SWR2 AULA – Konstantin Sakkas: Die Krise als Normalfall . Das Drama unserer Gegenwart (Alternativtitel: Das Drama unserer Zeit)
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SWR2 AULA – Konstantin Sakkas: Die Krise als Normalfall . Das Drama unserer Gegenwart (Alternativtitel: Das Drama unserer Zeit)
 Autor und Sprecher: Konstantin Sakkas *
 Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
 Sendung: Pfingstsonntag, 12. Juni 2011, 8.30 Uhr, SWR 2
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 Bitte beachten Sie:
 Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
 Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
 Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
 * Zum Autor:
 Konstantin Sakkas (*1982) studierte Rechtswissenschaften, Philosophie und
 Geschichte und schloss sein Studium an der Freien Universität Berlin 2009 mit dem
 Magister ab. Gegenwärtig promoviert er bei Professor Bernhard H.F. Taureck (TU
 Braunschweig) über Hannah Arendt. Er arbeitet seit mehreren Jahren als freier Autor
 für Presse und Rundfunk."
 1 F. Grillparzer, Ein Bruderzwist in Habsburg, III. Aufzug, in: Sämtliche Werke. Hrsg. v. P. Frank und K.Pörnbacher, München 1960-65, Bd. 2, S. 362.
 2 K. Sakkas, Sieg der Entsagung Leben und Sterben mit Schopenhauer. Deutschlandfunk, 19.09.2010:
 http://www.dradio.de/dlf/sendungen/essayunddiskurs/1275126/.
 3 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (= Gesammelte Werke, Bd. 3), Frankfurt/Main 1986, S. 435 f..
 4 H. Arendt, Vita activa. Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, S. 284.
 5 Goethe, An Frau von Stein, in: Weimarer Ausgabe, Abt. I, Bd. 4, S. 97.
 6 Vergil, Aeneis I 33, dt. v. J. Götte.
 7 K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: K. Marx, F. Engels, Werke (MEW), Berlin 1956
 ff., Bd. 8, S. 115.
 8 B. H. F. Taureck, Wachstum über alles – Die Karriere einer Metapher. SWR 2, 24.09.2009, S. 3:
 http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/-/id=4737462/property=download/nid=660374/pj46hw/swr2-wissen-20090524.pdf. 
 9 Diesen Grabspruch des Hl. Ignatius von Loyola (1491-1556) stellte F. Hölderlin seinem Hyperion voran. © für die dt. Übersetzung: Konstantin Sakkas.
 10 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Werke in sechs Bänden, hrsg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1957, Bd. 5, S. 242 ff.
 11 Arendt, S. 314.
 12 Vgl. K. Sakkas, Was soll ich tun? Anmerkungen zur menschlichen Existenz. Deutschlandradio Kultur,
 29.4.2011: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesfeuilleton/1445386/
 13 M. Proust, Guermantes (= Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 3), dt. v. E. Rechel-Mertens,Frankfurt/Main 2004, S. 446.
 14 Vgl. K. Sakkas, Zur Besinnung kommen Gedanken zu Hannah Arendts "Vita activa". Deutschlandradio Kultur,
 24.12.2010: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesfeuilleton/1349376/.
 15 Arendt, S. 306.
 16 Vgl. Sakkas, Sieg der Entsagung.
 17 So Scipio d. J. nach dem Zeugnis Ciceros, zit. n. Arendt, S. 317.
 ÜBERBLICK
 Die Naturkatastrophe in Japan und der durch sie bewirkte nukleare Störfall im Kraftwerk Fukushima; die Revolutionen in Nordafrika mitsamt unabsehbaren Folgen für die politische Stabilität in der Region; innenpolitische Skandale wie die Guttenberg-Affäre in Deutschland und die Berlusconi-Affäre in Italien, welche die Lüge und Unaufrichtigkeit an der Spitze der Gesellschaft in ihrer ganzen Primitivität öffentlich werden ließen; und schließlich die desaströse Schuldenkrise in Europa, Japan und Nordamerika, welche die kapitalistische Wirtschaftsordnung fundamental infrage stellt: Das zweite Jahrzehnt im neuen Jahrhundert droht ein ähnlich dramatisches zu werden wie jenes vor einhundert Jahren, als der Erste Weltkrieg ausbrach und die alte Ordnung für immer unterging. Konstantin Sakkas, Journalist und Philosoph aus Berlin, untersucht die Ursachen dieser Krise und zeigt, wie man sie überwinden könnte.
 INHALT
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 Ansage:
 Mit dem Thema: „Die Krise als Normalfall - Das Drama unserer Zeit“.
Auf dem Kirchentag in Dresden hat der Ratsvorsitzende der Evangelisch Kirche
 Deutschland, Nikolaus Schneider, vor dem Fetisch Wachstum gewarnt: Man
 benötige endlich eine neue Definition dieses Begriffs, weil eine endliche Erde kein
 unendliches Wachstum vertrage.
 Genau um diese Kritik geht es heute auch in der SWR2 Aula. Konstantin Sakkas ist
 Journalist und Philosoph aus Berlin. Er fordert angesichts der ökonomischen
 Katastrophe – siehe Börsencrash, siehe Verschuldung von Griechenland, angesichts
 der ökologischen Katastrophe – siehe Fukushima, eine radikale Umkehr: Weg vom
 unendlichen Wachstum, weg von der Expansion, weg vom Aktivismus hin zum …?
Wohin es gehen soll, das erklärt er in seinem Vortrag.
 Konstantin Sakkas:
 Expansion, Aktivismus, Selbstverwirklichung – all diese Werte sind fraglich
 geworden. So stellt uns das Katastrophenjahr 2011, das gerade zur Hälfte um ist,
 nicht nur vor die Aufgabe, des humanitären, materiellen und ökonomischen Unglücks
 Herr zu werden, das mit unglaublicher Rasanz über uns kommt; sondern noch viel
 mehr stellt es uns vor die Frage, mit welcher inneren Haltung wir in Zukunft leben
 sollen, wenn wir nicht das Leben selbst irgendwann aufgeben.
 In seinem Trauerspiel Ein Bruderzwist in Habsburg legt Franz Grillparzer dem
 melancholischen Habsburger-Kaiser Rudolf II. die Verse in den Mund:
„Drum ist in Sternen Wahrheit, im Gestein,
 In Pflanze, Tier und Baum, im Menschen nicht.
 Und wer's verstünde still zu sein wie sie,
 Gelehrig fromm, den eignen Willen meisternd,
 Ein aufgespanntes, demutvolles Ohr,
 Ihm würde leicht ein Wort der Wahrheit kund,
 Die durch die Welten geht aus Gottes Munde.“1
 Die wenigsten Bürger Europas, Nordamerikas oder Japans werden in diesen Zeilen
 etwas finden, was ihrer aktuellen Lebenshaltung verwandt oder auch nur
 sympathisch wäre. Franz Grillparzer gilt als Dichter der österreichischen Reaktion,
 seine politische Haltung als hoffnungslos vormärzlich und altmodisch, verspätetes
 achtzehntes Jahrhundert; und doch verbirgt sich in seinen Versen ein Gedanke von
 geheimnisvoller Aktualität: der Gedanke der Ruhe.
 Wollte man das Kennzeichen unseres Zeitalters in einem Wort bestimmen, so wäre
 es zweifellos die Unruhe. Ein fieberhafter, „hysterisch-destruktiver Aktivismus“2 waltet
 über unserer Zeit wie über keiner Epoche zuvor. Es ist, als wäre Hegels
 prophetisches Wort von der „Furie des Verschwindens“3, das er über die
 Französische Revolution gebrauchte, erst heute wahr geworden. Unser nach außen
 hin so rationales, berechnendes Zeitalter orientiert sich in Wahrheit wie kaum eines
 zuvor an der irrationalen Größe schlechthin: am Gefühl. Das Gefühl ist das
 Unsicherste und Wechselhafteste am Menschen überhaupt. Auch Gefühl und
 Verantwortung – man hört es nicht gerne – sind einander diametral entgegengesetzt:
 denn Verantwortung zielt auf Beständigkeit; Gefühl aber auf den ständigen Wechsel,
 die zur Regel gewordene Unregelmäßigkeit, die dauernde Bereitschaft zur
 Umkehrung der Verhältnisse. Dieses Pragma der Umkehrung bestimmt unser
 Zeitalter. In ihrem Buch Vita activa, das 1960 erschien, hat es die Philosophin
 Hannah Arendt geistesgeschichtlich beschrieben:
„Die περιαγωγή, die Umkehr, die Plato[n] von dem Philosophen verlangt, läuft im
 Grunde auf eine Umstülpung der homerischen Weltordnung hinaus. Nicht das Leben
 körperloser Seelen nach dem Tode, wie in dem homerischen Hades, sondern das
 Leben an einen Körper gebundener Seelen auf der Erde spielt sich in der Höhle
 einer Unterwelt ab, und die Seele ist nicht der Schatten des Körpers, sondern der
 Körper ist der Schatten der Seele; verglichen mit Himmel und Sonne ist die Erde ein
 Hades [, also eine Unterwelt], und das Treiben der in Unwissenheit und Sinnlosigkeit
 gebannten Körper der Menschen auf dieser Erde entspricht genau der
 schattenlosen, substanzlosen, sinnlosen Bewegtheit der homerischen ‚Seelen’, die
 der Tod [...] in die unterirdische Höhle gebannt hat.“4
 Man muss diesen Abschnitt sehr genau lesen: Die Rede von der „schattenlosen,
 substanzlosen, sinnlosen Bewegtheit“ (wobei „schattenlos“ soviel meint wie spurlos
 oder folgenlos) passt nämlich exakt auf die Lebenshaltung der heutigen Gesellschaft
– und zwar im Öffentlichen wie im Privaten, politisch und wirtschaftlich ebenso wie
 emotional und erotisch. Nicht nur, dass wir das Prinzip der Relativität längst zum
 Dogma erhoben haben, das sonderbarerweise nicht hinterfragt wird; viel wichtiger
 noch ist, dass wir unsere politische, wirtschaftliche und biographische Ordnung
 diesem Dogma komplett unterworfen haben. Unter dem Tarnbegriff der
 Selbstverwirklichung pflegen wir in Wahrheit einen Lebensstil, der uns konsequent
 vom eigenen Selbst entfremdet. Wer immer sich den politischen
 Entscheidungsprozess – man denke an die Pirouetten, die derzeit in puncto
 Atomkraft gedreht werden –, die Börsenkurse oder unser Paarungsverhalten in Ruhe
 anschaut, muss den Eindruck haben, dass er es hier nicht mit rationalen,
 erwachsenen Menschen zu tun hat; sondern mit lauter Verrückten. Um wieder
 Goethe zu zitieren:
„Ach, so viele tausend Menschen kennen,
 Dumpf sich treibend, kaum ihr eigen Herz,
 Schweben zwecklos hin und her und rennen
 Hoffnungslos in unversehnem Schmerz;
 Jauchzen wieder, wenn der schnellen Freuden
 Unerwart’te Morgenröte tagt […].“5
„Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“ – eine phlegmatische Sinnlichkeit und eine
 aggressive Emotionalität durchwalten unseren angeblich aufgeklärten Zeitgeist. Das
 Private selbst ist Beruf geworden, und Normen aus der Emotionalsphäre werden
 rücksichtslos dem Berufsleben oktroyiert. Niemals wurde karrieristische
 Selbstentfaltung so sehr als das höchste Lebensziel, als die Erfüllung aller Träume,
 als Garantie der individuellen Glückseligkeit angepriesen wie im so genannten
 weiblichen Zeitalter. Umgekehrt aber hat der Furor des Politikmachens von unserer
 Privatsphäre erbarmungslos Besitz ergriffen: In einer gnadenlosen Verfälschung der
 Idee der Selbstverwirklichung, die eigentlich Selbsterkenntnis, also einen geistigen
 Vorgang, meint, deuten sich Menschen aller Altersstufen die eigene Lebensfrist in
 einer seltsamen Mischung aus Naivität und Rohheit zur erotisch-beruflichen
 Frontbewährung um: von der Schülerin, die Depressionen hat, weil sie vielleicht als
 Sechzehnjährige noch nicht mit einem Jungen geschlafen hat, über den
 dreißigjährigen Hochschulabsolventen, der, zerrissen zwischen großen Plänen und
 Minderwertigkeitskomplexen, als ewiger Praktikant und ständig pleitebedroht durch
 den Arbeitsmarktdschungel irrt, bis zum endlich und unter unsäglichen Mühen
 erfolgreichen Fünfzigjährigen, dessen Lebensbahn sich nun aber nur mehr zwischen
 lauter wild gewachsenen Lebenslügen hinzieht. Man lebt nicht mehr; man wird
 gelebt. Man macht „Politik“, Lebenspolitik.
„Tantae molis erat Romanam condere gentem“, „Also mühevoll war’s, das römische
 Volk zu begründen“6 – diesen pathetischen Leitspruch des Alten Roms, der eine
 blutige, hektische und im Grunde chaotische Gewaltherrschaft mythologisch
 legitimieren sollte, hat die westliche Gesellschaft zweitausend Jahre später als
 Leitspruch von Existenz überhaupt adaptiert: man ist, so scheint es, nachgerade
 vernarrt in die Vorstellung von einem Leben, das sich hinzieht zwischen
 orgasmushaften Aufschwüngen und katastrophalen Abstürzen, ob auf dem
 Börsenparkett oder im Schlafzimmer; zwischen dümmlicher Euphorie und billiger
 Verzweiflung; zwischen naiver Illusion und erwartbarer Enttäuschung. Es ist sicher
 kein Zufall, dass die Volkskrankheit unserer Epoche der Krebs ist; jene Krankheit,
 deren wirres, planloses und gefräßiges Wachstum wie ein grausiges Abbild unserer
 verkrampften, pseudoekstatischen Lebenshaltung wirkt; ein wahrhaftes Ebenbild
 unseres beschädigten Lebens.
 An die Stelle der Terrorisierung durch den Staat ist die Terrorisierung durchs Private
 getreten. Heute bedarf es keiner monströsen Autorität mehr, die junge Männer in den
 Krieg schickt und junge Frauen einer falschen Regulierung ihres emotionalen und
 sexuellen Haushalts unterwirft; nein, die Unterwerfung vollziehen wir selber qua der
 sinnlosen Hetzjagd nach dem so genannten individuellen Glück, hinter dem sich
 tatsächlich meist die Chimäre eines ungesunden und ephemeren Genusses verbirgt.
 Alle paar Augenblicke den Partner, den Beruf, den Aufenthaltsort zu wechseln, gilt
 nicht als anstrengend, krankhaft und psychopathisch, was es eigentlich ist; sondern
 als chic, zeitgemäß und menschengerecht. Es herrscht geradezu ein Kult der
 Labilität.
 Diese Labilität hat ihre Wurzel zum einen in der modernen Wirtschaftsordnung; zum
 anderen aber in den modernen Territorialstrukturen mit ihren Abermillionen von
 Einwohnern, wo der Einzelne nur mehr die Wahl hat: entweder mitzumachen in dem
 hysterischen Kampf um Geld, Anerkennung und „Erfolg“; oder aber unterzugehen in
 der Masse und abgedrängt zu werden an den Rand. Die Möglichkeit, bescheiden
 und trotzdem auskömmlich und „gut“, das heißt ungestört und friedvoll zu leben, fehlt
 in unseren aufgeblähten Flächenstaaten, die wir ausgerechnet vom fürstlichen
 Absolutismus der frühen Neuzeit übernommen haben. Der europäische
 Territorialstaat, an dem sich die USA in ihrem nation building im achtzehnten und
 neunzehnten Jahrhundert ein Beispiel nahmen, ist ein Überbleibsel des dynastischen
 Zentralismus, der im späten Mittelalter seinen Ausgang nahm. Damals verloren
 Regionen, Städte und viele kleine Bauern und Hintersassen unter dem brutalen
 Druck monarchischer Konsolidierungsbemühungen ihre Selbständigkeit und wurden
 zwangsweise in den frühmodernen Staatsverband eingegliedert. Die moderne
 Standes- und Klassengesellschaft, deren traumatisierende Wirkung bis heute anhält,
 nahm hier ihren Anfang; erst damals wurden aus den hunderttausenden kleinen,
 mehr oder weniger selbständigen Bauern mehr oder weniger rechtlose Leibeigene.
 Unsere bürokratische Staatsorganisation, aber auch der Oligopolismus, der die
 heutige kapitalistische Wirtschaft auf vielen Feldern, etwa in der Energiebranche,
 bestimmt, sind Ausläufer dieser Entwicklung, die ein halbes Jahrtausend alt ist. Der
 existenzielle Alpdruck, den Staatsverwaltung und Wirtschaft auf den gewöhnlichen
 Bürger jeder Einkommensklasse ausüben, erklärt sich historisch aus der
 Akkumulation von Territorium unter gleichzeitiger Annullation persönlicher Freiheit
 seit dem vierzehnten Jahrhundert. Von dieser zwanghaften territorialen Enge des
 Absolutismus haben uns auch die Revolution von 1918, die demokratische
 Neuordnung von 1945 und ’49 und schließlich die Umwälzung von 1990 noch nicht
 befreit. So kommt es, dass heute noch Millionen Menschen eingepfercht in ein
 einziges Staatswesen leben, dessen Administration mit dieser Masse an Bewohnern
 natürlich absolut überfordert ist.
 Die Wirkung dieser historischen Bedingung wurde durch formale Neuerungen nicht
 einfach aufgehoben: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf
 dem Gehirne der Lebenden“7, schrieb Karl Marx in seinem Achtzehnten Brumaire.
 Dieser Satz ist so bedeutsam, weil er die Konvergenz von Exoterik und Esoterik so
 eindrücklich aufzeigt: Die gegenständliche, äußere Entwicklung, also der politische
 und wirtschaftliche Prozess, hinterlassen ihren Abdruck in der Seele des Menschen,
 und zwar individuell und kollektiv. Auch wenn der juristische Status sich längst
 geändert hat, bleiben innere Dispositionen nach wie vor bestehen; sie ändern sich
 erst unter therapeutischem Einfluss.
 Doch Bedingung von Therapie ist Einsicht. So haben die Ereignisse in Japan viele
 Menschen zu einer grundlegenden Einsicht über die Risiken der Nutzung von
 Atomenergie geführt; grundsätzliche Zweifel an unserer Wirtschaftsordnung sind
 gleichwohl kaum laut geworden. Dabei gehört aber das Nuklearproblem in einen
 Zusammenhang mit jenen Problemen, die uns ohnehin seit einem Jahrzehnt
 vermehrt zu schaffen machen: die Aufblähung der Finanzmärkte, die gigantische
 Verschuldung aller Industriestaaten – etwa Japan und die USA sind faktisch bankrott
–, die schleichende Inflation, die die wirtschaftliche Basis der Mittelschichten in allen
 entwickelten Ländern sukzessive zerstört sowie infolgedessen das enorme
 Verarmungsrisiko in unserer Gesellschaft überhaupt. Die ökologische Problematik
 steht also nicht allein im Raum; sondern sie gehört in und verweist auf einen
 höheren, größeren Zusammenhang: nämlich die kapitalistische Wirtschaftsordnung
 und ihre wesentlichen Elemente: Überproduktion, Ausbeutung von Ressourcen,
 sowie die Bindung realer Faktoren – nämlich Lebensqualität, Grund und Boden,
 Solidität des Staatshaushalts – an eine irreale Bedingung: nämlich das Geld.
 Es ist gewiss kein Zufall, dass der Wortstamm der beiden wichtigsten Vokabeln
 unserer Zeit, Ökonomie und Ökologie, das griechische οἴκος ist, was übersetzt
„Haus“ bedeutet. Wer also dem Wortsinne nach ökonomisch beziehungsweise
 ökologisch denken wollte, der denkt in den Kategorien von Häuslichkeit und
 Behausung. Häuslichkeit beziehungsweise Behaust-sein ist das Wesen des In-der-
Welt-seins. Das Wesen aber der heutigen Politik und insbesondere der modernen
 Wirtschaft ist zutiefst weltlos, das heißt: unbehaust, unbeheimatet, ungreifbar. Diese
 Unbehaustheit spiegelt sich in der tieferen Ideenlosigkeit, die sich bei jeder
 Nachfrage nach dem höheren Ziel eines Projekts sogleich offenbart: Die
 Vergeblichkeit so genannter großer Entwürfe, ob im Öffentlichen oder im Privaten, ist
 allgegenwärtig; die Hilflosigkeit unserer Politiker in der „Bewältigung“ von Ereignissen
 wie Fukushima, der Mangel an ideologischer Orientierung und die hieraus
 unweigerlich resultierende Entschlussschwäche sind offenkundig. Doch sie sind kein
 individuell vorwerfbares Versagen; sondern die logische Konsequenz aus der
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 SWR2 Aula vom 12.06.2011
 Die Krise als Normalfall – Das Drama unserer Gegenwart
 Von Konstantin Sakkas
 6
 Bewusstseinslage unseres Zeitalters. Wenn man heute überhaupt etwas vorwerfen
 kann, dann ist es nicht ein Falsch-Handeln; sondern überhaupt das Handeln. Die
 wahre Alternative zum falschen Handeln wäre nämlich nicht das richtige; sondern
 das Nicht-Handeln. Das Nicht-Handeln ist die wahre Ethik des οἴκος.
Nicht-Handeln, wu wei – in diesem Gedanken fand der sagenhafte chinesische
 Denker Laotse Ursprung und Wesen des Seins und zugleich Maxime seiner Ethik.
 Selten war man weiter von diesem Gedanken entfernt als heute; denn der
 aktionistische Wahn des Machens und Wachsens, den einst nur eine schmale
 Oberschicht von Fürsten, Regierenden und Besitzenden auslebte, hält heute ganze
 Bevölkerungen in seinem Bann. Auch die ostasiatischen Völker, einst bekannt für
 ihren Quietismus und ihre Introvertiertheit, tun es uns längst gleich; welch ein Symbol
 für diesen Wandel, dass ausgerechnet in Japan sich die Katastrophe abspielt, die
 zum Fanal für ein energiepolitisches, ja überhaupt ein politisches Umdenken
 geworden ist; dass ausgerechnet in China diktatoriale Repression und
 Turbokapitalismus längst in einer unheiligen Allianz miteinander leben. Die
 unsägliche, primitive und pseudologische Wachstumsgeilheit, das geistes- und
 kulturgeschichtliche Markzeichen der europäischen Geschichte der vergangenen
 fünfhundert Jahre, hat im zwanzigsten Jahrhundert auch von China, dem alten Reich
 der Mitte, der Ruhe und der Introversion, Besitz ergriffen. Und während Europa sich
 vielleicht langsam von seiner alten Besessenheit erholt und heilt, kommen die jungen
 Wachstumstriebe in der Weltmacht China erst so richtig zum Blühen. Doch auch
 diese, nicht ungefährliche, Entwicklung darf Europa in seinem Erkenntnisprozess
 nicht hemmen.
 Unseren pseudologischen, künstlichen Wachstumsbegriff, der eine rationalistische,
 aber nicht rationale Projektion archetypischer menschlicher Allmachts- und
 Befriedigungsphantasien ist, hat der Philosoph Bernhard Taureck kürzlich in dieser
 Sendung einer fundamentalen Kritik unterzogen. Es heißt dort unter anderem:
„Ein Mensch ist etwa mit zwanzig Jahren ausgewachsen. Ein Hund etwa mit einem
 Jahr. Ein Baum braucht länger. Menschen, Pflanzen und Tiere wachsen nur eine
 gewisse Zeit, dann gilt: Sie sind ausgewachsen.“8
 Wachstum ist in seinem Wesen etwas Beschränktes. Es trägt sein Ziel, wie
 Aristoteles sagt: sein τέλος, in sich. Ja, man kann den Gedanken weiterspinnen und
 sagen: Beschränkung selbst ist das Wesen der Ausdehnung. Es ist die Aufgabe des
 Menschen, inmitten der universellen Grenzen- und Bodenlosigkeit, in die er
 hineingestellt ist, sein innerstes Selbst, sein Wesen zu finden und festzuhalten. Der
 Weg dorthin führt aber nicht über die Eroberung des buchstäblichen Welt-Raums,
 also die ideelle, materielle und sexuelle Inbesitznahme der menschlichen und
 natürlichen Umwelt; sondern über die freiwillige, einsichtige Beschränkung des
 Individuums auf das Nötige: auf sich selbst. So erst wird der Einzelne wirklich und
 eigentlich frei: „Non coerceri maximo, contineri tamen a minimo divinum est“ – Nicht
 vom Größten beeindruckt, sondern vom Geringsten getragen werden, ist das
 wahrhaft Göttliche.“9
 Diese Beschränkung hat auch eine politische Dimension. Tatsächlich leben wir ja in
 einer Periode des rasanten Machtverlustes der Staatsorgane, und paradoxerweise
 nehmen diesen Machtverlust gerade kritische Medien und Öffentlichkeit nicht nur als
 selbstverständlich, sondern auch als gerecht hin. Alle Welt empörte sich über die
 Biegsamkeit eines Staatsapparates, der etwa einem AKW-Betreiber seine
 Unzuverlässigkeiten in Sicherheitsfragen geduldig nachsah, bis es zur Katastrophe
 kam und jeder regulierende Eingriff zu spät war; auch in Deutschland regt sich im
 Gefolge des Fukushima-Unfalls gewaltiger Unmut gegenüber dem
 Energielobbyismus und den Risiken, die er unbesonnen eingeht; doch Stimmen, die
 einen stärkeren Staat fordern würden, werden kaum laut.
 Dabei wäre es an der Zeit, dass die Regierungen der mächtigen Staaten gemeinsam
 über ihre Neugestaltung nachdächten: Auflösung der großen Flächenstaaten in
 regionale und lokale Territorien; Gewährleistung von Grund und Boden oder eines
 Grundeinkommens für jeden Einwohner; genossenschaftliche Beteiligung aller
 mündigen Bürger an der Energieversorgung, an der Verkehrsverwaltung sowie an
 allen weiteren wesentlichen öffentlichen Institutionen: das könnten Elemente einer
 künftigen politischen Lebensordnung sein, die sich von den Macht- und
 Wachstumsphantasien der Vergangenheit endgültig verabschiedet hat; die jedem
 Menschen den Anteil am Ganzen gibt, den er braucht; und in der nicht mehr die
 öffentlichen Angelegenheiten Spielwiese menschlicher Triebhaftigkeit sind, sondern
 diese Triebhaftigkeit aufgehoben wird in eine Kultur der Innerlichkeit und der
 Schönheit.
 Alles in unserer Zeit ruft nach einer Besinnung auf die natürlichen und vernünftigen
 Grenzen persönlicher und institutioneller Expansion. Das „Reich der Naturbegriffe“
und das „Reich des Freiheitsbegriffs“10: also die Sphäre der natürlich-tierhaften
 Beschränkung und die der existenziell-menschlichen Überschreitung, stehen
 zueinander nicht so sehr im Gegensatz; tatsächlich liegt die wahre Transzendenz im
 Rückzug, in der bewussten, sich notwendig ergebenden Beschränkung des
 Menschen auf sich selbst, in seiner politischen, wirtschaftlichen und emotionalen
 Introversion. Den aporetischen Punkt, an welchem wir heute mit unserem
 Politikmachen und unserem Wirtschaften angelangt sind, hat Hannah Arendt schon
 vor einem halben Jahrhundert hellsichtig beschrieben:
„Es ist uns gelungen, die dem Lebensprozess innewohnende Mühe und Plage so
 weit auszuschalten, dass man den Moment voraussehen kann, an dem auch die
 Arbeit und die ihr erreichbare Lebenserfahrung aus dem menschlichen
 Erfahrungsbereich ausgeschaltet sein wird. Dies zeichnet sich deutlich in den
 fortgeschrittensten Ländern der Erde bereits ab, in denen das Wort Arbeit für das,
 was man tut oder zu tun glaubt, gleichsam zu hoch gegriffen ist. In ihrem letzten
 Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von
 Jobholders.“11
 Das „Wesen“ dieser blind fluktuierenden Jobholdergesellschaft, die sich in der
 seriellen Monogamie in unserem Privatleben abbildet, ist ihre Unnatürlichkeit.
 Falsche Bedürfnisse, eingebildete Notwendigkeiten regieren unser Dasein, schaffen
 aber echte Not: gegenständliche, wie in Japan, die zugleich aber eine geistige
 Konsequenz hat, nämlich die Ablenkung des menschlichen Intellekts von der Suche
 nach dem Sinn seines Lebens, deren Voraussetzung ja gerade die Befreiung von
 jener urzeitlichen existenziellen Bedrohtheit ist, die ein unverantwortliches Handeln
 wie in Fukushima wiederherstellt.
 Aber nur „die wenigsten Menschen bringen die Kraft auf, jene abstrakte Frage nach
 dem Sinn des Lebens wirklich und ernsthaft zu stellen; statt dessen lassen sie sich
 gehen im fieberhaften Wahn der Expansion und des Wachstums, politisch,
 wirtschaftlich, körperlich. Doch wohin dieser existenzielle Expansionismus führt,
 konnte man in Japan sehen, wo die atomare Katastrophe noch die schrecklichsten
 Wirkungen von Erbeben und Tsunami in den Hintergrund treten ließ. In einer solchen
 existenziellen Grenzsituation aber fragt man nur noch, wie unsere prähistorischen
 Vorfahren, ganz konkret: wie kann ich mich retten, wie kann ich überleben? In
 seinem zivilisatorischen Wahn fällt der Mensch gerade hinter die Zivilisation zurück
 und verspielt so das Privileg, das ihn vom Tier unterscheidet: nämlich nicht ums
 nackte Überleben kämpfen zu müssen, sondern frei nachdenken zu können.“12
 Dieses Frei-nachdenken-können ist die wesentliche Auszeichnung des Menschseins.
 Seine Konsequenz für das praktische Leben sind aber nicht nur Zurückhaltung im
 Konsum und Beschränkung in der gesellschaftlichen Selbstdarstellung; sondern
 auch eine gewisse Untätigkeit, Langeweile und Einsamkeit. Nun ist zwar kein
 Mensch gerne einsam; aber dennoch ist Einsamkeit, entgegen aller Dogmatik des life
 style, sein innerstes Wesen: „Jeder Mensch ist doch völlig allein“13, schreibt Marcel
 Proust an einer berühmten Stelle in seinem Roman Auf der Suche nach der
 verlorenen Zeit. Der Mensch ist – anders, als es unsere vulgärromantische
 Kulturindustrie mit Telenovelas und Partnerbörsen uns weismachen will – kein
 Herdentier, sondern Einzelgänger.
 Der Einzelgänger aber strebt nicht nach der vermeintlich „großen“ Erfüllung; dafür ist
 er zu klug. Die großen Einzelgänger in der Tierwelt, etwa der Wolf, der Tiger, haben
 alle ihr fest umrissenes Revier, ihren Bezirk, ihren οἴκος, den sie benötigen, den sie
 aber auch nicht überschreiten. Nun ragt der Mensch zwar aus der Tierwelt heraus,
 steht aber mit seiner Körperlichkeit tief in ihr verwurzelt. Andererseits ragt er qua
 seines Geistes hinein in die Geisterwelt, das heißt also: die Welt jenseits der
 sichtbaren Welt. Aber auch hier gibt es keine erratische Expansion, kein
 wühlerisches, süchtiges Suchen mehr; sondern nur noch die Unbewegtheit und
 Klarheit, die aus der gelungenen Selbsterkenntnis kommt. Was ihm das Tier
 unbewusst vorlebt, steht dem Menschen als fernes zwar, aber wesentliches Ziel im
 Leben nach dem Tod vor Augen: Gott, dem Göttlichen näher zu kommen, um ihm
 schließlich, am Ende der Zeiten, gleich zu werden:
„Drum ist in Sternen Wahrheit, im Gestein,
 In Pflanze, Tier und Baum, im Menschen nicht.
 Und wer's verstünde still zu sein wie sie,
 Gelehrig fromm, den eignen Willen meisternd,
 Ein aufgespanntes, demutvolles Ohr,
 Ihm würde leicht ein Wort der Wahrheit kund,
 Die durch die Welten geht aus Gottes Munde.“1
 Nur die Furcht vor der vermeintlichen Langweiligkeit eines introvertierten und
 unpathetischen Lebens verleitet uns zu jenen vermeintlich großen Entwürfen, welche
 dann in Katastrophen enden, die uns ernüchtern, weil sie sinnlos und unnötig waren.
 Das war so in der politischen Geschichte, und es ist auch heute so, wo das Private,
 wo Ökonomie und Sexualität die Herrschaft über den öffentlichen Raum an sich
 gerissen haben. Auch unsere moderne Populärkultur, assistiert von Wirtschaft und
 Medien, folgt einer hysterischen, sich „existenzialistisch“ dünkenden Lebensethik;
 aber nicht im Sich-veräußern an die Dinge, im Erobern- und Besitzenwollen, sondern
 in der Ruhe und im Rückzug liegen der wahre Individualismus und die wahre
„Erfüllung der Zeiten“. Die lächerliche Lebensphilosophie des „Ich will alles, und zwar
 sofort“ beweist keinen Fortschritt außer den der äußersten Verkümmerung des
 menschlichen Denkvermögens. Was wir dagegen brauchen, ist eine
 Lebensphilosophie der Ruhe.
 Die Ruhe steht übrigens auch „im Zentrum des Christentums und der Christologie.
 Der Kirchenlehrer Augustinus etwa stellte sich das Leben im Paradies vor wie einen
‚ewigen Sabbat’, also einen ewigen Ruhetag. Heute spricht man zwar lieber von
‚Frieden’ als von ‚Ruhe’; doch die Friedensbotschaft, die etwa zu Weihnachten
 routiniert verkündet wird, meint weniger den äußeren, politischen Frieden […];
sondern vielmehr den inneren Frieden, also die Ruhe, die wir alltäglich durch
 sinnlose, unüberlegte und triebhafte Begehrlichkeiten gefährden und ruinieren. Ein
 nervöses Karrierepathos durchzittert unser berufliches wie privates Leben.“14 Dieses
 Pathos zittert fort in der physikalischen Erschütterung, deren Zeuge wir in diesem
 Frühjahr geworden sind; jedes Naturunglück ist auch ein Warnruf an den
 menschlichen Geist, und entsprechend sollten und müssen wir die Zeichen dieses
 Jahres 2011 deuten.
 Das Zeitalter des Wachstums und der Expansion ist vorbei, öffentlich wie privat. Die
 westliche Menschheit, die dem Rest der Erdkugel zweitausend Jahre lang diese
„Werte“ vorgelebt hat, hat nun die Aufgabe, ihr die neuen Werte der
 Selbstbeschränkung, der Innerlichkeit und der Ruhe vorzuleben. Denn hierin, und
 nirgends sonst, liegt die Zukunft des Menschengeschlechts. Zwei Erblasten sind es,
 die die atlantische Welt mit sich herumträgt: der römische Kult der Gewalt; und die,
 wie Hannah Arendt betonte, götzenhafte christliche Stilisierung des physischen
 Lebens zu „der Güter höchstem“15, die aber ihre Wurzel gerade in der
 ungeheuerlichen, brutalen und ignoranten Vergewaltigung des Menschseins durch
 den römischen Machtstaat hatte; von beidem, von der Idolatrie des Todes und der
 Idolatrie des Lebens und der Liebe, müssen wir uns befreien, vorbehaltlos und
 gründlich. Und: von beidem wussten das antike Judentum und Griechentum übrigens
 nichts; für sie zählte nur das lebendige Wort Gottes und die ewige Schönheit und
 Ordnung des Welt-Alls.
 Die Ethik der Zukunft wird eine „Ethik der Entsagung sein. […] In einer Zeit, der die
 Unwägbarkeit menschlicher Existenz im Zeichen von Terrorismus,
 Umweltkatastrophe und weltweiter Verarmung immer klarer vor Augen steht, führt
 wahre Erkenntnis zurück auf das eigene Leben, die eigene Individualität und die
 Frage, wie sie zu behüten sei. Auch das bestangelegte Kapital wird irgendwann
 wertlos; wahren, absoluten Wert hat nur das Menschsein selbst.“16 Dieses
 Menschsein – es ist eine schwere, aber notwendige Einsicht – lässt sich nicht
 einholen in hektischer Aktivität, in jener aufgeheizten Lebens- und Liebesgeilheit, die
 das Kennzeichen unseres Privatlebens und unserer gesellschaftlichen Ordnung ist
 und die unsere Werbeindustrie in einer fortwährenden, sehr selbstgewissen und
 doch unsäglich dummen Stereotypie proklamiert; das Menschsein erschließt sich je
 nur dem Ruhigen, Besonnenen und Nachdenklichen. Jeder sollte sich fragen, was er
 wirklich in seinem Leben braucht; sei es an Besitz, an Partnerschaft oder an
 Prestige; und schnell wird man sehen, dass man selber sich wirklich genug ist. Die
 Auswirkungen einer solchen Selbstbescheidung wären heilsam nicht nur für den
 Einzelnen; sondern auch für die Gesellschaft und letztlich auch für die internationale
 Politik.
 Hannah Arendt, die ein Leben in höchster, erzwungener Aktivität hinter sich hatte,
 stellte diese Einsicht an den Schluss ihres Buches Vita activa, das noch heute, nach
 fünfzig Jahren, aktueller ist als alle lebensgierige und lebensverherrlichende, aber im
 Grunde flache und uneinsichtige Modephilosophie und Modebelletristik unserer Zeit:
„Numquam se plus agere quam nihil cum ageret, numquam minus solum esse quam
 cum solus esset“ – „Niemals ist man tätiger, als wenn man dem äußeren Anschein
 nach nichts tut, niemals ist man weniger allein, als wenn man in der Einsamkeit mit
 sich allein ist.“
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SWR2 Aula - Dr. Heike Schmoll: Bildung adé – Bologna und die Folgen
http://www.swr.de/swr2/wissen/-/id=661224/1muyzmy/index.html
SWR2 Aula - Dr. Heike Schmoll: Bildung adé – Bologna und die Folgen
 Autorin: Dr. Heike Schmoll *
 Redaktion: Ralf Caspary, Susanne Paluch
 Sendung: Sonntag, 11. Dezember 2011, 8.30 Uhr, SWR 2
 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
 Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
 Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
 ÜBERBLICK
 Bologna ist mittlerweile für viele Kritiker zum Synonym für eine völlig verfehlte Hochschulpolitik geworden. Der Bologna-Prozess sollte die deutschen Unis effizienter und transparenter machen, er sollte sie einbinden in einen europäischen Hochschulraum, er sollte das Studium entschlacken und die Studenten nicht zu verkopften Schreibtisch-Akrobaten werden lassen. Doch was ist aus diesen Ansätzen geworden? Heike Schmoll, Journalistin mit Schwerpunkt Bildung, kritisiert die Abkehr der deutschen Hochschule von ihren einstigen Idealen.
 * Zur Autorin:
 Heike Schmoll studierte Germanistik und Evangelischen Theologie in Heidelberg, Tübingen und München. Während der ersten Semester schrieb sie als freie Mitarbeiterin Konzertkritiken für das „Heidelberger Tageblatt“. Hospitanz in der Kirchenredaktion des Südwest-Fernsehens in Baden-Baden. Seit 1989 arbeitet Heike Schmoll in der Nachrichtenredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuständig für Schul- und Hochschulpolitik sowie Fragen der wissenschaftlichen Theologie. Verantwortlich für die Seite „Bildungswelten“, seit März 2008 Korrespondentin in Berlin.
 INHALT________________________________________________________________
 Ansage:
 Mit dem Thema: „Bildung adé – Bologna und die Folgen“.
Bologna ist mittlerweile zum Synonym geworden für Niedergang und zugleich
 Aufstieg der deutschen Universitäten, je nachdem, wie man argumentiert. Die
 Bologna-Kritiker sprechen vom Ende der traditionellen Hochschule, vom Ende des
 Humboldtschen Geistes, von Verschulung, Reglementierung, von
 Schmalspurstudenten, die in erster Linie auf der Jagd sind nach ETCS-Punkten. Die
 Befürworter wiederum sprechen von effizienten und transparenten Unis, von
 verschlankten Studiengängen, die keine verkopften Elfenbeinbewohner
 hervorbringen, sondern junge arbeitsfähige Menschen.
 Unsere Autorin Heike Schmoll gehört eindeutig zu den Kritikern. Die FAZRedakteurin
 mit Schwerpunkt Bildung beschreibt in der SWR2 AULA die
 Schattenseiten des Bologna-Prozesses.
 Heike Schmoll:
 In manchen Bundesländern machen fast 50 Prozent eines Altersjahrgangs das
 Abitur, die meisten von ihnen wollen auch studieren. In diesem Jahr drängen
 516.000 Erstsemester an die Hochschulen. Vor vierzig Jahren gab es in der
 gesamten Bundesrepublik nur 500.000 Studenten. Weil die Wehrpflicht ausgesetzt,
 die Gymnasialzeit in vielen Bundesländern verkürzt wurde und doppelte
 Abiturjahrgänge das Gymnasium verlassen, geraten viele Universitäten an ihre
 Belastungsgrenzen. Kinosäle und Kirchen mussten für Vorlesungen angemietet
 werden, Seminare auf Abendstunden und Samstage verlegt werden. Labor- und
 Bibliotheksplätze werden knapp. Manche Studenten schlafen auch zwei Monate
 nach Semesterbeginn noch auf Matratzenlagern, weil sie kein Zimmer finden
 konnten, andere zweifeln an sich selbst, weil sie beim Casting der
 Wohngemeinschaften jedes Mal durchfallen.
 Politik und OECD jubeln, dass sich die Studienanfängerzahlen allmählich den
 volkswirtschaftlich gewünschten Akademikerquoten annähern. Denn Akademiker
 werden nicht nur seltener arbeitslos, sondern sichern auch ein höheres
 Steueraufkommen. Wie das Studium an einer Massenuniversität für die Betroffenen
 eigentlich aussieht, kümmert sie dabei wenig.
 Viele Studenten können nicht die Veranstaltungen belegen, die sie wirklich
 interessieren, sondern wählen pragmatisch irgendein Seminar, das ihnen die nötigen
 Punkte beschafft, egal bei wem und worüber. Das gilt selbst für
 Lehramtsstudiengänge. Da stellen sich Studenten morgens um 5 Uhr mit
 Thermoskanne und Broten gewappnet vor die Universität, um rechtzeitig da zu sein,
 wenn die Seminaranmeldung für ihre Fächer um 8.00 Uhr öffnet. Nicht wenige
 müssen immer wieder erleben, dass die ausgewählten Lehrveranstaltungen dann
 schon belegt waren und nehmen einfach, was übrig bleibt, um den gewünschten
 Schein zu bekommen. Daran ändert auch die inzwischen übliche Seminaranmeldung
 im Internet nichts. Der Server bricht spätestens zwanzig Minuten nach der
 Freischaltung zusammen. Und nicht einmal mehr auf die Website der Universität zu
 gelangen, ist noch schlimmer, als in einer langen Schlange zu stehen, die
 irgendwann auch einmal endet und einen selbst an der Reihe sein lässt. War das
 Studium gerade in den Geisteswissenschaften in den siebziger Jahren von geradezu
 anarchischer Regellosigkeit geprägt, herrschen nun Überreglementierung und
 Verschulung vor.
 Dabei gehört es zu den durchaus bemerkenswerten deutschen Besonderheiten,
 dass der Zugang zur Universität absolut demokratisch ist. Die allgemeine
 Hochschulzugangsberechtigung ist das schulische Zertifikat, das den Zugang
 eröffnet und bisher weitgehend flächendeckende Eingangsprüfungen verhindert hat.
 Die Länder sind deshalb gut beraten, das Abitur nicht weiter zu entwerten, weil sie
 sich damit finnische oder britische Verhältnisse einhandeln. Sobald bis zu 80 Prozent
 der Gymnasiasten ein Abitur machen, wird die Studienzulassung umso schärfer
 reglementiert werden.
 Doch warum tun sich so viele Abiturienten solche Strapazen in überfüllten
 Studiengängen mit nicht immer sicheren Berufsaussichten an? Sind sie
 karriereorientierter als frühere Generationen? Jedenfalls haben sie größere Ängste,
 irgendetwas zu verpassen, zu spät zu kommen oder gar zu scheitern. Kaum einer
 der manchmal erst siebzehn Jahre alten Studenten gesteht sich selbst zu, in einer
 Sackgasse zu landen, Umwege einzuschlagen, Fehlentscheidungen zu treffen, also
 eigentlich ganz gewöhnliche Irrwege einer wirklich suchenden Bildungsbiographie zu
 riskieren. Aber Umwege sind in diesen schnurgeraden Bildungsverläufen nicht mehr
 vorgesehen. Heutige Studenten sind zielstrebig und setzen sich selbst unter
 enormen Druck. Sie sind ewig Gehetzte, die weniger zum Nachdenken und Lesen
 kommen als ihnen gut tut. Die Jagd nach Leistungspunkten, Pflichtveranstaltungen
 und Einhaltung der Studiendauer hat zu einer Formalisierung geführt, die das
 Studieren als geistige Lebensform unmöglich macht. Den meisten bleibt keine Zeit
 nachzudenken, auch einmal die Lehrveranstaltung eines anderen Fachs
 aufzusuchen, selbständig zu lesen und ihrer Neugierde nachzugehen. Irritationsfreie
 Studiengänge anzubieten, scheint zum Marktmodell geworden zu sein. Für die
 Entwicklung von Zivilcourage und eigenständigem Denken sind das keine guten
 Voraussetzungen. Im Gegenteil: Der Anpassungsdruck, der auf heutigen Studenten
 und selbst auf ihren Professoren liegt, ist unvorstellbar.
 Leiden heutige Studenten darunter eigentlich? Die letzten Shell-Studien sprechen
 nicht dafür. Sie zeichnen das Bild einer zielstrebigen, karriereorientierten jungen
 Generation mit großem Interesse an beruflichem Erfolg und einem gelingenden
 Privatleben.
 Bei aller Zielstrebigkeit mag die Universität für manchen auch ein Schutzraum sein –
eine verlängerte Schulzeit, die es erlaubt, den Einstieg ins Berufsleben noch ein
 wenig aufzuschieben. Nicht selten bleiben Studenten heute wieder zuhause wohnen
 und nehmen auch weite Wege auf sich – und zwar keineswegs nur, um das Geld für
 teure Studentenbuden zu sparen, sondern um noch nicht ganz verantwortlich zu sein
 für das eigene Leben. Es ist eine Generation der überbehüteten Kinder, deren Eltern
 ihnen alle Hürden aus dem Weg geräumt haben. Viele sind wenig konflikterfahren,
 relativ unselbständig und nehmen ihre Eltern eher in der Rolle des Kumpels als des
 Erziehers wahr. Den meisten wurde eine Erziehung zuteil, die auf Konfliktvermeidung
 und Selbstwertförderung der Kinder konzentriert war. Vielen sind konflikthafte
 Auseinandersetzungen mit Erwachsenen entgangen, die jene innere Reifung hätte
 voranbringen können, die nötig sind, um mit der inneren und äußeren Wirklichkeit
 zurechtzukommen. Die Konfliktvermeidungsstrategie vieler Eltern trägt dazu bei,
 dass ihre Kinder mit Kritik oder gar Niederlagen im Studium nur schwer umgehen
 können.
 Häufig sind die Eltern jetzt dabei, wenn sich die noch nicht einmal
 unterschriftsberechtigten 17 Jahre jungen Studenten immatrikulieren, sie müssen
 den Mietvertrag unterschreiben und sie kommen zur zentralen
 Semesteranfangsfeier. In Freiburg waren allein in diesem Wintersemester über
 fünftausend Studenten mit ihren Eltern gekommen, die Veranstaltung musste in
 mehrere Hörsäle übertragen werden. Die Immatrikulation wird gewissermaßen zum
 Familienfest, so wie es der Schulanfang schon lang geworden ist. Absurde Züge
 nimmt die Begleitung durch Eltern an, wenn sie ihre Studentenkinder zur
 Studienberatung begleiten – in der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze (ZVS)
 oder auch in den Universitäten. Das alles wäre in den siebziger oder achtziger
 Jahren völlig undenkbar gewesen.
 In Zeiten des Bachelor-Zeitalters und einer Übergangsquote von nahezu fünfzig
 Prozent an Universitäten oder Fachhochschulen wundert es nicht, dass die Mehrzahl
 ganz pragmatisch studiert. Viele wollen rasch fertig werden, hegen dabei keine
 besonderen Interessen und keine wirklich wissenschaftlichen Ambitionen. Es geht
 ihnen um den Berufsabschluss, den der Bachelor verheißt, in den meisten Fällen
 aber nicht wirklich bietet. Diese Gruppe wird vermutlich noch am wenigsten unter den
 Folgen der Massenuniversität und unter der Formalisierung des Studiums durch die
 Bologna-Reform leiden. Allerdings hat sich auch unter ihnen herumgesprochen, dass
 ein Master auf dem Arbeitsmarkt weit größere Erfolgschancen hat. Also drängt eine
 für die Länder überraschende Menge in den Masterstudiengang.
 So geht die Rechnung der Finanzminister, durch eine Verkürzung der Studierdauer
 auf sechs, höchstens acht Semester im Bachelorstudiengang Geld zu sparen, nicht
 auf. Ganz im Gegenteil: Die Gelder für eine entsprechende Lehrausstattung im
 Master sind nicht vorhanden. Das Master-Studium ist zugunsten des Bachelor zu
 kurz gekommen. Und das Masterstudium muss eine weitere Klippe bewältigen: Der
 Master führt die Bachelorabsolventen verschiedener Studiengänge zusammen. In
 einem, höchstens zwei Jahren soll es dann eine völlig inhomogene Gruppe mit
 unterschiedlichen fachlichen Voraussetzungen in einen anspruchsvollen
 wissenschaftlichen Diskurs bringen.
 Universitäten, die wenigstens im Master noch forschungsorientiert und auf
 anspruchsvollem Niveau arbeiten wollen, haben Aufnahmeprüfungen oder einen
 Numerus Clausus für Bachelor-Absolventen eingeführt. Allerdings hat wohl kaum
 jemand daran gedacht, dass ein konsekutives Studium mit zwei Etappen auch zwei
 Bewerbungsverfahren erfordert. Die Studentensekretariate waren darauf personell
 nicht vorbereitet, sie sind es zum Teil bis heute nicht. Hinzu kommen die Folgen
 einer ungeahnten Provinzialisierung der universitären Landschaft seit Einführung der
 Bologna-Studiengänge: Jede Fakultät an jeder einzelnen Universität hat andere
 Prüfungsordnungen, ein Wechsel während des Bachelor-Studium selbst innerhalb
 Deutschlands ist völlig ausgeschlossen. Aus formalen Gründen mussten etwa an der
 Universität Mainz in diesem Sommer mehrere hundert Bachelorabsolventen
 abgelehnt werden. Der Grund ist so einfach wie absurd: Sie konnten nur ein
 vorläufiges Zeugnis vorweisen, das Einzelpunkte aufwies, nicht jedoch die
 Gesamtpunktezahl ihres Bachelors.
 Das ist nur ein Beispiel für die geradezu wahnhafte Formalisierung dieses Studiums,
 dessen Hauptinhalt die Jagd nach Leistungspunkten geworden zu sein scheint. Sich
 im Dickicht der Leistungspunkte und deren Gewichtung auszukennen, ist eine eigene
 Kunst, eine pragmatische, rechnerische. Im Jonglieren mit Leistungspunkten und
 Modulkombinationen müssen Studenten eine echte Meisterschaft entwickeln. Mit den
 Disziplinen und Inhalten des Studiums hat sie nichts, aber auch gar nichts zu tun,
 lenkt eher davon ab. Neugier oder gar Begeisterung bleiben auf der Strecke. Weder
 das Fach noch die Fachsystematik werden wirklich verstanden, weil immer nur
 Bausteine – oft genug zufällige – in Form von Modulen vermittelt werden.
„Sobald man aufhört, eigentlich Wissenschaft zu suchen, oder sich einbildet, sie
 brauche nicht aus der Tiefe des Geistes geschaffen, sondern könne durch Sammeln
 extensiv aneinandergereiht werden, so ist alles unwiederbringlich und auf ewig
 verloren“, mahnte Wilhelm von Humboldt (Schriften zur Politik und zum
 Bildungswesen, Werke IV, 257f).
 Humboldt und Schleiermacher, die beiden eigentlichen Gründer der Humboldtschen
 Universität waren diejenigen, die den Studenten Freiheit und Selbstverwaltung geben
 wollten, während Fichte die Studenten kasernieren und strikt kontrollieren wollte.
 Schleiermacher war übrigens schon damals realistisch genug festzustellen, dass
„viele zur Universität kommen, die eigentlich untauglich sind für die Wissenschaft im
 höchsten Sinne“ – und dass sie sogar die Mehrheit bilden (Schleiermacher, Friedrich
 Daniel Ernst, Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn (1808),
 in: ders: Pädagogische Schriften, Ed. Weniger/Schultze, Bd.II, Düsseldorf/München
 1957, 100-103). Sie kämen gewissermaßen aus gesellschaftlichen Gründen und das
 habe man nicht als „Missbrauch oder als eine Verunreinigung rein wissenschaftlicher
 Anstalten anzusehen“, so der Realist Schleiermacher.
 Schon die beiden Gründerväter wiesen der Universität also Aufgaben zu, die
 keineswegs esoterisch fern von der gesellschaftlichen Erwartung lagen, allerdings
 verwahrten sie sich ebenso entschieden gegen bloße Nützlichkeitserwägungen. Die
 Ziele der Gründerväter waren zum einen Bildung durch Wissenschaft und zum
 anderen die Vorbereitung auf den höheren Staats- oder Kirchendienst. Humboldt und
 Schleiermacher konnten mit Fichtes „Luftgestalten“ überhaupt nichts anfangen. Sie
 wenden sich gegen ein spekulatives Verständnis der Philosophie und deren
 Vorherrschaft. Es sind die einzelnen Fächer, die der Bildung durch Wissenschaft zur
 Geltung verhelfen und keine Hierarchie der Fächer unter Vorherrschaft der
 Philosophie. Allerdings wollte Schleiermacher ein Jahr der Philosophie vor den
 Fachstudien einführen, damit sich die Studenten einen Überblick über alle
 Disziplinen verschaffen können. Das wird an einigen Universitäten mit einer Art
 studium generale heute vor Beginn des Bachelors wieder versucht.
 Doch warum, so wird man fragen müssen, wurde die Schulzeit verkürzt, um dann ein
 wissenschaftspropädeutisches Jahr an der Universität zu absolvieren? Es wird die
 Defizite eines Schnelldurchgangs durch die Wissenschaft während der Bachelor-
Semester nicht heilen können. Viel zu oft schließt sich das Studium lückenlos an das
 atemlose achtjährige Gymnasium an. Zehn Jahre nach Einführung der Bologna-
Reform zeigt sich der innere Zusammenhang zwischen der Verkürzung der Schulund
 Studienzeit noch klarer und erschreckender, ging es doch in beiden Fällen um
 Einsparungen und Statistikpflege, also um höhere Abiturientenquoten und weniger
 Studienabbrecher und um erhebliche Einsparungen.
 Gelang es im achtjährigen Gymnasium nicht, die Überfülle des Lehrstoffs in der
 Mittelstufe zu entzerren, kranken die Bologna-Studiengänge an einem ähnlichen
 Problem. Das Studium ist noch reglementierter als das Gymnasium. Bologna wurde
 nicht zu einer wirklichen curricularen Reform genutzt. Die Disziplinen wollten
 möglichst viel von den früheren Studiengängen in ganz anders aufgebaute Einheiten
 unterbringen. Auch bei der Überarbeitung der Lehrangebote hat sich daran nichts
 Wesentliches geändert. Es mag einige Prüfungen weniger geben, aber eine echte
 Reform des Lehrstoffs hat nicht stattgefunden.
 In der vielerorts lustlos betriebenen Konzeption der Module spiegelt sich der Ärger
 der meisten Professoren über eine von Kontroll- und Steuerungsmechanismen
 geprägte Reform des Studiums. Nach über zehnjähriger Erfahrung mit der Bologna-
Reform haben einige Universitäten versucht, die Formalisierung des Studiums
 aufzubrechen und den Zeitdruck zu mildern, indem sie das Bachelor-Studium auf
 acht statt bisher sechs Semester angelegt haben. Die Universität Freiburg versucht,
 einen Bachelorstudiengang anzubieten, der auch Grundlagen der Erkenntnis- und
 Wissenschaftstheorie vermittelt und einen breiteren Zugang im Sinne der artes
 liberales oder liberal arts sucht. Andernorts wurde dieser Ansatz, der Auswege aus
 den Zwängen der Bologna-Reform sucht, schon wieder als das Modell für den
 umfassenden Dilettanten verlacht. Tausende von Euro für die Verbesserung der
 Lehre konnten Universitäten dafür bekommen, dass sie die korrekte Antragsprosa
 beherrschen und viel von Kompetenzorientierung sprachen. Die Didaktisierung der
 Schule hat also auch Studium und Lehre ergriffen.
 Lange genug hat sich außer einigen Verbandsvertretern der Hochschulen niemand
 für die Einzelheiten der Bologna-Reform interessiert. Die meisten Professoren
 wurden erst aufgeschreckt, als sie Lehrveranstaltungen nicht mehr zu ihren
 vertrauten Lieblingszeiten anbieten konnten, sondern Lehrzeiten zugeteilt bekamen
 und die Organisation des Studiums und ihre Prüfungsverpflichtungen selbst nicht
 mehr durchschauten.
 Hochschullehrer, die am Ende eines Semesters hunderte von mündlichen Prüfungen
 oder Klausuren abnehmen müssen, verzweifeln an der Aushöhlung ihrer eigenen
 Ansprüche. Manche helfen sich mit Ankreuztests, die vom Computer korrigiert
 werden können. Andere versuchen, sich durch Forschungsprofessuren aus der
 Lehre zu verabschieden – zumindest für begrenzte Zeit. Wer an einem Antrag für die
 Exzellenzinitiative mitgearbeitet hat, kann sich Chancen für einen längeren Ausstieg
 aus der Lehre ausrechnen. Denn mit den Geldern für ein Cluster können auch
 Lehrvertretungen eingekauft werden. Die Studenten haben vom reichen Geldsegen
 der Exzellenzinitiative am allerwenigsten, sie werden den Lehrstuhlinhaber
 möglicherweise nicht einmal zu sehen bekommen, weil er forscht. Das ist ihm nicht
 einmal zu verdenken, lässt doch das professorale Leben des
 Wissenschaftsmanagers, der fortwährend Gutachten schreibt, Förderanträge
 formuliert und sich auf Tagungen und Konferenzen in die Diskussion bringt, neben
 der Lehre kaum noch Zeit für die Forschung.
 Die sogenannte Einheit von Forschung und Lehre ist, sollte es sie je gegeben haben,
 schon längst zerbrochen. Sie gilt inzwischen ohnehin eher als Humboldt-Mythos
 denn als Realität der Humboldtschen Universität. Der Berliner Bildungshistoriker
 Heinz-Elmar Tenorth hat die sogenannte Humboldtsche Universitätsreform zum
 Jubiläum der heutigen Humboldt-Universität zu Berlin in drei Bänden zur Entwicklung
 der Disziplinengeschichte an Humboldts und Schleiermachers Texten
 entmythologisiert. Er hat auch darauf hingewiesen, dass die Forschung schon bei der
 Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vor hundert Jahren aus der Universität
 ausgewandert ist.
 Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ist als Vorläuferin der heutigen Max-Planck-
Gesellschaft die Plattform, auf der sich alle außeruniversitären
 Forschungseinrichtungen entwickelt haben. Und es ist kein Zufall, dass die wenigen
 Nobelpreisträger, die Deutschland überhaupt hervorbringt, nahezu ausschließlich
 aus außeruniversitären Forschungseinrichtungen kommen. Denn an
 außeruniversitären Forschungseinrichtungen wird man als Professor die Fron der
 Lehre los und kann sich ausschließlich der Forschung widmen und verdient doch
 mindestens so viel wie an einer Universität.
 Das jüngste und absurdeste Beispiel für die Auswanderung der Forschung aus der
 Wissenschaft hat die neue Berliner Koalition geliefert. Sie hat die Ressorts
 Wissenschaft und Forschung getrennt. Soll also an Berliner Universitäten in Zukunft
 keine Forschung mehr stattfinden?
 Während die außeruniversitären Forschungseinrichtungen mit einem jährlichen
 Zuwachs ihrer Mittel von fünf Prozent rechnen können, werden die Universitäten
 systematisch finanziell ausgetrocknet. Es wird nicht mehr lange dauern, dass
 einzelne Länder, auch im Süden und Südwesten der Republik, sich nur noch eine
 geringe Zahl ausreichend finanzierter Volluniversitäten mit einem umfassenden
 Fächerspektrum werden leisten können. Die durch den Bund abgewendete
 Schließung der Medizin in Lübeck war erst der Anfang. Spätestens im Jahre 2017,
 nach Ende der Exzellenzinitiative, müssen auch renommierte Universitäten um eine
 ausreichende Grundfinanzierung bangen und möglicherweise auch Studiengebühren
 nehmen, die ihren Namen verdienen und eher amerikanischen und britischen
 Summen ähneln.
 Dazu kommt, dass die Exzellenzinitiative das Ungleichgewicht zwischen
 Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen innerhalb des
 Systems nicht repariert. Sie hat vielmehr ein neues Ungleichgewicht zwischen den
 geförderten und nicht geförderten Fakultäten und Fachbereichen, zwischen
 Exzellenzuniversitäten mit allen Forschungsmöglichkeiten und solchen, die von der
 kargen Grundfinanzierung existieren müssen, erzeugt. Dieses Ungleichgewicht
 bedroht die Universität in ihrem Innersten.
 Konstitutiv für Humboldts Universität war der Forschungsimperativ. Nur eine
 Universität, die wirklich forscht, verdient ihren Namen. Und es ist auch klar, dass
 Forschung zunächst immer disziplinär ist. Wer in der Forschung etwas geleistet und
 vorzuweisen hatte, wurde damals nach Berlin berufen. Die Humboldtsche Universität
 verstand sich nicht als Fortsetzung der Schulzeit.
 Humboldt wollte weder die Fachschule, noch die Akademie für esoterische Genießer,
 noch eine Fachhochschule. Humboldt wollte eine Ausbildungsstätte für den
 wissenschaftlichen Experten, der Grundprobleme von Staat, Welt und Wirklichkeit
 forschend beobachtet und analysiert. Er wollte den gebildeten Experten. Das Ziel des
 universitären Studiums muss der reflektierte Praktiker und der praxisfähige Forscher
 sein und diese Expertise war bisher nur an der Universität zu bekommen. So sehr
 die Forschungseinrichtungen vom Qualifikationsbedarf der Gesellschaft profitieren,
 so sehr sollte die Gesellschaft auch von der Forschung profitieren.
 Der Bezug zur Praxis ist keine Erfindung der Bologna-Reform, sondern gehörte von
 Anfang an zu Humboldts Universitätsmodell. Im Unterschied zur Akademie, deren
 einziger Daseinszweck die Forschung ist, steht die Universität „immer in engerer
 Beziehung auf das praktische Leben und die Bedürfnisse des Staates“, so Humboldt
 (Über die innere und äußere Organisation, Werke, Bd. IV, S.255).
 Nicht umsonst war er es, der das Lehrerexamen als Abschluss neben dem schon
 existierenden juristischen, theologischen und medizinischen Examen einführte.
 Geforscht wurde gerade an Humboldts Universität nicht im luftleeren Raum, sondern
 in enger Beziehung auf das praktische Leben. Bildung war für Humboldt keine
 überhöhte idealistische Angelegenheit, sondern eine „Verknüpfung unsres Ichs mit
 der Welt zu der allgemeinsten, regesten freiesten Wechselwirkung“ (Theorie der
 Bildung des Menschen, Werke, Bd. I, S. 235). Bildung und Wissenschaft waren also
 ohne den Bezug zur Praxis und zur Welt nicht denkbar.
 Entscheidend war deshalb, dass die Universität keine Institution werden sollte, die
 Wissen bloß transferiert. Vielmehr ging es von Anfang an darum, Wissen
 auszuwählen, auf seine Geltung zu prüfen und im Blick auf das Handeln zu
 reflektieren. Es ist eben nicht die einfache Lösung, das Lernen und Reproduzieren
 von vorgekautem Wissen, die eigentlich das Universitätsstudium ausmachen.
 Insofern ist nichts bedrohlicher für die Universität als die Auswanderung der
 Forschung in außeruniversitäre Forschungseinrichtungen. Denn damit ist die zweite
 große Bedrohung der Universität verbunden: ihre Verfachhochschulung.
 Viele Professoren verstehen heute nicht mehr, dass sie sich nicht früh genug gegen
 diese Verfachhochschulung der Universität zur Wehr gesetzt haben. Heute studieren
 etwa 60 Prozent der Studenten an Universitäten, nur 40 Prozent an
 Fachhochschulen. Eigentlich war das genau umgekehrt gedacht. 60 Prozent sollten
 an den Fachhochschulen und nur 40 Prozent an Universitäten studieren. Der Grund
 für dieses Ungleichgewicht ist in einem Versäumnis der siebziger Jahre zu suchen.
 In den siebziger Jahren wurde der Ausbau der Fachhochschulen sträflich
 vernachlässigt. Sie können es sich heute leisten, harte Aufnahmeprüfungen
 abzunehmen oder den Zugang durch einen Numerus Clausus zu regulieren. Die
 Ironie der Geschichte: Die abgelehnten Fachhochschulbewerber sitzen dann
 wiederum an für jedermann zugänglichen Studiengängen der Universitäten, vor
 allem in den Geisteswissenschaften. Historiker, Germanisten, Sozialwissenschaftler
 wissen davon ein Lied zu singen. Warum nur entschließen sich die Historiker nicht,
 ein Latinum einzuführen, um eine Hürde zu schaffen? Zwischen dem großen und
 dem kleinen wird auf Wunsch der Kultusminister ja schon lange nicht mehr
 unterschieden. Ist es nicht absurd, dass angehende Forscher Historiker oder
 Germanisten mittelalterliche Geschichte und Literatur studieren und nicht einmal die
 dazugehörigen Grundlagentexte im Original lesen können? Sie müssen
 Sekundärtexten, Übersetzungen, Kommentaren trauen, ein eigenes Urteil werden sie
 sich nicht erlauben können.
 Ist die deutsche Universität in ihrer klassischen Form also an ihr Ende gekommen?
 Vieles spricht dafür. Die Aushöhlung des Forschungsimperativs durch die Universität
 selbst und ihre Unfähigkeit, sich fachbezogen und von innen heraus zu reformieren
 hat solche Reformen wie Bologna erst möglich gemacht. Bologna wiederum hat
 insbesondere die Verfachhochschulung der Universität noch zusätzlich verstärkt. So
 ist es auch nur noch eine Frage der Zeit, dass das letzte Unterscheidungsmerkmal
 zwischen Universitäten und Fachhochschulen fällt und die Fachhochschulen auch
 das Promotionsrecht bekommen. Der Wissenschaftsrat hat sich jedenfalls schon auf
 den Weg dazu gemacht, hat er doch vor kurzem der Zeppelin University in
 Friedrichshafen und der Hertie-School of Governance in Berlin das Promotionsrecht
 verliehen.
 Niemand wird bestreiten, dass eine moderne Gesellschaft dringend darauf
 angewiesen ist, neues Wissen zu generieren – und nicht nur altes zu transferieren,
 jedenfalls nicht in der Universität. Nur dann ist es auch möglich, unterschiedliche
 Wissensformen zu unterscheiden. Das akademische Wissen unterscheidet sich vom
 Erfahrungswissen eines klugen Arztes und von der erfahrungspraktischen Expertise
 eines geübten Handwerkers, in beiden Fällen handelt es sich um kostbares
 Professionswissen. Es gehört zu den Kehrseiten der steigenden Studentenzahlen,
 dass andere Wissensformen als die akademischen allzu leichtfertig abgewertet
 werden. Die Verachtung des Handwerks geht mit dem Lobpreis des Studierens
 häufig einher und könnte kaum kurzsichtiger sein. Wohin sollen denn die ganzen
 Geisteswissenschaftler gehen, die heute einen Bachelor oder gar Master machen,
 während gleichzeitig Fachkräfte fehlen – und zwar hochqualifizierte in der
 Elektrotechnik und im Maschinenbau. Wissen muss also nicht notwendigerweise
 wissenschaftliches Wissen sein.
 Der gebildete Experte in einem Fach wird sich in fast allen anderen
 Lebenszusammenhängen als Laie erleben. Aber er wird reflektiert mit den anderen
 Experten ihres jeweiligen Faches umgehen können. Er wird merken, dass auch die
 anderen nur mit Wasser kochen, er wird das verbale oder zahlenakrobatische
 Imponiergehabe eines anderen schneller durchschauen und sich davon nicht
 blenden lassen. Der gebildete Experte wird ein gerüttelt Maß an falscher Ehrfurcht
 vor der fachwissenschaftlichen Expertise des Gegenüber verlieren und umso
 nüchterner mit dem Expertenwissen des anderen umgehen können. Dazu aber muss
 er eigenständiges Denken und Urteilsfähigkeit gelernt haben und die Fachsystematik
 seines eigenen Faches so beherrschen, dass der lebenspraktische Bezug immer
 schon mitgedacht werden kann. Geisteswissenschaftler können sich dann eben nicht
 damit begnügen, Texte des 18. Jahrhunderts entziffern und verstehen zu können.
 Aber sie werden möglicherweise durch ihre Interpretation der früheren Texte besser
 darauf vorbereitet sein, die Zeichen ihrer Umwelt zu entziffern und zu verstehen.
 In der Gründungsphase der Humboldtschen Universität im Jahre 1810 galt es
 gleichzeitig Krisen zu bewältigen und einen Forschungsimperativ freizusetzen. Auch
 die Bologna-Universität wird ihre Absolventen nur krisentauglich machen, wenn sie
 der Forschung verpflichtet bleibt und sie nicht aus der Universität auswandern lässt.
 Und sie wird auch nur dann ihrer Aufgabe der Bildung durch Wissenschaft gerecht,
 wenn sie das Studium nicht mit der Vermittlung von Wissensaxiomen verwechselt.
 Es gibt in der Bologna-Diskussion auch die Tendenz, Humboldt all das zuzurechnen,
 was man selbst gerne an der Universität hätte. Die Gründerväter der Universität
 waren nüchtern und sehr pragmatisch. Ihr Ideal des gebildeten Experten bleibt eine
 Verpflichtung für die Universität. Denn sie ist die einzige Institution, die ihn
 sozialisieren kann. Gelingt ihr das nicht, wird es womöglich nur noch gläubige
 Dilettanten oder falsche Wissenschaftsgläubige geben.
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