht habe anzudeuten, dass diese elementare ursprüngliche Form der Anerkennung gewissermaßen nur so etwas meint wie die Betroffenheit durch die andere menschliche Existenz. Die Art der Betroffenheit ist aber damit gar nicht festgelegt. Das heißt nur, wir können gar nicht umhin, am anderen Menschen die menschlichen Eigenschaften anerkennend wahrzunehmen. Zu welchen Reaktionen das dann jeweils in mir führt, ist vollkommen unausgemacht und hängt von vielen anderen Umständen ab. Es ist in dem Sinn, würde ich mal sagen, zunächst mal eine geradezu moralisch neutrale Grunderfahrung menschlichen Daseins.
Caspary:
Wir haben im Moment einen Trend in der Soziologie, zum Teil auch in der Philosophie, nochmal eine Kritik an der Moderne vorzulegen: den beschleunigten Kapitalismus, wir haben Hartmut Rosa mit seiner Resonanztheorie und der Entfremdungskritik ins Feld geführt. Ich erinnere mich an den Philosophen Byung-Chul Han, der den Kapitalismus kritisiert, auch in Bezug auf die Tatsache, dass der Kapitalismus unsere menschlichen Verhältnisse angeblich ökonomisiert, unter ganz andere Werte stellt. Nochmal zum Schluss, Herr Honneth: Wäre dieses Konzept der Anerkennung ein Instrument zur Kritik an der Moderne, nicht am Kapitalismus, aber an bestimmten Phänomenen der modernen Gesellschaft? Oder wollen Sie das nicht so festlegen?
Honneth:
Zunächst mal habe ich, glaube ich, ein positiveres Verhältnis zum Grundentwurf der Moderne, zu den normativen Versprechen der Moderne. Ich würde sagen, da bin ich sehr stark Schüler von Habermas, dass die Moderne Institutionen hervorgebracht hat, die das Versprechen bestimmter Formen der wechselseitigen Anerkennung
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eigentlich enthalten und damit auch Versprechungen von Freiheit beinhalten. Ich würde die Entwicklung moderner Gesellschaften daher viel stärker so kritisieren oder in den Augenschein nehmen, dass ich mich frage, durch welche Prozesse wird eigentlich verhindert, dass diese Versprechen sich erfüllen können. Das wäre meine Perspektive. Ich würde nicht eine jenseitige Perspektive nehmen, nicht aus dem Projekt der Moderne als Ganzes aussteigen, sondern eher immanent fragen, welche sozialen Bedingungen verhindern eigentlich die Realisierung bestimmter, im Ganzen doch zukunftsträchtiger Versprechungen dieser modernen Institutionen. Dass die Liebe auf freie, wechselseitige Zuneigung gestellt sein soll, dass die Demokratie alle von den Entscheidungen betroffenen Personen gleichmäßig einbeziehen soll, dass der Markt – das ist ja auch ein Versprechen – die daran Beteiligten zu freien Marktteilnehmern machen soll: Das sind Versprechen, die weitgehend nicht erfüllt sind, aber die uns weiterhin als Maßstab einer immanenten Kritik dieser modernen Gesellschaften dienen kann.
Caspary:
Darf ich Sie zum Schluss fragen, was Sie zur Flüchtlingskrise sagen? Oder würde ich Sie festlegen auf die politische Aktualität? Haben wir es mit einem Anerkennungsproblem zu tun, spielt das mit rein?
Honneth:
Mit Sicherheit. Der Asyl-Paragraph, den wir in unserem Grundgesetz haben, schreibt zwingend vor, dass wir diejenigen, die aus nicht verschuldeten Ursachen in Not sind, Asyl gewähren müssen. Das heißt, wir müssen sie als unverschuldet in Not geratene Subjekte anerkennen. An der Stelle hat, glaube ich, Frau Merkel unbedingt recht. Die Idee von Obergrenzen scheint mir mit unserem Grundgesetz prinzipiell nicht vereinbar zu sein. Natürlich sieht die Anwendung des Asyl-Paragraphen gerade mit seiner Offenheit gegenüber allen, die in Not geraten sind, unglaubliche und vielleicht von uns weitgehend noch unterschätzte Integrationsprobleme nach sich. Das heißt, wir müssen, glaube ich, erst institutionelle Fantasie entwickeln, um uns über all das klar zu werden, was es bedeutet, diese Flüchtlinge hier in unser eigenes Gesellschaftssystem so zu integrieren, dass sie zukünftig vielleicht zu gleichen Mitbürgerinnen und Mitbürgern werden können. Da bedarf es Einrichtungen, Integrationsmaßnahmen, eben nicht nur schulische Prozesse, der Sozialisation, es bedarf vielleicht Kommunikationszentren. Da ist unglaublich viel zu tun. Und da neigen wir sicherlich dazu, die ganzen Herausforderungen zu unterschätzen.
Caspary:
Wir werden sehen, wo das hingeht. Herr Honneth, vielen Dank.
Honneth:
Ich bedanke mich.
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P