SWR2 AULA - Prof. Gerald Hüther: Eine neue Kultur der Anerkennung – Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der Schule
Autor und Sprecher: Prof. Gerald Hüther *
Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
Sendung: Sonntag, 26. November 2006, 8.30 Uhr, SWR 2
Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
ÜBERBLICK
Wenn wir über PISA und die Leistungen unserer Schüler debattieren, geht es meistens um kognitive Fähigkeiten und um pure Wissensvermittlung. Dabei gibt es ein Problem, das Einstein sinngemäß so formuliert hat: Ein Problem kann man nicht mit denselben Maßnahmen lösen, mit denen man es hervorgerufen hat.
Auf die Schule bezogen heißt das: Die Dominanz der Kognition muss endlich überwunden werden, wir brauchen eine völlig neue Kultur der Anerkennung, der Wertschätzung, der gemeinsamen Anstrengungen. Professor Gerald Hüther, Leiter der Abteilung für neurobiologische Grundlagenforschung an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen, zeigt, wie und warum die wichtigen Impulse für dieses Projekt von der modernen Hirnforschung kommen.
INHALT
Ansage:
Heute mit dem Thema: „Eine neue Kultur der Anerkennung – Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der Schule“.
Wenn wir über PISA und die schlechten Leistungen der deutschen Schüler im internationalen Vergleich debattieren, geht es meistens um kognitive Fähigkeiten und Defizite, um die Frage etwa, wie man die Wissensvermittlung verbessern kann, damit die Schüler mehr und effizienter neues Wissen aufnehmen können. Also im Grunde genommen haben wir es mit einer „Verkopfung“ von Schule und schulischem Lernen zu tun.
Genau das aber ist ein falscher Weg, eine falsche Entwicklung – sagt Professor Gerald Hüther, einer der wichtigen deutschen Neurowissenschaftler. Aufgrund seiner Forschungen über die neuronale, kognitive und emotionale Entwicklung bei Kindern, plädiert er dafür, emotionale und soziale Faktoren mehr zu berücksichtigen. Ihm geht es um eine neue Lernkultur der Wertschätzung, der Anerkennung, des Miteinanders.
In der SWR2 AULA zeigt Hüther, wie und warum auch die moderne Hirnforschung diese Aspekte für wichtig hält.
Gerald Hüther:
Die Lernleistungen der deutschen Schüler könnten besser sein. Das hatten viele Menschen in unserem Land schon seit längerem geahnt. Aber erst als die Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudie, der PISA-Studie, bekannt wurden, kam Bewegung in die deutsche Bildungslandschaft. Doch statt nach Ursachen wurde zunächst einmal nach den Schuldigen gesucht. Die Real- und Gymnasiallehrer machten die Grundschullehrer verantwortlich, die wiederum die Erzieherinnen aus dem vorschulischen Bereich und die dann die Eltern. So wurden dann auch die Bildungspolitiker wach und haben die üblichen Maßnahmen beschlossen: mehr Fortbildung für die Lehrer, bessere Ausbildungsstandards für Erzieher und natürlich häufigere und strengere Erfolgskontrollen für alle – für Erzieher, Lehrer und für Schüler. Im Kindergarten hieß das Zauberwort „Frühförderung“.
Aber schon Albert Schweitzer hatte ja festgestellt: „Das Heil der Welt liegt nicht in neuen Maßnahmen, sondern in einer anderen Gesinnung.“ Und der andere Albert – Albert Einstein brachte es noch präziser auf den Punkt: „Wir können unsere Probleme nicht mit den gleichen Maßnahmen lösen, mit denen wir sie verursacht haben.“ Mit anderen Worten: Bildung muss, wenn sie gelingen soll, nicht besser durchorganisiert, sondern anders gestaltet werden.
Dass das geht, haben einzelne Schulen uns längst vorgemacht, auch in unserem Land. Der Filmemacher Reinhard Kahl hat solche Schulen in seinem Film „Treibhäuser der Zukunft“ vorgestellt. Es sind Schulen, in die die Schüler so gern gehen, dass sie traurig sind, wenn die Ferien beginnen, und sich darauf freuen, wenn der Unterricht wieder losgeht. Aber leicht ist eine solche Umgestaltung innerhalb der gegenwärtig bestehenden Schullandschaft nicht. Sie stößt auf erhebliche Widerstände und erfordert ein hohes Engagement aller Beteiligten.
Und nun bekommen diese innovativen Schulmodelle plötzlich Schützenhilfe und eine enorme Bestätigung ihres Ansatzes von einer Disziplin, der man das eigentlich kaum zugetraut hätte: der Neurobiologie.
Die Hirnforscher haben in den letzten 10 Jahren eine Vielzahl von Erkenntnissen darüber zutage gefördert, wie das Lernen funktioniert, unter welchen Voraussetzungen Bildungsprozesse gelingen können und unter welchen Bedingungen Kindern die Lust am Lernen, am Entdecken und am Gestalten vergeht. Dabei geht es nicht so sehr um all jene Erkenntnisse, mit deren Hilfe sich vielleicht die Effizienz des herkömmlichen Unterrichts verbessern ließe, also um das, was man neuerdings als „Neurodidaktik“ bezeichnet. Auch dafür liefern die Neurowissenschaften einige brauchbare Ansätze. Wichtiger aber ist all das, was die moderne Hirnforschung an Erkenntnissen zusammengetragen hat, die für diese Treibhäuser der Zukunft, also für diese zukunftsweisenden Modellschulen entscheidend sind, und was sich in der alten Gärtnerweisheit zusammenfassen lässt: Die Pflanzen wachsen nicht besser, wenn man daran zieht. Man muss sie gießen, gelegentlich düngen und auch einigermaßen von Unkraut freihalten. Auf die Schüler bezogen heißt das, wir brauchen eine neue Kultur in unseren Bildungseinrichtungen, eine Kultur der Wertschätzung, der Anerkennung, der Ermutigung und der gemeinsamen Anstrengung. „Supportive leadership“ heißt dieses neue Modell in der Wirtschaft. Und überall dort, wo es eingeführt wird, sprechen die Erfolge für sich, sogar im Sport, im Fußball, siehe das, was uns Jürgen Klinsmann mit der Deutschen Nationalmannschaft vorgemacht hat: eine wertschätzende, unterstützende und gleichzeitig zur Höchstleistung ermutigende und anspornende Beziehungskultur. Das ist das, was er als Trainer aufgebaut hat, und das ist auch das, was unsere Schulen in Zukunft brauchen, damit die Potentiale der Schüler zur Entfaltung und nicht wie bisher unter die Räder kommen. Denn das ist die erste wichtige Erkenntnis der modernen Neurobiologie. Kinder, und zwar alle Kinder, kommen mit einer unglaublichen Lust am eigenen Entdecken und Gestalten zur Welt. Nie wieder ist ein Mensch so neugierig und so entdeckerfreudig und so gestaltungslustig und so begeistert darauf, das Leben kennen zu lernen, wie am Anfang seines Lebens. Diese Begeisterungsfähigkeit, diese enorme Lernlust und diese unglaubliche Offenheit der Kinder sind der eigentliche Schatz der frühen Kindheit. Und diesen Schatz müssen wir besser als bisher bewahren. Es geht also eigentlich im Grunde gar nicht darum, mit Hilfe von Förderprogrammen Kindern neue Erkenntnisse beizubringen, was wir brauchen sind im Grunde Programme, mit deren Hilfe wir verhindern, dass das, was viel zu häufig heute noch immer passiert, auch in Zukunft weiter geschieht, nämlich dass Kinder irgendwann die Lust am Lernen verlieren, dass sie null Bock auf Schule haben.
Woher kommt eigentlich die Lust am Lernen, und wie funktioniert das Lernen? Wenn man eine neue Wahrnehmung macht, das gilt für Erwachsene genauso wie für Kinder, dann entsteht im Hirn ein Erregungsmuster, ein Wahrnehmungsmuster. Das wird als eine bestimmte Aktivität in den synaptischen Netzwerken aufgebaut, in denen die Reize und die Signale von den Sinnesorganen weitergeleitet werden. Und dieses neu entstandene Wahrnehmungsmuster passt natürlich nicht so recht zu dem, was bis dahin im Gehirn an Aktivierungsprozessen abgelaufen ist. Und deshalb versucht der Lernende, wieder Einklang herzustellen zwischen dem neuen Muster und den anderen alten Mustern. D. h. mit anderen Worten, man sucht nach etwas Passendem, man sucht nach einem passenden Erinnerungsmuster, an das das neue angefügt werden kann.
Dabei gibt es drei Möglichkeiten: Die erste ist, dass man sofort etwas findet, was genau deckungsgleich mit dem neuen Muster ist. Dabei hat man allerdings nichts hinzugelernt, sondern auf eine neue Wahrnehmung lediglich mit einer Routineantwort reagiert. Und das zweite ist auch eine Reaktion, die im Hirn nicht allzu viel verursacht. Das ist die Situation, in der Kinder oder auch Erwachsene eine neue Wahrnehmung machen, dann eine zeitlang versuchen, irgendein entsprechendes Muster in ihrem Hirn zu finden, das sich an das neue Wahrnehmungsmuster anknüpfen lässt. Wenn sie nichts finden, wird die neue Wahrnehmung als Unsinn abgetan und nicht weiter beachtet.
Spannend ist immer nur der dritte Fall: Kinder und auch Erwachsene nehmen etwas Neues wahr, was ein bisschen zu dem passt, was sie schon wissen, so dass ein Wahrnehmungsmuster entsteht, das sich irgendwie doch an bereits vorhandene Erinnerungsmuster anfügen lässt. Und dann wird das Neue in das Alte quasi integriert.
Das Hirn arbeitet also gewissermaßen wie ein Arbeiter auf einer Baustelle. Immer wird an das, was bereits vorhanden ist, Neues angefügt, d. h. wir können mit unserem Hirn eigentlich gar nichts Neues lernen, es geht immer darum, dass etwas Neues an den bereits vorhandenen Schatz von Erfahrungen, an den bereits ausgebildeten Komplex vorhandener Netzwerken angefügt wird.
Und das bedeutet gleichzeitig, dass Kinder, wenn sie auf die Welt kommen, schon neuronale Verschaltungsmuster mitbringen, die sie benutzen können, um all das, was sie in der Welt kennen lernen, anfügen zu können. Und diese vorgeburtlich ausgebildeten Muster – das ist vielleicht die zweite wichtige Erkenntnis der Neurobiologen – werden zu einem überwiegenden Anteil ebenfalls durch Erfahrungen erlernt. Das Gehirn weiß nicht, wie das Verschaltungsmuster beschaffen sein muss, das später als innere Repräsentanz benutzt werden kann, um z. B. die Bewegungen des Armes zu steuern. Wäre da kein Arm, könnte das Muster nicht ausgeformt werden. Das liegt daran, dass die genetischen Programme so beschaffen sind, dass sie zunächst immer nur Überangebote von Nervenzellen bereitstellen können. Deshalb entstehen vorgeburtlich erst einmal viel zu viele Nervenzellen. Ein Drittel wird später wieder weggeräumt, weil es nicht in funktionelle Netzwerke eingebaut werden kann. Das Überangebot wird dazu benutzt, bei ähnlichen Erregungsmustern bestimmte Strukturmuster herauszubilden. Ein kleiner Vogel, der noch im Nest sitzt, hat ein Überangebot an Nervenzellverschaltungen in seinem neuronalen Gesangszentrum. In seiner Nähe ist vielleicht sein Vater und singt, und jedes Mal dann, wenn der kleine Vogel diesen Gesang hört, entsteht in seinem Gesangszentrum ein bestimmtes Erregungsmuster, nennen wir es mal ein „synaptisches Geflimmer“. Je häufiger dieses Muster aufgebaut werden kann, desto stabiler werden letztlich die neuronalen Verschaltungen, während alle anderen Verschaltungen, die nicht benutzt werden, die nicht durch den Gesang erregt werden, verkümmern. Am Ende bleibt ein für diesen Gesang charakteristisches Verschaltungsmuster übrig: der „Struktur gewordene“ Gesang.
Worauf es nun bei der kindlichen Entwicklung ankommt, insbesondere auch in der Schule, ist weniger der Gesang, sondern dass die „höheren“ komplexen Bereiche des kindlichen Gehirns, der Kortex und ganz besonders das Frontalhirn, Gelegenheit bekommen, diese hochkomplexen Verschaltungen aufzubauen, und zwar nutzungsabhängig.
Vieles, was Kinder bereits auf die Welt mitbringen, haben sie eben nicht durch genetische Programme vererbt bekommen, sondern das haben sie erworben. Während der frühen Entwicklung, vor der Geburt und noch eine zeitlang nach der Geburt, macht jedes Kind zwei ganz entscheidende Grunderfahrungen: die eine Grunderfahrung, die täglich implizit bestätigt wird durch das, was das Kind erlebt, ohne dass das bewusst würde, ist, dass es in Verbindung mit anderen Menschen steht. Daraus leitet sich die Erwartungshaltung ab, die normalerweise bei einem Menschen nie wieder verschwindet, nämlich dass man mit anderen auch verbunden bleiben möchte. Die zweite Grunderfahrung wird auch schon vorgeburtlich gemacht und wird während der weiteren frühkindlichen Entwicklung weiter bestätigt: Jedes Kind merkt, dass es jeden Tag ein Stückchen über sich hinaus wachsen kann. Und daraus leitet sich die Erwartungshaltung ab, dass das auch in Zukunft weiter möglich sein muss, in Verbindung zu bleiben und über sich hinaus wachsen zu können. So werden neue Wahrnehmungen gemacht, und jede neue Wahrnehmung wird von einem Kind nicht nur durch die Sinnesorgane und die entsprechenden Verarbeitungszentren im Gehirn verankert, sondern mit dem ganzen Körper und mit allen Sinnen.
Jedes Mal, wenn es gelingt, eine „Störung“, wie sie beispielsweise auftritt, wenn man etwas Neues wahrnimmt, zu bewältigen, wenn es also gelingt, eine neue Wahrnehmung in den Schatz der vorhandenen Erinnerungsmuster zu integrieren, kehrt ja eine sonderbare Ruhe ins Gehirn ein. D. h. solange man noch sucht und noch versucht, das Neue irgendwie einzupassen, herrscht eine „produktive Unruhe“. Man will wissen, wie das passen könnte zu dem, was man schon weiß. Und wenn der Integrationsprozess plötzlich gelingt, breitet sich eine Welle von Harmonie im Gehirn aus. Und das führt zur Aktivierung der sogenannten Belohnungszentren im Zwischenhirn.
Das ist eine Zellgruppe von Dopamin produzierenden Nervenzellen, die mit langen Fortsätzen in die limbischen und vor allem in die kortikalen Bereiche des Gehirns hineinragen. An den Enden dieser Fortsätze wird u. a. ein Botenstoff ausgeschüttet, das Dopamin. Dopamin ist in der Lage, die Nervenzellverschaltungen, die unter neuen Lernprozessen aktiv werden, zu verstärken und zu festigen. Es sorgt außerdem dafür, dass in den Zellen, die diesen Botenstoff als Signal empfangen und in das Zellinnere weiterleiten, eine ganze Kaskade von Reaktionen ausgelöst wird, die bis in den Zellkern hineinreichen. Die Nervenzellen stellen vermehrt Wachstumsfaktoren und Eiweiße her, die gebraucht werden, um neue Fortsätze zu bilden und neue Synapsen auszubilden. Unter diesen Bedingungen können neu erlernte Inhalte ganz besonders gut im Gehirn verankert werden.
Ein Kind möchte immer wieder die Erfahrung machen, dass sich etwas Neues in den vorhandenen Schatz des Wissens einfügen lässt, es möchte eine Herausforderung nach der anderen bestehen, weil sich dadurch ein Zustand der Befriedigung und der inneren Harmonie einstellt. In dem Maße, wie Erfahrungen bewältigt werden, entsteht eine positive Erwartungshaltung, und das Kind sucht sich neugierig die nächste Hürde. Dabei wird außerdem ein Gefühl von Selbstwirksamkeit immer stärker und damit auch die Lust am Lernen.
Das ist der ursprüngliche Kreislauf, in dem sich Lernen vollzieht. Das Interessante an diesem natürlichen Kreislauf des Lernens ist die Tatsache, dass dabei die emotionalen Zentren immer aktiv bleiben und auf diese Weise neuroplastische Botenstoffe vermehrt ausgeschüttet werden, die dafür sorgen, dass das, was das Kind lernt und was es voller Begeisterung lernt, auch fest und tief im Gehirn verankern kann.
Leider gibt es auch Situationen, die dazu führen, dass Kinder aus diesem Lernzyklus herausfallen. Dann werden bestimmte Aufgaben und Probleme zu schwer, die Kinder scheitern, haben eine negative Erwartungshaltung, die Kinder geraten in einen Teufelskreis, in dem die Angst und damit verbunden die Selbstzweifel immer größer werden. Auch das geht mit einer Aktivierung emotionaler Zentren einher. Entsprechend tief eingegraben und gebahnt werden auch solche negativen Erfahrungen. Das sind dann praktisch die negativen Überzeugungen und Selbstzuschreibungen, wie wir sie alle kennen. Manche Menschen werden sie ihr ganzes Leben lang nicht mehr los, sie sagen: „Mich mag keiner, ich kann nichts, ich bin blöd, es macht alles keinen Spaß.“
Entscheidend dafür, wie man neue Aufgaben annimmt, sind also frühe Erfahrungen. Aus ihnen leiten wir alle unsere Bewertungen ab. Das ist eine weitere neue Erkenntnis der Neurobiologen. Es ist nicht entscheidend, was sich ereignet oder was wir erleben, sondern entscheidend ist, wie ich die Ereignisse, meine Erlebnisse bewerte.
Ich will das versuchen, an einem Beispiel deutlich zu machen: Wenn wir bei einem Waldspaziergang bemerken, da huscht etwas sich Schlängelndes von der einen Seite des Weges auf die andere, dann wird bei einem Nebenast unserer Sehnerven eine Erregung weitergeleitet zum Thalamus, dort ist ein vorgefertigtes Verschaltungsmuster, das bei Erregung – nennen wir es das „Schlangen-Furcht-Programm“ -, dem limbischen System Gefahr meldet. Achtung: Schlange! Die Aktivierung im limbischen System führt dazu, dass eine ganze Reihe von Reaktionen ausgelöst werden. Das ist der Grund dafür, dass wir im selben Moment, in dem wir dieses Hinüberschlängeln gesehen haben, zurückspringen, uns stehen die Haare zu Berge, das Herz schlägt bis zum Hals. All das sind Reaktionen, die vom Hirnstamm aus gesteuert, aber vom limbischen System angestoßen werden. Vielleicht kriegen wir auch einen Schweißausbruch, die Knie werden weich, der Atem stockt – all diese Angst- und Fluchtreaktionen stellen sich ein.
Doch dann schauen wir genauer hin. Und vielleicht erkennen wir, dass es sich gar nicht um eine Kreuzotter handelt, sondern um eine Blindschleiche. Und schon ändert sich unsere Bewertung, und der Kortex hemmt mit seiner neuen Bewertung die gesamten angst- und furchtauslösenden Reaktionen. D. h., wir sind in der Lage, durch eine Umbewertung eines Ereignisses die aus den älteren Bereichen des Gehirns in Gang gesetzten Reaktionen plötzlich anzuhalten und sie zum Teil, wenn uns eben diese Blindschleiche keine Angst einflößt, sondern gefällt, vielleicht sogar umzuwandeln in Interesse, in Zuwendung. Und dann werden vom limbischen System all jene Reaktionen vom Hirnstamm aus zu einer konzertierten Aktion gebündelt, die mit Aufmerksamkeit, innerer Beruhigung, Neugier und Befriedigung einhergehen.
Immer wieder sind es also Reaktionen in den höheren Bereichen des Gehirns, die in der Lage sind, die in den älteren Regionen des Gehirns ablaufenden Prozesse zu lenken und zu steuern. Wir nennen diese Reaktionen Metakompetenzen. Sie werden vor allem in den Bereichen des Frontalhirns in Form von hochkomplexen Verschaltungsmustern während der Kindheit und Jugend aufgebaut und sind dafür zuständig, was für ein Selbstwirksamkeitskonzept ein Mensch entwickelt, wie und wodurch er sich motivieren lässt. Problemlösungskompetenz ist eine hochkomplexe Fähigkeit des Menschen, die als sogenannte exekutive Frontalhirnfunktion während der Kindheit und Jugend angelegt werden muss, um Handlungen zu planen, die Folgen abzuschätzen und auf diese Weise seine immer mal wieder aus den älteren Bereichen des Hirns aufsteigenden archaischen Impulse zu kontrollieren, auch Frustrationen auszuhalten – all das sind Funktionen, die in dieser komplexen Region des menschlichen Gehirns aufgebaut werden und zwar in Form von Verschaltungsmustern, die ebenfalls herausgeschält werden aus einem Überangebot von Verschaltungsmöglichkeiten. Bis etwa zum 6. Lebensjahr entsteht im frontalen Kortex ein riesiges Überangebot an Vernetzungsmöglichkeiten. Und dann muss aufgrund von eigenen Erfahrungen immer wieder ein bestimmtes Erregungsmuster in diesem frontalen Kortex, in diesen Netzwerken aufgebaut werden, damit einzelne dieser Kompetenzen entwickelt und immer weiter geschärft werden können. Deshalb ist die Aneignung der Metakompetenzen entscheidender als die Vermittlung von Wissen.
Das Problem in unseren Schulen ist natürlich, dass das auswendig gelernte Wissen viel besser abgeprüft werden kann als die Metakompetenzen. Aber schon Antoine de Saint-Exupéry hat gesagt: „Wenn ihr wollt, dass eure Kinder ein Schiff bauen lernen, dann weckt in ihnen die Sehnsucht nach der Seefahrt“. Das ist eben die andere Lernstrategie, die dafür sorgt, dass die Sehnsucht der Kinder nach Bildung geweckt wird.
Das führt uns zu einer weiteren neuen und gleichermaßen eben auch alten Erkenntnis: neue Erfahrungen müssen unter die Haut gehen. Es kommt also nicht so sehr auf die Qualität des Unterrichts, auf die Didaktik und die Methodik an, mit der man Wissen vermittelt, sondern darauf, dass das Lernen die Schüler begeistert. Begeisterung bei Schülern zu wecken, gelingt am besten durch eine wertschätzende, anerkennende und ermutigende Beziehung. Sie ermöglicht das sogenannte Erfahrungslernen, das bedeutet, es wird nicht einfach ein Stoff vermittelt, sondern die Schüler werden angehalten zu eigenständigem Entdecken. Die Kinder machen ihre eigenen Erfahrungen und erwerben auf diese Weise all die Kompetenzen, die nötig sind, damit man zeitlebens ein begeisterter Entdecker und Gestalter werden kann. Erfahrungslernen ist etwas anderes als Auswendiglernen von Sachverhalten.
Eine zweite Form des Lernens ist offenbar ebenso wichtig. Sie spielt auch schon in der frühen Kindheit eine Rolle. Sie wird vermittelt über die sogenannten Spiegelneuronensysteme. Wir nennen es das Imitationslernen. Wenn ein Kind einen Menschen, der ihm nahe steht und der ihm wichtig ist, beobachtet, wie der etwas Bestimmtes macht, werden im Gehirn dieses Kindes neuronale Muster aktiviert. Es sind dieselben Muster, die auch beim Erfahrungslernen aktiv sind.
Die dritte Form des Lernens ist das Dressurlernen. Es funktioniert durch Bestrafen und Belohnen. Ein Nachteil bei dieser Form ist, dass all das mit dazu gelernt wird, was man eigentlich vermeiden möchte: die Angst etwa vor der Bestrafung.
Lernen kann man nicht mit Angst. Laut Statistik gehen 40 Prozent der Schüler mit Angst in die Schule. Angst führt dazu, dass unspezifische Erregungsmuster im Gehirn aufgebaut werden und sich ausbreiten. Das einzige, was dagegen hilft, ist Vertrauen. Kinder müssen deshalb Gelegenheit bekommen, Vertrauen zu entwickeln zu sich selbst, aber auch zu anderen. Und schließlich hat der Mensch noch eine weitere Ressource, die ihn stärkt und Angst überwinden hilft: das Vertrauen, das Wissen, dass man getragen und gehalten ist, dass es wieder gut geht, dass das, was man tut, Sinn macht.
Zusammenfassend kann man festhalten: Worum es also geht, ist eine andere Kultur in unseren Schulen, eine andere Beziehungskultur der Wertschätzung, Ermutigung und der Unterstützung, in der Vertrauen wachsen kann und Kinder und Jugendliche in die Lage versetzt werden, hochkomplexe Muster in ihren Gehirnen aufzubauen. Eine zweite Ebene, auf der sich etwas ändern muss, ist die Lernkultur in unseren Schulen. Kinder brauchen mehr Möglichkeiten, sich den Unterrichtsstoff durch eigene Erfahrungen zu erschließen, es handelt sich um das sogenannte Erfahrungslernen. Die dritte Ebene ist die Erziehungskultur. Wir müssen begreifen, dass die Vermittlung von Kompetenzen wichtiger ist als Vermittlung von Wissen. Wir brauchen als Lehrer starke Persönlichkeiten und keine „Fachidioten“.
Nur eine andere Schulkultur kann dazu führen, dass unsere Kinder und Jugendlichen die Potentiale eines hochkomplexen und vielseitig vernetzten Gehirns auch wirklich optimal nutzen.
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* Zum Autor:
Professor Gerald Hüther, Jahrgang 1951, leitet die Abteilung für neurobiologische Grundlagenforschung an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen. Er hat in Leipzig Biologie studiert und dort auch promoviert. Die Habilitation folgte im Jahr 1988 im Fach Neurobiologie. Hüther baute als Heisenberg-Stipendiat von 1989 bis 1994 die Abteilung für neurobiologische Forschung an der Universitätsklinik Göttingen auf. Forschungsgebiete: Auswirkungen von Angst und Stress auf das Gehirn, Evolution des Bewusstseins, Wirkungen und Folgen von Drogen und Psychopharmaka.
Bücher (Auswahl):
- Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.
- Die Macht der inneren Bilder. Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.
- Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht.
- Auf Schatzsuche bei unseren Kindern (zus. m. J. Prekop).Ein Entdeckungsbuch für neugierige Eltern und Erzieher. Kösel-Verlag.
- Neues vom Zappelphilipp (zus. m. H. Bonney). ADS/ADHS verstehen, vorbeugen und behandeln. Walter-Verlag